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Anne Lisbeth.

Anne Lisbeth war wie Milch und Blut, jung und vergnügt, Sie war schön von Gestalt! die Zähne schimmerten so weiß, die Augen blitzten so hell, die Füße waren leicht im Tanz und ihr Sinn noch leichter. Wozu konnte das führen? »Der leidige Junge!« Ja, schön war er nicht! Er wurde zu des Totengräbers Frau ausgetan; Anne Lisbeth aber kam auf das gräfliche Schloß, saß in schöner Stube und trug Kleider von Samt und Seide. Nicht ein Lüftchen durfte sie berühren, niemand ihr ein hartes Wort sagen; es hätte ihr schaden können, und das durfte nicht geschehen, Sie nährte das gräfliche Kind: es war sein wie ein Prinz, schön wie ein Engel. Wie liebte sie das Kind; aber ihr eigenes, ja, das war in dem Hause des Totengräbers, wo der Topf nicht überkochte, wohl aber der Mund, und oft war niemand daheim. Der Junge weinte; aber was niemand hört, das rührt auch niemand, und er weinte sich in den Schlaf, und im Schlaf fühlt man weder Hunger noch Durst. O, der Schlaf ist eine gute Erfindung. Mit den Jahren – ja, im Laufe der Zeit schießt das Unkraut auf, wie man zu sagen pflegt – schoß auch Anne Lisbeths Junge auf, und doch war er von untersetztem Wuchs. Er verwuchs ganz und gar mit der Familie, die ihn für Geld aufgenommen hatte. Anne Lisbeth war ihn für immer los, Sie lebte in der Stadt, saß gut und warm und trug einen Hut, wenn sie ausging. Aber zu der Totengräberfamilie ging sie niemals: die wohnte so weit von der Stadt, und sie hatte dort auch nichts zu tun. Der Junge gehörte zur Familie, und da er seinen Teil mochte, wie sie sagten, sollte er seine Beköstigung selbst verdienen, und deshalb hütete er Mad Jensens rote Kuh; das verstand er, und er wußte mit dem Tier umzugehen.

Der Kettenhund sitzt auf dem Hofplatz des Edelsitzes im Sonnenschein stolz auf seinem Hause und bellt jeden an, der vorübergeht; aber bei Regenwetter kriecht er hinein und liegt trocken und warm. Anne Lisbeths Junge saß bei Sonnenschein am Grabenrand und schnitzte Tüderpflöcke. Im Frühjahr dachte er an drei blühende Erdbeerstauden; er meinte, daß sie Früchte ansetzen müßten, und das war sein frohester Gedanke; aber sie brachten keine Früchte. In Regen und Nebel saß er da, wurde naß bis auf die Haut, und der scharfe Wind trocknete ihm das Zeug wieder am Leibe. Kam er auf den Hof, so wurde er gestoßen und geschlagen. Er wäre häßlich und widerwärtig, sagten die Mägde und Knechte. Er war es gewöhnt; niemand liebte ihn.

Wie ging es Anne Lisbeths Jungen? Wie sollte es ihm gehen? Es war sein Los, von niemand geliebt zu werden.

Vom festen Land über Bord geworfen, ging er zur See auf ein elendes Schiff. Er saß am Steuerruder, während der Schiffer trank. Schmutzig und häßlich war er, verfroren und gefräßig; man mußte glauben, daß er niemals satt gewesen wäre, und er war es auch nie.

Es war rauhes, nasses, stürmisches Wetter; der Wind schnitt eisig durch die dicken Kleider, besonders auf dem Meere, und doch stach ein elendes Schiff mit einem Segel und zwei Mann Besatzung in See; ja eigentlich waren es nur anderthalb Mann, der Schiffer und sein Knecht. Dämmerig war es den ganzen Tag gewesen; nun wurde es finster; es war schneidende Kälte. Der Schiffer nahm einen Schnaps; das wärmt den Magen. Flasche und Glas waren alt. Der Fuß des Glases war abgebrochen, und es hatte, um stehen zu können, einen blau angestrichenen, rohgeschnittenen Holzklotz erhalten. Ein Schnaps täte gut, zwei täten besser, meinte der Schiffer. Der Schiffsjunge saß am Steuerruder und hielt es mit seinen harten, teerigen Händen fest. Häßlich war er; das Haar war struppig, der Körper klein und verkrüppelt. Es war der Sohn des Totengräbers; aber nach dem Kirchenbuch war er Anne Lisbeths Kind.

