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Der Aufruf und der Aufstand der Freiwilligen im Jahre 1815 in Preußen war nur eine Nachdröhnung der Volkserhebung im Jahre 1813. Gentz bewies, nach den ihm sehr unangenehmen Wartburggeschichten, Friedrich v. Gentz, der bekannte reaktionäre Politiker, Metternichs rechte Hand, »ein Mann von vertrocknetem Gehirn und verfaultem Herzen«, wie ihn der Freiherr u. Stein kennzeichnete. – Mit den »Wartburggeschichten« meint Alexis das bekannte Wartburgfest der Burschenschaftler (18. Oktober 1817), bzw. deren Protest gegen das reaktionäre Vorgehen der deutschen Diplomatie unter dem Einfluß Metternichs. daß die Freiwilligen damals überflüssig gewesen wären. Die Massen Linientruppen, welche Preußen, Österreich mit dem wieder vereinigten Deutschland zusammenbringen konnten, hätten in Verbindung mit den Heeren und Schiffen der englischen und russischen Alliierten das Werk allein zu Ende geführt. Ich weiß nicht, ob man preußischerseits 1819 auf diese diplomatische Rüge geantwortet hat; aber 1815 schien auch der preußischen Regierung das Volk und seine Teilnahme noch notwendig, es war noch der kräftige Nachhall desselben mächtigen Impulses. In den Schulen war nur eine Stimme. Wer konnte, sollte und mußte mit, darüber war keine Frage. Wen schwache Gesundheit, Eltern oder Vormünder nicht fortließen, wurde bedauert oder verhöhnt. Es war gewiß Spielerei mit im Spiel; wo aber fehlt die auch bei den ernstesten Fragen! Und sollte die Jugend, wo sie ihr als Tugend geboten wurde, nicht freudig zugreifen! Es war ein wonniges Gefühl, schon halb in militärischer Kleidung, mit rotgestreiften Beinkleidern oder gar mit der grünen, wohlkleidenden Jägeruniform, in die Klassen zu gehen. Wie staunten die andern jüngern Schüler den künftigen Helden an, wenn er, die kleine Mappe, die alten Klassiker unterm Arm, stolz durch ihre Reihen schritt! Wie anders, mit welchem Selbstgefühl blickte er den Lehrer auf dem Katheder an, der wohl von Aufopferung fürs Vaterland sprach, aber er blieb zu Haus, und wir opferten uns; er redete von den großen Taten unsrer Väter, wir wollten sie vollbringen. Seine Autorität war nur noch eine prekäre; in wenig Tagen gehorchten wir einer andern. Er hatte uns nichts mehr zu gebieten; das war schon ein Heldengefühl.
Gentz mag von dem kühlen Standpunkte aus, von dem er die Sache ansah, Recht gehabt haben. Materiell war der Volksaufstand nicht mehr nötig; es war wenigstens nicht mehr nötig, daß der Beamte sein Amt, der Meister sein Handwerk, der Gatte die Gattin verließ, und daß sechzehnjährige Knaben von den Bänken in Prima und Sekunda forteilten, um das Vaterland zu retten. Wenn es noch das zu retten galt, so reichte die bewaffnete Macht aus. Die ideelle Macht war von beiden Seiten schon gebrochen. Napoleon focht bei Waterloo für seine Sache; aber er mußte ihr einen andern Namen geben, um die Nationalbegeisterung in Frankreich dafür zu erwecken. Daß es für Deutschland nicht mehr um die geträumte Freiheit und nationale Einheit sich stritt, hatten die Verhandlungen des Wiener Kongresses verraten.
Nur nicht uns sechzehn- und siebzehnjährigen Jünglingen. Wir träumten noch, wir waren noch berauscht; noch fühlte man nichts von Nachwehen. Die begeisterten Reden unsrer Lehrer, die Nachklänge der Fichte-, Schleiermacher-, Arndtschen wissenschaftlichen Kriegsberedsamkeit, von allen Kathedern hallend, Körners und Schenkendorfs Lieder, die Erzählungen der älteren Jünglinge, die 1813 und 1814 mit geblutet und mit gesiegt, alles das erhielt den Rausch lebendig. Wir schwelgten in Fouques Nordlandssagen, in seinem gründlichen Neufranzosenhaß. Die Ideen des Turnertums waren mächtig, auch außerhalb der Hasenheide. Ein Wäldchen vor den Toren im Süden Berlins (heute zu Neukölln gehörend), der Übungsplatz der Jahnschen Turner. Der Plumpsack, der dort jedem, welcher durch ein Fremdwort die deutsche Sprache entweihte, drei Streiche versetzte, ging auch moralisch in der jungen Gesellschaft um. Jahns Deutschtümlichkeit war uns kein Phantom, sondern eine Wahrheit, und wir hofften noch zuversichtlich auf die Realisierung unsrer Ideen von einem deutschen Volkstume, wenn wir auch über das Wie? weder mit andern noch mit uns im reinen waren.
Dennoch war auch schon da in die preußische Jugend ein Mißklang gedrungen. Ganz war es uns nicht entgangen, daß die Diplomatie der Nationalbegeisterung ein Schnippchen geschlagen hatte, und daß andre das ernten wollten, was das Volk durch Opfer und Tapferkeit errungen hatte. Aber wir bewegten uns noch in einem engen Formelkreise. Die gespenstischen Wörter: Aristokratie, Bureaukratie und Hierarchie, die uns seitdem erschreckten, lagen damals außerhalb desselben; und das Wort Tyrannei, das gründlich gehaßteste, kannten wir zwar, aber wir waren viel zu loyal, um es auf andre anzuwenden, als auf den Franzosenkaiser Napoleon. Unsre natürliche Freiheitsliebe war mit dem Franzosenhaß identifiziert. In den Intrigen, die auf dem Wiener Kongresse spielten, sahen wir nichts als eine Rückkehr zu der alten französischen Diplomatie, der wir nicht sowohl ihre Tendenzen als ihre unvolkstümlichen Formen vorwarfen. Mit höchster Entrüstung betrachteten wir Deutsche es namentlich, daß so viel deutsches Blut auf deutscher Erde geflossen war, und doch wurde der Friede in französischer Sprache geschlossen. So viele der wunderbarsten Begriffe von Volkstum hatten wir uns eingepfropft – zu denen aber Fürsten, Könige und womöglich auch ein Kaiser gehörten – und doch verhandelte und handelte man nicht aus einem Volksrat heraus oder offen königlich für das Volk, sondern aus den Kabinetten zu den Kabinetten, heimlich, schriftlich und in französischer Sprache! Wie paßte das zu den herrlichen, kernigen Aufrufen an das Volk, zu den Proklamationen, die immer an Karl und Wittekind gemahnt hatten!
Die Stimmung in der Jugend war durchaus ernst und religiös; christlich und durch die Vermittlung der Romantik sogar etwas katholisch. Nichts von lasziver Beimischung und ironischer Betrachtungsweise; diese hat erst der nachfolgende Druck in der deutschen Jugend hervorgebracht. Von der Seite fürchteten wir keine Reaktionen, wie uns der Ausdruck überhaupt fremd war. Nur die geheime, fremde, französische Hofsitte, das nicht deutsche Galakleid der Etikette, die gleisnerischen Schranzen, die vornehmen Riccauts de la Marliniere, Mit dem Namen dieses bekannten Glücksritters aus Lessings »Minna von Barnhelm« spielt Alexis deutlich auf die skrupellose Art jener französischen Emigranten an. die wir überall wieder durch die Türritzen dringen sahen, waren uns verhaßt. Daß ein Talleyrand sogar, in dem wir den leibhaftigen Bösen mit dem Klumpfuß sahen, in Wien mitsprechen, das große Wort führen durfte; daß Kaiser Alexander, nach dem herrlichen, heiligen Kampfe, mit Franzosen und Französinnen schön tun konnte, und die deutschen Fürsten vergingen nicht in edler Entrüstung! Deutsche Aristokraten von Schrot und Korn, die gewußt hätten, geschickt die Sache anzufangen, hatten einen guten Teil der deutschen gärenden Jugend damals noch für sich gewinnen können ...
Wir waren christlich romantisch, aber auf diesem Wege schon etwas fatalistisch gestimmt. Gottes Gerichte wirkten immer unmittelbar ein. Napoleons Rückkehr von Elba, die Zersprengung des Wiener Kongresses war ein sichtlicher Fingerzeig, daß Gott mit diesem Frieden in französischer Sprache nicht zufrieden war. Es mußte aufs neue losgehen, ein letzter Akt, eine letzte Schlacht geschlagen werden, um einen andern Frieden in andrer Sprache, mit anderem Geiste und anderen Bedingungen zu schließen. Elsaß und Lothringen mußten wenigstens wieder deutsch werden; vielen aber mochte die dunkle Idee von der Zerstörung des neuen Babels, von dem Untergänge von Paris vor Augen schweben. Ein guter, glorreicher Ausgang war uns sicher; der Zauber war ja längst gebrochen, es kam nur darauf an, den Zauberer zu zermalmen, damit er nicht noch einmal spuke. So, voll sicheren Vertrauens auf den Ausgang, voll Überzeugung von der erneuten Notwendigkeit des Volksaufstandes, von der göttlichen Mission, der wir folgten, schwuren wir Jüngeren zu den Fahnen.
Die Wirklichkeit forderte rasch genug nach solchen Träumen ihr Recht. Aus Büchern und Knabenspielen, aus der Mutter Obhut und den gebildeten Kreisen des bürgerlichen Lebens plötzlich mit sechzehn Jahren in das Treiben und unter die Gesänge und Scherze einer ausgelassenen Soldateska versetzt zu sein, ist eine eigene Sache. Ich hatte mir eingebildet, die Freiwilligen wären im allgemeinen wie ich. Da glühte in allen derselbe heilige Franzosenhaß; dieselbe Entrüstung über den verpfuschten, halben Frieden und eine wenigstens ähnliche Begeisterung für deutsche Volkstümlichkeit. Wenn ich auch zweifelte, daß alle Fouqué gelesen hätten, so mußten sie doch Goethe und Schiller und den Straßburger Münster und die deutsche Geschichte kennen. Sie alle konnte nur Haß und Liebe in die Reihen der Vaterlandsverteidiger geführt haben. Im Jahre 1813 hätte ich mich nicht getäuscht. Die freiwilligen Jäger waren damals die Elite der preußischen Jugend, alle mehr oder minder poetische Abdrücke von Theodor Körner. Die Studierenden, Künstler, jüngeren Beamten, Ökonomen bildeten in ihren Kompagnien große Hetärien, Hetärien – bei den Griechen eine politische Verbindung, hier im Sinne geselliger Vereinigung gebraucht. wo unter den Beschwerden der Märsche, im Getös der Waffen, Gesang, Scherz, geistige Erregung, gesellige Erinnerungen das Zelt- und Feldleben angenehm machten. Alle verstanden sich; aus der Heimat, der Schule hatten sie hundert Anknüpfungspunkte, und Poesie und Kunst warfen mannigfache Lichtstrahlen in die beschwerdevolle Wirklichkeit. Die Kameradschaften hatten die edelsten Züge aufopfernder Liebe hervorgebracht. Die Todmüden, vor Erschöpfung Taumelnden, in dunkeln morastigen Hohlwegen, auf dem Rückzug, Feindesstimmen hinter ihnen, vor ihnen, im Augenblick, wo sie sich in der Verzweiflung hinstrecken wollen, geschehe was da sei; in dem Augenblick stimmt ein Kamerad eine Melodie aus einer bekannten Oper an, eine Parodie auf ihre Zustände, und der grelle Gegensatz des Damals und Jetzt wirkt so erschütternd auf das Zwerchfell und den Mut anregend, daß die Lebenskräfte zurückkehren, die andern in den Gesang einstimmen und die Kameraden sich wieder zum Marsche zusammenscharen. So half damals die Poesie der Wirklichkeit. Es war ein poetisches Leben dieses erste Jägerleben; in Körners Liedern haben wir das beste Symbol der damaligen Stimmung.
Anders war es 1815. Ich sprach von einer Soldateska, in die ich trat. Allerdings hatten die Freiwilligen, welche sich beim Morgengrauen zu den ersten Exerzierübungen auf dem Dönhoffsplatze Nach dem preußischen Kriegsminister D.(1786-91) benannter großer Platz an der Leipziger Straße zu Berlin. stellten, Elemente in sich, welche an »Wallensteins Lager« erinnerten. Die Freiwilligkeit hatte schon den Preußischen Normalleisten angezogen. Es war nicht gerade eine gezwungene Freiwilligkeit, aber ein moralischer Zwang war eingetreten. Bekanntlich hatten die Freiwilligen des Jahres Dreizehn, fast allein aus den gebildeten, wohlhabenden Ständen, sich alle selbst equipiert. Aus eignen Mitteln wurden Jägeruniform, Lederzeug, Tornister, Mantel, Hirschfänger und Büchse angeschafft. Auf die Uniformität sah man nicht mit zu großer Ängstlichkeit. Die reitenden Jäger hatten sich ihre Pferde selbst gekauft. Die Einzelnen, die Familien, hatten große Opfer gebracht. Ähnliches ist nie in der neuern Geschichte vorgekommen; wenn auch die Eitelkeit bei den »Opfern am Altar des Vaterlandes« mit ihr Spiel trieb, so waren diese Opfer doch allgemein, durch alle Stände, Provinzen, gleichmäßig verbreitet; und wenn man Preußens erschöpften Zustand, die Verarmung durch den Krieg, das Aussaugesystem der Franzosen, die gebotenen Abgaben zur Führung des Krieges in Anschlag bringt, außerordentlich. Reiche Familien rüsteten außer ihren eigenen Söhnen noch die ärmeren Bekannten aus. Bemittelte und Unbemittelte steuerten zusammen, um dürftigen Jünglingen Waffen und Kleidung zu verschaffen. Die Universitäten, Gymnasien sammelten unter sich, um ihre ärmeren Kommilitonen auszurüsten. Unerschöpflich war namentlich der Eifer der Frauen. Auch der Zug darf nicht der Vergessenheit übergeben werden, als ein junges Mädchen, die nichts geben konnte, ihr langes, schönes Haar abschnitt, und den Erlös dafür beim Friseur zur Bewaffnung der Freiwilligen darbrachte.
Auch im Jahre 1815 rüsteten die Freiwilligen, welche die Mittel dazu hatten, sich selbst aus; auch da wurden von Einzelnen und Familien Opfer gebracht. Wir erhielten dafür nie einen andern Ersatz, als den das eigene Gefühl uns gewährte. Aber, fürchtete man, daß die Opferlust geringer sein, und die Zahl derer, welche sich unter die freiwilligen Jäger stellten, unbedeutender ausfallen würde, als man des moralischen Eindrucks wegen wünschte? Genug, der Staat versprach alle die als Jäger auf seine Kosten auszurüsten, welche in den Jahren 1813 und 1814 in irgendeiner Truppe gedient und sich jetzt wieder unaufgefordert zum Dienst stellen würden. Die Lust an dem gerühmten, freieren Leben der Jäger lockte viele an, die im früheren Sinne nicht dahin gehörten. Die Arbeit in der Werkstatt, die Monotonie hinter dem Ladentische und an dem Schreibtische war von vielen schwer ertragen worden, welche in einem zweijährigen Kriegsleben zwar an Beschwerden, aber auch an Müßiggang und beständigen Wechsel sich gewöhnt hatten. Der Aufruf konnte ihnen nicht erwünschter kommen. Mehrere hörte ich hoch und teuer schwören, daß sie nie wieder in den armseligen frühern Zustand zurückkehren wollten. Kriege mußte es ja doch immer geben. Wie mancher wartete noch immer, daß Napoleon auch von Helena losbrechen werde, und griff auf die falsche Nachricht nach der alten Jägerbüchse, die ihm als trostreiche Erinnerung an der Wand hing.
Andre lockte das Versprechen, daß nach dem hergestellten Frieden jeder Freiwillige vorzugsweise bei der Anstellung in Zivilämtern bedacht werden solle. Welches Mißvergnügen, wie viel Lebensverstimmungen und moralische Zerrissenheiten hat dies gewiß aufrichtig gemeinte Versprechen später hervorgerufen! Es war unmöglich, allen Erwartungen zu genügen. Das Bürgertum wäre verzehrt worden, wenn der Staat für alle, welche gedient hatten, Ämter schaffen sollte. Ich weiß nur zu viel traurige Beispiele, wohin die erweckte Arbeitsscheu, die Lust am Herumtreiben und die gespannten Erwartungen, die nie befriedigt werden konnten, viele geführt haben. Ein lieber Schulkamerad, der sich nicht wieder an die zu früh verlassenen Studien gewöhnen konnte, verdumpfte gänzlich. Mutlosigkeit und Trunk richteten andre zugrunde, nicht die Schlechtesten. Noch steht mir lebhaft ein Austritt aus meiner spätern juristischen Laufbahn vor Augen. Im Kriminalgericht beschäftigt, ziehe ich an der Klingel, um in einer Untersuchung wegen Diebstahls, die ich von einem Kollegen geerbt, den Verhafteten vortreten zu lassen. Der Name in den Akten war mir schon auffällig; als der Unglückliche eintrat, sah ich einen mir wohlbekannten Kriegskameraden, mit dem ich oft in stürmischen Nächten auf Vorposten stand, mit dem ich oft am selben Feuer gekocht und mich gewärmt hatte. Er gehörte damals nicht zu den schlechtesten Kameraden. Ich eilte, die peinliche Untersuchung los zu werden. Zum Glück hatte er in seinem Inquirenten nicht seinen Zeitgenossen erkannt.
In diesem bunten Gemisch der neuen Freiwilligen konnte man leicht die, welche aus Staatsmitteln dazu gemacht wurden, heraus erkennen. Aber der grobe, grüne Kommißrock und die schwere Muskete statt der feineren Uniform und der zierlichern Büchse waren nur ein äußeres Unterscheidungszeichen, das nicht immer mit der moralischen Unterscheidung zusammentraf. Ich habe wackere, treffliche, auch gebildete Kameraden unter den ersteren kennen und schätzen gelernt. Die Sprache lehrt, auch unter gleichmäßig Uniformierten zuerst und bald den Menschen kennen. Zu kameradschaftlichem Zusammenleben war, solange wir in Berlin die ersten Übungen vornahmen, keine Gelegenheit; aber aus den ersten Unterhaltungen lernte ich viel, wovon ich keine Ahnung hatte. Wird man sich verwundern, daß ein sechzehnjähriger Neuling, der aus dem mütterlichen Hause nur in geistesverwandte Kreise gekommen war, über diese Sprache, Scherze, Lieder erschrak! Ich befand mich in einer neuen Welt, und die war höchst unbehaglich, zurückstoßend. Aber wie schnell übt die Gewohnheit ihre Macht. Das Pferd scheut vor den Eseln. Fouqué Der Dichter, ein Enkel des berühmten Generals Friedrichs des Großen, war ursprünglich Berufssoldat, quittierte jedoch ziemlich früh schon den Dienst. Als Leutnant trat er dann 1813 wieder bei den freiwilligen Jägern ein – als solcher dichtete er das noch heute Vielgesungene »Kriegslied der freiwilligen Jäger« (»Frisch auf zum fröhlichen Jagen«) – wurde bald Rittmeister, mußte aber dann aus Gesundheitsrücksichten seinen Abschied nehmen. erzählte mir, wie vielen Verdruß seiner ritterlichen Natur die Erfahrung bereitet, daß die edlen Rosse seiner Schwadron, als er in einem Ort lag, wo die Esel zu Hause waren, sich schon in den ersten Wochen an die Kameradschaft gewöhnt hatten. Ja, sie wieherten sich an, wenn sie sich begegneten, die Rosse ohne Scheu vor ihren noch edlern Reitern.
Soldaten denken, sprechen, scherzen, und – phantasieren überall ähnlich und über dasselbe Thema. Nur unter den Berliner Freiwilligen war eine Ausnahme. Die Ausstrahlungen des vornehmen, gebildeten Lebens haben, wie bekannt genug ist, hier die Masse berührt und über die Roheit einen Firnis von Bildung gebreitet, den wenigstens Jünglinge wie ich nicht sogleich heraus erkennen konnten.
Aufgeschnappte Theaterphrasen, absprechende Urteile, vornehme Redensarten, Sentenzen in der sogenannten Sprache der Bildung hingeworfen, konnten mich über meine Umgebung täuschen. Doch nicht auf lange. Es waren viele gebildete junge Leute unter den pommerschen Jägern des berühmten »Regiments Kolberg«, in das ich eingetreten war; aber als Neulinge traten sie schüchtern hinter den Veteranen zurück, man lernte sich erst später kennen. Die, welche den vorigen Feldzug mitgemacht hatten, führten, wie sich das von selbst versteht, das Wort; sie waren die Lauten, wir die Stillen. Wie schwanden meine Illusionen! Weshalb ging dieser mit, warum war jener nicht zurückgeblieben! Der aspirierte auf eine Schreiberstelle in einem Bureau, aber er mußte vorher gedient haben. Jener konnte es im elterlichen Hause nicht aushalten; oder er hatte überhaupt kein Haus und keinen Winkel, wo er hatte bleiben können. Ein andrer hoffte auf eine reiche Braut, wenn er als Sieger heimkehrte. Alle waren voll Franzosenhaß, wie ich; aber ich leugne nicht, daß die Hoffnung auf gute Quartiere in Frankreich bei diesem Hasse mitspielte. Sie wollten dort, wie die Franzosen in ihrem Hause, wirtschaften.
Zeihe man mich keiner unpatriotischen Gesinnung, oder daß ich den deutschen Enthusiasmus, der die Freiwilligen hervorrief, verkleinern wolle. Ich schreibe nur Züge aus der allgemein menschlichen Natur, die, wenn große Aufregungen vorüber sind, ihren Bodensatz von Gemeinheit deutlicher zeigt. Die Mehrzahl der Freiwilligen aus dem Befreiungskriege waren als Offiziere in die Linie oder Landwehr eingetreten; nur ein geringer Rest derselben ergriff wieder die Jägerbüchse. Woher die andre Überzahl der Gedienten kam, habe ich bereits angegeben. Der jüngere, frischere Zuwuchs mußte sich erst entwickeln, und er tat es, oft im schönsten kameradschaftlichen Sinne. Ich ward Zeuge und beteiligt bei Zügen von Güte und Selbstvergessen, wie sie eben nur im Felde und unter Gefahren, wo die ursprüngliche Natur wieder siegreich über die angewöhnte heraustritt, zum Vorschein kommen werden. Nur geistige Erhebung, Begeisterung und Bewußtsein durfte man von unsern Freiwilligen im ganzen nicht erwarten. Die wir dieser Eigenschaften teilhaftig waren, wir waren noch halbe Knaben, und in welcher Art die Begeisterung sich äußerte, davon werde ich später ein Beispiel geben.
Endlich waren alle bekleidet, bewaffnet und notdürftig einexerziert; wobei ich bemerke, daß mir, der ich nicht musikalisch bin, die Signale der Blasinstrumente sehr schwer zu fassen wurden. Es ging mir indessen nicht allein so, und ich tröstete mich mit der Versicherung, die Veteranen mir gaben, daß im Gefecht nicht viel darauf ankäme; unter dem Donner der Kanonen und in der Hitze des Tirailleurgefechtes höre man nicht auf die Hornmusik. Jeder springe, schieße, laufe und wende sich, wie es ihm gut dünke, und wo er was zu treffen glaube. Eine treffliche Erklärung von einem Treffen, an die ich später recht lebhaft durch eine ähnliche erinnert wurde, die Immermann in seinem »Auge der Liebe« Im 4. Aufzug des erwähnten Immermannschen Lustspiels »Das Auge der Liebe« (1824) spricht der Jägermeister Claudius die Verse: »Halte jeder vor den Kopf seinen Schild, Stürze sich darunter, Ich voran! Jeder haut und sticht, so gut er kann; Mag er einen oder keinen treffen. Gibt's am Ende, was man nennt ein Treffen.« einen Feldherrn der Not seinen Hauptleuten geben läßt. Wir waren noch nicht Soldaten, als wir abgingen; wir dienten nur als Symbole des allgemeinen Willens: den Sturm und Drang von Dreizehn fortzusetzen. Um den leuchten zu lassen, beeilte man sich, uns, wie wir waren, an den Rhein zu schaffen.
