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Am nächsten Tage, in der Dämmerung, betrat Ophir, von Osten kommend, einen nahen Fichtenhain. Kurze Zeit darauf drang, diesmal von Westen, ein Mädchen in den Hain, das Mah erstaunlich ähnlich sah. Sie schien das Wäldchen nur zu durchqueren und schloß sich bald nachher wieder ihren Freundinnen an.
Einen Tag später erfuhr man, daß die Händler im Morgengrauen gegen Süden fortgezogen seien. Und am Abend dieses Tages sagte Mah zu ihrer Mutter, daß sie vor Sonnenaufgang die Hütte verlassen werde, da die Mädchen des Stammes eine Blume suchen wollten, die man nur zwischen dem Erscheinen des Morgensternes und Sonnenaufgang pflücken dürfe. Sie würden alle tagsüber in den Fluren bleiben. Sie sollten den jungen Leuten nicht begegnen, die heute abend zu den feierlichen Prüfungen der Einweihung hinausziehen würden.
Mitten in der Nacht, als noch alles schlief, erhob sich Mah. Am Eingang der Hütte blieb sie einen Augenblick stehen. Sie schritt nochmals zu No zurück, beugte sich über ihn und versuchte sich trotz der Dunkelheit seine geliebten Züge – zum letztenmal – einzuprägen. Zu ihrem großen Erstaunen bemerkte sie, daß Nos Augen weit offen und auf sie gerichtet waren. Zart legte sie ihre Hand auf seinen Mund, um ihn am Sprechen zu hindern. No zitterte im Fieber, denn seit zwei Tagen schon hatte er fasten müssen. In seinem wirren Geiste wußte er nicht, ob es wirklich seine Schwester oder ein Geist sei, der Mahs Gestalt angenommen hatte und ihn im Schlafe aufsuchte. Aug in Aug mit pochendem Herzen blickten sie einander stumm an, ohne sich zu rühren. Plötzlich fühlte No heiße Tränen auf seine Stirne fallen. War dies ein Traum? Er schloß für einen Augenblick die Augen.
Als er sie wieder öffnete, war die Erscheinung verschwunden. Er war allein.
Mah indessen schlich wie ein Schatten über die Terrasse. Mondlose Nacht begünstigte sie. Sie stieg den Pfad zwischen den Felsbrocken abwärts. Wer sie gesehen hätte, wie sie lautlos dahinglitt, hätte geglaubt, einen Geist vor sich zu haben und wäre erschreckt geflohen. Doch wer aufmerksam gelauscht hätte, würde die schweren, stockenden Schläge eines unruhigen Herzens vernommen haben. Nahe bei dem Flusse wich Mah den Wohnstätten aus, nahm den Weg durch ein rechtsliegendes Tal und erreichte bald einen Hügel. Eine Gestalt löste sich vom Stamme eines Baumes und schritt auf sie zu. Eine Hand faßte nach der ihren. Beide liefen, den Nordstern im Rücken lassend, Hand in Hand durch die laue Nacht.
Gegen Mittag erreichten sie den großen Strom, der gegen Westen fließt. Da sie nirgends ein Boot fanden, durchquerten sie ihn schwimmend, ihre Kleider mit der ausgestreckten Hand über den Kopf haltend. Am gleichen Abend noch hatten sie die kleine Karawane der Händler eingeholt.
»Du sollst meine Tochter sein,« sagte der Anführer der Kaufleute, »und meine Familie sei auch die deine.«
Langsam setzten sie ihren Weg fort. Was hatten sie auch zu fürchten? Bei den Leuten am Flusse hatte das Einweihungsfest begonnen. Kein einziger Mann konnte während eines Monats den Stamm verlassen.
Beim Abenddämmern bildete sich ein Zug auf der Wiese vor der Terrasse des Häuptlings. Die jungen Burschen von achtzehn Jahren und diejenigen, die erst im Sommer dieses Alter erreichen sollten, waren versammelt. Wer konnte sich noch an die Zeiten erinnern, da die Nachkommen des großen Bären, zahlreich wie die Nadeln der Tanne, alljährlich dreihundert Burschen zu Männern weihten! Nur eine Handvoll Jünglinge war jetzt die Blüte und die ganze Hoffnung des Stammes. Oh, daß sie nur rasch zu wehrfähigen Männern würden, Hüter der Traditionen des Volkes! Oh, daß sie den bedrohten Stamm retten könnten! Doch welche Prüfungen mußten zuvor ertragen werden!
Sie standen da, zwanzig an der Zahl, groß und kräftig, obwohl durch dreitägiges Fasten abgemagert. Nur ihre Mütter waren bei ihnen und einige Männer über vierzig Jahre.
Sie ordneten sich jetzt zu einer Reihe. Jeder der Alten ergriff die vorgestreckte Rechte eines Jünglings, die linke Hand blieb der schluchzenden Mutter, die rückwärts stand, überlassen. Herzzerreißend waren die Klagen dieser unglücklichen Frauen. Sie beweinten ihre geliebten Kinder, die ihnen entrissen werden sollten, als würden sie in den Tod geführt; sie beschworen sie, nicht von ihnen zu gehen.
Diese zogen indessen langsam gegen ein wenig entferntes Wäldchen. Sie machten drei Schritte, blieben stehen, als zögerten sie furchtsam und schritten wieder mutig vor. So zeigten sie das Zögern des Mannes vor einer gefährlichen Aufgabe, die ihn sein Leben kosten kann. Und weiterschreitend sangen sie einen männlichen Hymnus, in dem sie schworen, in allen Gefahren treu zusammenzustehen.
Auch die Mütter skandierten ihre Klagen nach überliefertem Takt.
Als der Zug am Waldessaum angelangt war, schritten die Jünglinge allein weiter. Die Alten blieben schweigend zurück; sie hatten ihre Pflicht erfüllt. Die verlassenen Mütter aber liefen wirr durcheinander, rauften sich die Haare, jammerten und übertrafen sich gegenseitig, die Verdienste ihrer Söhne, die sie verloren hatten, zu rühmen.
»Wehe, wehe, wehe! Wo ist er hin? Wer bringt ihn mir zurück? Niemals werde ich ihn wiedersehen! Nicht in zehn langen Menschenleben findet sich seinesgleichen!«
Erst mit Einbruch der Nacht kehrten sie zu ihren Hütten zurück. Hier blieben sie zusammengekauert am Rand der Terrasse hocken. Sie blickten starren Auges nach dem Wäldchen, in das ihre Söhne verschwunden waren. Manchmal drang ein fürchterlicher Schrei von dort herüber, dann erzitterten und weinten sie. Gegen Mitternacht versetzte sie ein unfaßbares Schauspiel in Schrecken: aus den Bäumen stiegen kleine, feurige Kugeln zum dunklen Himmel auf, beschrieben einen Bogen und verschwanden! Es waren die Seelen ihrer Söhne, die deren vergängliche Körper verließen, und dieses sichtbare Zeichen vom Tode der Kinder steigerte die Klagen der Mütter. Zwanzig Seelen konnte man zählen, die in den Raum emporflogen: das Schicksal hatte sich erfüllt.