Der Wind fuhr auf seine Weise dahin, das Schiff fuhr auf seine Weise dahin. Die Segel waren geschwellt; der Wind hatte sie gefaßt; es ging in fliegender Fahrt. Rauh, naß war es ringsumher; allein es konnte noch schlimmer kommen. Halt! Was war das? Was stieß, was sprang, was drang in das Schiff ein? Es drehte sich um sich selbst! Kam ein Wolkenbruch? Erhob sich eine Sturzsee? Der Junge am Steuerruder schrie laut: »In Jesu Namen!« Das Schiff war auf ein mächtiges Felsenriff geraten und sank wie ein alter Schuh in einem Wasserloche; es sank mit Mann und Maus, wie man zu sagen pflegt, und Mäuse waren an Bord, aber nur anderthalb Mann: Der Schiffer und des Totengräbers Junge. Niemand sah es, außer den schreienden Möwen und den Fischen in der Tiefe; ja auch diese sahen es nicht genau; denn sie fuhren erschreckt zurück, als sich das Wasser brausend in das Schiff ergoß. Es sank; kaum einen Faden stand es unter Wasser. Begraben waren die beiden, begraben und vergessen. Nur das Glas mit dem blau angestrichenen hölzernen Fuß sank nicht; der Holzfuß hielt es oben; das Glas trieb davon, um abzubrechen oder an die Küste gespült zu werden. Wo und wann? Ja, das hat nun nicht mehr viel zu bedeuten. Nun hatte es ausgedient und es war geliebt worden. Das war nicht der Fall bei Anne Lisbeths Sohn. Doch im Himmelreiche wird keine Seele sagen können: »Niemand liebte mich.«

 

*

Anne Lisbeth lebte in der Stadt schon viele Jahre; sie wurde gnädige Frau genannt und warf sich stolz in die Brust, wenn sie von alten Erinnerungen erzählte, von ihrer gräflichen Zeit, als sie in einer Kutsche fuhr und mit Gräfinnen und Baronessen sprach. Ihr süßes Grafenkind war der reizendste Engel Gottes, die liebste Seele; er hatte sie geliebt und sie ihn. Sie hatten sich geküßt und geliebkost; er war ihre Freude, ihr halbes Leben. Nun war er groß, war vierzehn Jahre, war gelehrt und schön. Sie hatte ihn nicht wieder gesehen, seit sie ihn auf dem Arme trug; sie war seit vielen Jahren nicht wieder auf dem gräflichen Schlosse gewesen; es war eine weite Reise bis dahin.

»Ich muß es einmal wahrnehmen,« sagte Anne Lisbeth; »ich muß zu meiner Herrlichkeit, zu meinem süßen Grafenkind, Ja, es verlangt gewiß nach mir, denkt an mich, liebt mich noch wie damals, als es mit seinen Engelsarmen an meinem Halse hing und stammelte: Annlies! Das klang wie Geigenton. Ja, ich muß es wahrnehmen und ihn wiedersehen.«

Sie fuhr mit dem Kälberwagen; sie ging zu Fuß, bis sie zum gräflichen Schlosse kam. Es war groß und leuchtete wie einst, und der herrliche Garten umgab es wie damals; aber die Leute im Schlosse waren ihr alle fremd. Nicht eine wußte etwas von Anne Lisbeth; nicht einer wußte, was sie einst hier bedeutet hatte. Das würden ihnen schon die Gräfin und ihr süßes Kind sagen. Wie sehnte sie sich nach ihm.