Es war ein schöner, es ward ein heißer Maitag, als wir am frühen Morgen auf dem Lustgarten Lustgarten – großer Schmuckplatz vor dem Königlichen Schlosse zu Berlin, am Beginn der Straße Unter den Linden. standen, um ins Feld zu ziehen. Soviel ich mich entsinne, sangen wir nicht: »Frisch auf Kameraden!« oder »Der Sturm bricht los!« Entweder drückte uns der Abschied von den Lieben im Hause oder der Anfang der militärischen Disziplin. Auch gab es auf dem Versammlungsplatze selbst noch mannigfache Abschiedsszenen. Die jüngeren Freunde und Schulkameraden, die nicht so glücklich waren, mit ziehen zu können fürs Vaterland, ließen es sich nicht nehmen, den glücklichen Freunden zum letztenmal die Hand zu schütteln, auf Sieg, frohes Wiedersehen und Treue in Leben und Tod uns den Bruderkuß zu geben, und wer irgend konnte, begleitete uns noch auf dem Marsche. Man leistete den Scheidenden alle möglichen Liebesdienste, holte ihnen zu trinken, besorgte Grüße, trug, wo es sich tun ließ, ihre Sachen.
Den freiwilligen Jägern war, in Rücksicht auf ihre Jugend und zartere Konstitution, der Vorzug schon im vorigen Kriege zugestanden worden, daß ihre Tornister ihnen nachgefahren würden. Ein Vorzug, der uns dem Neide und Spotte der nicht so begünstigten Landwehrmänner aussetzte und oft nichts half. Denn wo kein Vorspann zu erhalten war, mußten wir die ungewohnte Bürde auf die Schultern nehmen, und das gewöhnlich auf den beschwerlichsten, angreifendsten Märschen. Die humane Berücksichtigung war übrigens auch eine weise. Ein Teil der halben Knaben, die bis da nur leichte Schulmappen getragen, würde, wenn nicht unter der Last erlegen, doch schwerlich in gesundem Zustande bis Frankreich gekommen sein. Außer der schweren Armierung, den Mantel über die Schultern gehängt, noch den schweren Tornister, mit seinen die Schultern oder noch schlimmer die Brust pressenden Riemen auf langen Marschen im Sonnenbrand und Staub zu tragen, dazu gehört eine andre Schule, als aus der wir kamen. Wir gewöhnten uns in der Folge daran; aber ich, wie mehrere andre junge Leute, entgingen den Wirkungen nicht, welche eine zu schwere Belastung und Einschnürung auf den noch im Wachstum befindlichen Körper hervorbringt. Beschwerden aller Art lernt eine ursprünglich gesunde Natur ertragen; aber ein zurückgehaltener Wuchs, eine blaßgraue Gesichtsfarbe stellte sich bei vielen als Folge ein. Erst weit später verwand ich beide durch Fußreisen ohne Gepäck und mit Freiheit und durch die reine Bergluft, die ich durch Monate in den norwegischen Gebirgen einatmete.
Mein Tornister war unter allen, welche auf die Wagen geladen wurden, der schwerste. Mir selbst verbarg der junge Freund, welcher bei dem Geschäfte zusah, die Wahrnehmung, die für mich buchstäblich eine sehr drückende werden mußte. Wer da weiß, was ein Tornister fassen kann, und was er bei einem Soldaten, der in den Krieg geht, fassen muß, wird sich freilich darüber nicht verwundern, wenn er hört, daß die mütterliche und schwesterliche Fürsorge zu den Hemden, Jacken, Schuhen, Bürsten, Tüchern noch Schokolade, Tafelbouillon, Unsern Bouillonwürfeln entsprechend, eine Erfindung des englischen Seehandels. S. auch den Anhang. nützliche Anweisungen und sonst viel Gutes und Wohlgemeintes hinzugefügt hatte; alles auf den Umstand berechnet, daß der Tornister immer gefahren werde. Ich selbst war der Meinung, daß im Kriege auch der geistige Mensch Nahrung haben müsse, und außer einer Karte und Schreibpapier hatte ich ein Buch mitgenommen. Über die Wahl eines solchen war großer Zweifel gewesen, da weder von meinen Lehrern noch Angehörigen jemand wußte, welche Lektüre zum Kriege am besten passe. Einige stimmten für das Neue Testament; aber das konnte man allenfalls an jedem Orte finden. Ein gelehrter Anverwandter für den Horaz, weil er so sehr dünn sei, und in dem rohen Leben die Neigung für klassische Studien erhalten dürfte. Aber ich war kein Klassiker, sondern ein Romantiker und wählte die Nibelungen, weil sie eine deutsche Nationallektüre waren, vom Kriege handelten, und in der Zeuneschen Ausgabe, die ich wählte, auch nur dünn waren. Sie haben mich durch Deutschland und Frankreich begleitet, und ich brachte sie wieder in die Heimat zurück; ehrlich gesagt ziemlich so, wie ich sie mitgenommen hatte. Der Krieg der Sachsen und Burgunder schien doch ebensowenig wie der der Burgunder und Hunnen zu unserm mit den Franzosen zu passen. Ein andrer Kamerad hatte Schlegels Epigramme gegen Kotzebue mit. Ob er sie mehr gelesen, als ich die Nibelungen, weiß ich nicht. Aber er war ein noch viel stärkerer Romantiker als ich, verwandt mit einem der Koryphäen der Schlegel-Tieckschen Periode und gab mir in der Romantik noch Unterricht. Daß ich Kotzebue gelesen und mir einiges von ihm gefallen hatte, hielt er für ein bedenkliches Zeichen, und ließ es an Anweisungen nicht fehlen, wie ich diesen schlechten Geschmacksrest von mir abschütteln könne. Der eifrige Kamerad weilt längst – nicht im Kriege gefallen – unter den Geistern der Seligen, die ihm sagen werden, worin Kotzebue fehlte, und ob die Romantiker auf dem rechten Wege nach dem Höchsten waren, das wir auf dieser Erde erreichen.
Ein großes Staubmeer hüllte uns ein, sobald wir aus dem Potsdamer Tore die Chaussee betreten hatten. Der Abschied sollte uns erleichtert werden, indem der Staub die Rückblicke auf Stadt und Gegend verbot. Die Ordnung, wenigstens Reih und Glied, hörten sogleich auf, die Bekannten suchten sich; ein freundliches Gespräch trat ein. Unsre Freunde aus der Stadt, die uns begleiteten, gingen bunt unter und mit uns. Diese Zwanglosigkeit beim Marsch, auf die ich nicht gerechnet, erschien mir als ein froher Anfang; es war aber nichts Besonderes, indem es bei allen Militärmärschen nicht anders hergeht. Reih und Glied sind bei einem langen Marsche auf der Landstraße, wo Wagen, Reiter, Fußgänger oft unterbrechen, dieser und jener verweilen muß, auch bei Preußischer Disziplin nicht innezuhalten. Um gute Sänger, einen beliebten Erzähler oder Lustigmacher drängt sich alles. Solche Lustigmacher sind unschätzbar in einer Kompagnie, sowohl für die Soldaten als für die Offiziere. Auch in den untersten Sphären der militärischen Disziplin gilt das »Meus agitat molem.« Es bedarf moralischer Impulse, um einen Bajonettangriff zu wagen, und um einen Zug Soldaten auf dem Marsche in Ordnung zu halten. Sogenannte Marodeure (so wird jeder genannt, der zurückbleibt) wird es bei jedem Marsche geben, so oft auch der Kommandeur zurückreitet, anfeuert, droht und drängt; der eigene Vorteil rät aber schon, sich nicht gehen zu lassen, sondern womöglich bei den Vordersten zu bleiben; denn die Zurückbleibenden müssen sich doppelt anstrengen, und kommen oft erst an die Rastplätze, wenn die andern geruht haben und wieder aufbrechen. Daher oft ein Hasten und Drängen, zumal beim Anfang eines Marsches zu den Ersten zu gehören, was auch wieder sein Unangenehmes hat.
Ich bin ein tüchtiger Fußreisender geworden, und noch jetzt ist eine Fußreise meine Lust; aber als ich Soldat wurde, war es weder meine Lust, noch meine Stärke. Der Aufruf der Freiwilligen 1813, der möglicherweise auch mich dereinst treffen konnte, hatte mich zuerst angeregt, meine sehr geschonten Kräfte zu prüfen. Ich hatte es aber kaum weiter gebracht als bis zu Lustwanderungen nach Charlottenburg, Tegel und andern Vergnügungsorten um Berlin. Vielleicht hatte ich einmal das entfernte Potsdam erreicht. Ein entsetzlicher Gedanke heut: fünf bis acht Stunden sich in der Monotonie der Chaussee von Berlin bis Potsdam zu bewegen, während die Eisenbahn in drei viertel Stunden uns, noch zu langsam, dahin trägt. Was aber bedeutet eine Fußwanderung in leichter Kleidung, leicht geschuht und in frischer Luft, gegen einen Marsch dahin, mit Büchse und Patronentasche und unter dem Staube, den Hunderte vor und hinter uns aufregten!
Zweimal wurde gerastet, in Schöneberg und in Zehlenborf. Es war ein heißer Tag. Schon da wankten die Kräfte; man warf sich auf den bestäubten Rasen, zwischen Disteln und Nesseln in die Chausseegräben. Ein – zwei Meilen von Berlin, und wie schon so ganz anders war das; ich hatte etwas erlebt! Die Freunde, die zu den unsern zurückkehrten, baten wir, ihnen ja alles zu erzählen, was uns begegnet sei. Mit welcher Erquickung und mit welchem Gefühl setzte ich zum ersten Male die Feldflasche an den Mund, die hier noch mit altem Franz- Wein gefüllt war. Sie wanderte umher. Man letzte sich zum letzten Male an traulichen Gesprächen über die Heimat; die frohen Spiele, die Schelmereien und Schwänke der Schulzeit wurden noch einmal ins Gedächtnis gerufen.
Der Weg von Zehlenborf bis Potsdam wurde mir sehr schwer. In meinem Tagebuche steht: »Ich glaubte, ich würde nicht weiter fortkommen; aber es ging.« So geht vieles, von dem wir glauben, daß es nicht gehen kann. Meine Feldflasche zerbrach, indem sie an den Hirschfänger schlug; der Verlust war zu verschmerzen, da ich mir in Potsdam eine andre kaufen konnte, aber der schöne, alte Wein tröpfelte auf die Straße. Das war Vergeudung; also trank ich schnell den Rest aus, um gleich nachher darüber besorgt zu werden, daß ich nach starker Erhitzung getrunken hatte. Um diese Versündigung gegen die diätetischen Regeln, welche in meinem Hause sehr streng beobachtet wurden, wieder gutzumachen, mußte ich einige Zuckerstücke schnell verschlucken und stark laufen. Oft dachte ich später mit Lächeln daran, wenn wir, durchglüht von heißem Tagesmarsch, mit lechzenden Zungen an einem Quell vorüberkamen, und die Jäger sich rottenweis hinwarfen, um frisches, oft auch nur sehr getrübtes Wasser zu schlürfen. »Dem Soldaten schadet das nichts,« sagte mir lächelnd ein alter Landwehrunteroffizier, als er mich das erstemal zaudern sah. Zu Hause hatte ich nicht gelernt, daß die Soldaten andre Lungen haben als die übrigen Menschen, von denen der alte Heim Ernst Ludwig Heim (1747-1834), »der alte Heim«, der berühmteste Diagnostiker seiner Zeit und zugleich ein weltbekanntes ärztliches Original Berlins. mir gesagt, daß ein rascher, kalter Trunk nach großer Erhitzung tödlich werden könne. Vom Wassertrinken ist, soviel mir bekannt, keiner meiner Kameraden gestorben.
Vor der Stadt wurden meine Kräfte noch einmal hart geprüft. Es hieß, der Kronprinz – der nachmalige König Friedrich Wilhelm IV. – wolle die einziehenden Jäger mustern. Zwei Jägerdetachements klopften und bürsteten und rieben den Berliner Staub von ihren Kleidern und Schuhen vor der Glinickeschen Brücke. Während wir uns selbst kaum mehr fortschleppen konnten, mußten wir die Tornister von den Wagen holen und an die Schultern schnallen. Die neue Last wirkte homöopathisch; die neue Anspannung verscheuchte die vorige Abspannung. So ward es möglich, daß ich den weiten Weg von der Brücke bis in die Mitte der Stadt zurücklegte. Aus der Musterung ward nichts. Vermutlich war es nur ein Kunstgriff unserer Anführer gewesen, ihre Mannschaft in möglichstem Glanze in der zweiten Residenzstadt einzuführen.
Zum ersten Male, ein Quartierbillett in der Hand, mich in ein Quartier einweisen zu lassen, war auch eine neue Empfindung. Ein ermatteter Reisender freut sich schon auf das Wirtshaus, und seine Phantasie malt es sich so freundlich und bequem aus als möglich. Aber sein Wille und sein Geld können es sich wenigstens zur Hälfte schaffen, wie er Lust hat. Der Soldat greift in einen Lotterietopf und ist immer der süßen Hoffnung, einen großen Treffer zu ziehen. Wenn er sich auch in der Regel täuscht, hindert ihn das nicht, das nächste Mal wieder zu hoffen. Die Hoffnungen sind freilich verschiedener Art. Einer hofft auf gutes Fleisch und starke Kost, auf Bier und Wein, weshalb die Quartiere bei Brauern, Bäckern, Fleischern für die besten gelten; andre auf hübsche Gesichter und gefällige Gesinnungen. Meine Hoffnung ging in der Regel auf ein eigenes Zimmer, wo ich mich ausruhen und nachher schreiben könnte. Sie wurde fast immer getäuscht. Übrigens ging es bei diesem Glückstopf wie bei so manchen andern zu. Unsre Waisenknaben, die vorausgeschickten Kuriere, hatten über die Beschaffenheit der Quartiere vorher Erkundigungen eingezogen, und man mußte sich mit ihnen gut stellen, um aus ihrer Hand einen Treffer zu ziehen.
Unser vier, Befreundete vom Gymnasium, fanden in einem gebildeten Haushalt freundliche Aufnahme. Potsdam war noch halb Berlin; man betrachtete uns wie halbe Angehörige, wie Kinder von Freunden. Zum ersten Male lagerten wir auf einer Streu; und meine Besorgnis, daß ich, gewohnt in die Nacht hinein zu arbeiten, auf dem fremden Lager nicht früh, wie es bei den Märschen nötig ist, einschlafen würde, erwies sich, wie so manche andre, als unnütz. Es muß eine imposante Reihe schnarchender Schläfer gewesen sein.
Schon um drei Uhr am nächsten Morgen waren wir auf den Beinen und zogen, frisch und munter, um vier Uhr auf dem Wege nach Brandenburg. Auf dem anmutigen Punkte von Baumgartenbrück war noch eine Abschiedsszene. Der letzte Freund, der uns begleitet, trennte sich hier von uns. Mit schwerem Herzen; auch er fühlte sich gedrungen, mit ins Feld zu ziehen. Er war bereits als Volontär der Colombschen Husaren eingetreten, schon beritten und exerzierte mit, als man zu seinem Schmerze fand, daß seine Augen zum Kavalleriedienste zu schwach waren. Zwei nahe Verwandte und zwei Schriftsteller, deren Namen nach zehn bis zwanzig Jahren oft miteinander genannt wurden, nahmen damals auf der Brücke von Baumgartenbrück voneinander Abschied, ohne zu ahnen, daß sie auf andern Kriegslagern, als denen mit blanker Waffe, sich noch oft begegnen würden. Der Scheidende war Ludwig Rellstab. Vetter von Alexis, Dichter (u. a. des von Schubert vertonten »Leise flehen meine Lieder«) und gefürchterer Kritiker (der »Vossischen Zeitung«). Noch heute lesenswert ist Rellstabs historischer Roman »1812«.
Der Marsch von Potsdam bis Brandenburg, fünf Meilen auf der Chaussee, war für unsre jungen Kräfte ein angreifender. Solange der Himmel trübe war und der Boden vom Morgentau feucht, fühlten wir die gestrige Anstrengung weniger; als aber mit dem heißen Tage der Staub aufwirbelte, wurde er sehr beschwerlich. Man hatte uns Hoffnung gemacht, auf der Mitte des Weges Wagen für die Schwachen und »Maroden« zu finden; vermutlich war es nur eine hingeworfene Lockung, um uns munter zu erhalten. Ich versuchte nachher ein anderes Mittel; ich unterhielt mich eine halbe Stunde mit dem Schlegelianer über deutsche Literatur. So steht wenigstens in meinen Briefen, das heißt wie ein guter Deutscher damals nur schreiben durfte, über teutsche Literatur. Wer »deutsch« schrieb, verriet laue Gesinnung, eine Hinneigung zum Modernen, vielleicht gar zum Franzosentum. Welcher Gegenstand unsrer Literatur es war, weiß ich nicht mehr, der mich die Staubwolken, die brennende Hitze, die am Gaumen klebende Zunge sollte vergessen machen. Wie bald verstummte das Gespräch, und die Moles agitabat mentem.
Die Chaussee – wir, wie sich versteht, nannten sie nur Kunststraße – windet sich vor dem alten Brandenburg in einem großen Umwege durch die Havelwiesen. Man kann die malerischen Türme, Zinnen, Giebel schon mit der Hand greifen und muß noch stundenlang marschieren. Das erhöhte hier, wie es noch oft geschah, die Mühseligkeit. Vor dem Tore mußten wir noch, zu Ehren der alten Hauptstadt Brandenburgs, die Tornister aufnehmen. Welche Sehnsucht und Erwartung nun auf ein gutes Quartier.
Mein Zettel führte mich in eine abgelegene, schlechte Gasse, vor ein Haus, das dahin gehörte. Ein zusammengedrückter, niedriger Torweg, Verfall, Schmutz, Mist auf dem Flure, sagten voraus, was meiner in der einzigen bewohnbaren Stube warte. Der Wirt war ein Ackerbürger; es roch überall nach einem Geschäfte, das auf dem Lande für die Sinne nichts Störendes hat, wohl aber in den Mauern und der Luft einer engen Stadt. Die ärmlich aussehende Frau brachte mir in einer zerbrochenen Untertasse etwas Rührei, und ein Getränk, das vielleicht als schlechtes dünnes Bier, aber nicht unter seinem Namen »Koffent« der Mehrzahl meiner Leser bekannt sein wird. Ich forderte Wasser; die Frau sah mich verwundert an: sie tränke nie in ihrem Leben Wasser! Also etwas optimatischer Stolz auch in dieser Hütte! Schon hatte ich den Entschluß gefaßt, mich in ein Wirtshaus einzuquartieren, als ein Kamerad und Schulkumpan, mit dem ich in Potsdam auf einer Streu gelegen, eintrat und mich versicherte, im Vergleich zu ihm sei ich fürstlich einquartiert. Dazu blickte die Maisonne jetzt freundlich durch das eine Fenster; die Gesichter der Wirtsleute wurden auch freundlich, ich entschloß mich zu bleiben, dankte aber für den Kaffee, den sie mir kochen wollten, und ging mit meinem Freunde aus, um die Stadt zu besehen und in einem Garten ein freies Vesperbrot einzunehmen. Doch nicht eher, als nachdem ich Büchse und Riemzeug gereinigt und geputzt hatte. Amt bringt Verstand und die Not frische Kräfte. Ich mußte mich über mich selbst verwundern, wie ich nach wenigen Stunden dürftiger Ruhe auf solchen Tagesmarsch, der auch ältere Soldaten angreifen dürfte – es waren eigentlich zwei Etappen – wieder munter und gestärkt umherspazieren konnte.
Freilich in den Nibelungen las ich nicht an jenem Abende. Es wäre auch als freiwilliger Reisender nicht geschehen; aber der Soldat, wenn er das Quartier erreicht, hat damit noch nicht die Ruhe gewonnen. Der Kavallerist muß zuerst an sein Pferd und darf nachher erst an sich denken. Der Infanterist, der sich eher hinwirft, als er Waffen und Rüstzeug in Ordnung gebracht hat, wird auf die Dauer auch mit sich selbst nicht in Ordnung kommen.
Meine Wahrnehmungen über die alte Stadt Brandenburg, deren Roland schon damals mein großes Entzücken erregte, und deren getürmte Häuser – zu viele gibt es deren jetzt nicht mehr – mir wie lauter kleine Burgen erschienen, will ich meinen Lesern nicht wiederholen, obwohl ich sie in meine Briefe nach Hause umständlich niedergelegt habe. Ich bedauerte, daß an dem Abende in Brandenburg kein Theater war; die Zettel an den Mauern sprachen nur vom gestrigen Tage, wo der nachmals sehr berühmte Bauchredner, Herr Alexander, wie ich aus meinem Tagebuch ersehe, seine Kunst produziert hatte. Außerdem aber erregte meine ganze literarische Neugier ein angekündigt gewesenes Stück: »Die Kindesmörderin« von Friedrich v. Schiller. Ich habe nie darüber nähere Auskunft erhalten, was man 1815 den Einwohnern von Brandenburg unter diesem Namen vorgeführt, und wie ihre Kritik es aufgenommen hat; heute, weiß ich, würde so etwas dort nicht mehr durchgehen.
Später machte ich die Wahrnehmung, daß die wandernden Truppen in kleinen Orten mit großen Namen außerordentlich verschwenderisch sind. Den bekanntesten Stücken von unbekannten Autoren legen sie abwechselnd die Namen der bekanntesten oder gerade in der Stadt beliebtesten Dichter unter. Wo Kotzebue nicht mehr locken wollte, ward sein Lustspiel dem berühmten Ernst Raupach zugeteilt, und wo Raupach noch ein Unbekannter war, mußte er unter Kotzebues Flügeln vor das Publikum treten. Natürlich nur da, wo die Kritik noch nicht spukte, das heißt wo noch keine Kritiken gedruckt wurden. So ist die Kritik denn doch zu etwas gut; sie schützt vor einer dem größern Publikum nicht bekannten Piraterie auf berühmte Namen.