Düster und schweigsam verschwanden die Frauen in ihren Wohnstätten. –
Allein gelassen, hatten die jungen Leute einen Weisen getroffen, der sie erwartete. Unter seiner Führung gelangten sie zu einer Lichtung am Fuße jener Felsen, in denen die heilige Grotte versteckt lag. Es war schon verbotener Boden, den sie jetzt betraten. In der Dunkelheit schien es, als ob der Hang vor ihnen, dem sie noch niemals so nahe gewesen waren, bis zum Himmel reichte. Ein roter Punkt strahlte vierzig Armlängen hoch über ihnen.
Hier legten sie sich in einer Reihe auf den Boden, die Beine gegen Süden, das Gesicht dem Nordstern zugekehrt und zehn Schritte einer vom anderen entfernt. Die beiden Äußersten der Reihe erhoben sich und umkreisten laufend die anderen. Derjenige, der in der Richtung von Osten nach Westen lief, kam vor den reglos Liegenden vorbei, der zweite hinter diesen. So verfolgten sie einander, ohne sich jemals zu erreichen, darauf bedacht, daß ihr Lauf gleichmäßig bliebe. Nachdem sie die ganze Strecke achtundzwanzigmal vollendet hatten, nahmen sie atemlos wieder ihre Plätze ein, und nun war an den Nächstliegenden die Reihe, die Bahn der Sonne und des Mondes während eines Monats zu versinnbildlichen.
Ein Jahr wurde auf diese Weise beschrieben. Als sie innehielten, war es schon Mitternacht.
Nach einer kurzen Ruhe begannen sie den heiligen Tanz, der die Bewegungen des großen Ahnen nachahmte. Zuerst wiegten sie, auf allen Vieren, den Kopf bald nach rechts, bald nach links. Dann sprangen sie auf und kamen mit dumpfem Brummen aufeinander zu. Manchmal ertönten Schreie, man wußte nicht woher. Sie achteten ihrer nicht. Sie tanzten und hatten die Zeit vergessen, ihre Müdigkeit, ihr dreitägiges Fasten und die Prüfungen, die sie noch zu bestehen hatten. Sie bemühten sich, alle Bewegungen des Bären getreu nachzumachen, seinen Gang, seine Haltung. Durch die Wesenstreue ihrer Gebärden hielten sie sich schließlich wirklich für Bären.
Schon zeigte sich der Morgenstern. Der Weise gebot ihnen Einhalt. Sie sanken zu Boden und lagen nun in zwei Reihen geordnet, das Gesicht aufwärts gekehrt, so starr und unbeweglich, daß man hätte glauben können, sie seien tot.
Dum ... Dum... Dum ...
Was tönt so dumpf an Nos Ohr? Seine Augen betrachten den Himmel, der schon bleich zu schimmern beginnt.
... Dum ... Dum ... Dum ...
Ist's der fiebernde Pulsschlag, der so hämmernd dröhnt? Mühevoll wendet No den schweren Kopf. Seine Gefährten liegen neben ihm gereiht und bewegen sich kaum. Feierliche Stille herrscht. No fürchtet sich.
Und da kommt es auf ihn zu, ein Gespenst, aus den fliehenden Schatten der Nacht geboren. Schwarz von Antlitz, Augen, die bis zu den Ohren reichen, ein weitgeöffneter Mund, der das ganze Gesicht beherrscht ... Bis zum Gürtel fällt der Bart...
Es schwingt ein Stück ausgehöhlten Holzes in seiner Hand, ein Fell ist darübergespannt. Darauf schlägt es mit einem Pferdeknochen.
... Dum ... Dum ... Dum ...
So schlägt es seine Trommel und mit ruckweisen Bewegungen umkreist es die Reihe der Liegenden. Jetzt beschleunigt es seine Schritte, es hüpft, es ist beinahe ein Tanz. Und nach jedem Schlag auf das Fell folgt ein kräftigerer auf die Brust des nächstliegenden Jünglings.
Dum ... tönt dumpf die Trommel.. . Dum ... tönt dumpfer noch die getroffene Brust. Doch kein Muskel am Körper zittert. Sind es Tote, die das Gespenst martert?
Viermal macht es die Runde, viermal schlägt es.
Und es verschwindet.
Reglosigkeit, Stille. Selbst Seufzen ist verboten.
Was naht jetzt von einem anderen Felsen? Ein Geist der Unterwelt. Wie ein spitzes Dreieck wächst sein Kopf aus der Brust empor. Sein Schädel trägt zwei knotige Hörner des Steinbocks, ein Mosaik von schwarzweißen Würfeln stellt sein Gesicht dar. Dieser Dämon schwingt eine Gerte, deren enggegabeltes Ende feurige Glut umfaßt.
Er tanzt durch die Reihe der erstarrten Leiber. Und plötzlich fährt seine feurige Gerte auf die rechte Schulter Nos nieder. Das Fleisch zischt. Doch der tapfere No läßt keinen Laut hören. Hat er die Brandwunde wohl überhaupt verspürt?
Nach und nach erhält jeder der Jünglinge sein brennendes Zeichen. Und ein zweites Mal tanzt der Dämon, und ein zweites Mal werden die Reglosen – jetzt links – gezeichnet. Geräuschlos verschwindet er in den Felsen, aus denen er aufgetaucht war.
Die Zeit enteilt wie das Wasser des Flusses.
Eine formlose Gestalt erscheint. Zu jedem der Liegenden neigt sie sich nieder, und eine Stimme, die keinem menschlichen Wesen angehören kann, spricht: »Jetzt kommt das Sterben.«
Und sich noch tiefer neigend, ritzt sie mit einem scharfen Stein über den Hals des Reglosen, an jener Stelle, wo die Jäger einem in der Falle gefangenen Wild den Hals durchschneiden. Das Blut quillt hervor. Aus einem Holzgefäß träufelt die Erscheinung dem Jüngling eine bittere Flüssigkeit in die Kehle.
»Jetzt kommt das Sterben«, wiederholt sie. Der Jüngling fühlt das Leben durch seine Lippen entfliehen. –
Die Sonne steht tief am Horizont. No blinzelt aus halbgeöffneten Augen. Er ruht auf einer Terrasse. Er wendet den Kopf, die Wunde am Halse schmerzt. Er erblickt, weiß wie Leichen, seine Gefährten neben sich, auch ihr Hals ist durch eine blutende Wunde zerfetzt. Ihre blicklosen Augen sind weit geöffnet.