Nun war Anne Lisbeth hier. Lange mußte sie warten, und beim Warten wird die Zeit gar lang! Ehe die Herrschaft zu Tische ging, wurde sie zur Gräfin befohlen und gar freundlich aufgenommen. Ihren süßen Knaben sollte sie nach Tische sehen, und deshalb wurde sie wieder hereinbefohlen.

Wie groß war er geworden, wie lang und schmächtig! Aber die reizenden Augen und den Engelmund hatte er noch. Er sah sie an und sagte kein Wort. Er kannte sie gewiß nicht mehr. Er wandte sich um und wollte gehen; aber da nahm sie seine Hand und drückte sie an ihren Mund. »Schon gut, schon gut,« sagte er, und dann ging er aus dem Zimmer, er, der ihr liebster Gedanke war, den sie geliebt hatte und innig liebte, der ihr ganzes Erdenglück war.

Anne Lisbeth ging aus dem Schlosse auf die offene Landstraße hinaus; sie war gar traurig. Er war so fremd gegen sie gewesen, hatte keinen Dank, nicht ein Wort für sie gehabt; er, den sie einst Tag und Nacht getragen hatte und den sie noch immer im Herzen trug.

Da ließ sich ein großer schwarzer Rabe vor ihr auf der Landstraße nieder, der krächzte und krächzte. »Ei,« sagte sie, »was willst du, alter Unglücksvogel.«

Sie kam bei dem Hause des Totengräbers vorbei; die Frau stand in der Tür und deshalb sprachen sie miteinander.

»Du siehst gut aus,« sagte die Frau des Totengräbers; »du bist dick und rund, dir geht es gut.«

»Gott sei's gedankt,« sagte Anne Lisbeth.

»Das Schiff ist damals mit ihnen untergegangen,« sagte die Frau des Totengräbers. »Der Schiffer Lars und der Junge sind beide ertrunken. Nun ist's zu Ende mit ihnen, und ich hatte gehofft, daß der Junge mir einst mit ein paar Groschen helfen würde. Dir kostet er nun nichts mehr, Anne Lisbeth.«

»So, er ist ertrunken,« sagte Anne Lisbeth, und dann sprachen sie nicht mehr davon. Sie war sehr betrübt, daß ihr Grafenkind nicht mit ihr sprechen mochte, die ihn doch liebte und seinetwegen den langen Weg gemacht hatte. Das hatte Geld gekostet und die Freude, die sie erfahren hatte, war nicht groß. Allein sie sagte kein Wort darüber; sie wollte ihr Herz nicht gegen die Frau des Totengräbers ausschütten: sie könnte ja glauben, daß sie bei der gräflichen Familie nicht mehr in Ansehen stände. Da flog der Rabe wieder krächzend über sie hin.

»Der schwarze Schreier,« sagte Anne Lisbeth, »hat mich heute schon genug erschreckt.«

Sie hatte Kaffee und Zichorie mitgebracht, und sie erwies der Frau des Totengräbers eine Wohltat und gab ihr davon, um einen Kaffee zu machen. Anne Lisbeth wollte eine Tasse mittrinken, und die Totengräberfrau ging hinaus, ihn zu kochen. Anne Lisbeth setzte sich auf einen Stuhl und schlief ein. Da träumte ihr seltsam genug von ihm, von dem ihr noch niemals geträumt hatte; ihr träumte von ihrem eigenen Kinde, das hier im Hause gehungert und geschrien hatte, das allen im Wege gewesen und das nun – Gott weiß wo – in dem tiefen Meere lag. Ihr träumte, daß sie säße, wo sie saß, und daß des Totengräbers Frau draußen war und Kaffee kochte. Sie röche den Duft der Bohnen und in der Tür stände eine liebliche Gestalt, so schön wie das Grafenkind, und spräche:

»Nun geht die Welt unter! Halte dich an mir fest: denn du bist doch meine Mutter. Du hast einen Engel im Himmelreich. Halte mich fest!«