Nachdem ich, gekräftigt durch eine Milchsuppe und Kartoffeln – mein Abendbrot; mit großer Gewissenhaftigkeit berichtete der angehende Soldat seine Mahlzeiten an jedem Tage nach Hause, um die Zurückgebliebenen zu überzeugen, daß er nicht Hunger leide – nachdem ich mich auf mein Strohlager inmitten der Stube, wo die ganze Familie wohnte und schlief, Zur weiteren Charakterisierung damaliger Soldatenquartiere, von denen ja auch Alexis noch manch Eigenartiges schildert, sei hier auch eine Stelle aus einem Briefe Theodor Körners an die Baronin Henriette v. Pereira (vom 26. 3. 1813) mitgeteilt. »Ich bin beim Riemenmeister Schindler in der schönen Stadt Zobten einquartiert. Die ganze Wohnung des rechtschaffenen Mannes besteht aus einer kleinen Stube. Wie wir des Tages fertig werden und Platz haben, wäre zu schwer zu beschreiben; lassen Sie sich aber ein Nachtstück zeichnen. Obenan am Fenster liegt der Meister, neben ihm auf zwei Stühlen sein vierter Erbe. An sein Bett stößt das der Frau Meisterin, die die Wiege mit dem fünften Erben zur Seite schaukelt. Darauf kommt die Türe; dann liegt der Poet auf einer Streu zwischen dieser schlecht verschlossenen Tür und einem glühenden Ofen. Zu seinem Haupte, in der sogenannten Hölle, der dritte Erbe, neben diesem im rechten Winkel die beiden ältesten Kinder, Nr. 1 und 2, in einem großen Verschlag; den Zug schließt der Geselle, ebenfalls auf einer Streu, mit den Füßen am zweiten Fenster, so daß ein schnarchendes Hufeisen von Schlummernden gebildet wird.« geworfen, erwachte ich schon um zwei Uhr nach einem köstlichen Schlafe, um Schlag drei Uhr auf dem Sammelplatz zu stehen. Der Marsch des dritten Tages war nicht minder beschwerlich. Nachdem wir bei Plaue auf einer Fähre über die breite Havel gesetzt waren – die Brücke war damals noch aus der Zeit des unglücklichen Krieges abgebrannt –, entfernten wir uns von der Chaussee, um zwar über lachende Wiesen, wo es sich vortrefflich marschierte, aber auch durch tiefe Sandwüsten mühsam unsern Weg fortzusetzen. Der dritte Tag zeigte uns erst, wie angegriffen wir waren; an den beiden vorhergehenden hatte uns die Aufregung der Nerven es vergessen gemacht. Die Nachzügler nahmen kein Ende. Eine neue Feldflasche und etwas Wein, die ich mir in Brandenburg gekauft, mußten meine sinkenden Kräfte aufrecht erhalten. Dennoch hatte ich einen kleinen moralischen Triumph. Unser Offizier hatte sich die Füße wund gelaufen und mußte reiten; ich konnte doch noch gehen. Eine Schreckenspost wartete unser an den Toren der kleinen Stadt Genthin, die unser Ziel sein sollte. Man wies uns noch eine Meile weiter in ein abgelegenes Dorf. Dies selbe Schicksal traf uns, immer zu meinem großen Verdruß, in der Folge sehr oft. Da den Etappenstädten das Recht zustand, die ihnen zugewiesenen Truppen in ihre Dörfer zu verlegen, so mußten in Berücksichtigung der unberechneten Rück- und Weitermärsche die Etappenmärsche in der Regel nur kurz sein. Meinen Kameraden war die Verweisung in Dörfer gewöhnlich erwünscht, weil die Rationen in den Städten knapp zugemessen waren, in den Dörfern es dagegen vollauf zu essen gab. Ich litt nie in Quartieren an Hunger; dagegen fürchtete ich die vollgepfropften Bauernstuben, wo oft neben der zahlreichen Familie des Wirtes noch drei bis sechs, wo nicht gar zehn Jäger herbergen, sich behaglich machen, essen und schlafen mußten. Ich war daher für die Städte: »Eine gute Stube ist dem vollauf Essen vorzuziehen.«
Der Weg nach unserm Dorfe war ein Sandmeer. Schon an den ersten Hecken fielen mehrere um. Die Anführer mußten ein Auge über die gelöste Ordnung zudrücken. Die Wohnung bei unserm Kossäten Peter Liebe entsprach meiner obigen Schilderung. An Essen fehlte es nicht; denn ein mächtiger irdener Napf mit Grützsuppe, eine Schüssel mit Rührei, Branntwein, Butter, Brot und Koffent drückten den Tisch. Dazu freundliche, ehrliche Gesichter und – Ende Mai ein geheizter Ofen! – Was ist Glück, was Komfort? Liegt es nicht überall im Konventionellen? Der Bauer in Norddeutschland sucht den Trost für alle Mühen seines armseligen Lebens in einer warmen Stube. Er heizt im Sommer seinen Ofen und freut sich, daß er es kann. Und wir fanden, daß man die Hitze wie die Müdigkeit überwinden konnte. Wir schliefen dicht am Ofen, denn es war der einzige freie Platz, süß und fest bis an den Morgen.
Es war ein Sonntag und ein Rasttag. Er tat uns allen not. Wie vieles mußte hier schon an unsrer Kleidung und unserm Rüstzeuge in Ordnung gebracht werden, und wir glänzten doch erst vor drei Tagen in neuer Equipierung! Das fällt bei allen Militärmärschen vor; leider aber hatte die Begeisterung in Berlin der merkantilen Spekulationslust keinen Abbruch getan, und man hatte den Freiwilligen für schweres Geld zwar sehr zierliche, aber sehr lockere Ware verkauft. Schon in Potsdam hatten wir die Handwerker in Tätigkeit setzen müssen, um das beschädigte Riemzeug wieder zu reparieren. Es geschah, seitens der Potsdamer, nicht ohne scheele Bemerkungen über den Unpatriotismus der Berliner. Man muß dies indes nur mit Maß hinnehmen, da zwischen den Handarbeitern beider Residenzen eine natürliche, aber, je enger die Verbindung wurde, für die Potsdamer immer verderblichere Rivalität herrscht. Die Hast, mit welcher die Ausrüstung so vieler Tausende erfolgte, entschuldigte wohl einigermaßen die leichte Arbeit.
Ich benutzte diesen Rasttag zu einem ersten Briefe nach Hause. Es war nur ein Tintenfaß im Dorfe, das mußte der Kantor leihen. Dies wiederholte sich in den meisten Dörfern; meine Briefe fingen daher gewöhnlich an: »Der Kantor muß seine Tinte wieder haben, ich muß daher schnell schreiben.« Wahrscheinlich hat die Kultur seit den achtundzwanzig Jahren Änderungen hervorgebracht: auch die märkischen Dörfer und ihre Wirtshäuser sind in der Kultur fortgeschritten. Wegen meines Vielschreibens ward ich übrigens sehr aufgezogen, Schreiben schicke sich eigentlich nicht für einen Soldaten, hieß es; und meine Briefe trugen immer die sichtlichen Spuren des Geräusches einer überfüllten Bauernstube und der Störungen meiner Kameraden. Die »Nibelungen« durfte ich da gar nicht vorbringen.
Wir besuchten am Morgen die Kirche, verließen sie aber ohne Erbauung. Ein alter rationalistischer Prediger eiferte gegen den Reichtum. Ob dazu Anlaß im Dorfe war, weiß ich nicht; mir schien es aber weit nötiger gegen das Franzosentum zu eifern. Zu seinem Zwecke ließ er einen Toten auferstehen, den Lazarus; versicherte aber Zugleich, Lazarus sei nicht wirklich auferstanden, er würde nur so gesprochen haben, wenn er auferstanden wäre. Wir wollten Wunder haben, darauf war damals unser ganzer Sinn gerichtet; was Wunder, daß wir unzufrieden fortgingen und uns eigentlich freuten, daß die Bauern bei der Predigt schliefen. Eine ganz andre Erbauung wartete unser am Abend.
In dem Offizier, welcher unser Detachement nach dem Rheine führte, hatte ich einen älteren Schulkameraden aus einer Privatschulanstalt wieder erkannt. Er war ein liebenswürdiger, gemütlicher Mann, dem nur leider seine Wunden, die er als Kavallerist im vorigen Kriege erhalten, ebensowenig als seine bürgerliche Praxis – er hatte ein großes Gut verwaltet –, die nötige Lebensklugheit schon beigebracht hatten, deren ein Anführer junger Leute und eine militärische Obrigkeit bedarf. Er war noch Enthusiast vom Jahre Dreizehn, er glaubte noch die Freiwilligen von damals vor sich zu haben, welche Bildung und Idee mit ihren Offizieren außerhalb des Dienstes gleichstellte. Dagegen wäre nichts zu sagen gewesen, daß er mich und einige Freunde in den herrschaftlichen Park zu einer heitern Abendunterhaltung einlud. Der Zufall führte noch andre hinzu. Es war wohl mehr als Zufall, daß es gerade die Gebildetern des Detachements waren. In jeder großen Masse werden sich die geistiger Geweckten bald von selbst zusammenfinden. Die Lebensklugheit fordert aber, daß sie es nicht merken lassen, keine Verbrüderungen schließen und jedes aristokratischen Auftretens sich enthalten. Bedarf der geistige Vorzug äußerer Zeichen? Daß wir diese Lebensklugheit nicht beobachteten, sollte bald nur zu üble Folgen für uns haben, obwohl wir doch in der Mehrzahl ohne Willen und Bewußtsein in unser Unglück gingen.
Unter zwei herrlichen Lindenbäumen saßen wir am Abende und sangen vaterländische Lieder, von Körner, Arndt. Der Gesang erfreute den patriotischen Gutsherrn, den Kammerherrn von B....., und er sandte uns Getränke und Erfrischungen. Unser Wohlbehagen wuchs mit dem Austausche der Gesinnungen und den geleerten Flaschen. Da ward erzählt und wieder gesungen von den Taten des letzten Krieges und den Taten der Vorzeit. Da trat einer auf und deklamierte von Schiller, Goethe und Kotzebue; ich erinnere mich, auch die »Glocke« kam an die Reihe. Als der Mond aufging, war unsre Seele voll heiligen Vaterlandsdurstes; wir zogen unste Hirschfänger, traten in einen Kreis, wölbten ein Dach über den leeren Raum mit unsern Klingen, und schworen mit tränenden Augen – ich weiß nicht mehr eigentlich was; aber gewiß war darunter, daß wir dem Vaterlande und der deutschen Sache und dem Könige treu bleiben und dafür unsre letzten Blutstropfen vergießen wollten. Das hatten wir freilich alle schon geschworen und gelobt; aber der Augenblick wollte doch sein Recht. Es wäre ein traurig Leben, wo man es ihm verweigerte. Wir sanken uns in die Arme, wir drückten uns Brüderküsse auf, und zur ewigen Besiegelung des herrlichen Momentes gaben wir unserm Bunde den Namen des Hermannsbundes.
Nie war ich so froh, so begeistert in mein Quartier gekehrt, nie warf ich mich so selig auf mein Strohlager. Der Rausch war auch am Morgen noch nicht verschlafen. Die Mehlsuppe als Frühstück schien uns zu nüchtern darauf. Als wir zu früh auf dem Sammelplatz ankamen, trat der Hermannsbund zuerst ins Leben, indem er in corpore – diesmal jedoch ohne Offizier – ins Wirtshaus ging und sich sechs Portionen Kaffee bestellte. Aber das war schon ein böses Omen, daß die rauchenden Kaffeekannen erst aufgetragen wurden, als das »Heraus« abermals zum Antreten rief. Das erwartete Detachement war angekommen, und wir mußten, ohne den Kaffee zu trinken, abmarschieren!
Burg, eine alte Stadt, unser nächstes, nicht zu entferntes Nachtquartier, steht besonders gut in meinem Tagebuche notiert, weil ich hier bei einem wohlhabenden Bäcker zum erstenmal eine eigene Stube erhielt und man mir – Waschwasser ungefordert brachte. Wichtiger wäre für meine Kameraden gewesen, daß man uns hier das erste frische Fleisch vorsetzte. Ich machte mir nicht viel daraus.
Der Hermannsbund fand sich sogleich nachmittags nach dem Appell wieder zusammen und suchte einen schattigen Gesellschaftsgarten auf, wo die gestrige Freundschaft und Begeisterung bei einigen Flaschen Wein aufgefrischt wurde. Aber mir wollte es nicht recht in den Sinn, daß dieselben, welche gestern beim Mondenscheine die Schwerter entblößt und für deutsche Art und Wesen geschworen hatten, jetzt mit der hübschen, jungen Aufwärterin sich so lose und handgreifliche Scherze erlaubten. Ich schrieb's dem Weine zu; denn deutsch schien es mir damals nicht. Mein Offizier, ein hübscher, junger Mann, gefiel mir dagegen immer mehr – und, beiläufig gesagt, der jungen Aufwärterin schien er auch zu gefallen. – Sein Körper war mit Wunden bedeckt, die ihn zum Kavalleriedienst untauglich machten; dies hatte ihn aber nicht abhalten können, wieder bei der Infanterie Dienste zu nehmen. Er erzählte uns, wie der Offizier der ostpreußischen Jäger – unser Marschkorps bestand aus drei verschiedenen Detachements – ihn, weil er sich zurückgesetzt geglaubt, und um andrer Kleinigkeiten willen, heut auf Pistolen, auf drei Schritt Distanz, gefordert habe. Aber unser Führer hatte geantwortet: wenn es Sitte sei, sich mit Pistolen um die Ohren zu schlagen, finde er die Anforderung ganz gut. Wenn man sich aber auf Pistolen schießen wolle, verrate die Ausforderung einen sehr schlechten Schützen. Im übrigen sei der Krieg da, um mit seinen Kameraden um die Wette seinen Mut den Feinden gegenüber zu zeigen, nicht um sich einer mit dem andern zu schießen. Wenn noch Pulver übrig sei nach der Besiegung der Franzosen, stehe er ihm bereit, wo und wann und wie nahe es sei. Das gefiel mir; aber so recht deutsch kam es mir doch nicht vor.
Am folgenden Tage wieder eine getäuschte Erwartung. Mein Herz schlug vor Wonne, als ich die altersgrauen Türme von Magdeburg vor mir sah. Die Sonne brannte auf den mir endlos dünkenden Elbflächen, über die damals noch nicht einmal eine Chaussee führte; aber die Aussicht, mit der man uns schmeichelte, einige Tage in der alten, historischen, deutschen Stadt zu liegen, belebte meine Kräfte. Wie wollte ich sehen: den Dom, die heiligen Gräber der Kaiser, wie studieren, ausruhen und ins Theater gehen. Statt dessen hieß es: noch anderthalb Meilen weiter in ein Dorf, vorher abgestäaubt, die Tornister aufgepackt, und im Parademarsch vor dem General Hirschfeld defiliert! Nun kam mir Magdeburg gar nicht besonders schön, alt, ehrwürdig, ja, nicht einmal so außerordentlich fest vor.
Der General musterte uns auf einem Platze hinter der Zitadelle und sprach einige freundliche Worte zu den Jägern: sie sollten sich nicht, als Verteidiger für das große Vaterland, zu kleinen Zänkereien und Streitigkeiten hinreißen lassen. Eine gute Warnung, aber es sollte ein böses Omen werden. Ernster schlichtete er den Streit der drei Offiziere, welche die drei Detachements anführten. Allerdings schien unser Leutnant, als der jüngste unter ihnen, bevorzugt, da er bisher auf dem Marsche den Oberbefehl geführt hatte. Der General hob dies Verhältnis auf, und gab jedem Anführer das Recht, nach eigenem Willen zu handeln. Uns und unserm Offizier konnte nichts Erwünschteres kommen. Das Zusammengespann erweckte nur gegenseitigen Neid, aber keinen Vorteil. Doch wie lachte unser Herz auf, als der General mit sehr deutlicher Anspielung hinzusetzte: er habe schon manchen Bramarbas gekannt, der sich mit jedem habe schlagen wollen; aber vor dem Feinde wäre ihm das Herz in die Hosen gefallen.
Der Esprit de corps hatte wohl einen Sieg erfochten, aber die Musterung und das Magdeburger Straßenpflaster unsre letzten Kräfte aufgezehrt. Der Stolz war mit einem Male dahin, als wir aus dem Tore hinaus waren, und die Trotzigsten kamen mit Bitten, daß man sie auf die Wagen nehme. Die Bitte mußte, da für 130 Mann nur ein Wagen da war, welcher für die Tornister bestimmt war, allen abgeschlagen werden. Wir stürzten in eine Schenke, um uns wenigstens durch Bier zu stärken. »Da sahen wir recht klar«, steht in meinem Tagebuche, »den Vorteil solcher Verbrüderungen, wie unsre, ein; denn einer unsrer Vorsteher, namens Ritter, ein schöner, großer und recht gebildeter junger Mann, besorgte für uns Hermannsbrüder das Bier in der gedrängt vollen Schenke, ohne daß einer von uns sich darum zu kümmern hatte.« Wir sollten bald noch klarer sehen lernen. Ein andermal hatte derselbe hilfreiche Freund zwei große Butten saure Milch geschafft, und unter einer schattigen Rüster lagerten die Hermannsbrüder auf schönem Rasen und aßen umschichtig mit zwei zinnernen Löffeln die erfrischende Kühlung. Auch unser Anführer und der von dem Zweiten Detachement, welcher sich zum Hermannsbunde hielt. Es mag ein recht anmutig Bild gewesen sein, schwerlich aber ein tröstliches für die, welche in der Sonne liegen mußten und keine saure Milch hatten.
Im Dorfe Erzleben war unsre Station. Welch ein andres Dorf, als die wir in unsrer Mark verlassen hatten! Hier strotzte alles von Üppigkeit. Welche Häuser, Scheunen, Rinder. Verwundert stieß ich meinen Freund, den Schlegelianer, an, und sein poetisches Uhrwerk ging los:
Sagt mir nichts von gutem Boden,
Nichts vom Magdeburger Land! Das Zitat entstammt einem Spottgedichte U.W. v. Schlegels. »Wettgesang dreier Poeten«, das, an Goethes parodierendes »Musen und Grazien in der Mark« sich anlehnend, Johann Heinrich Boß, den Mecklenburger, Friedrich Matthtsson, den Magdeburger, und F.W.U. Schmidt (von Werneuchen, den Märker, verspottet. Letzterem werden die zitierten Zeilen in den Mund gelegt. Die Strophe schließt:
»Selig ruhen unsre Toten
In dem leichten, kühlen Land.«
Da verteilte der Offizier vor der Front die Billette. Der Furier überreichte ihm eins für zwölf Mann beim reichsten Bauer des Ortes. Aller Blicke sahen mit Neid darauf; sie sahen im Geist die Speckseiten im Rauchfang, die Würste, Eier, Butterfässer und Bierkrüge. Zum Überfluß stand der wohlgenährte Wirt mit seinem wohlhäbigen, glänzenden Gesicht schon bereit, um seine lieben Gäste, die der Hauptmann ihm bezeichnen sollte, selbst in sein Haus zu führen. Vielleicht ich allein hatte keine besondre Lust. Verhungern würde ich nirgends; aber in einer Bauernstube unter zwölf Kameraden war schlechte Aussicht auf Ruhe. Der Offizier musterte seine Leute: »Ein Quartier für zwölf Mann! Der Hermannsbund trete vor!« – Ein dumpfes Schweigen, finstere Blicke ringsum. Wir zogen zu dem reichen Manne, selbst reich, und sahen sie nicht mehr.
Noch hörte ich, was der Abend und die finstere Nacht ausbrüteten. Ich war weit weg. Obgleich unser Wirt ein Herr der Herrlichkeit war, und Speck, Schinken, Bohnensuppe, Butter, Brot, Eier, Bier und Buttermilch auf dem langen Tische strotzten, obgleich er mit Stolz erzählte, daß sein Haus sechsmal abgebrannt wäre, und er wäre doch nicht arm, obgleich er seinen Sohn als freiwilligen Jäger zu Pferde bei der Garde eingekleidet hatte, blieb ich doch nicht über Nacht in diesem vortrefflichen Quartier. Mein Freund, der Schlegelianer, hatte einen Freund in Magdeburg, der gleichfalls Schlegelianer, aber außerdem Feldwebel bei der Artillerie war. Dieser hatte einen Kanonier hinausgesandt, um meinen und seinen Freund auf einen Tag zu sich einzuladen. Die Sache ließ sich leicht machen, da am nächstfolgenden Tage Ruhetag war, und der Weg von Magdeburg aus nach dem nächsten Etappenorte nur kurz. Auch ich ließ mich leicht überreden, mit nach Magdeburg zu gehen, besonders da mein Offizier mir außer dem Urlaub auch bewilligte, meine Sachen inzwischen auf seinen Wagen zu legen. Leicht geschürzt betraten wir nun den Rückweg nach der Stadt, und die zwei Tage dort waren mir eine um so willkommnere Episode, als ich in jenem zweiten Schlegelianer einen Schulkameraden erkannte und volle Muße hatte, Magdeburgs Merkwürdigkeiten zu besehen. Wir verließen die Stadt nach zwei Tagen vollkommen befriedigt; nur darüber schüttelten wir bedenklich den Kopf, daß ein Buchhändler auf die Anfrage nach einem Schlegelschen Werke geantwortet hatte: »Wo denken Sie hin, meine Herren! Wie soll so etwas hier Abgang finden! Zauber-, Banditen-, Räuber-, Mord-, Geister-, Diebesgeschichten, die sind nach unserm Geschmack; damit kann ich aufwarten.« Dennoch kaufte und fand der Schlegelianer »Leier und Schwert« und »Hermann und Dorothea«, die fortan seinen Tornister noch mehr beschweren sollten. Ich hörte, daß in Magdeburg etwas französische Neigung spuken sollte, aber beruhigte mich wieder vollkommen, als ich auf dem Komödienzettel statt der Benennungen Madame und Demoiselle das deutsche Frau und Fräulein fand.
Ein schöneres Dorf, finde ich geschrieben, hätte ich nie gesehen als das Dorf Alvensleben, welches wir am Abende des nächstfolgenden Tages, und damit den Rastort unsres Detachements, erreichten. Die untergehende Sonne beleuchtete die anmutig in Grün und zwischen kleinen Anhöhen gelegenen Höfe; aber uns beiden allein Ankommenden begegneten seltsame Blicke, mürrische Antworten. Mit Mühe konnten wir in dem großen Dorfe, welches drei Ämter hatte, einen Burgturm und – was mich besonders interessiert zu haben scheint – »verfallen Gemäuer, das ich aber leider nicht mehr sehen konnte«, mit Mühe konnten wir uns nach unserm Quartiere durchfragen. Die Jäger waren vortrefflich bewirtet worden; man hatte ihnen einen Ball gegeben, und zum Dank dafür wurde den Alvenslebenern am Morgen vorm Aufbruch ein stürmisches Vivat gebracht. Warum sah man uns so seltsam an?
Der Sturm brach los, nämlich am folgenden Morgen. Mein Auge schwelgte in dem duftigen Wiesengrün, in der Pracht des Maienkleides; so hatte ich es noch nicht gesehen. Blaue Berge am Horizont und in der Ferne der alte Vater Brocken. Sollte meine Seele nicht froh sein, und was hatte mein Körper zu klagen! Kein Staub, kein Sonnenbrand, und in unsern Taschen Butterbrot und Blutwurst in Fülle, welche uns unsre guten Wirte zur Zehrung auf den Weg mitgegeben hatten. Ja, überall trafen wir gute, prächtige Menschen, mit Leib und Seele deutsch, obgleich sie so lange Zeit westfälisch Das von Napoleon durch ein Dekret vom 18. August 1807 geschaffene Königreich Westfalen, dessen Krone Napoleons Bruder Jerome erhielt, erstreckte sich östlich bis Magdeburg und Halle. gewesen waren. Das erfrischte mein Blut und erleichterte mir die sauren Wege. Es ist auch in der Tat ein merkwürdiger Unterschied zwischen dem Bauerngeschlecht in der Mark und jenseits der Elbe. Mager, gedrückt, unterwürfig, an die Dürftigkeit gewöhnt, und hier groß, voll, frei, gerad aufblickend. Aber jene Magern, Gedrückten, Unterwürfigen haben doch eine zähe Lebenskraft, die von den Wettern nicht niedergeschlagen wird, so wenig als ihr Heidekraut und ihr Buchweizen. Die strotzenden goldenen Weizenfelder wirft ein Hagelwetter um.
Eine alte Warte auf der Höhe scheidet das Preußische vom Braunschweigischen. »Von da an wird die Gegend herrlich.« Unter der Warte lagerten wir; einige aber oben auf der Höhe. Warum sonderten sich die andern Kameraden von uns? Der Sturm war losgebrochen; er tobte auf der Höhe. Flüche, grimmige Gesichter, geballte Fäuste; ja, es wurden die Hirschfänger gezogen. Was ist das? – Man verzog grinsend die Gesichter. Wir wollten hinauf. Man ließ uns nicht hinauf. Getümmel, Flüche, Drohworte, überall Emeute. Und gegen wen? – Gegen den Hermannsbund.