Die Gedanken entflattern No wie scheue Fledermäuse. Sie schweben über Zeit und Raum und entführen ihn durch Unendlichkeiten bis in jenes ferne Land, wo der Ahne zu einer so weit zurückliegenden Zeit geboren wurde, daß selbst die Weisen, die aus den Sternen zu lesen verstehen, sie nicht zu berechnen vermögen. Dort sieht sich No als Sohn jenes allmächtigen und schlauen Bären. Er rettet sich an die Brust des Ahnen, wie ein Kind in den Schoß der Mutter. Alles ist jetzt friedlich und schön ringsum ...
Ein kalter Hauch trifft seine Stirne. Eine Stimme dröhnt:
»Bist du gestorben, so erwache, um neu geboren zu werden!«
Und eine Flüssigkeit wird zwischen seine starren Lippen geträufelt. Er öffnet die Augen. Er ist geblendet.
Strahlendes Licht erfüllt eine enge Höhle. Im Hintergrunde erblickt er ihn selbst, den großen Ahnen, in jener Gestalt, die er angenommen hat, um ewig über seine Söhne zu wachen. Vor ihm stehen, sich neigend, die drei Weisen in ihrem festlichen Gewand. Jeder hält eine Bärentatze in der Hand. Hinter dem Ahnen aber reihen sich, soweit der Blick reicht, alle eingeweihten Männer des Stammes, wunderbar bemalt, die Augen vergrößert, den Bogen der Augenbrauen schwarz, die Schultern und das Gesicht rot bestrichen. Zobel und Silberfuchs zieren ihre feierliche Kleidung. Adlerfedern krönen ihren Haarschmuck.
Sie singen einen fremdartig wilden Chor, in dem regelmäßig zwei Worte dumpf erklingen: »Die Bären.« Dann unterbrechen sie sich und lassen ein fürchterliches Brummen ertönen.
Die ganze Hütte widerhallt davon. No ist ganz ergriffen. Die Schmerzen, die er erdulden mußte, Angst und Müdigkeit, das Getränk, das einschläferte und jenes, das ihn erweckte – er war vollkommen entrückt gewesen. Jetzt erhebt er sich, er erwacht zum Sohn des Bären, und seine kräftige Stimme mengt sich in den Chor der Männer. Seine jungen Genossen ahmen ihn nach. In der heiligen Grotte gibt sich eine einzige Seele kund.
Langsam ermattet das Licht. Hie und da noch knistern getrocknete Kräuter, die sich entzünden und wieder verlöschen. Dann ist es Nacht. Eine schwere Wolke von Düften hüllt die Jünglinge ein. Die Beine zittern, sie wanken. Einer nach dem anderen verliert das Bewußtsein und fällt nieder.
Beim Erwachen findet No sich wieder auf jener Terrasse, auf der er schon die Augen geöffnet hatte. Ist's zwei Tage, ist's länger her? ... Sicherlich war es in einem früheren Leben ... Was ereignete sich seither? War er selbst in der heiligen Grotte gewesen? Oder war es ein zweites Ich, das dem Ahnen gegenübergestanden hatte?
Ein Weiser tritt heran, um ihn zu waschen. Die Kalkmilch, mit der No bedeckt war, und die ihm die Farbe einer Leiche gegeben hatte, wird jetzt, da er zu neuem Leben auferstand, wieder entfernt. Der Weise verbindet den Riß am Hals und die beiden Wunden auf den Schultern. Durst peinigt No. Der Weise flößt Wasser in seinen Mund, dem Honig und auch Beeren beigemengt sind; langsam macht er ihm die Bewegung des Kauens vor, um diesen neu Geborenen zu lehren, wie man ißt. No fühlt seine Kräfte wiederkehren.
Eine neue, sonderbare Handlung beginnt, die einen tiefen Eindruck bei den Jünglingen hinterläßt.
Zu jedem der Eingeweihten treten zwei Alte. Sie fassen den Ruhenden unter den Schultern und stellen ihn auf. Sie singen wie die Mütter zu ihren Kleinen:
»Eine, zweie – Kindlein fällt,
Eine, zweie – Kindlein geht.«
Nach diesem Rhythmus erfassen die Alten das rechte Bein des Eingeweihten, tragen es vor und setzen den Fuß auf den Boden. Dann stoßen sie »ihr Kind« und lassen es vorwärts stolpern. Ins Gleichgewicht gebracht, folgt der gleiche Vorgang mit dem linken Fuß. So lernt der Wiedergeborene das Gehen. Seltsam schwankt die Reihe der jungen Leute auf dem sandigen Hange. Die Bewegung verstärkt sich. Bald lassen die Alten die Eingeweihten allein, diese zögern noch alle drei Schritte und stolpern.
Sie sind den ganzen Morgen marschiert. Sie halten an. Ein Weiser nähert sich dem an der Spitze schreitenden No. Mit dem Finger deutet er auf ihn und sagt:
»Du bist No.«
»No?« erwidert dieser erstaunt.
»Du bist No«, wiederholt der Weise und geht zum nächsten.
Im Abenddämmern – es ist der dritte Tag – wird No mit einigen Gefährten in die heiligen Grotten geführt, denn es gibt deren zwei, die einige tausend Schritte weit auseinanderliegen. Immer vier Jünglinge gemeinsam treten ein. Denn vier ist dem Stamme eine glückbringende Zahl; hatte der Ahne nicht vier Söhne und vier Töchter? Von ihnen stammen die unzähligen Söhne des Bären, welche die Welt mit ihrer Tapferkeit erfüllten. Jeder der jungen Leute trägt eine Fackel. Langsam gelangen sie durch den engen Felsspalt. Dort, wo er sich zur Grotte erweitert, werden die Fackeln in den Vertiefungen der Felsen befestigt und erhellen den ganzen Raum.