Und deshalb griff sie nach ihm; aber da ertönte ein gewaltiges Krachen; es war gewiß die Welt, die auseinanderbarst, und der Engel erhob sich und hielt sie fest an den Ärmeln ihres Hemdes, so fest, daß es ihr schien, als ob sie von der Erde fortgetragen würde. Aber da hängte sich plötzlich etwas schwer an ihre Beine und legte sich schwer auf ihren Rücken. Es war, als ob sich hundert Frauen fest an sie klammerten und sagten: »Solltest du erlöst werden, müssen wir es auch! Anhängen! Anhängen!« Und sie hängten sich alle an sie; aber es waren zu viele! Ritsch, ratsch! zerriß der Ärmel, und Anne Lisbeth fiel in eine ungeheure Tiefe, so daß sie davon erwachte – und sie war nahe daran, mit dem Stuhle umzufallen, auf dem sie saß. Ihr war so wirr im Kopfe, daß sie sich nicht erinnern konnte, was ihr geträumt hatte; aber etwas Schlimmes mußte es gewesen sein.

Es wurde Kaffee getrunken; es wurde erzählt, und dann ging Anne Lisbeth nach der nächsten Stadt, um den Frachtfuhrmann anzutreffen, mit dem sie noch denselben Abend und die Nacht hindurch in ihre Heimat fahren wollte. Aber als sie zu ihm kam, sagte er, daß er nicht vor dem nächsten Abend fahren könnte. Sie bedachte, was das Bleiben kosten würde, berechnete die Weglänge und fand, daß es zwei Meiler näher wäre, wenn sie am Meeresstrand und nicht auf der Fahrstraße gehen würde. Es war ja helles Wetter: der Vollmond schien, und deshalb wollte Anne Lisbeth gehen, um am nächsten Tage daheim zu sein.

Die Sonne war untergegangen; die Abendglocken klangen noch,– nein, es waren keine Glocken, es waren Peter Oxes Peter Oxe war ein dänischer Staatsmann und wegen seiner starken Stimme beim Volke bekannt. Frösche, die in den Sümpfen quakten. Nun schwiegen sie. Alles war still. Kein Vogel ließ sich hören; sie waren alle zur Ruhe gegangen, und die Eulen waren wohl noch zu Hause. Lautlos war es im Walde und am Strande, wo sie ging, daß sie ihre eigenen Tritte im Sande hörte. Spiegelglatt lag das Meer; es war lautlos über dem tiefen Wasser; stumm waren sie dort unten alle, die Lebenden und die Toten.

Anne Lisbeth ging dahin und dachte an nichts, wie man zu sagen pflegt; sie hatte sich aller Gedanken entschlagen. Aber die Gedanken waren nicht von ihr gewichen; sie gehen niemals von uns fort; sie schlummern nur, die lebendig gewordenen Gedanken, die sich wieder gelegt haben, und auch diejenigen, die sich noch nicht geregt haben. Aber die Gedanken kommen schon herauf; sie können sich in unserm Herzen regen, in unserm Kopfe und uns auch plötzlich überfallen.

»Wohltun bringt Segen« steht geschrieben; »Die Sünde ist der Leute Verderben« steht ebenfalls geschrieben. Vieles steht geschrieben; vieles ist gesagt; aber man weiß es nicht, man erinnert sich nicht. So ging es auch Anne Lisbeth; aber es kann einem schon aufgehen, es kann schon kommen.