Man hatte taktvoll operiert; denn wir, nichts von dem Gewitter ahnend, lagen hie und da zerstreut, und die Angriffe erfolgten auf die Einzelnen, die nun verhindert waren, sich untereinander beizuspringen, ja, ohne daß einige genau wußten, was eigentlich vorgehe.
An diesem Tage, unter der Warte zwischen Alvensleben und Helmstädt, wurde der Hermannsbund vernichtet. Nicht von den Feinden des Vaterlandes, sondern von denen, die mit ihm streiten sollten für dasselbe. So fiel auch Hermann selbst, nicht von der Hand der Römer, sondern der seiner eigenen Landsleute, die in blinder Wut seine vorigen Verdienste vergessen, entweder weil sein Einfluß ihre Freiheit wirklich beeinträchtigte, oder weil sie es glaubten. Wir waren darin von Hermann verschieden, daß unsre Verdienste noch in der Zukunst lagen. Unsre Taten hinter uns bestanden in sechs Portionen Kaffee, die wir nicht einmal getrunken hatten, in einigen Krügen Bier und Schüsseln Milch, die wir zusammen genossen, und in dem Quartierbillett zu Erzleben, das uns den Hals brach. Was vielleicht noch in Alvensleben beim Balle vorgefallen war und der Wut gegen uns den letzten Stempel aufdrückte, weiß ich nicht.
Blut ist nicht geflossen; aber der Streit gedieh bis zu den äußersten Grenzen, wo Schmäh- und Schimpfreden in Tätlichleiten übergehen. Unsre Vorsteher erhoben umsonst ihre Stimme; selbst unser Offizier mußte sich das Härteste sagen lassen und hatte seine Autorität verloren, vielleicht im Bewußtsein seiner Schuld. Der Streit ward unter der Warte nicht ausgeglichen, sondern zur endlichen Ausmachung für die nächste Etappe verschoben. Hier in Helmstädt ward vom Kommandanten ein Gericht bestellt, welches, soviel mir erinnerlich, unsern Offizier zu kurzem Arrest verurteilte. Ob und wie die Rädelsführer der Emeute bestraft wurden, ist mir aus dem Gedächtnis entschwunden, und ich finde auch in meinen Briefen keine Notizen darüber.
Somit war der Hermannsbund aufgelöst. Der Kommandant sprach zu uns einige vernünftige Worte, daß wir alle, als Söhne des Vaterlandes und durch unsern Schwur, vereinigt wären, für dasselbe zu leben und zu sterben, daß wir insgesamt daher schon einen großen Bund bildeten, und es bedürfe keines kleinen, um uns an unsre Pflicht zu mahnen. Wir sollten die kleine Spielerei sein lassen im Angesicht der großen Sache, und indem er den Hermannsbund hierdurch auflöse, sollten wir nicht mehr daran denken. Nichtsdestoweniger fehlte es nicht an Hecheleien und Schmähungen seitens unsrer roheren Genossen gegen die Einzelnen, welche so glücklich oder unglücklich gewesen, ihm anzugehören. War einer von uns marode, begegnete ihm ein Unfall, so wurde der »Hermannsbündler« wieder hervorgeholt. Man rezitierte beim Marsche die beliebten Frage- und Antwortspiele: »Wer hat gestern in den Schoten gelegen?« und der Chor antwortete mit unendlichem Jubel: »Ein Hermannsbündler.« Die Neckereien gingen in den Ernst über und dauerten noch während des Feldzugs fort.
Wer mag es tadeln, daß die Gebildetern den Drang fühlten, in der roheren Masse zusammenzuhalten. Aber jedes ausfällige Sonderungsbestreben erweckt den Neid, wo eine gesetzliche Gleichheit stattfindet. Diese wollte und durfte ihr Recht fordern, da die Verbindung uns sogar Vorteile gewährte, die den andern dadurch entzogen wurden. Eine unverzeihliche Unbesonnenheit beging aber unser Anführer, weniger dadurch, daß er sich uns anschloß, als daß er die Verbrüderung in einem Dienstaktus anerkannte und uns dabei scheinbar bevorzugte. Er war unser Vorgesetzter, älter als wir, und mußte aus seinen Dienstjahren wissen, was sich in der Disziplin schickt. Wir mußten, sehr unschuldig, sein Versehen büßen, ohne ihm doch um deshalb grollen zu können. Es war ein Vergehen aus überströmender Güte für uns.
Die Gegenden, durch die wir jetzt nach Westfalen marschierten, waren freilich reizend im Vergleich zu denen, die wir verlassen; aber an Regentagen hatten sie dafür auch so viel Beschwerliches, als wir noch nicht erlebt. Der fette Boden klebte an den Füßen, und ein einziger Hohlweg, durch den wir mit Sack und Pack eine Höhe erstiegen, konnte die ganze Kolonne in Unordnung bringen. Saure Milch und schlechtes Bier brachten außerdem die Krankheit hervor, welche Xenophon von seinen Soldaten in der »Anabasis« mit so unvergleichlicher Naivität und Anschaulichkeit schildert. Einmal mußte ich mich auf den hochbepackten Tornisterwagen legen lassen, um nur fortgebracht zu werden. Es war die eigentümlichste Art zu fahren. Bei jedem Ruck war Gefahr, daß ich hinuntergeschleudert wurde, und ich war in einem Zustande, daß ich kaum die herausstehenden Stangen fassen konnte, um mich festzuhalten. Aber auch im halbwachen Zustande lehrt die Not, das Gleichgewicht halten. Ich schlief sogar und fiel nicht herunter.
Vor Braunschweig wurde unsre Hoffnung wie vor Magdeburg getäuscht. Wie hatte ich mich gefreut auf Heinrich des Löwen Fußtapfen, wie auf das Theater, die Mumme, Ein nach seinem Erfinder Chr. Mumme benanntes, stark malzhaltiges, nicht gehopftes Braunschweiger Bier, das gewöhnlich mit anderm Bier verdünnt wird. wie sich mein Freund, der Schlegelianer, auf die Viewegsche Buchhandlung und die Leihbibliotheken (wir sagten Leihbüchereien); aber auch hier wollte man uns nicht haben, ja, nicht einmal ausruhen lassen. Es hieß, ein früherer Jägerzug habe Schlägereien gehabt, und ein Mann wäre von ihnen erstochen worden. Entrüstet verwünschten wir die Braunschweiger, und um sie recht zu strafen, bürsteten und putzten wir uns nicht, sondern marschierten mit unfern von Lehm starrenden Schuhen und Kleidern, und ohne jemand eines Blickes zu würdigen, durch die Straßen. In meinem Tagebuche steht: »Nach der Verzweiflung folgte Wut und Verachtung gegen die Stadt.« Sollte ich, mir unbewußt, später einmal gegen Braunschweig, wo es mir immer sehr wohl gefiel, mich vergangen haben, so könnte das gereizte Gefühl des ehemaligen Jägers dabei mitgespielt haben. Mumme aber trank ich doch nachher in dem reichen Dorfe, wo »die elendesten Mähren stolze Rosse waren, das Korn hoch über ausgewachsene Männer reichte und dicht stand wie Sand«.
Die Hitze wurde immer drückender, furchtbare Gewitter entluden sich fast jeden Nachmittag; wir brachen daher in der Regel schon in der Nacht auf, um vor der Tageshitze unsre Station zu erreichen. Aber so kurz die Märsche waren, im Vergleich zu denen im Brandenburgischen, so beschwerlich wurden sie durch die Beschaffenheit des Weges. Der fette Lehmboden war tief aufgelöst, der Fuß glitt aus bei jedem Schritt und fand keinen festen Grund. Dazu das hüglichte Terrain und fast immer Hohlwege. Oft mußten wir uns gegenseitig halten, viele stürzten hin, und die kleine Armee kam in der Regel in völlig aufgelöstem Zustande ins Quartier. Ich sehe aus meinen Briefen, daß ich mich mit den Braunschweigern wieder versöhnt hatte, ich erkläre ihre Gesinnung für vortrefflich deutsch; dagegen scheinen mir die Hannoveraner einen schwankenden Charakter zu haben und gar nicht das gehörige Maß Franzosenhaß. Indes setze ich entschuldigend hinzu, das komme Wohl daher, weil sie so oft die Herren, gewechselt haben. Die Bemerkung galt übrigens den Hildesheimischen.
Endlich ward mein sehnlicher Wunsch erfüllt, wir blieben in einer Stadt. Und in welcher Stadt! In der alten, berühmten Bischofsresidenz Hildesheim, Mein Herz schwamm in Wonne, als ich ihre vielen Türme in der Morgensonne vor mir liegen sah und durch die gewölbten Doppeltore in ihre getürmten Mauern zog. Den Anblick von Hildesheim nenne ich »ehrfurchtgebietend«. Ich weiß nicht, ob die Stadt noch jetzt so aussieht, und ob meine damalige Anschauungsweise heute Stich halten würde; aber der Eindruck ist mir durchs Leben geblieben, auch der von Nürnberg und Goslar hat ihn nicht zurückgedrängt. Zwischen den Häusern mit Giebeln und Türmen, die wie Burgen ausschauten, und an denen ich mit Entzücken die Jahrhunderte zählte, führte mich mein Quartierbillett endlich in die Eckemäkerstraße, welche dem vollen Ideal einer alten Stadt entsprach; denn von beiden Seiten sprangen die Stockwerke immer weiter in die Gasse, bis die Dächer oben, sich beinahe berührend, kaum einen Weg für den Regen, für das Sonnenlicht aber nur eine Spalte offen ließen. In diesem heiligen Dunkel, in diesen ehrwürdigen Gemächern sollte ich Glücklicher Nr. 1228 beim Schuster Vissing wohnen! Treppauf, treppab, über Galerien und durch Winkel trat ich endlich an die Tür, wo man mir sagte: »Hier ist Ihr Zimmer.« Ich mußte mich zwei Kopf tief bücken, um hineinzutreten, und obgleich ich etwas in die Tiefe fiel, stieß ich doch wieder an die Decke, als ich mich aufrichten wollte. »Die Wohnung war ein Hundeloch« steht in meinem Tagebuche. Dennoch hatte diese Wohnung zwei Türen, von denen die eine nach einem Orte führte, dessen Atmosphäre nicht die angenehmste Nachbarschaft ist, und diese beiden Türen, ohne Schloß, gingen immer aus ihren Angeln und standen sperrweit auf. Um dies zu verhindern, setzte ich einen Schemel vor; da ich aber nur einen in meinem Zimmer hatte, so stand mir die Wahl frei, ob ich die Tür nach dem geheimnisvollen Orte oder nach der zugigten Treppe schließen wollte. Wenn ich mich nun zugleich hinsetzte, natürlich, da ich müde war, so wurde ich dort kühl angefächelt, hier atmete ich den durchdringendsten Parfüm ein. Dazu brachte man mir ein Mittagbrot, welches ich, auch wenn ich hungrig gewesen wäre, kaum hinuntergewürgt hätte. Aber die Leute waren »recht gut gesinnt«. Das mag mich getröstet haben; doch nicht so sehr, daß ich nicht am Abend mein Quartier verlassen und mich im breiten Bette eines Kameraden besser gebettet hätte. So ward meine Hoffnung auf ein Quartier in einer alten Stadt und eine eigene Stube darin erfüllt. Für meine Leser möge es als ein Beitrag zur Geschichte der Soldatenquartiere dienen.
Soviel ich konnte, besah ich natürlich Hildesheims Merkwürdigkeiten, und vor allem seinen durch die Legende und die Kunst reich ausgestatteten Dom. Aber noch interessanter war, was ein Schneider, bei dem ich eine Reparatur an meiner Uniform vornehmen ließ, mir von der Entstehung Hildesheims erzählte: von dem blühenden Rosenbusch, an dem Kaiser Karl der Große seinen Rosenkranz vergessen, und der deshalb noch blühte, als Karl die ganze Gegend, in tiefen Schnee gehüllt, wieder sah, worauf er eine Kapelle darüber baute, aus der der Dom wurde, und in ihm blüht noch der Rosenstrauch! Und die in Erz getriebene Säule des Bischof Bernward, auf der die ganze Leidensgeschichte Christi eingegraben steht! Und wie herrlich, berühmt, reich die Stadt gewesen! Ich schlürfte gierig jedes Wort meines freundlichen Schneiders ein, der vielleicht ebenso froh war, jemand zu finden, der seine alten Geschichten für neue nahm. Es war eine schöne Zeit, wo man an Legenden glauben konnte. Wir zwangen uns dazu.
Wir näherten uns Westfalen. Die Physiognomie des Landes ward eine andere; in jeder Hügelkette, jedem alten Wege suchte mein Auge schon nach Römerstraßen und nach Cherusker- und Sachsenfußtapfen. Es tat indes nicht gut, diese Sehnsucht und dies Ruhen laut werden zu lassen; ebensowenig als es rätlich war, sein Entzücken über die Schönheit der Gegenden zu äußern. Ein Freund bei einem andern Detachement vergaß einigemal, daß die Kameraden von anderm Stoff waren und nach anderm Stoff verlangten, »das ist wieder eine Hauptgegend!« – unglückseliger Ausruf, der ihm durch seine ganze Kriegerlaufbahn einen Spottnamen zuzog: »Da kommt die Hauptgegend!« Auch ich mußte mein vieles Schreiben verbergen; man sah darin hermannsbündlerische Tendenzen! Übrigens gab sich das bald von selbst. Wenn man in der Nacht, noch halb schlaftrunken, aufbrechen, durch morastige Wiesen und kotige, tiefe Wege marschieren mußte, hinschlagend, verirrt und, wenn man kaum des Morgens von der Sonne getrocknet war, von ihr wieder verbrannt wurde, so forderte der Schlaf vom Tage sein Recht. Dann aber galt es putzen, flicken, das Riemzeug blank polieren, zuweilen exerzieren, auch Wache stehen, außerdem aber – essen. Meine Wirte verwunderten sich, wie wenig ich verzehrte; dabei könne der Soldat keine Kräfte gewinnen. Noch war es der moralische Impuls, das Jugendfeuer, was mir Kräfte gab.
Die Leine war passiert, wir näherten uns der Weser; ich mit Ehrfurcht, die heiligen Gegenden des Teutoburger Waldes, des Schlachtfeldes Idistavisus zu betreten. Wir alle lagen plötzlich auf einer Höhe, hingestreckt am Boden, nicht um einen Römerfußtritt, aber möglicherweise um einen Ort, wo auch die Römer vor uns so mögen gelegen haben. Eine kleine Quelle rieselte seitwärts aus einem höheren Tongeschiefer und über die Straße weg. Es war wieder ein heißer Tag, und die Quelle war beinahe ausgetrunken, als das Horn heftig schmetterte, und der Feldwebel uns zum Antreten in Reih und Glied rief. Alles sprang auf, die Höhe hinunter. Wir sahen die Türme, die gesprengten Werke der Zitadelle von Hameln vor uns. Es war nicht aus Respekt vor der Stadt, wo der Rattenfänger gehaust, weshalb wir die militärischen Honneurs machen sollten; sondern sie galten einem Oberoffizier, dessen Reisekalesche auf der Straße hielt, und er war ausgestiegen, um uns zu mustern.
Es war eine edle kriegerische Gestalt, die an unsern Reihen vorüberging, in einem schlichten Überrock, auf dem Kopfe die einfache Landwehrmütze, ohne Adjutanten und militärische Begleitung. Aber seine Haltung, das würdevolle, männlich schöne Gesicht, seine strengen, aber doch freundlichen Augen, übten eine unwillkürliche Autorität auf uns, auch wenn wir seinen historischen Namen nicht erfahren hätten. Der General hielt eine kleine Anrede, in den kurzen Sätzen und schlagenden Worten, wie sie auf den Soldaten am besten wirken; aber die gebildete Sprache, der feine Ton wirkten auf einige noch mehr. Natürlich war die Rede eine Anfeuerung zur Ausdauer, zum Mute; er rief uns ins Gedächtnis, welche Ehre es jetzt sei, ein Preuße zu sein, wo unser Vaterland, noch durch die außerordentlichsten Opfer eines außerordentlichen Krieges erschöpft, aufs neue sein Bestes, sein Alles zu dem großen Zwecke hingebe. Ein donnerndes Lebehoch scholl dem General von jedem Detachement nach. »Lebt wohl, Kolberger!« rief er uns nach, als er wieder in den Wagen stieg.
Es war der General Vorstell. Eine der unangenehmsten Episoden des ruhmwürdigen Krieges entfernte ihn vom Kampfplatz, Ludwig v. Borstell, der den Tag von Dennewitz (6.9.1813) entschied und sich auch bei Leipzig hervortat, wurde 1816, da er zu Lüttich gegen Blüchers Befehl die Exekution an meuternden sächsischen Bataillonen nicht vollziehen wollte, wegen Insubordination zu vierjähriger Festungsstrafe verurteilt, aber bald darauf begnadigt. um in Berlin dem Gerichte über ein Verfahren entgegenzugehen, das heut, wo die Leidenschaften nicht allein abgekühlt, sondern verschwunden sind, keine Rechtfertigung mehr bedarf.
Schon morgens um acht waren wir in Hameln; aber der Tag war zum Schlafen bestimmt, indem wir in der Nacht den weiten Marsch nach Lemgo antreten sollten. Wir mußten am Tage übrigens noch den Schlaf der vorigen Nacht nachholen, eine kaum zu lösende Aufgabe. Ohne etwas von der Stadt gesehen zu haben, traten wir um neun Uhr an. Es war ein drückend schwüler Abend. Während wir noch versammelt standen – unsre Tornister lagen schon auf dem Wagen, und leider diesmal auch unsre Mäntel; in Betracht des schwierigen Nachtmarsches hatte man es erlaubt – brach ein furchtbares Gewitter los. Der Kommandeur ließ uns auseinander gehen, um in den Häusern abzuwarten, bis die erste Flut sich ergossen hätte. »Es war die merkwürdigste Nacht meines Lebens« steht in meinem Tagebuche; und kaum erinnere ich mich heut einer ähnlichen. Ich fand mit mehreren Kameraden ein notdürftiges Unterkommen im Flur eines Kaufmanns. Man brachte uns eine Lampe und einige Schemel. Sonst schloß man sich von uns ab. Der Zugwind durch die Türritzen drohte die Lampe jeden Augenblick zu verlöschen; aber die Blitze leuchteten fast ununterbrochen, das Wetter schlug gegen Türen und Fenster, als spotte es ihrer Ohnmacht, und der Donner schien auf dem Boden des Hauses seinen Sitz zu haben. Es war eine peinliche Stille unter uns allen; auch die Ausgelassensten und Rohesten schwiegen.
Endlich, gegen zehn Uhr, rollten die Donner fort, der Regen ließ nach; wir traten wieder an und marschierten, um unsern ungeschwächten Mut, vielleicht uns am meisten, zu beweisen, unter lautschallendem Gesänge durch die Stadt über die Weserbrücke. Nur die in der Ferne noch zuckenden Blitze zeigten uns den berühmten Strom in gelbem Lichte. Ich hätte gewünscht in rotem. Er mußte doch noch etwas vom Römerblute gefärbt sein. – Kaum waren wir drüben, als der Regen, der nicht aufgehört hatte, wieder stärker wurde. Auch hatte er die Luft nicht abgekühlt, und ein neues Gewitter zog heran. Längs der Weser ging unser Weg, der elendeste Weg, den uns bald nur noch die zuckenden Blitze zeigten. Bald sah keiner mehr den andern. Jeder hastete nur, um nicht in Wildnis und Nacht zurückzubleiben, sich der dunkeln Masse, die vor ihm sich bewegte, anzuschließen. Es ging durch dick und dünn. Hier stieß einer auf eine Höhe und fiel, dort andre in die Gräben; sie sahen wie Fußsteige aus. Hier glaubten wir eine Brücke zu finden, und wateten und wateten durch angeschwollene Bäche. Dann und wann gossen freilich die Blitze ein schauerliches Licht über die Gegend und unsre Verwirrung aus; aber die darauf folgende Dunkelheit verwirrte uns nur noch mehr. Der Regen floß in Strömen, niemand hatte mehr einen trockenen Faden am Leibe, und der Schlamm ward immer tiefer. Mehreren blieben die Schuhe stecken. Jetzt erhob sich der allgemeine Unwille in dumpfem Gemurre, in wilden Flüchen. Man verwünschte den Einfall, des Nachts zu marschieren. Keiner kannte seinen Nebenmann, keiner wußte, von wem er einen Kolbenstoß bekam, oder wen er durch unwillkürliche Wendung in den Kot stieß. Ein alter Soldat, der zehn Jahre gedient hatte, versicherte doch, keine solche Nacht erlebt zu haben.
Ich hielt mich mit aller Nervenanstrengung, so gut es ging, beim großen Haufen; aber eine Stunde schleppte ich mich fort, ohne den Trost zu haben, irgend jemand um mich her zu erkennen. Endlich verriet ein Ausruf mir die Stimme eines Freundes; es war der Schlegelianer. An der Seite eines Freundes und Geistesverwandten marschiert sich auch in solcher Trübsal leichter. Ob wir aber von Novalis und Tieck sprachen, während wir bis an die Knie im Schlamm wateten, kann ich nicht mehr angeben.
Ein Häuflein Mißvergnügter hatte sich gesammelt. Man sah in der Ferne ein Licht. Das Komplott war fertig; wir verbanden uns, keinen Schritt weiter zu gehen, sondern in dem nächsten Dorfe einzukehren. Es war ein sehr natürliches und kaum ein strafbares Komplott; denn von einem Marsch und Befehlen war nicht mehr die Rede. Zufällig fand sich aber auch unser Offizier dazu und approbierte unsern Entschluß. Wir stürmten in das Dorf und in das Haus, von woher das Licht kam; es war das Wirtshaus, aber im selben Augenblicke war es von den aus der Dunkelheit tauchenden Gestalten vollgepfropft. Der Schlegelianer, ich und einige suchten ein anderes Haus. Da kam gerade der Nachtrab an, welcher zufällig in Ordnung geblieben war und nichts davon wußte, daß Vortrab und Zentrum bereits zersprengt und verkrochen waren. Er nahm uns in seine Mitte, und in umgekehrter Ordnung bildeten wir nun den Vortrab. Wir wollten keck unser Glück ertrotzen. Aber in meinem Tagebuche steht: »War der vorige Weg schön, so war dieser schlecht.« Wie das möglich, bin ich heut nicht mehr imstande zu erklären. Wir blieben bei jedem Schritte im fettigen Schlamme stecken. Uns zur Linken lag eine hohe Hecke, davor ein tiefer Graben. Ein Blitz verriet uns, daß Häuser dahinter lagen, er zeigte uns zugleich, wieviel wir unser beisammen waren. Ein Sturm mußte gewagt werden. Schon das In-den-Graben-springen war eine schwierige Aufgabe wegen des abschüssigen, durchweichten Lehmrandes. Die meisten fielen, um nur zu dem Ziele zu gelangen, daß sie bis an die Hüften im Wasser standen. Nun wurden die Hirschfänger gezogen, und wir hieben, so schwer es ging, eine Bresche in die hohe und dichte Hecke. Aber mit dem Durchbrechen der Schanze war sie noch nicht gewonnen. Der erste rutschte, wie ihn auch die andern stützten und hoben, zweimal zurück. Endlich hatten zwei die Höhe gewonnen; die andern faßten sich, einer an die Rockschöße des andern, und so ging es vorwärts immer bergauf, in stockpechfinsterer Nacht, bis ich, am Rockschoß des Schlegelianers, plötzlich, statt des weichenden Lehms, gedielten Boden unter mir fühlte. Wir waren im Flur eines Hauses, aber ebenso schnell verging uns der gewonnene Raum wieder; denn wir standen wie die Heringe aneinandergepökelt. Das war ein seltsamer Anblick, als die Bauerfrau Licht angemacht hatte, und das Feuer auf dem Herde aufflackerte: die erschreckten Gesichter der kaum aus dem Bette aufgesprungenen Familie, im Hemde alle, barfuß, und wir vom Regen triefend, mit Kot Gesicht, Haar, Kleider beschmiert – Räubern ähnlicher als Soldaten. Wir selbst staunten uns verwundert an; denn jetzt erst erkannten wir uns oder erkannten uns nicht. Da war ein buntes Gemisch aus Jägern und Soldaten der verschiedenen Regimenter.