Mit erstaunlicher Lebendigkeit sind ringsum an den Wänden all die Tiere, die die Leute vom Fluß zu jagen gewohnt sind, in ihren bekannten Stellungen und Bewegungen abgebildet. Durch geschickte Ausnutzung der Vertiefungen und Vorsprünge des Gesteins gibt ihnen die mit Meisterschaft verwandte Farbe den Anschein wirklichen Lebens. Hier liegt der Ursprung der magischen Kraft, mit der die Abkömmlinge des Bären über die Tierwelt, die ihnen untertan ist, herrschen, und deren Bilder das Geschick der Tiere mit dem des Stammes verketten. No betrachtet sie bewundernd. Hier die Bisons; die einen scheinen in Ruhe nachzusinnen, die anderen spielen und springen umher; wieder andere fliehen vor ihren Verfolgern. Galoppierende Pferde erblickt er und drohende Stiere. Ein Renntier beschnuppert, den Hals gestreckt, sein liegendes Weibchen. Auf den Felsen grasen friedlich Mammute mit listigen Augen. Keines ist vergessen, weder das zweihörnige Rhinozeros in seinem Pelz, noch die gefürchtete Katze. Ja, alle sind hier durch die Kunst, die die Söhne des Bären auszeichnet, vereinigt. Es gab in der Tat kein anderes Volk, das den Geist und das Talent gehabt hätte, die Tiere derart naturgetreu abzubilden und sie dadurch in zauberhafte Bande zu verstricken. Denn ebensowenig wie ihr Bildnis die Felswand zu verlassen vermag, sind sie selbst nun nicht mehr frei, um aus eigenem Willen aus den Jagdgründen des Stammes zu fliehen.
Vor jedem Tier spricht der Weise die alten Formeln. Dreimal sagt er sie vor, dreimal werden sie von seinen Jüngern wiederholt. Nichts ist in der ganzen Einweihungsfeier wichtiger. Ohne diese Sätze sind die Bilder nur zwecklose Darstellungen, und von den Bildern getrennt, werden aus den Formeln nur sinnlose Worte. Der Fähigkeit beraubt, die einen zu malen und die anderen auszusprechen, würde der Mensch ein Unseliger sein, ein Spielball der feindlichen Mächte. Niemals würden die Leute vom Fluß ihre heiligen Grotten verlassen, in denen die geistigen Kräfte des Stammes ruhen.
Die Männer unter ihnen, die die Gabe haben, die Tiere so darzustellen, zählen zu den ersten im Stamme, und jeder achtet sie. No denkt mit Stolz, daß er eines Tages zu den Bildern an diesen Wänden eines hinzufügen wird.
Mit andächtiger Aufmerksamkeit lauschen die jungen Leute den Worten des Weisen und bemühen sich, sie zu behalten. Ihr eigenes Leben und das Bestehen des ganzen Stammes hängt davon ab!
Endlich verlassen sie, trunken von Stolz und erfüllt von ihrem neuen Wissen den heiligen Ort. Jetzt sind sie Männer geworden, bereit, ein neues Leben zu beginnen.
Eine zweite Gruppe von vier Jünglingen löst sie ab. No mit seinen Gefährten verbringt den Rest des Tages in der anderen Grotte.
Abends vereinigt eine feierliche Versammlung alle jungen Eingeweihten mit den Weisen des Stammes. Sie haben bis jetzt fern von den Frauen gelebt, aber bald werden sie sich verheiraten. Sie werden dann erfahren, daß der Mann nicht nur mit den Tieren zu kämpfen hat, die ihm als Nahrung dienen, nein, auch mit der Gefährtin an seinem Herdfeuer. Die Fallen und Schlingen, die sie ihm legt, sind schwieriger zu vermeiden, als die Listen und Angriffe der Tiere. Oder aber ermüden ihn diese unersättlichen Weibchen, verweichlichen ihn und hindern ihn in seiner Beschäftigung. Oder sie nützen sein Fernsein, um sich mit jenen, die zu Hause geblieben sind, zu unterhalten. Ein weises Gesetz verbietet darum den Frauen, deren Männer auf der Jagd sind, ihre Hütten zu verlassen. Auch dürfen sie sich während dieser Zeit nur von Kräutern und Beeren nähren und müssen Fleisch meiden. Wenn sie gegen die Regeln verstoßen, können ihre Männer bei ihrer gefährlichen Unternehmung sterben. Aufgabe der Weisen, die unverheiratet sind, ist es, die jungen Leute vor den Gefahren zu warnen, die von den Frauen drohen. Und welche Zeit wäre besser für diese Warnung geeignet als jene vor der Rückkehr der Eingeweihten in die Freiheit?
No lauscht den leidenschaftlichen Worten des Weisen. Im Dunkeln neben einem Reisigfeuer sitzend, dessen Flammen ihn manchmal beleuchten, zittert dieser ausgetrocknete Greis vor Wut. Und mit ihm verabscheut No die Frauen. In seinem fieberdurchglühten Geist sieht er sie wie Dämone, die nur auf die Schwächen des Mannes lauern, um sie zu seinem Verderben auszunützen und ihn zu quälen. Doch plötzlich drängt sich ein helles Bild in seine bitteren Betrachtungen. Es mengt sich zuerst verwirrt den wechselnden Spielen des Rauches. Allmählich aber löst es sich, Formen gewinnend, von ihnen ab und wird zu einer weiblichen Gestalt. Sie hat ein liebliches Gesicht und ist leichtfüßig. Narzissen und Akeleien schmücken ihr Haar, ihre Augen strahlen wie taufrischer Morgen. Oh, wie reizvoll ist sie! Von diesem Weibe kann kein Unheil drohen, nur Glück und Zärtlichkeit kann sie geben. Jetzt lächelt sie No zu. Er streckt ihr sehnsüchtig die Arme entgegen und erkennt seine Schwester Mah ...
Die düsteren Greisenworte entschweben wie Wolken vor dem Wind. No fühlt nur ein mächtiges Verlangen in sich: zu leben, ein fliehendes Mädchen zu verfolgen und sie als Weib an seinen Herd zu führen.
Er schläft ein, und die Nacht entführt ihn seinen Gefährten, aus dem heiligen Hain und von der Grotte. Er läuft quer durch das Land. Hinter jedem Baum vermeint er ein Weib zu erblicken, das sich für Augenblicke zeigt und entschwindet. Er eilt hinzu, sie entschlüpft, und die Wälder widerhallen von ihrem spöttischen Lachen.
Sechs Tage noch halten die Weisen die jungen Leute im verbotenen Bezirk. Kein Fleisch berührt während dieser Zeit ihre Lippen. Sie besuchen die magischen Bilder, vor denen die alten Formeln gesprochen werden. Die Lehren der Weisen sind in diesem Jahr, in dem sich die Söhne des Bären von unbekannten Gefahren bedroht fühlen, von besonderer Eindringlichkeit. Wieviel der unerklärlichen, furchteinflößenden Zeichen! Es gilt, den Eifer zu verdoppeln, um sie zu bannen. Lange erfüllt das Murmeln der alten Formeln die Grotte.