Alle Laster, alle Tugenden liegen in unserm Herzen, in deinem, in meinem; sie liegen darin wie kleine, unsichtbare Körner. Da kommt von außen ein Sonnenstrahl, die Berührung einer bösen Hand; du wendest es ein wenig nach rechts oder links – ja, das kann entscheiden, und das kleine Samenkorn erbebt, es schwillt an, es berstet und gießt dir seine Säfte ins Blut und du kommst in Wallung. Das sind beängstigende Gedanken; aber man hat keine, wenn man wie im Traume umhergeht; aber sie können sich regen. Anne Lisbeth ging wie im Traume; und die Gedanken regten sich. Von Lichtmeß zu Lichtmeß hat das Herz manches auf seinem Sündenregister, die Rechenschaft über ein ganzes Jahr. Viel ist vergessen, Sünden in Worten und Gedanken gegen Gott, unsern Nächsten und unser eigenes Gewissen. Wir denken nicht daran, und das tat Anne Lisbeth auch nicht. Sie hatte nicht gegen Gesetz und Recht des Landes verstoßen; sie wußte, daß sie in gutem Rufe stand, für rechtschaffen und ehrbar galt. Und wie sie nun am Strand dahinging – was war das, was lag dort? Sie stand still. Was war angespült worden? Ein alter Männerhut lag dort. Wo mag der über Bord gegangen sein? Sie ging näher, blieb stehen und sah ihn an. Ei! was liegt dort! Sie fuhr zusammen, und doch war es nichts, worüber man erschrecken konnte! Es war Tang und Seegras, das sich um einen großen, länglichrunden Stein geschlungen hatte. Es sah wie ein Mensch aus, und doch war es nur Seegras und Tang. Aber der Schrecken blieb, und indem sie weiter ging, kam ihr so viel in den Sinn, was sie als Kind gehört hatte, der ganze Aberglaube von dem Strandgespenst, der Spukgestalt der Unbegrabenen, die an dem öden Meeresufer angespült liegen. Der angespülte Leichnam tut freilich nichts. Aber das Strandgespenst folgte dem einsamen Wanderer, hängte sich fest an ihn und verlangte nach einem Kirchhofe getragen und in christlicher Erde begraben zu werden. »Anhängen! anhängen!« sagte es, und wie Anne Lisbeth für sich das Wort wiederholte, fiel ihr auf einmal der ganze Traum so lebhaft wieder ein, wie die Mütter sich an sie geklammert hatten mit dem Ausruf: Anhängen! anhängen! wie die Welt versank, ihre Hemdärmel zerrissen und sie ihr Kind losließ, das in der Stunde der Verdammung sie emporziehen wollte. Ihr Kind, ihr leibliches Kind, das sie niemals geliebt, ja an das sie nicht einmal gedacht hatte, lag nun auf dem Grunde des Meeres und konnte als Strandgespenst kommen und rufen: »Anhängen! anhängen! Bringe mich in christliche Erde!« Und indem sie daran dachte, stach die Angst sie in die Fersen, daß sie schneller ging. Die Furcht legte sich mit ihrer kalten feuchten Hand auf ihre Herzgrube, daß sie nahe daran war, ohnmächtig zu werden. Und als sie nun auf das Meer hinaussah, wurde es dort dichter und dichter. Ein schwerer Nebel stieg empor und legte sich über Büsche und Bäume, daß sie ein wunderliches Aussehen erhielten. Sie wandte sich, um nach dem Mond zu sehen, der hinter ihr stand; er war wie eine blinde Scheibe ohne Strahlen. Ihr war, als hätte sich etwas Schweres auf ihre Glieder gelegt. »Anhängen! anhängen!« dachte sie, und als sie sich wieder wandte, um nach dem Mond zu sehen, glaubte sie sein Weißes Gesicht dicht hinter sich und den Nebel wie ein weißes Linnen von ihren Schultern herabhängen zu sehen. »Anhängen! Bringe mich in christliche Erde!« meinte sie zu hören, und sie hörte auch einen Laut, so hohl, so seltsam. Der konnte nicht von den Fröschen aus dem Sumpfe kommen, nicht von den Raben und Krähen; denn sie sah ja keine. »Begrab mich! begrab mich!« klang es ganz deutlich! Ja, das war das Strandgespenst ihres Kindes, das auf dem Meeresgrunde lag und nicht eher Frieden finden konnte, bis es auf einen Kirchhof getragen und ein christliches Begräbnis gefunden hatte. Dorthin wollte sie gehen, dort wollte sie es begraben. Sie ging in der Richtung, wo eine Kirche lag, und es schien ihr, daß die Last leichter würde und verschwände. Da wollte sie wieder umkehren, um auf dem nächsten Wege ihre Wohnung zu erreichen. Da packte es sie wieder. »Anhängen! anhängen!« Es klang wie das Quaken der Frösche, wie ein klagender Vogelschrei, es klang so deutlich: »Begrab mich! begrab mich!«