Indes verständigte man sich bald. Alle konnten nicht im kleinen Häuschen bleiben. Der Bauer führte uns mit einer Laterne in das nächste Gehöft, und Kolbenschläge an die Tür weckten hier die armen Bewohner auf, die aber sogleich gute Miene zum bösen Spiel machten. Verirrte Soldaten sind besser als Räuber. Licht und Feuer ward angezündet, der Ofen geheizt; wir zogen uns aus, und der Bauer und seine Frau trockneten unsre Kleidungsstücke. Ohne Spuk konnte das Abenteuer an den Ufern der Weser uns unmöglich begegnet sein, und ich bin überzeugt, daß der Schlegelianer und ich an mögliche Einflüsse und Nachwirkungen des Rattenfängers von Hameln dachten. Nachdem wir uns mit Wasser, Brot und Butter erquickt, warfen wir uns auf eine frische Streu und ruhten, so gut es ging, bis drei Uhr morgens. Die guten Leute wollten nichts für ihre freundliche Aufnahme annehmen. Der nächste Tagesmarsch war möglicherweise noch verwirrter. Es regnete noch und war noch heiß. Niemand wußte, wo die andern lagen, wann sie ausbrechen würden; in der Verwirrung war vergessen worden, die Stunde des Abmarsches anzusagen. So brachen wir vom Nachtrab um einige Stunden früher als die andern auf; aber während wir in einem Wirtshaufe frühstückten, waren sie uns wieder voraus, und um sie einzuholen, und Weil wir uns noch völlig erschöpft fühlten, mieteten wir unser acht einen Leiterwagen bis Lemgo. – Als wir durch einen Wald kamen, stürzten plötzlich mehrere Personen, teils in bürgerlicher Kleidung, teils in weißen, roten und blauen Uniformen auf uns zu. Nicht wie zum Angriff, sondern wie selbst in großer Unruhe. Es waren sächsische Offiziere, aus Lüttich auf ihr Ehrenwort nach jenem beklagenswerten Vorfall entlassen. Sie waren von den Jägern und Landwehrmännern eines andern Detachements – ich will den Namen nicht nennen, da er jetzt in Preußen einen sehr ehrenwerten Klang hat – unterwegs angegriffen worden und flüchteten zu uns vor den Schimpfreden, den Stein- und Kotwürfen unsrer wütenden Kameraden. Es war ein trauriger Anblick, Ehrenmänner, Offiziere, die nur politisch eine andre Ansicht gehabt hatten, in dieser hilfeflehenden Stellung vor uns jungen Freiwilligen zu erblicken. Sie hätten nicht nötig gehabt, uns ihre Unschuld zu beteuern und sich auf unsern General Vorstell zu berufen, der, wie wir, ein »Pommer«, von derselben überzeugt, sich ihrer mit Hintansetzung von allen Rücksichten angenommen habe. Es war eine Sache der Ehre, Hilflosen beizustehen, ein erster Akt der Selbsttätigkeit. Wir sprangen vom Wagen und nahmen sie in unsre Mitte. Die Büchsen wurden in den Arm genommen und den ...schen Jägern eine ernste Stirn gezeigt. Zum Ernste waren diese nicht aufgelegt. Sie begnügten sich mit Schimpfreden gegen die Sachsen, mehr aber noch gegen uns als ihre Beschützer.
Die Rivalität zwischen den Pommern und den ...schen Jägern, die schon immer bestand, ging von nun ab in unangenehme Streitigkeiten über. Die Offiziere nahmen den gerührtesten Abschied von uns und versicherten, die Pommerschen Jäger fortan im besten Andenken behalten zu wollen. Wahrscheinlich leben noch viele von ihnen. Ich weiß keinen Namen, bin aber im Leben vielleicht schon manchem von ihnen begegnet, ohne daß wir uns erkannt haben.
In Lemgo ward abermals eine Erwartung getäuscht, ich aber allein trug die Schuld; denn weshalb erwartete ich, weil Herder einige Zeit hier gelebt und einige seiner Schriften hier erschienen waren, in der Stadt ein kleines Weimar ober wenigstens Dessau zu finden! Der verrückte Uhrmacher, bei dem ich wohnte, wußte von Herder auch kein Wort. In der kleinen Stube, die man uns zweien anwies, war nicht einmal ein Schemel; er meinte, ein Soldat sitze auf einem Koffer weit zweckmäßiger als auf einem Stuhle. Das mag sein; aber in einem Bette, wo kaum einer bequem liegt, konnten zwei nicht schlafen. Uns Stroh zu geben, sagte er, wäre gegen seine Ehre und sein Gewissen.
Am folgenden Tage ward ich indes durch die »himmlischen Gegenden« auf dem Marsch nach Paderborn belohnt. Ich sah dort zu beiden Seiten des Weges Berge über Berge, »bis in den Himmel emporragend«. Für ein sechzehnjähriges Auge ist der Himmel nahe. Die herrlichen Buchenhaine, die Waldströme, in die Schluchten rauschend, Mühlen treibend, Wasserfälle bildend, waren für mich etwas ganz Neues. Das war der Teutoburger Wald. Daran haben vielleicht auch andre nicht gezweifelt: aber in den großen Steinstraßen, welche im Lippe-Detmoldschen die Gebirgszüge durchschneiden, sah ich unverkennbar Römerstraßen. Hätte Varus sie gehabt, er hätte vielleicht seine Legionen nicht so ganz verloren. Der erste Hinunterblick vom Gebirge hinter Detmold, vor Lippspring, aus das flache Land, war für uns alle ein überraschender. Die achtundzwanzig Jahre haben ihn nicht verlöscht; die Türme des noch drei Stunden entfernten Paderborn glänzten uns lockend entgegen. In Paderborn sah es freilich sehr alt, still, feierlich, katholisch aus, was mich sehr freute; mein Quartier bei einem bigotten Rademacher war aber kaum besser als das in dem auch bischöflich gewesenen Hildesheim. Nicht daß gerade mein täglich wiederkehrendes Abendbrot, Eier und Salat, mich verdroß; aber das Bette war doch Zu schlecht, und obgleich ich mich nur darauf und meinen Mantel darunter legte, konnte ich doch der hüpfenden Kleinen wegen die ganze Nacht kein Auge zutun. Ich eilte, ehe der Tag graute, auf den Versammlungsplatz und schlief noch dort eine Stunde auf der steinernen Schwelle einer Kirche. Aber auch das hat nichts geholfen, die stillen Wünsche meiner guten Wirte in Erfüllung zu bringen. Es erschien keine Vision, die mich belehrte. Der Rademacher und seine Frau hatten den Kopf geschüttelt, daß ein so blutjunger Mensch schon in den Krieg ging. Das käme, meinten sie, von der Verführung in den Schulen und vom Luthertum. Aber sie waren doch, meiner Jugend wegen, freundlich gegen mich und bereiteten mir schon in der Nacht einen stärkenden Kaffee.
Das Städtchen Gesecke, wo wir den nächsten Rasttag hielten, nenne ich in meinen Briefen »das deutsche Venedig, wenn Mistpfützen Kanäle wären«. Aber mir kam es barbarisch vor, daß man die alten Mauern, die noch im Dreißigjährigen Kriege Gesecke zu einer tüchtigen Festung gemacht, abtrug, um die Wege zu bessern. Soest mit seinen alten Mauern und Türmen, »die wahrhaften Burgen glichen«, hatte meinen ganzen Beifall, und wir erhielten, unser vier, beim Apotheker im Schwan, das beste Quartier der Stadt; eigentlich durch eine unerlaubte List, welche ältere Kriegskameraden sich mit dem gefälligen Bürgermeister erlaubten. Allen war es aber in der Stadt wohl ergangen; ihr ward dafür beim Ausmarsch ein dreimaliges Lebehoch gebracht. Unna war wieder für uns eine herrliche Stadt. Solche verfallene Mauern, mit Türmchen daran klebend, hatte ich noch nicht gesehen. Und welcher Unrat, welches Gestrüpp machte sie noch malerischer! Dreien von uns war aber die Stadt noch besonders wert eines berühmten Romanes wegen, den wir gelesen, »Hermann von Unna«. Schade aber, keiner von uns entsann sich deutlich, was eigentlich in dem Romane gestanden. Wir hofften Spuren von der Feme zu finden; aber obgleich wir überall auf den alten Mauern umherkletterten, fanden wir nichts. Endlich erfuhr mein Freund, der Schlegelianer, von seinem Wirte, einem Leinweber, daß drei Stunden von der Stadt entfernt die Trümmer eines alten Schlosses lägen, wo ein heidnischer Ritter gehaust, Hermann von Unna, und diesen heidnischen Ritter habe der heidnische Kaiser Wenzel oftmals besucht.
Nun waren wir in dem schönsten Teile Westfalens; ich werde bei der Schilderung meines Quartiers, in dem Dorfe Vorhall bei Hagen, poetisch. In der Stube sitzen meine Kameraden und spielen am Tische, wo ich schreibe, Karten. Wie kann man »Hund« spielen, wo draußen »die herrliche, unbeschreibliche Gegend« lacht! Keine märkischen, keine sächsischen Dörfer sind es mehr, es sind die weit zerstreuten westfälischen Meierhöfe. In einem solchen abgehegten Sitze, nach uralter deutscher Weise, liege ich mit noch fünf Kameraden. Zweihundert Schritt entfernt liegen erst die nächsten einquartiert; die übrigen sind ein bis zwei Stunden weit ab, alle im Umkreise einer Quadratmeile zerstreut! Wir sind zum ersten Male auf uns selbst beschränkt, wie diese westfälischen Bauern. Kein Hornsignal dringt zu uns. Es ist ein schönes, grünes Tal. Am Abhange eines Berges liegt romantisch hinter dem Gebüsche die Stadt Hagen. Nahe daran, auf dem Gipfel eines hohen, steilen, felsigen Berges, der die ganze Gegend beherrscht, eine Warte, der letzte Rest eines alten Schlosses. Dicht am Gehege unsres Hofes fängt schon der Laubwald an und steigt empor, bis unser Auge nur noch ein dunkelgrünes Meer erblickt. Jenseits ist die Gegend lieblicher. Die Hügelketten erheben sich in Altanen, nur von wenigem Gebüsch bedeckt, bis auf den höchsten Höhen wieder ein dichter, dunkler Wald gegen den blauen Horizont abschneidet. Wasser sieht das Auge nicht; aber das Ohr hört es. Es sickert und rieselt aus allen Vertiefungen und Schluchten hervor, in hand- bis ellenbreiten Strömen, es wässert die duftigen Wiesen, es plaudert und schwatzt so lieblich versteckt unter dem Grase, und dort blickt es neckisch vor als ein kleiner Wasserfall.
Ich atmete Waldeinsamkeit. Die alte, freie, germanische Natur rauschte um mich, nach der ich kaum gesucht hatte; denn ein verrosteter Rittersporn in einem vermoderten Steinhaufen wäre mir damals lieber gewesen. Mein Wirt, der starke, breitschulterige, blonde Mann mit den blauen Augen und dem freundlichen Gesicht und dem biedern Händedruck, das war ein deutscher Westfale, wie er dem Varus und dem Kaiser Karl ins Antlitz geschaut haben konnte. Die Gebirgsluft machte ihn frei. Er war auch wohlhabend. So schlecht die Stube war, so trefflich war für unsre Leiber gesorgt: Pumpernickel und Weißbrot, wie unser Kuchen, fette Milch, Käse, Butter, Branntwein, alles in Überfluß. Das Nachtlager war duftendes Heu mit reinlichen Laken und Kopfkissen, das beste, das ich je auf einem Dorfe gehabt. Am folgenden Tage war hier Ruhetag. Nur einer von uns Sechsen brauchte, in procura der andern, zum Appell; wegen der Entfernung ritt er auf unsers Bauern Klepper dahin. Wir andern gingen mit diesem – es war gerade Sonntag – in die Kirche. Es regnete stark, überall, wo wir untertraten, herzliche Gesichter; man schüttelte uns die Hände, man brachte uns volle Gläser. Nach der ziemlichen Predigt konnte ich mich nicht enthalten, auf den Berg und auf die hohe Warte zu steigen. Die Aussicht durch die Luke ins Tal war sehr schön. Ich war zum ersten Male auf einer Burg, und sah zum eisten Male durch ein Fenster, wodurch so mancher Raubritter auf seine Beute mochte ausgeschaut haben! Schade nur, daß mein Freund, der Schlegelianer, nicht mit mir war. Es war aber, unbeschadet der Rittelgefühle, ein wirklich reizender Anblick auf das waldige, wiesenreiche, üppige Tal, welches die Ruhr in vielfachen Windungen durchschlängelte. Ich pflückte hier die ersten Erdbeeren.
In diesen zerstreuten Gebirgs- und Walddörfern mußten die Bauern sich ihre Einquartierung selbst abholen und sie auch wieder nach den Sammelplätzen bringen; denn ohne Boten war es für einen Fremden unmöglich, in dem Geschlinge von Berg und Tal, durch die lebendigen Hecken und über die durchwässerten Wiesen, auch nur den richtigen, geschweige denn den nächsten Weg zu finden. Unser trefflicher Wirt hatte, unsre sechs Tornister auf dem Rücken, uns über Berg und Tal, durch Waldpfade, wo wir auch nicht die Spur eines Weges sahen, vorgestern in sein Gehöft geführt; heute leitete er uns durch die Nebel des grauenden Tages ebenso bis auf den Versammlungsplatz. Nie schieden wir alle so gerührt, mit so kräftigem Händedruck von einem Wirte. Auch er war Soldat gewesen. Gern zeichne ich hier seinen Namen, Ludwig, zur Erinnerung für mich auf.
Daß die Städte des Wuppertals, die schon damals wie aneinandergekettet lagen, Barmen, Schwelm, Gemarke und endlich Elberfeld, einen wunderbaren Eindruck auf die jugendlichen Sinne hervorbringen mußten, braucht kaum gesagt zu werden. Die Sonne schien in das grüne Tal auf die rührigen Menschen, auf die Regentropfen, die auf den seltsamen, schieferbekleideten, reinlichen Häusern hingen. Dies Klappern der Mühlen, diese Emsigkeit und dazu die erste dunkle Nachricht von einem großen Siege unsrer verbündeten Heere stimmten die Gemüter zu erhöhter Freudigkeit. Einer nannte Elberfeld gar ein deutsches Paradies! Ein bewegtes bürgerliches Leben begegnete uns hier; neben dem kaufmännischen Treiben politische Gespräche, Hoffnungen und Befürchtungen. Besonders war meine Wirtin eine eifrige Politikerin, mit Leib und Seele Preußin. Aber zugleich ebenso eifrige Protestantin; sie eine Reformierte, der Mann ein Lutheraner, »aber wir sind doch einig«. – Sie haßte die Katholischen; das kam mir damals seltsam vor. Waren »protestantisch« und »katholisch« Gegensätze, wo die moralische Weltordnung nur zwei Parteien gestattete: solche, welche die Franzosen haßten, und solche, welche mit ihnen schön taten oder sie entschuldigten? Letzteres warf sie den Katholischen in Elberfeld vor. Mir unbegreiflich. Dagegen war mir ganz begreiflich, daß die lebhafte Frau einem Katholiken wollte eine Ohrfeige gegeben haben, weil er in ihrer Gegenwart Napoleon gelobt hatte. Und dafür ein Injurienprozets, und sie war gestraft worden! Mir wollte das auch nicht recht zu Sinn. Üble Nachrichten von unfrei Armee waren durch die Stadt verbreitet. Es verlautete von einer dreitägigen Schlacht. An den ersten zwei Tagen wären die Alliierten, am dritten die Franzosen geschlagen worden. Die Bergschen Truppen wären fast ganz vernichtet und die Feldherren auf beiden Seiten gefallen. Aber das waren nur dunkle Gerüchte. Auch unser Offizier, den ich in seinem Quartier bei wohlhabenden Kaufleuten aufsuchte, wußte nichts davon.
Wir veränderten in Elberfeld unsre Marschroute. Es ging nicht nach Düsseldorf, sondern links ab über Monheim nach Köln. Unschön waren seine Ufer, aber doch ergriff mich ein wunderbares Gefühl beim ersten Anblick des Vaters Rhein. Ein erstes Glas vaterländischen Weines, hier gewachsen, benetzte die Lippen. Es schmeckte mir fast wie Claudius. Dem Dichter des bekannten »Rheinweinliedes« (»Bekränzt mit Laub den lieben vollen Becher«), das diesen Wein mit den schönen, uns heut wieder ganz eigen klingenden Worten feiert:
»Ihn bringt das Vaterland aus seiner Fülle;
Wie wär' er sonst so gut!
Wie wär' er sonst so edel, wäre stille
Und doch voll Kraft und Mut!« Beim nächsten Nachtmarsch hörten wir aus der Gegend vor uns eine Kanonade. Verwundert blickten wir uns an. Sollten die Franzosen gesiegt haben, sollten sie mit Sturmesflügeln bis an den Rhein vorgedrungen sein! Bald kamen Reisende vorüber, die uns wunderbare Kunde zuriefen. Da hielt ein Reiter an, ein Kurier, mit einem Extrablatt in der Hand. Sieg! Ein großer Sieg, eine ungeheure, blutige Schlacht war geschlagen. Wellington und Blücher hatten gesiegt und lebten. Die Kanonenschüsse waren das Freudenfeuer. Freude, Jubel, Vivats und Gesang unsrerseits; so marschierten wir mit neuen Kräften dem anbrechenden Tage und den Türmen von Köln entgegen, die wie ein Wald aus dem gelbrötlichen Himmel immer höher emporragten.
Auf der Fähre, die uns über den Rhein setzte, hörten wir Näheres von der Schlacht und dem Siege, die noch keinen Namen hatten, aber alles noch mit Märchen vermischt. Das Ufer stand gedrängt voll. Man sah uns verwundert, viele sahen uns unsrer Jugend, vielleicht auch unsres verwüsteten Aufzugs willen mitleidig an. »Wozu das noch!« hörten wir murmeln. »Sie kommen zu spät,« sagte achselzuckend ein junger Kaufmann; »es ist alles entschieden.«
Es war aber noch viel zu tun, eine große Nachlese. Die Armee hatte ungeheure Verluste und war erschöpft. Unsre Order lautete deshalb, in Eilmärschen ohne Rasttage über Aachen nach Lüttich aufzubrechen. Nicht einmal in Köln ward uns der allen sehr benötigte Ruhetag gegönnt. Konnten wir die älteste, herrliche Stadt unsres Vaterlandes nicht besichtigen, so wollten wir wenigstens ihren Wein trinken und auf den Sieg der deutschm Sache anstoßen. Hell klangen die Gläser, einer Zukunft entgegen, von der wir uns die wunderlichsten Vorstellungen machten.
Aber in meinem Tagebuch steht gleich darauf ein tiefer Stoßseufzer. Der Nacht- und Morgenmarsch hatte uns so ermüdet, daß wir nicht allein nicht die heilige Stadt Köln, ja, nicht einmal den Dom besehen konnten, sondern daß uns beim Anstoßen selbst die Augenlider zusanken, und die letzten Gläser sich unwillkürlich senkten, bevor wir sie an die Lippen gebracht. Mein schmales Bett teilte ich nachher mit einem Feld- und Schulkameraden, der, wie er versicherte, in ein gar zu abscheuliches Loch gelegt worden, während ich diesmal ein ziemlich gutes Quartier bei einem Speisewirt Rothmllller erhalten hatte. Ich finde nicht allein seinen Namen, sondern die Nummer des Hauses und den Straßennamen verzeichnet, ein Zeichen, daß es mir hier wohl erging oder gefiel; denn nur die Quartiere, wo mir sehr behaglich oder sehr unbehaglich zumute wurde, habe ich aufnotiert. Sollte also zufällig noch ein Speisewirt Rothmüller oder ein solches Speisehaus auf dem Salmenack existieren, so stelle ich dem freundlichen Leser in Köln, den es interessieren sollte, anheim, sich das Haus bei einem gelegentlichen Spaziergange anzusehen – es wird nicht grade die Fassade der »Cour Royale« oder des »Hotel Bellevue« haben –, rate ihm indes nicht von den großen weißen Bohnen zu fordern, davon mir eine ganze Schüssel vorgesetzt wurde. Es ist eine neunundzwanzigjährige Erinnerung, aber ich weiß sehr deutlich, daß der Wirt zu seinem Erstaunen, als er sie fortnahm, nur am äußersten Rande eine Lücke bemerkte. Es sei doch ein Lieblings- und Nationalgericht! Ich versicherte errötend, die Bohnen wären vortrefflich, ich nur zu erschöpft, um ihren Wert zu würdigen.
Gern hätte ich dem Kameraden noch die Hälfte meiner Hälfte des schmalen Bettes abgelassen und auf der Seite die ganze Nacht gelegen, wenn ich mir dafür nur eine Stunde Schlaf mehr hätte erkaufen können. Denn schon nach drei Stunden mußten wir aufbrechen, um uns gegen ein Uhr in der Nacht zum Abmarsch zu stellen. So bedurfte man unser im Felde! – Hunger, Durst, die Strapazen der Märsche, das hätten wir alles ertragen gelernt und ertragen; nur nach mehr Schlaf sehnte sich der Leib. Ein sechzehnjähriger Leib, das bedenke man wohl. Wenn ich die Tagesmärsche, welche wir auf dem Hinmarsch zurückgelegt, jetzt auf der Karte verfolge, auch die spätern in Frankreich selbst, und sie mit den ordnungsmäßigen Militär-Etappen vergleiche, so darf ich mich verwundern, wie so junge, ungeübte Soldaten sie aushielten. Dazu die wenigen Ruhetage, und oft, wenn wir todmüde ankamen, noch die Verpflichtung Nachtwachen zu beziehen. Rechnete man noch immer auf den moralischen Impuls, der alles ausgleichen müsse, oder hielt man uns für durchaus notwendig, um den Krieg zu Ende zu bringen? Ich bin, wie ich glaube angeführt zu haben, seitdem ein freiwilliger guter Fußgänger geworden; aber als Freiwilliger war ich noch kein guter Fußgänger, und viele mit mir.
Indem ich dies schreibe, lese ich meines Freundes Holtei »Vierzig Jahre« aus seinem Leben, wo auch er die Mühseligkeiten seines freiwilligen Jägerdienstes in so launiger Weise schildert. Wie wir in Klagen und Betrachtungen übereinstimmen! Wir hatten damals voneinander keine Ahnung, wir hatten nie darüber gesprochen, und doch steht dasselbe in unsren Tagebüchern. Schlaf, nur etwas mehr Schlaf, und alles andre dafür geopfert! Selige Jugendzeit, wo dies der größte Wunsch ist. Er schlief sogar im Marschieren. Ich glaube, späterhin ist mir das auch einigemal begegnet; bei Nachtmärschen, welche über meine Jugendkräfte gingen. Und doch habe ich sie überstanden. Es glaubt niemand, wie viel er aushalten kann, wennschon geringere Anstrengungen bei der Ruhe und Bequemlichkeit eines Alltagslebens ihm unmöglich dünken. Daran ward ich oft bei meiner Reise in Norwegen und den Lappmarken (1827) erinnert, als ich durch Moraste watete, durch brausende Bergströme und jähe Felsabhänge hinabritt oder vielmehr mit meinem treuen Tiere glitt und rutschte; Berglehnen durch Urwälder hinab kletterte, wo modernde Stämme, seit Jahrhunderten umgesunken, dick mit Moos überwuchert, jeden Schritt unsicher machten. Wie gering dagegen erschienen mir in der Erinnerung die Strapazen des Feldzugs, und hätte man mir vorher in der Studierstube alle diese Fährlichkeiten nur geschildert, so hätte ich sie für unverträglich mit meiner Leibesbeschaffenheit geachtet.