Doch die Prüfungszeit nähert sich ihrem Ende. Die Wunden sind vernarbt. Die abgemagerten jungen Leute sind jetzt frei, sie können nach Belieben kommen und gehen; sie müssen sich für die Hochzeitsspiele stärken und vorbereiten; nur die Nächte verbringen sie noch gemeinsam, fern den Wohnstätten, auf der Lichtung, die am Fuße des Felshanges liegt.
No eilt nach Hause, um die Seinen zu besuchen. Der Vater ist auf der Jagd, nur die Mutter trifft er an, die vor der Hütte tätig ist und – mangels anderer Gesellschaft – mit sich selbst spricht. Trotz der Freude, ihren Sohn wiederzusehen, tut sie, als würde sie ihn nicht erkennen. Er muß ihr seinen Namen sagen. Dann erst schließt sie ihn in ihre Arme.
Sie erzählt ihm von der Flucht Mahs. No bleibt angewurzelt stehen, aber jetzt, da er die Grotten gesehen, muß er seinen Kummer wie ein Mann ertragen. Wo mag sie weilen, die Freundin, die Schwester? Viele Tage sind schon vorbeigegangen, seit sie fort ist. Sie durcheilt unbekannte Länder, die für immer den Leuten vom Flusse verschlossen sind. Nach Süden muß sie gezogen sein, das ist der Weg, den die Händler gehen ...
Und eines Morgens, noch vor Sonnenaufgang, stiehlt No sich fort. Mit raschen Schritten strebt er dem großen Strome zu, der dem Stamme als Grenze dient. Noch ehe es Mittag ist, hat er sein Ziel erreicht.
Er lehnt an einem Steinblock und blickt um sich. Ein hügeliges Land dehnt sich vor seinen Augen, den Fluß entlang üppig mit Bäumen bewachsen, kahl in der Ferne. Gebirge verschließen den Horizont. Dort muß die kleine Mah seit Tagen gewandert sein. Der Geist Nos überwindet alle Fernen und begegnet ihr.
Er liebt diesen Abhang, die besonnten Felsen, das reine Wasser, das unter ihm dahinrauscht, diese Wälder, die Mah vorbeigehen sahen. Später, wenn die Feier beendet ist, wird er hierher zurückkehren. Die Worte des Weisen erwachen in seinem Gedächtnis. Wie soll man den Frauen vertrauen, wenn selbst Mah, ohne die Hochzeitsspiele abzuwarten, mit Fremden fliehen konnte? Sie sind voll Ränke wie die Tiere. Man kennt sie nie...
Erst im Abenddämmern kehrt No zum Stamme zurück. Mahs Verschwinden bedrückt ihn. Wie kann man sie zurückbringen?
Am nächsten Morgen sucht er seine Freunde auf, die unweit seiner Wohnstätte an einem abseits gelegenen Orte Knochen, Elfenbein und die Geweihe der Renntiere bearbeiten. Ihnen erzählt er von seinem Kummer. Nach langer Beratung entschließen sie sich, ein Bild der Flüchtigen aus Elfenbein zu verfertigen. Ist das Werk erst einmal vollendet, wird es ein Weiser nicht ablehnen, darüber die nötigen Zaubersprüche zu sprechen, und, wie weit Mah auch sein möge, sie wird gezwungen sein, zum Stamme zurückzukehren. No selbst will die Nachbildung seiner Schwester ausführen. Zart und schlank schnitzt er sie, mit hohen Beinen, noch kleinen Brüsten, doch geschwungenen Hüften und einem zierlichen Kopf. Die ganze Zeit, die ihn noch von den kommenden Spielen trennt, widmet er dieser Arbeit. Niemals wurde ein Bild mit größerer Liebe geschnitten. Langsam streicht er über die kleine Figur und, indes er sie in seiner warmen Hand umschlossen hält, spricht er ihren Namen aus. Schon scheint sie zu erwachen. Wie eine Welle des Lebens fühlt er es von ihr herüberströmen. Mah selbst ist es, die sie erwärmt ... Ein Weiser spricht die Formel zu ihr, die bindet. No findet Ruhe. Er fühlt, daß Mahs Geschick an seines gekettet ist, und daß sie eines Tages zurückkehren wird.
Drei Wochen verfließen zwischen der feierlichen Einweihung der jungen Leute und den Hochzeitsspielen, die diese Tage krönen. Stets zur Zeit des ersten Vollmondes im Sommer versammelten sich alle drei Stämme, die am Flusse lebten, um dieses ihr größtes Fest gemeinsam zu begehen. Die Eingeweihten kommen, ihre Frau zu rauben, und folgen damit einem Brauche, der so uralt ist, daß selbst die Weisen, die seinen Ursprung kennen, dessen Entstehungszeit nicht feststellen können.
In diesem Jahre wurde das Fest bei den Söhnen des Bären abgehalten.
Schon zwei Tage vorher begannen sich die Nachbarstämme in kleinen Gruppen einzufinden, die Mädchen zum letztenmal unter der Obhut ihrer Mütter. Die jungen Männer, an schnelleren Marsch gewöhnt, brachen unter Führung eines der Weisen ihres Stammes einen halben Tag später auf und fanden sich nicht vor dem Vortage des Festes ein. Sie trafen am Fuße der heiligen Grotten mit den Söhnen des Bären zusammen, mit denen sie hier die letzte Nacht verbrachten.
Die Familien lagerten am Ufer des Flusses. Während der schönen Jahreszeit war es nicht nötig, in den Hütten auf der Terrasse zu bleiben. Jeder brachte seinen Schlafsack mit, und wenn ein Regen drohte, waren rasch ein paar Pferdehäute zwischen Bäume gespannt. Feuer verscheuchten die gefräßigen Hyänen und die noch lästigeren Insekten.
Der Brauch gebot es, daß die Gäste von jenem Stamme verpflegt wurden, bei dem das Fest stattfand. So hatten auch die Leute vom Flusse große Vorräte angesammelt. Fleisch von Pferden, Bisons und Hirschen stand bereit, und man hatte wohl darauf geachtet, keines vom Eber beizumengen, da dieses dem Stamme, der seinen Namen trug, verbotene Nahrung war. Auch Beeren, Kräuter, Schwämme und geräucherte Fische waren vorbereitet. Als Gegenleistung brachte jede Familie, die ein heiratsfähiges junges Mädchen mitführte, das Fell von einem Fuchs, Hermelin, Marder oder einer Wildkatze mit.