Der Nebel war kalt und feucht; Hand und Gesicht waren kalt und feucht vor Entsetzen. Von außen fühlte sie einen Druck; im Innern war ein unendlicher Raum für Gedanken, die sie noch niemals vernommen hatte.

In einer Frühlingsnacht kann bei uns im Norden der Buchenwald ausschlagen und in seiner ganzen leuchtenden Pracht im Sonnenlichte des folgenden Tages dastehen; in einer einzigen Sekunde kann in unserem Innern die Saat unserer Sünden in Gedanken, Worten und Taten keimen und sich entfalten, die unsere Lebensführung angehäuft hat. Sie keimt und entfaltet sich in einer einzigen Sekunde, wenn unser Gewissen erwacht, und Gott der Herr erweckt es, wenn wir es am wenigsten erwarten. Da gibt es nichts zu entschuldigen; die Toten stehen auf und zeugen; die Gedanken bekommen Worte, und die Worte erschallen deutlich in die Welt hinaus. Wir erschrecken über das, was wir in uns getragen und nicht erstickt haben; wir erschrecken über das, was wir im, Übermut und in Gedankenlosigkeit getan haben. Das Herz umfaßt alle Tugenden, aber auch alle Laster, und sie können selbst auf dem unfruchtbarsten Boden gedeihen.

In Anne Lisbeth wogten die Gedanken, die wir hier in Worte gekleidet haben. Sie wurde von ihnen überwältigt, daß sie zur Erde sank und eine Strecke weiter kroch. »Begrab mich! begrab mich!« klang es, und am liebsten hätte sie sich selbst begraben, wenn das Grab nur ewige Vergessenheit brächte. – Das war die ernste Stunde der Erweckung in Angst und Grauen. Der Aberglauben trieb ihr Hitze und Kälte ins Blut; so vieles, über das sie nimmer reden möchte, kam ihr in den Sinn. Lautlos, wie ein Wolkenschatten im hellen Mondlicht, fuhr eine Erscheinung an ihr vorüber, von der sie früher schon gehört hatte. Dicht an ihr vorüber jagten vier schnaubende Rosse; das Feuer fuhr ihnen aus Augen und Nasenlöchern. Sie zogen eine glühende Kutsche, in welcher der böse Gutsherr saß, der vor mehr als hundert Jahren in dieser Gegend gehaust hatte. Jede Mitternachtsstunde, hieß es, fahre er auf sein Gut hinauf und lehre sofort wieder um. Er war nicht weiß, wie man es von den Toten sagt, nein, er war schwarz wie eine Kohle, eine ausgebrannte Kohle. Er nickte Anne Lisbeth zu und winkte: »Anhängen! anhängen! Dann kannst du wieder im gräflichen Wagen fahren und dein Kind vergessen.«

Sie beeilte sich noch mehr, um von der Stelle zu kommen und erreichte den Kirchhof. Allein die schwarzen Kreuze und die schwarzen Raben gingen vor ihren Augen ineinander. Die Raben schrien, wie sie am Tage geschrien hatten; doch nun verstand sie, was sie sagten. »Ich bin eine Rabenmutter! Rabenmutter!« sagte jeder von ihnen, und Anne Lisbeth wußte, daß das Wort auch ihr galt. Sie würde wahrscheinlich in einen solchen schwarzen Vogel verwandelt werden und mußte beständig krächzen, was sie krächzten, wenn sie das Grab nicht graben würde.