Man lernt Schlafen und Wachen in der großen Schule des Lebens, wie so vieles andre, was im Alltagsleben für unmöglich gilt. Alexander schlief ruhig, ich glaube vor der Schlacht von Gaugamela, und Egmont und vielhundert andre, minder berühmte Männer ebenso sanft und fest vor ihrer Hinrichtung. Auch viele meiner Kameraden, freilich die schon viel Leben hinter sich hatten, aber der Meinung waren, es müsse genossen werden, solange es frisch ist, konnten die Nächte nach beschwerlichen Tagesmärschen wachen und noch mehr, und beim Marsch am nächsten Morgen waren sie so wohlgemut und teilten ihre Erfahrungen und Abenteuer der Nacht in einer Sprache mit, die uns Novizen erröten machte. –
Verdrossen und schlaftrunken traten wir an auf dem Sammelplatz, und noch lag es schwer auf meinen Augen, als wir durch die öden, hohen Straßen und die alten Tore marschiertm. Die Mauern und Türme schienen mir riesenhaft groß, und als wollten sie kein Ende nehmen. Die Phantasie oder Gespensterträume haben mit gesehen; denn nach Frankreich nahm ich die Vorstellung mit, daß es samt und sonders Römerwerke wären. Der erste Tagmarsch war bis Düren angesetzt, fünf gute Meilen; aber durch Mißverständnisse und schlechte Boten wurden auf einem Umwege sieben Meilen gemacht, und auf der letzten waren unsre Kräfte so erschöpft, daß unser fünf sich einen Bauernwagen mieten mußten. Man strich uns vom Rheine ab die Rasttage; dafür wurden uns noch Wagen für unsre Tornister zugestanden. Das war zwar Erholung für Rücken und Brust, aber keine Entschädigung für den entbehrten Schlaf. Wir kamen daher bittweise ein, uns wenigstens in den Nächten ausschlafen zu lassen, und die Bitte wurde insoweit gewährt, daß wir von nun ab nicht vor drei des Morgens aufbrechen sollten.
Wer heute in zwei Stunden von Köln nach Aachen fliegt, klagt über die Monotonie des langweiligen Weges. Dem Jäger-Detachement, welches in Staub, Sonnenbrand und Regen dritthalb Tage auf diesem Wege marschieren mußte, kam er gewiß nicht weniger langweilig vor; und man nehme hinzu, daß wir hinter uns einen Marsch von nahe an achtzig Meilen hatten, abgetrieben und abgerissen waren, an Kleidern und Schuhen und vielfachen kleinen Verlusten, welche sich nur mit Zeitaufwand und in größeren Städten ersetzen lassen. Ich zählte meine Verluste im Briefe nach Hause auf und finde darunter viele blanke Knöpfe, mein Taschenmesser, ein schon schmerzlicherer Verlust, und der allerempfindlichste für einen Kurzsichtigen – meine Brille! Ich seufzte nach einer Stadt, die Mehrzahl meiner Kameraden nach dem Kriege. Nicht gerade wegen des Krieges selbst, sondern weil man im Kriege mehr Erholung hat als auf solchem Marsche. Unsre Veteranen bestätigten das. Ein solches Hundeleben hätten sie 1813 und 1814 nicht geführt. Es gab Wohl auch Strapazen, manchmal ärger, aber sie kamen nur als Intermezzos, und man wußte doch, wofür es war. Es gab immer Unterhaltung, Abwechslung; Furcht und Hoffnung würzten die Anstrengung, und die Seele war in einem beständigen Rausche.
Wie es bei Magdeburg und Köln der Fall war, marschierten wir auch nur durch Aachen. Wirklich, auf unsre historische Bildung hatte man bei Entwerfung oder Ausführung unsrer Marschroute wenig Rücksicht genommen. Ich fand, als ich zufällig die alte Kaiserstadt erst im vorigen Jahre wiedersah, auch nichts, woran sich meine Erinnerung knüpfen konnte. Entweder hatte sich Aachen so umgeändert, oder ich hatte gar keinen Eindruck mitgenommen, während ich doch von vielen kleinern Orten, ja, Dörfern ein bestimmtes Bild im Kopfe trug, woran doch etwas, wenn ich den Ort in spätern Jahren wieder sah, sich als richtig bewahrte.
Es ging geradeswegs durch Aachen nach Lüttich zu. Fortwährender Regenhimmel und Regengüsse. Die gepflasterten Chausseen taten unsern Füßen sehr weh; die Nachrichten von den Verlusten unsrer Armee, die, an und für sich groß, durch das Gerücht und von Mund zu Mund gehend, noch größer wurden, trugen nicht dazu bei, uns heiterer zu stimmen, als der Himmel war. Namentlich sollte unser Regiment Kolberg die Hälfte seiner Leute verloren haben; darunter auch viele freiwillige Jäger, welche, glücklicher als wir, früher auf dem Kampfplatz angelangt waren und, ehe sie noch das Spiel des Krieges erlernt, dessen fürchterlichsten Ernst erfahren hatten. Ich erinnere hier an die Schrift des Predigers König: »Wanderungen durch Schulhaus, Feld und Kirche«, welche über die Schicksale der ersten Freiwilligen des Regiments Kolberg lebendige Nachrichten gaben. Auch der Kommandeur des Regiments, von Zastrow, war den Heldentod gestorben. Ich habe ihn nie gesehen; aber seine Erinnerung lebte höchst ehrenvoll im Regimente und der Armee fort.
In jeder Viertelstunde begegneten uns Züge langsam fahrender Wagen mit Verwundeten, die in die Lazarette von Aachen, Köln und Düsseldorf geschafft wurden. Die Feldlazarette und die in den nächstgelegenen belgischen Städten waren sämtlich überfüllt. Eine traurige, beschwerliche Reise, und wie weit, um Pflege und Heilung zu suchen! Ich erinnere mich nicht, daß uns der Anblick anders ergriffen hätte als mit dem Mitleidsgefühl, welches jeder Gutgesinnte Leidenden zollt, und zumal Leidenden, die als Opfer für die gemeinsame Sache gefallen sind, Wunden und Tod schienen unsern jugendlichen Gemütern als zur Sache gehörig und darum nicht so absonderlich und schreckhaft; lange Kreuz- und Quermärsche ohne Not, Putzen und Paradieren aus Eigensinn, schlechte Quartiere, unnützes Frühaufbrechen und zu wenig Schlaf, diese Verdrießlichkeiten des Lebens fanden uns weit empfänglicher und aufgeregter als die eigentlichen Krisen und Katastrophen. In die Schrecken der Lazarette hatten wir freilich noch nicht geblickt, den Pesthauch kaum geatmet, wenn die Türen geöffnet worden, um in die Krankensäle frische Luft zu lassen, und die verderbte, von Leichenschweiß und den letzten Seufzern Sterbender geschwängerte dringt heiß wie Höllenbrodem, wie der Atem verpesteter Sümpfe heraus. Wenige von uns hatten auf die Reihen von Marterbetten gesehen, die dort aneinander gereiht stehen: Marterbetten vielleicht um der Qualen willen, die jeder selbst an sich erduldet, mehr aber, wenn er den eigenen Schmerz überwunden, an den blassen, verzerrten Gesichtern, an den Todesseufzern seiner Nachbarn, wenn in jeder Stunde ein eben Gestorbener, an den vier Zipfeln des Leichentuches gefaßt, hinausgetragen wird, und auf das noch von seinem Todesschweiß gefeuchtete Bett wartet schon ein anderer, der bis da auf Stroh, vielleicht auf der harten Diele hat liegen müssen! Es gibt etwas noch Entsetzlicheres für den Verwundeten, die Eiskälte, die Gleichgültigkeit der Ärzte und Chirurgen. Es braucht wohl nicht erst besonders betont zu werden, daß sich alle diese Verhältnisse inzwischen wesentlich geändert haben. Das Militär-Sanitätswesen ist heute ein umfangreicher Dienstzweig in unserm Volksheere, und die ärzlliche Kriegswissenschaft ein besonders reich ausgebautes Gebiet der praktischen Heilkunde. Von den Krankenwärtern – wer erwartet es anders; entweder Verworfenheit, Elend, Armut zwang sie zu dem Dienst, den jeder flieht, der ihn nicht aus Tugend sucht, oder er wird von Gefangenen mit Schauder und Widerwillen versehen! Aber von Männern der Wissenschaft, Männern, denen ihre Studien Humanität eingeflößt haben müssen, erwartet der Kranke Teilnahme, sorgsame Erkundigung, treue Pfiege. Daß auch das jugendliche Träume bleiben mußten, wenigstens nach einer Schlacht von Waterloo und Bellealliance! Nicht alle Wundärzte in einem blutigen Kriege können Männer sein, welche durch langjährige Studien Humanität gelernt haben; man ist zufrieden, wenn man Arme genug findet, um zu schneiden und zu verbinden. Und die wissenschaftlichen Wundärzte, denen die Verwundeten zugezählt, vielleicht sogar zugemessen worden, nach Karren, Wagen ober Kahnladungen, haben nicht Zeit, zu verweilen bei dem einzelnen. Es ist ihre Pflicht sogar, eine entsetzliche Pflicht, schnell fortzueilen von dem einen zum andern; denn hielten sie sich zu lange bei dem ersten auf, so stirbt indessen vielleicht der zehnte oder der hundertste! Nicht ein Fall, eine Verwundung, die sie besonders interessiert, nicht ein Kranker, dessen Gesicht und Wesen ihr Mitleid in Anspruch nimmt, darf die Pflichtgetreuen besonders fesseln: vor ihren Messern sind alle gleich. Und doch nicht ganz gleich. Der General geht dem Gemeinen vor, die Rangordnung gilt bis zum Tode.
Auf den Wagen mit blassen Gesichtern lag auch vielleicht einer meiner nähern Bekannten. Er ist seitdem ein namhafter, ausgezeichneter Gelehrter geworden und Professor an einer Universität. Damals war er ein Gymnasiast wie ich, wegen seines Fleißes nicht allzu berühmt, aber wegen seiner Neigung und Anlagen für die Mathematik der »Mathematikus« genannt. Wir sämtlich in unsrer Klasse, nicht von denselben Anlagen und noch weniger Eifer für die arithmetischen und mathematischen Studien erfüllt, ließen ihn für uns lernen, Fortschritte machen und – antworten. Der Lehrer, selbst ein ausgezeichneter Mathematiker, war auch ganz damit zufrieden gewesen, und ein stiller Pakt hatte obgewaltet, daß wir uns gegenseitig nicht genierten. Dem Lehrer war seine Wissenschaft zu lieb und zu heilig, als daß er sie uns, die wir unwürdig uns gegen sie sträubten, hätte aufdrängen sollen. »Meine Mathematik ist viel zu gut für die Jungen!« pflegte er zu seinen Vertrauten zu sagen. Uns überließ er unfein Gedanken und Spielereien, und für sich und seinen Lieblingsschüler war die mathematische Stunde ein Privatissimum, in welchem beide wetteiferten, die Wissenschaft weiter zu fördern. Seltsam! wie unser Freund uns in der Mathematik vertrat, sollte er uns auch in der offenen Feldschlacht vertreten. Ich weiß nicht mehr, durch welche günstigen Umstände er um ein paar Wochen uns voraus zur Armee gekommen war; genug, kaum nach den ersten Exerzitien machte er die Schlacht mit. Im Tiraillieren auf einer kleinen Anhöhe stehend, wird er in dem Augenblicke, wo er die Büchse wieder ladet, von einem französischen Tirailleur unten an der Hecke so getroffen, daß die Kugel ihm unter dem Kinn eindringt, einige Zähne fortnimmt und zur Backe wieder hinausgeht. Wahrend er umsinkt, rächt ihn sein Partner. So möchte ich nämlich den zugeteilten Bundesbruder beim Tiraillieren nennen, der mit mir hinter demselben Gebüsch, demselben Stamm oder Graben versteckt, sein Gewehr nicht eher abschießen soll, bis ich meines wieder lud. Beide sind eine Person im Gefecht, beide umschichtig Schild und Waffe, beide sollen wenigstens immer eine geladene Büchse haben. Daß das Soll nicht immer das Ist ist, ist eine Sache für sich. Unsres Freundes Partner war auch unser Freund; er streckte durch einen glücklichen Schuß den französischen Tirailleur, der vergebens in die Hecke zurücksprang, tot nieder. Dieser Rächer ist auch ein bekannter Mann geworden. Nach dem Feldzug ward er Demagog, dann Philhellene, er versuchte in Attika die Akropolis zu stürmen; später Hauslehrer bei Niebuhr in Rom, dann deutscher Lehrer in London, ist er jetzt Professor an einer Universität in Nordamerika, Herausgeber des Amerikanischen Konversationslexikons und ein sehr geachteter Mann. Ich habe keinen Grund Zu verschweigen, daß es Dr. Franz Liber ist in New-Boston. Und wenn ich weiter nachdenke, habe ich auch keinen Grund, den Namen unsres freundlichen Lehrers in der Mathematik zu verschweigen, es war Dr. Nordmann, und ebensowenig den Namen seines Lieblingsschülers, jetzt des Mineralogen Neumann in Königsberg, ein alter noch befreundeter Schulkamerad, von dem mich nun über zwanzig Jahre getrennt haben, dessen Sein und Wesen ebenso eigentümlich und dessen Jugendgeschichte sogar derart romantisch zu nennen ist, daß er seinen Freunden einen Liebesdienst erzeigte, wenn er sie niederzuschreiben sich entschlösse.
Der Mathematikus ward vom Schlachtfelde vor Fleurus fortgetragen und lag bald auf einem jener offenen Wagen, welche mit Schwerverwundeten wie er überfüllt, ungeschützt vor Sonnenbrand und Regengüssen, ihren langsamen Weg nach dem Rheine antraten. Wo man sich seiner annahm, mußte man ihm durch Federposen die Flüssigkeit einstoßen, um seinem sonst gesunden Körper Nahrung zu geben. Ich weiß nicht, wo es war, daß ein Chirurg die Revue über einige Hundert Verwundeter abhielt; er war darunter. Der Wundarzt öffnete ihm leicht mit dem Finger den Mund, und mit einem lauten, kalten »Inkurabel!« ließ ei ihn wieder fallen und wandte ihm den Rücken, um zum nächsten überzugehen. Unser Freund sah schon im Geist die Grube gegraben, in die er – mit wie vielen andern! – geworfen werden sollte. Und er fühlte sich doch noch so frisch, so viele Lebenslust in sich. Er knirschte die Zähne zusammen, er hätte können den kaltherzigen Wundarzt in seine Arme packen, er hätte ihn gern in die Grube mit sich hinabgerissen. Zum Glück galt der Ausspruch eines Wundarztes in der preußischen Armee nicht für so unfehlbar wie das Verdikt einer Jury in Frankreich und das Wort des Papstes in Rom. Es war damals auch Untergebenen erlaubt, an den Aussprüchen ihrer Obern zu zweifeln, wo es die Rettung eines Menschenlebens galt. Der »Unheilbare« ward auf seine oder auf die Fürbitte andrer noch nicht in die Grube geworfen, sondern, ich glaube, in einen Kahn gepackt und nach Düsseldorf geschickt, wo er unter der sorgfältigen Pflege edler Menschen und minder beschäftigter Ärzte in Zeit von einigen Wochen vollkommen wiederhergestellt wurde. Er versicherte uns oft nachher, das Wort »Inkurabel!« von den Lippen des Chirurgs dröhne ihm noch nachts und tags in den Ohren, und dabei bemeistre sich seiner eine Wut, die ihn, den sehr ruhigen Mann, wie es sich bei einem Mathematiker von selbst versteht, zittern mache.
Seltsame Gegensätze! Mit den letzten Wagen, die voll Verwundeter aus Lüttich uns entgegen kamen, strömte eine Masse von Gesindel, eigentlich Gassenbuben, uns in der Stadt entgegen, um – bei den Soldaten zu betteln! Aber in welcher Art! Sie schossen, was man »Kobolz« nannte, Purzelbäume; mitten im Kot der Chaussee wälzten sie sich, mit Armen und Beinen Rad schlagend, oft mehrere Minuten vor uns her und streckten dann ihre schmutzigen Hände nach einigen Sousstücken aus. Ich glaube nicht, daß ihr Lohn die Arbeit lohnte.
Lüttich, ich sah es seitdem nicht wieder, hat einen ernsten Eindruck auf mich zurückgelassen; seine engen, hohen, gewerblichen Straßen wurden noch düsterer durch das Regenwetter und trugen für mich den ehrwürdigen Charakter einer Reichsstadt; nur schade, daß die Leute nicht mehr Deutsch sprachen und auch keine Lust zu haben schienen, es zu lernen. Weil ein neuer Transport von 2000 Verwundeten erwartet wurde, erhielten wir hier weder Quartier noch den verheißenen Ruhetag, mußten vielmehr über die Maas in ein erstes wallonisches Dorf, bei dem berühmten Seraing, deutsch Serning.
Das war eine neue Welt für mich. Andre Sprache, Gebräuche, Lebensart, Wohnung, Nahrung. Ich entsinne mich wenig mehr davon, als daß mein bißchen Französisch mit ihrem bißchen Französisch in seltsame Kollisionen geriet. »Wir sprechen nicht Französisch, wir sprechen nur Wallonisch,« wiederholte oft genug meine Wirtin; aber zur Belohnung dafür, daß ich mir doch Mühe gab, mich mit ihnen in Freundlichkeit zu verständigen, was nicht alle meine Kameraden tun mochten, setzte sie mir, als ich von meinem Strohlager erwachte, eine Schüssel schöner Kirschen hin, eine Erquickung, die mir bis heute lebhaft im Gedächtnis blieb. Dafür aber bestand meine ganze Abendmahlzeit in einer Schüssel Salat, über die etwas aufgelöster Speck gegossen war, was nicht viel ist für den Hunger, wenn man erwägt, daß ich kein Mittagsbrot gegessen hatte, weil die Wirtin mir erklärte, das sei nicht Sitte, wenn man erst um drei ins Quartier komme. Auch die herkömmlichen Eier, die ich mir zu den grünen Blättern erbat, verweigerte sie; denn das sei auch nicht Sitte. Ich muß gestehen, daß mir die wallonische Sitte nicht gefiel.
Desto mehr gefielen mir die Ufer der Maas. Sie sind gewiß von großer Schönheit an vielen Punkten, mir aber, der ich dergleichen noch nicht gesehen, erschienen sie entzückend. Obgleich wir auf dem nächsten, glücklicherweise nur kurzen Marsche bis Huy die Tornister tragen mußten, weil alle Wagen für die Verwundeten gebraucht wurden, und dazu noch vierzig Patronen, der noch umherstreifenden Franzosen wegen, erquickte sich doch mein Geist and Leib an dem Anblick. Von Huy bis Namur ertrotzten wir uns einen Kahn, und das schönste Wetter begünstigte die schöne Wasserfahrt. In meinem Briefe schwelge ich in Schilderung der grauen Felsenufer, mit üppigem Grün bekleidet, der Burgen und modernen Schlösser, die auf den Höhen kleben und zwischen den Felsen, in den Schluchten malerisch angenestelt sind, der lachenden Wiesen, die sich bei jeder Felsöffnung präsentieren. Ich bin verdrossen, daß dieser halbfranzösische Fluß, die Maas, mir so viel schöner vorkommt als der alte deutsche Rhein bei Köln. Auch einen so prachtvollen gotischen Dom wie den von Huy hatte ich mir außer Deutschland nicht als möglich gedacht. Aber in wahre Begeisterung breche ich beim Anblick von Namur aus, das im vollsten Sonnenlichte mit seiner hohen Burg uns entgegenstrahlte, und mein einziger Trost dafür, daß es in der Französisch sprechenden Fremde so schön sei, ist mir der, daß die Franzosen bei ihrem letzten Vordringen in Belgien die Burg von Namur nicht inne hatten.
Es war allerdings eine schöne Wasserfahrt, und noch heute steht sie mir lebhaft vor dem Sinne. Aber gegen zweihundert Jäger in einen Kahn gesperrt, ohne Küche, Keller und Speisekammer und ohne einen Bissen Brot im Brotsack, und vom Morgen bis gegen Abend ohne anzuhalten, der brennenden Junisonne ausgesetzt, das ist gerade kein Vergnügen, welches sich mit einer Rheinfahrt auf dem Dampfboot vergleichen läßt. Aus Hunger tranken wir das Maaswasser, und ich glaube, zuletzt hatte ich alle grauen Felsen hingegeben für ein Stück Weißbrot. Mit Dankbarkeit erinnere ich mich dafür meines recht guten Quartiers bei dem Ackerbürger Macedoine in Namur, wo es Bier, Weißbrot, Eier und Käse zum beliebigen Gebrauche gab und Betten, die der belgischen Reinlichkeit Ehre machten.
Wo unser Regiment stand, wußten wir nicht, es wußte es niemand. Noch herrschte überall die Nachdröhnung der ungeheuern Schlacht, welche der Politik wohl eine bestimmte Richtung gab, aber in allen administrativen Dingen die äußerste Verwirrung zurückgelassen hatte. Wie Japhet seinen Vater, Anspielung auf den vielgelesenen Roman des Kapitän Marryat: »Wie Japhet seinen Vater sucht«, (Uniwersal-Bibliothek Nr. 1831–34). wurden wir hinausgeschickt unser Regiment uns zu suchen. Aber noch waren die Wege unsicher, oder es hieß, daß sie es waren von den versprengten, umherstreifenden Franzosen. Und deshalb mußten wir in Namur uns wieder mit andern Jäger-Detachements vereinigen, was gewiß hinreichende Sicherheit verschaffte, aber auch sehr viel Unbequemlichkeit. Jeder von uns, und unsre Führer nicht minder, hätten gern die Sicherheit fahren lassen, um lieber auf Gefahr eines kleinen ersten Abenteuers auf eigene Hand zu marschieren.
Es war ein drückend heißer Juniustag, als wir erst morgens um sieben Uhr Namur verließen, um nach Charleroi zu marschieren: der denkwürdigste Marschtag im ganzen Feldzuge für mich, ob auch gleich von Begebenheiten nichts Sonderliches vorfiel. Es war mein Geburtstag, und ich wurde siebzehn Jahr alt auf – dem Schlachtfelde von Belle-Alliance! Ja, auf diesen Feldern, aus diesen Straßen zwischen Namur, Wavre, Sombref, Genappe und Charleroi war die große Schlacht geschlagen worden, die Europas Schicksal noch einmal entschied, und auch unsres: wir waren um etwa zehn Tage zu spät gekommen. Vor zehn Tagen waren dort Blücher und die Preußen, von Napoleon überfallen, nach tapferer Verteidigung, Schritt für Schritt weichend, geworfen worden; dort hatte der Herzog von Braunschweig seine Heldenseele ausgehaucht, dort Wellington mit seinen Engländern und Schotten die französische Kavallerieattacke ausgehalten; von dorther waren Blücher und Bülow wieder gekommen am Entscheidungsabende, und die wilde Flucht und Verfolgung war über diese Felder getost.
Ja, wer das alles gewußt hätte! Die Lüfte erzählten es nicht wieder. Die Sieger und die Besiegten waren fort, auch die Landbewohner, die davon Zeugen gewesen. Es war ein großes Stück Geschichte geschehen, aber uns dröhnte es nur als Gerücht in die Ohren. Die Namen Quatrebras, Fleurus, Waterloo und Belle-Alliance, sie existierten wohl, aber noch in ihrem tiefen Dunkel. Überall fehlte die ordnende Hand, welche die Fäden des Geschehenen erst zur Geschichte wob, und wir gingen fast stumpfsinnig, wo nicht gleichgültig über Gegenden, wo jeder Fußtritt klassisch war. Hätte es schon eine Geschichte gegeben: mit wie andern Augen würden wir Städte, Dörfer und Flecken angesehen haben!