Neugierig betrachteten einander die Leute der drei Stämme. Obwohl sie kaum wenige Tagemärsche weit auseinander wohnten, kamen sie doch nur bei besonderen Anlässen zusammen. Sie waren von gleicher Abstammung, ihre Sitten waren ähnlich. Dennoch gab es Unterschiede zwischen ihnen, fast unkenntlich jedem Fremden – den Händlern etwa –, beträchtlich jedoch in ihren eigenen Augen. So trugen die Söhne des Ebers die Hosen um einige Finger länger und am unteren Saum in Lederfransen endend. Die Söhne des Bären lachten über diese Mode, die ihnen weibisch schien. Auch staunten sie darüber, daß die beiden anderen Stämme das von ihnen verachtete Fleisch der Füchse genossen, die doch die hinterlistigsten und falschesten Tiere waren. Wie konnte man Leuten trauen, die von solchen Tieren Nahrung nahmen? Die Eber- und Mammutsöhne wieder sahen voll Verwunderung, daß die »Bären« auch gelegentlich Elstern und Raben nicht verschmähten, eine Kost, die sie selbst höchstens für geschwätzige, alte Weiber angemessen erachteten.
Während der letzten Nacht, die dem Feste voranging, wachten die jungen Mädchen an einem gemeinsamen Feuer. Manche von ihnen fürchteten sehr, von keinem Manne entführt zu werden. Viele hatten sich allerdings schon vorher Gewißheit verschafft. Alle zeigten aber äußerlich die größte Ruhe und Zuversicht. Es gab natürlich keinen anderen Gesprächsstoff als die Ereignisse des kommenden Tages. Die Reden waren ungezwungen, die Scherze ohne Zurückhaltung. Gesten begleiteten die Worte, und stürmische Heiterkeit folgte ihnen. Bei vorgeschrittener Nacht sangen sie gemeinsam ein Lied, worin das Leben der jungen Mädchen dem der Frauen gegenüber gestellt wurde; das der Mädchen wurde begeistert gepriesen; dann beschrieb das Lied die Mühen und Plagen der Frauen. Und der Refrain sagte immer wieder: Werde Frau, meine Tochter – werde Frau!
Einige von ihnen tanzten im Kreise, begleitet von den Zurufen und dem Händeklatschen der Zuschauerinnen, die sich eine nach der anderen erhoben und dem Reigen einfügten.
Es war spät in der Nacht. Die durch den Lärm aufgestörten Eulen, die in der Dunkelheit umhergeflogen waren und mißbilligend mit dumpfen Rufen das Lachen der Mädchen beantwortet hatten, suchten schon ihre Nester auf, als die Mädchen endlich still wurden und ermüdet einschliefen.
Hoch stand schon die Sonne am Himmel, und lebhafte Bewegung herrschte auf der Wiese, als sie wieder erwachten. Das Volk der drei Stämme, außer den Greisen, die das Lager bewachen mußten, den Mädchen, die noch zu jung waren, um an den Spielen teilzunehmen, und den Kindern, die die Anstrengungen der Reise nicht ertragen konnten, war versammelt. Es waren mehr als tausend Personen, die sich an der Hügellehne des engen Tales, das sich gegen den Fluß zu öffnete, niedergelassen hatten. Ein Wäldchen begrenzte die eine Talseite. Die andere stieg terrassenförmig empor; sie war von Moos und Rasen bedeckt. An ihrem Ende bildete eine hohe, überhängende Felsplatte, die man »Stein der Qualen« nannte, eine natürliche Plattform.
Die Mädchen, die man nach vorne gesetzt hatte, trugen ihren schönsten Putz. Sie erlaubten sich bei diesem Anlasse einige sinnreich ausgedachte Abwechslungen in ihrer Kleidung. So sah man an den Mammuttöchtern mit ein wenig Erstaunen, daß sie ihr Wams, das so weit war, wie es sich gehörte, mit einem Gürtel aus biegsamem Leder eng über dem Leib festhielten, wodurch ihre schlanke Taille vortrefflich betont wurde. Die Mütter der anderen Stämme urteilten sehr strenge über diese Neuerung. Doch ihre Töchter beneideten die Gefährtinnen, die so kühn waren, sich so zu zeigen. Die Töchter des Ebers hatten mit schwarzer Farbe Querstreifen auf die Haut ihres Wamses gemalt, doch fanden sie damit wenig Anklang. Die Töchter des großen Bären dagegen trugen die Zobelfelle, die sonst um den Hals befestigt waren, heute frei herabhängend, so daß die weichen Schwänzchen lose an ihre Brust schlugen. Diese neue Mode gefiel.
Alle waren geschminkt; sie hatten Rot auf die Wangen und Lippen und schwarze Farbe rings um die Augen aufgelegt. Perlmutterschimmernde Muscheln trugen sie als Halsketten und im aufgelösten Haar zum letztenmal Blumen. Man bemerkte, daß die Töchter des Bären auf den seltsamen Gedanken gekommen waren, auch die Fußsohlen und Fersen ihrer Füße mit Ocker zu färben.
Der alte Rahi betrachtete sie teilnahmslos vom »Stein der Qualen« aus, wo er die Häuptlinge der anderen Stämme empfing. Die einzige, die ihm reizvoll erschienen wäre, war ja nicht unter ihnen. Mahs Flucht hatte ihn sehr getroffen. Er war noch hagerer geworden, und Timaki bekam seinen Groll zu fühlen. Wie gerne hätte Rahi sein einsames, sorgenschweres Leben dahingegeben!
Die Mütter setzten sich hinter ihre Töchter. Etwas abseits standen die Männer beisammen und besprachen eifrig das einzige Ereignis, das alle beschäftigte: das Verschwinden der Renntiere. Kinder spielten da und dort und kollerten schreiend übereinander. Das Wetter war schön. Nur einzelne dunkle Wolken zogen über den Himmel und warfen ihren Schatten manchmal auf die Hänge, Wiesen und Wälder.
Die scharfen Töne der Bockshörner kündeten das Nahen der jungen Männer. Von den Weisen geführt, zogen sie paarweise in lebhaftem Marschtempo mit langen, geschmeidigen Schritten vorbei. Es waren große, schlanke, prächtige Gestalten mit breit gewölbter Brust und schmalen Hüften. Händeklatschen und lebhafte Zurufe empfingen sie. Die Jünglinge gaben sich bei diesem Einzug alle Mühe, weil er von den Alten mit kritischen Augen überwacht wurde. Und erfreut konnten die Väter jene Eigenschaft, die sie am meisten schätzten, bei der Jugend wiederfinden: die natürliche Anlage zum Schreiten und Laufen, durch die allein das gefährdete Leben der von der Jagd lebenden Völker gesichert ist. Die Söhne standen hinter ihren Vätern nicht zurück, und die Schönheit eines Geschlechtes, das sich als das älteste und edelste der Erde betrachtete, war noch lange nicht im Abnehmen.