Und sie warf sich zur Erde nieder, und grub mit ihren Händen ein Grab in den harten Boden, daß ihr das Blut aus den Fingern sprang.

»Begrab mich! begrab mich!« ertönte es fortwährend; sie fürchtete um den Hahnenschrei und den ersten roten Strahl im Osten; denn kamen sie, ehe ihre Arbeit beendet war, so war sie verloren. Und der Hahn krähte, und im Osten flammte es auf. – Das Grab war nur halb gegraben; eine eiskalte Hand fuhr ihr über Kopf und Gesicht bis zum Herzen. »Ein halbes Grab nur,« seufzte es und ein Schatten schwebte fort, zurück auf den Meeresgrund. Ja, das war das Strandgespenst. Anne Lisbeth sank ohnmächtig zur Erde; sie hatte weder Gedanken noch Empfindung.

Es war heller Tag, als sie wieder zu sich kam; zwei Männer richteten sie auf. Sie lag nicht auf dem Kirchhofe, sondern am Meeresufer, und dort hatte sie vor sich in den Sand ein tiefes Loch gegraben und ihre Finger an einem zerbrochenen Glase, dessen Stiel in einem blauangestrichenen Holzfuß steckte, blutig geschnitten. Anne Lisbeth war krank; ihr Gewissen hatte die Karten des Aberglaubens gemischt, gelegt und herausgelesen, daß sie nur noch eine halbe Seele hätte; die andere Hälfte hätte ihr Kind mit auf den Grund des Meeres genommen. Niemals würde sie sich zur göttlichen Gnade emporschwingen, wenn sie nicht den Teil, der im tiefen Wasser zurückgehalten wurde, wiedererlangte. Anne Lisbeth kam nach Hause; aber sie war nicht mehr, was sie gewesen war. Ihre Gedanken hatten sich verwirrt, wie sich das Garn verwirrt; nur ein Gedankenfaden lag klar, das Strandgespenst nach dem Kirchhof zu bringen, es in ein Grab zu legen und dadurch ihre ganze Seele zurückzugewinnen.

Manche Nacht wurde sie im Hause vermißt, und immer fand man sie am Meeresufer, wo sie auf das Strandgespenst wartete. So verging ein ganzes Jahr; da verschwand sie wieder eines Nachts. Den ganzen folgenden Tag verbrachte man mit vergeblichem Suchen; sie war nicht aufzufinden.

Als gegen Abend der Küster in die Kirche kam, um den Feierabend einzuläuten, sah er vor dem Altare Anne Lisbeth liegen. Hier war sie seit der frühen Morgenstunde gewesen; ihre Kräfte wollten sie verlassen, aber ihre Augen leuchteten, und ein rötlicher Glanz lag auf ihrem Gesicht. Die letzten Sonnenstrahlen fielen auf sie, strahlten über den Altartisch und die blanken Spangen der Bibel, die bei den Worten des Propheten Joel aufgeschlagen lag: »Zerreißet eure Herzen und nicht eure Kleider, bekehret euch zum Herrn.« Das wäre ein Zufall, fügte man, wie so manches zufällig ist.

In Anne Lisbeths Antlitz, das die Sonne beschien, konnte man Frieden und Gnade lesen. Ihr wäre nun wohl, sagte sie, sie hatte nun überwunden. In der Nacht wäre das Strandgespenst, ihr eigenes Kind, bei ihr gewesen und gesagt: »Du grubst nur ein halbes Grab für mich; aber du hast mich nun Jahr und Tag in deinem Herzen begraben, und dort verwahrt eine Mutter ihr Kind am besten,« und deshalb hätte er ihr die verlorene halbe Seele zurückgegeben und sie in die Kirche geführt.

»Nun bin ich im Hause Gottes,« sagte sie, »und dort ist man selig.«

Und als die Sonne ganz untergegangen war, war Anne Lisbeths Seele ganz oben, dort wo keine Furcht ist, wenn man hier ausgerungen hat, und Anne Lisbeth hatte ausgerungen.


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