Und doch war das nicht ein entsetzliches Bild – und ich sah nie ein ähnliches – so weit unser Auge reichte: niedergetretene Kornfelder! Wie auf den Boden gestampft die goldenen Ähren, die Büsche durchschossen, zerrissen, die Weidenbäume an den Gräben niedergebeugt. Hier am Rande das Erdreich aufgewühlt, dort wie geglättet; nichts in seiner vorigen Ordnung. Hier hatten tausendmal tausend Hufe den Acker zerrissen und die Regenströme nachher die Verwüstung nicht wieder verwischt. In diesem Graben, hinter diesem Walle hatten Leichen gelegen; es stand nicht an einer Tafel geschrieben, aber der Instinkt sagte es. So dunkel war der Boden von dem eingesogenen, vertrockneten Blute. Hier hatten Flüchtige sich am gebrochenen Baumast über den breiteren Graben geschwungen; aber die weite Ebene drüben verriet, daß sie den verfolgenden Reitern doch erlegen waren. Links und rechts vom Wege frisch aufgeworfene, breite Erdhügel. Wie viel Hunderte, Freunde und Feinde mochten darunter schlummern! Hie und da standen noch auf den niedergetretenen Feldern einzelne Ährenbüschel, aber geknickt. Ihr herabhängender Fruchtbüschel hatte Blut getrunken.
Die menschlichen Leichname waren schon fortgeschafft und der Mutter Erde übergeben. Nur eine dürre Hand fanden wir am Wege. Die brennende Sonne hatte die Fleischteile vertrocknet. Wem mochte sie gehört haben? Einem Freunde, einem Feinde? Unfern davon, wo ihr toter oder noch lebendiger Eigentümer, sie dem Staube und den Würmern hinterlassen, ruht jetzt ein Bein unter einem Marmordenkmal, und alljährlich am Schlachttag von Waterloo kommt der ehemalige Besitzer dieses Beines dahin mit seiner Familie, aus England oder gar aus Irland, um in ernster Feier des heißen Tages zu gedenken, als er das teure Glied verlor. Von Lord Pagets (Marquis Anglesey) Henry William Paget, Marquis von Anglesey, englischer Feldmarschall, befehligte bei Waterlo die englische Kavallerie. Er wurde später mehrmals Vizekönig von Irland. Beine wußten wir damals nichts. Aber Pferde, in der Sonne geröstete, von den Krähen umschwärmte, hier grießliche, rotbraune Fleischmassen, von Fliegen und andern Insekten bedeckt, dort schon abgezehrte Gerippe, lagen noch viele weit umher zerstreut. Noch hatten die Kräfte nicht gereicht, diese Spuren der Vertilgungsschlacht verschwinden zu machen, und der Geruch war abscheulich.
Denke man sich eine glühende Julisonne, die auf einer weiten Ebene drei Tage schon hintereinander schien, die Tausende verwesender Pferde über der Erde, und unter ihr in leichten Gruben noch mehr Tausende von Leichen, und das so fort meilenweit, und kein kühlender Luftzug oder Staub, so weit die Chaussee reichte, von den Marschierenden, den Rossen und Wagenrädern aufgewühlt! Es war eine pestilenzialische Luft, und unsre Zunge klebte an dem Gaumen.
Ein ernsthafter Ernst müsse uns da erfüllt haben, wird man denken. Ich entsinne mich dessen nicht, noch finde ich etwas davon in meinen Briefen verzeichnet. Der Durst, die Erschöpfung, der Staub, der Sonnenbrand lenkten die Aufmerksamkeit immer wieder auf uns selbst zurück. In einem halb zerstörten Flecken, wo wir einen Augenblick rasteten, nicht eigentlich um zu rasten, sondern weil der Weg sich verstopfte, gelang es einem von dreien – wer der dritte war, weiß ich nicht mehr, noch ob es dieser, ich oder unser Offizier war (derselbe unglückliche Stifter des Hermannsbundes) – eine Flasche Wein für schweres Geld zu erhalten. Zu dreien verteilt, war es für jeden ein Tropfen auf ein heißes Blech gegossen. Aber man erzählte uns von den Schrecken der vorangegangenen Tage: wie diesem, als er aus dem brennenden Hause floh, ein Sparren auf den Rücken fiel, und hätte er nicht einen Bettsack getragen, so wäre er erschlagen worden. Jener war wirklich zu Schaden gekommen. Drüben in der Mühle hatte eine Paßkugel der Müllerin den Kopf vom Rumpfe genommen! O, es gab viele Geschichten, die gewiß tragisch waren für den, den sie betrafen; daß dieser Ort, wo die Leute nur dafür Sinn hatten, aber das verhängnisvolle Fleurus war, aus dessen brennenden Straßen unsre Truppen, namentlich unser Regiment, Schritt für Schritt kämpfend, blutig hinausgeschlagen worden, ohne seine Ehre zurück zu lassen, das erfuhren wir erst, als wir hinaus waren! Die Weltgeschichte muß vor dem Privatschmerz zurückstehen.
Knöpfe, Flintenkugeln, Bänder, Fetzen, was umher lag und einst Herren gehört hatte, die wahrscheinlich nichts mehr auf dieser Erde besitzen konnten, und was Plünderer, Totengräber und Marodeure sogar als wertlos beiseite geworfen hatten, wurde noch aufgerafft, aus Pietät oder der Seltsamkeit wegen, doch um meist auf dem nächsten Marsche wieder fortgeworfen zu werden. Andre freilich trieben mit Gegenständen, die etwas mehr Wert verrieten, einen Handel, Das war die Stimmung der meisten, als wir über das Schlachtfeld von Waterloo marschierten.
Die Stadt Charleroi sah halb verwüstet aus. Wenige ganze Fensterscheiben, eingestoßene Türen, eingerissene Mauern, Fetzen und Lumpen umhergestreut. Ein Teil der Bewohner war entflohen, in den bewohnten Häusern war mehr Einqartierung, Gesunde und Kranke, als sie fassen konnten. Wir mußten deshalb noch eine Stunde weiter in ein Dorf, dessen Namen ich vermutlich falsch gehört oder aufgeschrieben habe, Mont sur Marchienne, dessen Bewohner aber merkwürdigerweise nicht geflohen waren und sogar noch Lebensmittel hatten. Es ging uns dort wider Erwarten gut, und ich finde in meinem Tagebuch die Bemerkung: »Die Wohnungen in den französischen Dörfern sind überhaupt gut, eigene Stuben, Steinpflaster (?), wahre Königswohnungen (!?), nur die Leute so heuchlerisch freundlich, höflich und über unsre Ankunft erfreut, daß man ihnen hinter die Ohren schlagen möchte.« – Das nähere Verständnis dieser Stelle ist mir verloren gegangen.
Wir marschierten, jetzt in südlicher Richtung, nach Beaumont. Auf dem Wege dahin ward erst die eigentliche französische Grenze betreten. Es war dies ein eigenes Gefühl; zum ersten Male in Feindesland. Es sah aber dort nicht anders aus als in Belgien. Aus der Stadt Beaumont kamen uns die Kuriere mit der Hiobspost entgegen, wir könnten dort nicht bleiben, da neun Zehnteile der Einwohner geflüchtet wären. Indessen war ich auf unsern Tornisterwagen, wo sich ein leeres Plätzchen fand, geschlüpft, und fuhr mit demselben in die wüste Stadt hinein, da unser Detachement, dem wir vorausgeeilt waren, noch nicht ankam.
Dort war helle Verwirrung. Der vor kurzem erst bestellte Kommandant des Ortes wußte nicht, wo unser Regiment stand. Er vermutete aber, vor der etwa fünf starken Lieues seitwärts liegenden Festung Maubeuge, und riet an, einen Kurier nach dem Lager zu schicken und Erkundigungen und Be- fehle einzuholen.
Unser Führer, der nun auch mit dem müden Detachement nachgekommen war und sah, daß hier nichts zu haben war, sandte zwei Kuriere voraus, den einen nach Maubeuge, den andern nach dem drei Stunden entfernten Dorfe Beauru, wohin man uns aus Beaumont wies, vermutlich nur um uns los zu werden.
Während der Offizier mit dem Detachement nach dem letztgenannten Dorfe aufbrach, blieb unser Tornisterwagen zurück, da die Pferde durchaus etwas zu beißen und zu brechen haben mußten. Wahrscheinlich hat sich das gefunden. Da wir aber – man nannte uns »Tornisterdrücker« – dieselbe Empfindung mit den Pferden teilten, durchstreiften wir die Stadt, um auch für unsern Hunger etwas aufzufinden. Ich weiß nicht, ob die andern glücklicher waren, aber ich fand für Geld und gute Worte weder einen Bissen Brot noch Obst; nichts war zu erhalten als ein Glas Franzbranntwein für den leeren Magen.
Hungrig, durstig und nach mancherlei Fährlichkeiten auf dem schlechten Landwege, der an vielen Stellen durch aufgeworfene Schanzen und Verhecke gesperrt war, erreichten wir endlich vor Abend Beauru und die Unsern, aber – das Dorf war leer! Alle Bewohner des Schlosses und der Hütten waren mit ihrer fahrenden Habe, mit Vieh und Vorräten geflüchtet. Nicht eine Katze schien zurückgeblieben, kein Bissen Brot, kein Mehlkasten, kein Huhn, kein Faß und keine Flasche. Um das zu finden, hätten wir allerdings nicht nötig gehabt, Beaumont mit Beauru zu vertauschen.
Das waren üble Aspekten. Es war sechs Uhr abends geworden. Tier und Menschen konnten nicht weiter, und wenn sie weiter gekonnt hätten, wohin? Wahrscheinlich war es in den andern Dörfern nicht besser. Es hieß, die Bauern seien in den Wäldern umher bewaffnet und beabsichtigten Überfälle auf die vereinzelten Detachements. Deshalb ward verboten, sich in die verlassenen Häuser zu legen; vielmehr sollte ein großes Biwak in der Mitte des Dorfes bezogen werden. Der heitere Abend war dazu wie geeignet.
Aber mit dem Biwakieren ist es nicht abgetan; man muß auch essen, um zu leben, und zu essen war nichts da, wohl aber zu plündern. Die Frage war nun: plündern oder Essen suchen? Die Versuchung zum Plündern war zu lockend. Ordentlich aufgefordert wurden wir dazu durch die Situation. Die bösliche Verlassung der Dorfbewohner gab uns ein Recht, uns in den Besitz ihrer Hinterlassenschaft zu setzen, da sie durch ihren Eigensinn, uns nicht empfangen zu wollen, und durch die Steigerung desselben bis zur Pflichtwidrigkeit, indem sie ihre Effekten mitnahmen, uns um das nach allen Kriegs- und Friedensrechten zukommende Quartier mit Beköstigung brachten. Ja, sogar eine Pflicht hatten wir gegen unsern König, dem wir treues Aushalten geschworen, zu Wasser und zu Lande, alles zu tun, um uns zu erhalten, also – zu plündern. Endlich hätte uns ein Jurist sagen können: was wir da sahen, wären res derelictae, gehörten zur Zeit niemandem, also demjenigen, der sie fand und sich aneignete. Endlich aber, und das war der Hauptgrund: es war doch eine gar zu interessante Sache, zu plündern; da zu plündern, wo es sich gewissermaßen von selbst machte. Man hatte sich später ein Gewissen daraus gemacht, wenn man die Gelegenheit unbenutzt verstreichen lassen. Ich bin überzeugt, daß die Mehrzahl der Jäger die Sache von diesem Gesichtspunkt aus auffaßte; die eigennützige Absicht war nur Nebensache. Konnten die meisten doch kaum fortschleppen, was sie ohnedies hatten, und schon in Huy hatten wir einen Teil vom Inhalt unsrer Tornister fortgeworfen, um ihn tragbarer zu machen. So ging es auch schon in den nächsten Tagen mit vielen der Beutestücke.
Also wir plünderten. Was denn? – Ich ließ mich von einer Strömung in die Kirche ziehen, wo die Verwüstung und Zerstörung deutlich genug dafür sprach, daß vor uns andere dagewesen waren; vielleicht schon in verschiedenen Parteien. Alles war aufgebrochen, abgerissen. Daß man von Kostbarkeiten hier nichts mehr fand, brauche ich nicht erst zu sagen. Fetzen, Scheiben, Lumpen, Trümmer lagen umher; zwischen dem Stroh und Mist waren die Blätter aus den Kirchenbüchern umhergestreut. Das einzige Wohlerhaltene waren die Strohstühle und eine schöne Kirchenfahne. Also hatte wenigstens der Fanatismus hier nicht mitgespielt. Die Kirchenstühle trugen wir ins Freie, damit unsre Wohnung unter freiem Himmel doch wenigstens etwas häuslich eingerichtet sei; auch einige irdene Schüsseln, die, Gott weiß wie, in sein Haus gekommen waren. Was meine Kameraden plünderten, das weiß ich nicht; ich aber fand dicht unter der Kanzel – Quinti Curtii Rufi historiam Alexandri Magni Quintus Curtius Rufus war ein Zeitgenosse des Kaisers Claudius. Er schrieb eine Geschichte Alexanders des Großen in zehn Büchern. in einer hübschen kleinen Amsterdamer Ausgabe. Wie diese in die Kirche gekommen, weiß ich noch weniger als die Herkunft der Teller und Schüsseln. Das erste lateinische Buch, was ich seit Berlin zu Gesicht bekam, bei einer ersten Plünderung in Feindes Lande und in einer Kirche und unter dem Altar! Das war zu viele Lockung für einen Scholar, und zumal einen, der den Curtius kurz vorher durchgelesen und sehr lieb hatte. Und hätte ich mein letztes Hemde fortwerfen müssen, um für ihn Platz zu machen: diese Beute konnte ich nicht aus der Hand geben. Es fand sich im Tornister noch ein Raum neben den Nibelungen für den Curtius, und ich trug fortan durch Frankreich auf meinem Rücken die drei größten Helden der Welt: Alexander den Großen, den gehörnten Siegfried und den großen Attila. Bis auf die kleinen Reibungen, die in jedem Menschenleben vorkommen, besonders aber im kleinen Raume eines Tornisters, vertrugen sie sich ganz gut. Leider ging mir der Quintus Curtius Rufus bei der Rückkehr in die Heimat verloren.
Es war meine einzige Beute; ich sage nicht Ausbeute. Ich war aber so zufrieden, daß ich nicht nach mehr verlangte. Nicht einmal in die andern Bauernhäuser oder in die Gemächer des Schlosses folgte ich den Kameraden, die von daher alles mögliche schleppten, wahrscheinlich nur aus Mutwillen; denn es war für uns von nicht viel mehr Nutzen als die Kirchenstühle und der Curtius. Gemalte und vergoldete Tassen, Wasserkaraffen, Porzellanschüsseln, Teller, Saucieren; hellpolierte Feuerzangen, Fußschemel mit Tapisseriearbeit, Rasiermesser, Damenkleider und Hüte, gestickte Pantoffeln, alles in einem mit Poltereien und Kehricht verstopften Bodenwinkel aufgefunden, lag weit im Kreise umher auf dem Rasen ausgebreitet, recht um uns zu höhnen. Es war nicht das, was wir nötig hatten. Die Franzosen in Moskau fanden zwar nicht Brot, Fleisch und Wein, aber doch Schokolade, Marzipan und Eau de Cologne. Eine Tafel Schokolade wäre uns von mehr Wert gewesen. Erinnere ich mich recht, so wurden übrigens diese Herrlichkeiten, die uns nichts nützten, und die wir nicht mitnehmen konnten, später wieder zusammengepackt und auf Befehl der Offiziere in das Schloß zurückgetragen. Eine vandalische Zerstörung hat wenigstens nicht stattgefunden. Die Soldaten hatten einmal die Freude gehabt, auf vergoldetem Porzellan zu essen.
Ja, wer so glücklich war zu essen! Der Curtius in meiner Tasche füllte nicht die Leere in meinem Magen. Unsre praktischeren Kameraden hätten sich beim Plündern kurz gefaßt oder in schnell geschlossenen Brüderschaften in das Plündern und in das Kochen geteilt, dem natürlich eine andere Operation vorangegangen war, an die ich noch nicht gedacht hatte. Hell loderten einige Feuer, kupferne Kessel hingen darüber, und die praktischen Soldaten krüllten grüne Schoten aus, schälten Mohrrüben, die Zwirnsfäden freilich sehr ähnlich sahen, und Kartoffeln, die nicht viel größer waren als große Erbsen. Bringst du auch was zu, so kannst du auch zugreifen, hieß es. Ich hatte Stühle und irdene Schüsseln gebracht. Man lachte mich aus, und mit Recht. Buddle Kartoffeln und pflücke Schoten!
Das war etwas Neues und gewiß nichts Uninteressantes. Ich ließ mich in den Schloßgarten weisen, wo alle diese Naturherrlichkeiten zu finden wären. Aber vermutlich verweilte ich zu lange bei der Aussicht vom Schloßaltan; denn ich finde in meinen Briefen die Schönheiten des französischen Gartens mit ausführlicher Liebe geschildert: die Rosen- und Himbeerhecken, welche die Terrassen umschlossen, die malerischen Buchenhecken, welche in Gleichstrichen (soll »Parallellinien« heißen) den tiefern Schönheitsgarten von dem Nutzgarten trennen, die hohen Ulmen, durch welche die Abendsonne ihr Gold flimmern ließ. Wahrscheinlich um deswillen kam ich zu spät in den Küchengarten. Eine frühe Warnung für den künftigen Schriftsteller, sich nicht in landschaftlichen Schilderungen gehen zu lassen. Es schadet immer der natürlichen Wirkung.
Hier war die sehr empfindliche Wirkung: ich fand weder Kartoffeln noch Schoten. Wie ich auch mit dem Hirschfänger buddelte, eine höchst ungewohnte Arbeit für ihn und mich, es wollten keine Knollen, nicht einmal erbsengroße, zum Vorschein kommen. Ich besuchte die Schoten; die Sperlinge selbst hätten nichts mehr gefunden. Dazu trat die Dunkelheit ein, und plötzlich, als ich zu den Kartoffeln zurückkehrte, wo ich ihn einstweilen stecken gelassen, war auch mein Hirschfänger verschwunden. Alles Suchen und Fragen danach war umwonst, und die immer tiefer werdenden Abendschatten verboten das erstere bald von selbst.
Wer den Schaden hat, darf für den Spott nicht sorgen. Eine leise Vermutung, daß ihn mir jemand aus Mutwillen oder aus gewinnsüchtiger Absicht beiseite geschafft – nicht gestohlen, aber vielleicht in die Schoten geworfen –, stieg mir erst später auf. Ein Schwert muß der Soldat haben, wenn er es auch nicht braucht. Man bot mir sogleich einen Kavalleriesäbel zum Kauf an; er war erst vor einer halben Stunde im Schlosse erbeutet worden. Was sollte ich mit einem Kavalleriesäbel, der mir zwei Ellen auf dem Boden nachschleppte. Man wußte aber sofort weitern Rat. Andre Kameraden, die unterwegs Beute gemacht und damit einen einträglichen Handel trieben – Kameraden dieser Art gehörten nicht zu unsern Freiwilligen im engern Sinne; es waren solche, die aus der Freiwilligkeit ein Geschäft und eine Spekulation gemacht und sich dabei recht gut standen. Mit uns andern nicht immer! – solche Kameraden hatten eine ganze Auswahl erbeuteter Pallasche von gehöriger Breite und Länge; zum künftigen Kartoffelbuddeln vortrefflich, sonst aber aller Zierlichkeit ermangelnd und auch einer Scheide. Wie gesagt, ein Soldat muß ein Schwert haben, und ich mußte für schweres Geld einen Pallasch kaufen, der seinem Besitzer nichts gekostet hatte. Lange Zeit ging ich mit einem blanken Schwerte, den Franzosen gewiß ein entsetzlicher Anblick, bis mir ein Schuhmacher unsrer Kompagnie für Geld und gute Worte eine Scheide fertigte.
Der Pallasch stillte so wenig als der Curtius den Hunger. Meine satten Kameraden wollten nun aber auch trinken. Die Brunnen waren nicht vergiftet, wenigstens hat es die Erfahrung gelehrt, aber Soldaten sind nicht Hydropathen. Die Keller und Remisen waren umsonst durchsucht, kein Krug, kein Fäßchen war zu finden gewesen. Sollten denn aber der Schloßherr und seine Familie solche Barbaren gewesen sein, daß sie nur Wasser tranken! Wie, oder hätten sie auch die Branntweinfässer und Weintonnen in die Wälder gerollt? Das schien unmöglich! Aufs neue ward alles durchsucht und ein ungeheurer Haufen von Stallstroh, der in einem Seitenhofe bis an die Fenster des ersten Stockwerks reichte, schien uns mehr als verdächtig. Ein Dutzend Arme, Füße und Mistgabeln arbeitete lustig in dem Haufen. Er ward zusehends kleiner und ein »Viktoria! Hurra! Wir haben's!« scholl durch die Lüfte. Ein volles Faß ward auf den Hof gerollt; man schlug den Boden ein, und – wir hatten uns nicht getäuscht, das Faß war ganz voll von gutem, unverdorbenem Essig.
Ich glaube, man hat ihn auslaufen lassen. Eine solche boshafte Täuschung rechtfertigte Wohl eine solche Strafe.
Mit einem Gefühl, als hätte ich einen tiefen Trunk aus dem sauren Fasse getan, warf ich mich auf mein Bund Stroh und schnallte den Gurt enger um meinen Leib, als ein Lärm entstand. Ein ausgeschicktes Pikett, um anderswo Brot zu requirieren, war auf eine Überzahl bewaffneter Bauern gestoßen und kam zurück, um Sukkurs zu holen. Einige dreißig wurden nun mit geladenen Büchsen ausgesandt, unser Leutnant an der Spitze. Während diese fort waren, kehrte glücklicherweise um neun Uhr abends ein Oberjäger, der mit vier Jägern wenigstens einen Korb mit Brot aufgetrieben hatte, zurück. Bei der Teilung fiel ein kleines Stück auf meinen Wagen, wenigstens eine Erinnerung an das Frühstück vom Morgen um drei Uhr. Um Zehn etwa brachte die größere Patrouille, vor der die bewaffneten Bauern sich zurückgezogen hatten, auch einige Lebensmittel, Brot, Butter, Hühner. Es reichte gerade zum Lohne für die Mühe der dabei Beteiligten, und wir hatten das Vergnügen des Zusehens.
Die Sterne flimmerten prachtvoll an dem großen, über uns ausgespannten Zelte. Es war eine wonnige, stille Sommernacht. Nur die Lüftchen spielten in den Büschen, nur das Zirpen der Grashüpfer, nur das Knistern des Strohs und das Aufschnarchen von dem und jenem unterbrach eine Stille, wie sie sich eigentlich zu einem solchen Tage nicht schickte. Doch wurden einige noch gegen Mitternacht wieder aufgeweckt durch die Rückkehr der nach Maubeuge vorausgeschickten Furiere. Ich war unter denen, welche die seltsame Meldung, nicht eben geeignet, uns für die Mühseligkeiten des Tages zu entschädigen, mit anhörten. Der Oberst von Tippelskirch, welcher in dem Lager vor Maubeuge befehligte, hatte den Furier groß angeblickt: »Was, noch mehr Jäger! Wozu kommen sie denn? Was wollen sie denn? Wollen sie im Frieden fechten?« –
Darum – von Berlin bis nach Beaumont! Darum auf eigne Kosten equipiert, gehungert und Beauru geplündert! Ich sah nur verdrießliche Gesichter. Einmal waren wir in den Krieg gezogen, nun wollten wir auch Krieg haben und nicht umsonst nach Hause kehren. Der Oberst von Tippelskirch sprach nur das aus, was Gentz später sagte. Die Befehlshaber waren indes andrer Meinung, und obschon in dieser Nacht, vom 30. Juni zum 1. Juli, allerdings der eigentliche Krieg beendet war, dauerte der uneigentliche doch noch einige Monate fort, und auch dieser hatte schon monatelang aufgehört, als man erst im späten November es für nötig erachtete, uns nach Hause zu schicken.