Sie waren prächtig gekleidet: Schweife von Silberfüchsen hingen auf ihr Wams herab, Federn zierten ihr Haupt. Die Körper waren mit rotem Ocker bemalt, die Augen mit Kohle vergrößert, blutrot leuchteten die Lippen. Muscheln flimmerten um den Hals, Armreifen aus Schlangenwirbeln umgaben ihre Handgelenke.
Dreimal umkreisten sie die Wiese, jeder Stamm stieß dabei seinen eigenen Sammelruf aus. Dann traten sie in das Wäldchen ein, das den Hang jenes Tales bedeckte, der den Zuschauern gegenüberlag, entledigten sich ihrer Kleidung und behielten nur einen Lendenschurz um.
Mit Ringkämpfen begannen die Spiele. Sieger blieb ein Mammutsprößling, gewachsen wie sein Ahne, der wohl auch imstande gewesen wäre, einen Bären in seinen Armen zu erdrücken. Als er allein an den Frauen und Mädchen vorbeiging, sparten diese nicht mit Zeichen ihrer Bewunderung. Er warf einen schweren, zufriedenen Blick auf sie. – Im Bogenschießen und Speerwerfen wurde ein Sohn des Ebers Meister. Fünf Speere und vier Pfeile bohrte er in den dünnen, schwankenden Stamm einer Birke. Die Jünglinge vom Volke der Bären blieben im Wettlauf unerreicht. No, der wie eine Schwalbe flog, gewann das Laufen über hundertfünfzig Schritte. Schließlich eroberten sie sich auch im Gruppenlaufen den ersten, zweiten und vierten Platz. Die Sieger zogen an den Mädchen vorbei. Diese betrachteten sie keck. Die Jünglinge dagegen blieben noch ernst und zurückhaltend. Höchstens mit jener einen, die sie wohl von früheren Begegnungen schon kannten, wurde ein Blick des Einverständnisses gewechselt. Es gab manche solche Bekanntschaften von Jagdausflügen her, die bis ins Gebiet des Nachbarstammes geführt hatten, und wenn der Zufall sie nicht immer begünstigte, so geschah es auch zuweilen, daß der eigene Wunsch ihm nachhalf.
No betrachtete alle die Mädchen voll Gleichgültigkeit. Niemals hatte er an einer von ihnen Gefallen gefunden. Keine vermochte einen Vergleich mit Mah zu ertragen, mit der reizenden, leichtfüßigen Mah. Würde er heute eine Frau wählen? Er zögerte.
Indessen war der erste Teil der Spiele beendet, und eine Pause trat ein, die man benutzte, um seine Kräfte aufzufrischen. Das gebratene Pferdefleisch und die geräucherten Fische wurden mit Heißhunger, der durch die Erwartung gesteigert worden war, verzehrt. Die wieder angekleideten jungen Männer waren auf die Wiese zurückgekehrt. Noch war es ihnen nicht erlaubt, sich zu den Mädchen zu gesellen. Nur von weitem durften sie diese prüfend betrachten. Sie ließen es daran nicht fehlen, und Scherzworte flogen gleichzeitig mit abgenagten Knochen von einer Gruppe zur anderen.
»Bevor es Nacht wird, werden wir euch schon noch näher betrachten!« riefen die Jünglinge.
»Nur wenn ihr imstande seid, uns zu fangen«, lachten die Mädchen zurück.
Der Ruf der Bockshörner sammelte die Jünglinge um die Weisen. Sie verschwanden mit ihnen im Wäldchen. Unruhe bemächtigte sich der Mädchen. Der Augenblick nahte, in dem ihr Los sich entscheiden mußte.
Doch vorher gab es noch ein heiteres Zwischenspiel.
Ein riesenhafter Auerhahn von fast sechs Fuß Höhe kam hinter den Bäumen hervor. Die Beine waren durch Federn verdeckt, der schöne schwarze Schnabel stak in einer Vogelmaske. Die Leute brachen in lautes Gelächter aus, als er mit grotesken Sprüngen daherkam, den Kopf zur Seite geneigt, den Schnabel erhoben, mit halbgeöffneten Flügeln, die am Boden schleiften. Er vollführte einige Sprünge und Drehungen, ließ die beiden Holzstücke seines Schnabels gegeneinander klappen und ging schließlich, indes er ein scharfes Pfeifen hören ließ, im Kreise herum, wobei sich seine Schwanzfedern aufwärts sträubten. Auf seinen Ruf erschienen vier Hennen am Waldesrand und kamen zu ihm heran. Kaum erblickte sie der Hahn, als er wie ein Besessener herumzuhüpfen begann. Doch bald hielt er ein, und wie einem höheren Zwange folgend, begann er einen Liebessang, der wirklich sonderbar war, denn er klang wie das Aufeinanderschlagen zweier Steine. So naturecht war das Balzen nachgeahmt, daß die Zuhörer, die es alle oft in der Tiefe der Wälder gehört hatten, sich vor Freude nicht zu fassen wußten. Die Hennen starrten mit offenem Schnabel. Plötzlich erschien ganz unerwartet ein zweiter Hahn, so groß wie der erste. Mit gesträubten Federn betrachteten einander die beiden Rivalen, beschrieben Kreise und Halbkreise, vollführten rasche Drehungen um sich selbst, stießen fast menschliche Schreie aus und warfen sich dann plötzlich mit aller Wucht aufeinander. Sie ließen voneinander ab und gingen wieder aufeinander los, und die Weibchen, die ihnen zusahen, glucksten aufgeregt. Endlich lag einer der Kämpfer am Boden, und der Sieger stolzierte, immer noch tanzend, zu den Hennen, die er alle vier mit deutlichsten Annäherungsversuchen unter die nahen Bäume entführte.
Ein neuer Auftritt folgte. Zwei Bisons tauchten mit dem ernsten, gewichtigen Schritt auf, der ihnen eigentümlich ist. Ein Weibchen folgte ihnen, klein, mager, erbärmlich aussehend, mit einem ungeheuren offenen Maul in seiner Kopfmaske. Mit der größten Selbstverständlichkeit setzte das Weibchen sich auf seinen Hinterteil, während die beiden Männchen einen Anlauf nahmen. Zuerst stampften ihre Vorderhufe wütend den Boden; sie ließen dumpfes Brüllen hören und peitschten mit ihrem lächerlich kleinen Schweif durch die Luft. Wie toll rasten sie dann bald nach rechts, bald nach links, blieben wieder stehen und beschnüffelten die Gräser mit ihren breiten Schnauzen. Endlich gingen sie aufeinander los und stießen sich, einer an den anderen gedrängt, mit aller Kraft. Man sah die in den Boden gegrabenen acht Beine sich anspannen. Die wuchtigen Massen wichen keinen Schritt. Die Zuschauer ermunterten die zwei Kämpfer. Wie mit der Erde verwachsen, bewegte sich weder der eine noch der andere. Dies dauerte lange. Plötzlich stürzte einer der beiden zu Boden, ohne auch nur einen Fuß breit gewichen zu sein. Der Sieger trottet zum Weibchen, leckt ihre Schnauze, brüllt noch einmal wütend auf, und beide ziehen in den Wald, um dort ihre Liebe zu verbergen.
Noch eine Pause folgt dieser Szene. Die Sonne sinkt gegen den Horizont. Die Kleidung der Menschen am Wiesenhang, ihre Antlitze, die Bäume am Flußufer, Hügel und Felsen, das rinnende Wasser, vor allem der Himmel selbst erscheinen in zarteren Farben. Die Mädchen sind versonnen. Welche von ihnen wird erwählt werden, welche verschmäht?
Die fünfzig jungen Männer erscheinen wieder unter der Führung der Weisen. Jene, die Siege errangen, gehen an der Spitze; No ist unter ihnen.
Er ist noch unentschlossen. Weder der Rausch der Wettkämpfe noch die Schreie der Zuschauer vermochten seine Sinne zu verwirren. Er hat schon als Zuschauer diesen Spielen beigewohnt. Bei der Einweihung hatten die Weisen ihm den tieferen Sinn der Feier enthüllt. Ohne ihm die Begründung zu geben – die nur den Eingeweihten zweiten Grades bekannt sein durfte –, enthüllten sie No das von ihm bisher nicht erkannte Schändliche in den Heiraten mit Mädchen des eigenen Blutes. Und doch würde nichts so natürlich erscheinen, wie sich mit jenen zu verbinden, neben denen man lebt und die zu lieben alles in uns drängt. Alle Tiere rings in der Natur tun nichts anderes. Sah man schon einen Stier seine Heimat verlassen, um sich in der Ferne ein Weibchen zu suchen? Er wählt es in seiner nächsten Umgebung. Nur der Mensch mußte sich dem Zwange unterwerfen. Und der einzige Grund, den No dafür kennt, liegt in jener fernen Zeit des Ahnen, der dieses Gebot seinen vier Töchtern auferlegte. Und wirklich sahen nach seinem Tode seine eigenen Söhne sich genötigt, in weite Fernen zu ziehen, um sich eine Gefährtin zu suchen. In jenen barbarischen Zeiten waren die Unternehmungen zur Gewinnung der Frauen kriegerisch und blutig. Man tötete Brüder und Väter, um die Mädchen zu entführen. Ein endloser Kampf herrschte zwischen den Stämmen. Aber bald begann man einzusehen, daß man diesem Gemetzel ein Ende setzen müsse. Man verständigte sich mit den Nachbarstämmen über einen friedlichen Austausch der Mädchen, um so mehr, als auch ihnen die religiösen Bestimmungen, die in diesem Punkte bei allen zivilisierten Völkern die gleichen waren, Heiraten innerhalb des Stammes verboten. Und zur Erinnerung an die alten Zeiten blieben die Hochzeitsspiele, bei denen auch jetzt noch die Mädchen geraubt wurden, doch nach vorgeschriebenem Brauch, ohne Kampf und Blutvergießen.
So ist das Schauspiel vor Nos Augen eine symbolische Handlung voll tiefen Sinnes. Er versteht sie im ganzen und in den Einzelheiten. Doch er ist nicht gezwungen, schon heute eine Frau zu wählen. Er kann noch ein oder zwei Jahre warten, mag auch das Leben ohne Gefährtin mühseliger sein.
Er gelangt mit seinen Gefährten bis zur Mitte des Tales. Hier stehen sie reglos und warten, man weiß nicht, worauf.
Ein Weiser tritt aus dem Wald und trägt zwei Ellen lange, geschmeidige Gerten vom Haselnußstrauch. Vor den Jünglingen schwingt er eine von ihnen, als ob er einen Schuldigen schlüge. Dann verteilt er feierlich eine nach der anderen dieser Waffen, unentbehrlich jenen, die ein Weib nehmen.
Die empörten Rufe der Mädchen tönen herüber. Die Frauen stimmen mit ein. Die Väter dagegen lachen und billigen es. Nach dem Beispiel des Weisen täuschen die Jünglinge die Züchtigung einer unsichtbaren Gefährtin vor.
Jetzt endlich beginnt der Schlußakt des Festes: der kriegerische Tanz der jungen Männer. Sie werfen ihre Speere nach dem Feind, weichen seinen Angriffen aus, und, um ihn zu schrecken, lassen sie ihr Kriegsgeschrei ertönen. Schon ist die Dämmerung hereingebrochen, die Blicke suchen am Himmel nach dem ersten Stern. Das Tal, das jetzt im Schatten liegt, tönt von dem Kreischen der Frauen, dem Lachen der Männer und dem Kriegsgeschrei der Jünglinge, die kämpfen, springen, geschickt ausweichen und angreifen. Die Trommeln und Bockshörner lassen sich ohne Unterlaß vernehmen. Lauter und schärfer werden die Rufe der jungen Mädchen. Einige erheben sich und beginnen mit starren Augen wie Besessene zu tanzen. Sie drehen sich und die immer noch kämpfenden Jünglinge kommen jetzt immer näher an sie heran.
Plötzlich erfaßt der Sieger im Ringen, der Sohn des Mammut, eine von ihnen an beiden Handgelenken und zwingt sie vor sich in die Knie. Sie widersteht, sie kämpft, schreit. Ihre Freundinnen eilen, ihr zu helfen. Er aber hat sie schon in die Höhe gehoben, auf seine Schulter gesetzt – eine Feder erscheint Kinderhändchen schwerer, als diesem Riesen das Gewicht des Mädchens. Und langsam ohne ein Wort zu sprechen, wendet er sich dem nahen Walde zu. Die Mädchen drängen nach und rufen wirr durcheinander.
»Wohin, Unselige?« – »Gib sie uns zurück!« – »Was willst du mit ihr?« – »Sei wenigstens gut zu ihr!«
Ohne zu antworten, trägt der Sohn des Mammuts seine Beute davon. Er ist am Waldesrand, er verschwindet hinter den Stämmen. Niemand wagt, ihm zu folgen...
In der jetzt hereinbrechenden Nacht wiederholen sich die gleichen Szenen. Der Vollmond beleuchtet die Liebespaare, und das Jammern der Mädchen steigt zu ihm empor.
Von den fünfzig Eingeweihten sind sechsundvierzig mit der Gefährtin ihrer Wahl im Walde verschwunden.
Nur vier konnten sich nicht entschließen, in diesem Jahre eine Frau zu wählen. No ist einer von ihnen.