Das war ein wüstes Erwachen am Morgen! Über dem Himmel lagerte ein feuchtes Grau. Mein blankes Schwert in der Hand streifte ich durch die Stätte der Verwüstung und besah mir jetzt beim natürlichen Tageslicht, wie ein französischer Edelhof, sein Dorf und seine Kirche aussieht. Die Aspekten waren trüb, und die Geister gedämpft. Hungrig, kein Frühstück, der Krieg zu Ende, und doch der drohende Anfang von einem Mittelding zwischen Krieg und Frieden, von dem gar kein Ende vorauszusehen war; und eine Trennung stand uns bevor. Brüderlich waren von Berlin aus die beiden Jägerdetachements des ersten Pommerschen Regiments und des zweiten, unsres Kolbergschen, miteinander marschiert. Vielfache Freundschaftsbande verstrickten die einzelnen; auch im ganzen war die Einigkeit zwischen den Kompagnien und ihren Führern stets erhalten worden, und der Bund hatte uns eine gewisse moralische Stärke gegen Dritte gegeben. Hier, in Beauru, sollten wir uns trennen. Das erste Regiment stand im Lager vor Maubeuge, seine Jäger mußten dorthin. Wir hatten die Anweisung, über Avesnes nach Landrecy aufzubrechen, vor welcher Festung die Kolberger standen.
In einer Stunde, und ohne Frühstück, sollte die Trennung vor sich gehen. Im Schloßhofe stand noch die Tonne mit Weinessig; sie mußte also doch nicht ganz ausgeschüttet sein. Mein Magen verlangte durchaus etwas, ich trank daher herzhaft den sauern Trank und füllte noch meine Feldflasche damit, als mich freundlich ein Arm berührte. Es war der Schlegelianer, der mich zu einer Morgensuppe einlud. Wie, weiß ich nicht, aber er hatte es mit einem Gefährten zustande gebracht: eine warme Suppe von Brot, Wasser und Pulver, die wir aus den schönsten Porzellantassen von Sevres tranken.
Es war unser Abschiedsmahl. Der Schlegelianer gehörte zum ersten Regiment, er mußte nach Maubeuge. Wir Kolberger, die den weitern Weg hatten, brachen zuerst auf. Kompagnie gegen Kompagnie, das war ein Abschied, ein wahrhaft rührender, fast ein homerischer, erst die Führer, mit Reden, Händedrücken, Umarmungen, Salutieren, dann die Jäger einzeln. Zum Schluß ein Hurra, das in die Wolken ging, und solange wir uns noch sahen, ein Tschako- und Tücherschwenken und gegenseitiges Zurufen.
Vor Avesnes machten wir Nachtquartier in einem Dorf, das noch bewohnt und ziemlich wohlhabend war. Bei einem Bäcker erhielt ich ein gutes Quartier, Erholung für den gestrigen Tag, sogar die Erquickung, die Heinrich IV. jedem Franzosen am Sonntage gönnen wollte, ein Huhn, nicht im Topf, sondern am Bratspieß. So etwas war mir selbst im gelobten deutschen Vaterlande nicht begegnet. Aber die »verfluchte Freundlichkeit« meiner Bäckersleute war mir zuwider. Sie konnten nicht genug nach Ludwig XVIII. fragen und sich über den Erfolg unsrer Waffen freuen. Das kam mir höchst widerwärtig und heuchlerisch vor. Was ging uns Ludwig XVIII. an! Diese Stimmung war schon damals bei unserm Heere die vorherrschende. Mit gar großer Verachtung sahen wir einige Hundert königlicher Garden an, die uns auf ihrem Rückwege von Gent irgendwo begegneten und, sich am Rockzipfel der Sieger haltend, damals noch mit sehr demütiger Miene, nach Frankreich zurückkehrten, um bald im legitimistischen Übermut zu vergessen, daß der Sieg unser und die Schmach die ihre war. Dunkel entsinne ich mich auch einer Liste, die, auf hohen Anlaß, unter den Offizieren unsrer Armee damals umging. Beiträge sollten gesammelt werden zu einem Ehrengeschenk für irgendeinen Legitimistensohn; vielleicht für einen Laroche Jacquelein, Die Brüder Henri und Louis Duverger, Marquis de Laroche Jacquelein waren berühmte royalistische Führer. Ersterer ließ im März 1794, letzter im Juni 1815 bei Kämpfen in der Vendée sein Leben für die Sache des Königtums. um ihm einen Degen zu verehren. Freiwillig gezwungen hatten schon viele ihren Namen und den kleinsten Beitrag darunter gesetzt, als ein Offizier (es tut mir leid, daß ich seinen Namen vergessen) den Mut hatte zu bemerken: was uns ein Ehrengeschenk für einen Franzosen angehe, dessen Sache nicht die unsre wäre? Wenn preußische Krieger Söhnen von Tapfern einen Degen verehren wollten, so sei uns in dem Augenblick niemand näher als die Familie des tapfern Zastrow, der an der Spitze der Kolberger bei Fleurus den Heldentod gestorben. Er unterzeichnete das Doppelte der bisher gezeichneten Gaben, und von diesem Augenblick an stockte die Sammlung für den französischen Legitimisten. Vielleicht sind die einzelnen Umstände, wie ich sie erzähle, nicht ganz genau, denn ich erzähle nur nach einer neunundzwanzigjährigen Erinnerung; aber der Sinn, der sich darin ausspricht, lebte auch damals schon unter uns. Wir waren gute Deutsche und haßten die Franzosen gründlich; die krankhafte Erscheinung des französischen Legitimismus kam uns verächtlich vor.
Die Festung Avesnes, durch die wir am nächsten Morgen marschierten, lag in Trümmern, ich glaube infolge einer Pulverexplosion. Hinter dem Dorfe Mareille trafen wir endlich auf unser Regiment, welches zum Teil hier in einem abgesonderten Lager, zum Teil in der engern Umschließung vor Landrecy kampierte. Die Festung wollte noch von keiner Übergabe wissen. Der damalige Major Schmidt musterte uns, schickte uns jedoch noch vorläufig nach dem gedachten Dorfe zurück, um uns erholen und unsre Schäden ausbessern zu können, ehe auch wir das Lager bezögen. Das Dorf war sehr freundlich, auch wohl habend, trotz der Nähe eines Belagerungsheeres; auf den üppigen Wiesen im Tal und auf den Hügeln weideten, ungefährdet von unsern Soldaten, die fettesten Rinderherden, die Milch war köstlich, und auch uns ließen unsre wohlgemuten Wirte in dem vortrefflichen Käse sich satt essen, der als Delikatesse selbst in den Straßen von Paris ausgerufen wird. Es ging uns überhaupt sehr gut dort, ja, ich befreundete mich mit meinen Wirten, trotzdem, daß der alte Großvater mich fast müde machte mit seinen Fragen nach Ludwig dem Achtzehnten, und meine Wäscherin nicht genug schimpfen konnte auf die Revolution und die Jakobiner und die roten Mützen und Freiheitsbäume von ehemals. Sie habe ihren Kindern immer vorausgesagt: Gebt acht, daraus wird nichts. Es waren wirklich gute Bourbonisten, fromme Katholiken, freundliche Menschen, ihre Milch war ein Nektar, ihr Käse eine Ambrosia; aber unsre defekte Equipierung, wo Sattler, Schneider, Schuhmacher, Waffenschmiede, Optiker not taten, ließ sich mit Käse und Milch nicht abtun.
Mit Sack und Pack mußten wir täglich mehreremal in das ungefähr eine halbe Stunde entfernte Lager, um unsre allmählichen Vervollkommnungen zu Soldaten darzutun, und staunten die neuen Dinge ebenso an, wie wir als Neulinge angestaunt wurden. Hier war es zuerst, wo uns der vollständige, offizielle Bericht von der blutigen Schlacht, die für Preußen von nun an den Namen von Belle-Alliance führen solle, vorgelesen ward. Es geschah auf Befehl aus dem Hauptquartier; sonst hielt man es für sehr unnütz, uns von der Lage der Dinge in Kenntnis zu setzen, und unsre Wissenschaft beschränkte sich immer nur auf Gerüchte, häufig auf solche, die wir erst durch die Vermittlung der französischen Bauern erhielten. Im Jahre 1813 war es anders gewesen; man hatte die Freiwilligen für wert gehalten, wenn auch nicht mitzustimmen, doch mitzuwissen, was alle so anging, daß sie ihr Alles dafür eingesetzt hatten. So hatte also das diplomatische Prinzip schon damals um sich gegriffen, welches das Volk wieder nur als Maschinen wollte betrachtet wissen.
Nach jener frohen Botschaft wurde ein fehr trauriges Gericht abgehalten. Die Mehrzahl der jungen uneingeübten Freiwilligen hatte sich tapfer in dem mörderischen Gefecht von Fleurus gehalten, aber nicht alle. Wenigstens hatten einige, aus einer Stadt, die ich nicht nennen will, nach der Schlacht die Sache der Verbündeten für dermaßen verloren gehalten, daß sie auf ihrem Privatrückzuge sich bis Köln verirrten! Nachdem man ihnen dort auf der Landkarte bewiesen, daß dies nicht der Weg nach Frankreich sei, waren sie zwar wieder beim Korps eingetroffen, ihr Empfang war aber sehr unfreundlich gewesen, und ihr heutiges Gericht vor der Front des Regiments ein äußerst beschämendes. Jugend, Unkenntnis der Wege und der Sprache, um sich zurecht zu fragen, wurden kaum als Entschuldigung zugelassen, um einige vor der härtesten Strafe zu schützen. Die unglückliche Sache kam glücklicherweise bald in Vergessenheit.
Endlich wurden auch wir ins Lager kommandiert. Es lag auf einem grünen Anger, an einem mit Hecken umschlossenen Garten. Das bunte, frohe Gewimmel, die Strohhütten, Wachen, Kochfeuer nahmen sich ganz lustig aus; aber die Arbeit, uns ein Haus zu bauen, war uns so neu, daß unser Sechs den halben Tag damit verbrachten, junge Bäume zu fällen, und als wir endlich soweit damit zustande gekommen waren, daß das Gerüst stand, nicht viel besser als eine Lappenhütte, hatten unsre guten Kameraden uns das gelieferte Stroh zur Belegung gestohlen, vermutlich, weil sie es besser zu nutzen wußten als wir. Ohne Stroh keine Hütte und ohne Heu kein Lager. Wir emanzipierten uns und requirierten beides auf den Böden einiger entfernten Gehöfte, kraft unsrer Übermacht, obwohl die finster blickenden Bauern unsre Eigenmächtigkeit sehr sonderbar fanden. Weil darüber der Abend herankam, konnten wir trotz der gelieferten Kochgeschirre nicht kochen, und ich unternahm, um unsern Hunger zu stillen, eine diplomatische Expedition zu unsern Wirten in Mareille. Zwar gelang es meiner Überredungskunst bald, dieselben zum Kochen einer leckern Suppe von Milch und Weizenmehl zu bewegen, die mir noch heute in der Erinnerung schmeckt; aber es kostete meine ganze Kraft, den »Paysan« dahin zu bringen, daß er seinen Sohn mit der großen Marmite zu uns ins Lager schicke. Doch es gelang. »Cölestin, der himmlische Schafskopf«, wie es mit irgendeiner vergessenen Anspielung in meinem Tagebuche heißt, trug den schweren Eisentopf mir nach, unter entsetzlicher Furcht vor den Soldaten, und wir erquickten uns an seinem Inhalt unter frohem Gelächter über den Burschen, der vermutlich eine ergötzliche Figur war.
Bald fehlte es übrigens nicht an Lebensmitteln. Fleisch, Brot, Mehl, Erbsen, Bohnen, Salz, Branntwein, ja, sogar Bier und Tabak wurden geliefert. Es war eine wohlhabende, noch nicht ausgesogene Umgegend; aber wir Novizen hatten mit der rohen Fülle noch manche Not, und verstanden weder die Ökonomie, noch das Kochen. Auch waren meine nähern Bekannten mit mir noch auf dem Unschuldsstandpunkte, der für einen Soldaten sogar gefährlich werden kann, wo ihnen eine Milchsuppe in Mareille lieber war als alles gelieferte Fleisch. Doch darf ich nicht vergessen, zu meiner Entschuldigung hinzuzusetzen, daß wir unser Wasser, zum Trinken wie zum Kochen, aus einem schilfigen, unreinen Graben schöpfen mußten. Schon diese Zubereitung des Essens ekelte uns an; auch waren wir oft zu müde, denn das Exerzieren, der kleine Dienst und alles das, was wir unter dem Ausdruck des Gamaschendienstes begreifen, nahm unsre Zeit in Anspruch. Statt, wenn wir erschöpft von den ewigen Paraden zurückkamen, nach dürrem Holz auszugehen oder es erst gar mit dem Pallasch zu fällen, mit Mühe ein Feuer anzumachen, und Fleisch und Wasser beizusetzen, es zu hüten, schäumen, kosten, füllen, begnügten mein Kochkamerad und ich uns lieber mit kalter Kost, die freilich oft nur in Brot und Salz bestand.
Aber es gab auch – einen Marketender und Milchsuppen bei unsern Wirten in Mareille. Ältere Kameraden schüttelten lächelnd den Kopf. Das bedeutete: wir würden bald genug zur Erkenntnis kommen, daß ein Soldat ohne Fleisch und Warmes nur ein halber Soldat ist.
Aus dem größeren Lager wurden wir, etwa nach einer Woche Exerzitiums, in das eigentliche des Velagerungskorps geführt. Wir bezogen die Hütten, welche ein Landwehrbataillon vor uns innegehabt. Das waren gegen die, welche wir selbst verfertigt, massive Paläste; nur wurde eine Lüftung und neue Tapezierung im Innern aus gewissen Reinlichkeitsgründen notwendig; aber das frische Heu und Stroh konnte doch nicht ganz die unangenehme Gesellschaft entfernen, die bei jeder Kampagne sich einfindet und leider, statt abzunehmen, sich immer vermehrt. Unser freundlicher Offizier und Führer, der uns von Berlin bisher geleitet und gehofft hatte, in unserm Regiment angestellt zu werden, mußte uns hier verlassen, indem er mit Avancement zu dem seinigen berufen wurde. Dafür kamen Zuzüge aus Belgien. Einen Teil der Jäger unseres Regiments, die, früher als wir eingetroffen, doch noch gar nicht einexerziert waren, als Napoleon angriff, hatte man damals nach Löwen geschickt. Sie vereinigten sich hier mit uns, und jetzt erst ging man an die Einteilung der Freiwilligen in drei Kompagnien. Der Kommandeur wollte uns Wohl und hatte die Absicht, uns nach Landsmannschaften zu verteilen; andre Offiziere aber waren der Ansicht, es würde der Mehrzahl lieber sein, je nach den Transporten aus der Heimat, unter denen sich schon Feldkameradschaften geschlossen hatten, zusammen zu bleiben. Ich ward dadurch zu meinem Bedauern von Freunden getrennt, welche vor mir Berlin verlassen hatten, um derentwillen ich aber gerade in dieses Regiment getreten war.
Mögen meine Leser verzeihen, wenn ich hier auch Dinge und Namen berühre, welche eigentlich nur für spezielle Kreise von Interesse sind, und wenn ich bisweilen meinen Vorsatz überschreite, aus den wirklichen Erinnerungen nur das hervorzuheben, was sich zu einer allgemeinen Wahrheit gestaltet und die Gefühle oder die Aufmerksamkeit eines jeden berührt. Wir sind jetzt einmal in der Lektüre so praktisch gestimmt, daß alles wirklich Geschehene, auch das Unbedeutendste, uns mehr anzieht und bedeutender erscheint, als das, was im Reich des Geistes und der Phantasie eine ewige Bedeutung erstrebt. Wenn ich dessenungeachtet wenige Namen nenne, so geschieht es aus einer altvaterischen Scheu, die ich nicht ganz überwinden kann. Doch glaube ich nichts zu versündigen, wenn ich die Namen der drei Kompagnieführer nenne, unter deren Führung unsre drei Jägerkompagnien des Regiments Kolberg sich während des Feldzugs wohl befanden. Ich glaube, daß jeder dieser Offiziere das Vertrauen seiner Untergebenen während des Krieges sich erwarb, und daß bei der Trennung eine freundliche Erinnerung ihnen nachfolgte. Sie hießen Müller, von Bajentzki und Freiherr von Heusch. Der erstere, eine kernige, kräftige Natur, ist erst durch den Krieg von 1813 zum Soldaten gemacht worden. Er war ein Soldat im richtigen Sinne des Wortes, streng im Dienst, fast rauh in den Formen, aber bei den Seinen außerordentlich beliebt. Ein populärer Anführer, der einen Stolz darin zu setzen schien, nicht zu verbergen, daß er von der Pike auf gedient hatte. Herr von Bajentzki war der Offizier aus einer feineren Schule, von eleganten Formen und wissenschaftlicher Bildung. Bei Belle-Alliance verwundet, kam er erst bei Landrecy zu uns. Ich lernte ihn später in Stettin kennen, wo er als Major in demselben Regimente stand, in dem er sich rühmlich ausgezeichnet, und dessen Geschichte er vor kurzem geschrieben hat. Unter dem Freiherrn von Heusch, der die Kompagnie des zweiten Musketierbataillons kommandierte, stand ich. Ein Offizier von Takt und altern aristokratischen Formen, der sich Mühe gab, auch uns zu einer chevalereskern Sitte zu erziehen. Er zog die Besseren zu sich heran; aber gerade bei uns war der Stoff, aus dem man Gentlemen macht, zu sparsam vorhanden. Die Gevatter Weißgerber und Lohgerber, handfeste Soldaten, gute Hüttenbauer, zuverlässige Menschen und Patrioten, mochten zwar ihr Riemenzeug blanker putzen als wir alle, aber zu einer chevalereskern »Teinture« ließen sie sich nicht putzen, noch wollten sie es. Wir Gymnasiasten waren zu jung. Auch mochte unsres neuen Führers Bildung nicht gerade die sein, welche aus Klötzen Götter zu machen geeignet ist. Bei aller seinen Politur ging ihm die Wärme der innern Begeisterung ab, jene Naturfrische, welche in den andern den schlummernden Funken erweckt. Seine achtungswerten Bemühungen, die Elite unsrer Jäger zu sich heranzuziehen und durch Konversation und Gesang sie aus dem Rohen zu erheben, gelangen daher nicht ganz so, wie er es wünschte. Das doktrinär altdeutsche Feuer, welches in uns Jägern brannte, war ihm, der sich gern in französischen Formen bewegte, ein fremdes Element; und die seine Wäsche und die immer weißen Handschuhe des Edelmannes waren eine natürliche Scheidewand zwischen ihm und den Kameraden in der Kommißjacke mit den gebräunten und den gesprungenen Händen. Indessen wußte er, als ein Mann von Takt und Erfahrung, alles zu vermeiden, was eine Spaltung herbeiführen könnte, wie diejenige war, von der ich oben sprach. Gelang es ihm auch nur teilweise, sich die Liebe seiner Untergebenen zu erwerben, so wußte er sich doch vollkommen die Achtung derselben zu bewahren. Der preußische Offizier kann und darf nicht so auf Popularität spekulieren wie etwa der russische. Der letztere darf und muß zu gewissen Zeiten von seinen Gemeinen mit sich spielen, er muß sich auf dem Zelttuch von ihnen prellen lassen, und ein Suworow spielte und ließ mit sich spielen in einer Art, welche alle unsre Begriffe von Subordination aufhebt. Es sind asiatische Vergnügungen, Demonstrationen des patriarchalischen Verhältnisses, das man nicht ganz verrücken will, um der furchtbaren despotischen Macht, die nach Willkür ebenfalls kann zu Tode knuten lassen, einen milden, freundlichen Anstrich zu geben. So wagt der russische Offizier nichts, wenn er sich scheinbar gemein macht. Der preußische wagt alles. Zwischen ihm und dem Gemeinen stehen nur die Kriegsartikel: ein gewisser Firnis von Ehre scheint ihm daher immer notwendig, um den Abstand lebendig zu erhalten. Nur ein Blücher auf seiner errungenen Höhe durfte es wagen, so populär zu sein wie Suworow.
Das national-volkstümliche Element in den freiwilligen Jägern war im vorigen Kriege streng beachtet worden. Sie hatten sich ihre Offiziere selbst gewählt. Jetzt wich man schon bedeutend davon ab; man gab uns unsre Offiziere. Indes bekenne ich, daß in der Vermischung, als wir kaum erst zu einer geordneten Schar zusammengetreten waren, auch dafür der Stoff bei uns nicht im Überfluß da war. Von Auszeichnungen im Felde konnte noch nicht die Rede sein, und eine anderweitige persönliche Bildung, welche die einen bestach, konnte für die andern zurückstoßend sein. Doch sollte, um dem Buchstaben des früheren Gesetzes zu genügen, aus dem ganzen Jägerbataillon ein Offizier gewählt werden, in der Art, daß jede Kompagnie durch freie Wahl einen Kandidaten aus ihrer Mitte stelle, damit aus diesen dreien einer ernannt werde. Ich finde in meinem Tagebuch, daß der Kandidat der ersten Kompagnie, mit Namen Schleich, erwählt wurde; es tut mir aber leid, daß mir von seiner Persönlichkeit auch gar keine Erinnerung geblieben ist. Desto lebhafter sehe ich noch den Kandidaten, für den unsre Kompagnie sich interessierte. Es war der Jäger Schubert, ein freundlicher, stiller, ordnungsliebender Mann, von achtungswerten Grundsätzen, der bei unserm Detachement als Feldwebel von Berlin aus fungiert und sich mir immer sehr freundlich gezeigt hatte. Auch war ich ihm wohl von Hause aus heimlich empfohlen worden. Sein friedliches Gemüt, sein ehrenfestes Wesen hatte ihn bei allen beliebt gemacht; daher konnte er immer versöhnend auftreten, wo Parteien sich zeigten. Auch hatte er beschwichtigend bei der traurigen Geschichte des Hermannsbundes eingewirkt, obwohl er, als ein verständiger Mann, ihn höchlich mißbilligen mußte und sich selbst dadurch gekränkt fühlte. Wir, von der zweiten Kompagnie, fühlten es deshalb schmerzlich, daß er, unser Kandidat, übergangen worden, obschon der bescheidene Mann auch in seiner äußern, untersetzten Gestalt wenig von den Eigenschaften besaß, welche wir, nach unsern Begriffen, von einem Offizier fordern. Er wurde dafür zum Capitaine d'armes Feldwebel, eigentlich Kammerunteroffizier. Wir dürfen hier vielleicht auch erwähnen, daß das »Tirallieren« unserm Plänkeln in Schützenketten oder »Schwärmen« entspricht, und daß man unter »Pikett« eine Feldwache von gewöhnlich 50 Mann verstand, die den Feind beobachten und einen plötzlichen Überfall verhüten sollte. der Kompagnie ernannt. Leider soll er, wie ich gehört, später ein Opfer des Krieges geworden sein. Nicht der feindlichen Kugeln noch des Lazarettfiebers, sondern des Unmutes, welcher so viele verdarb, die, nachdem sie den verführerischen Müßiggang gekostet, die Anstrengung des vorigen Berufes scheuten und sich mit Hoffnungen nährten, welche der Staat nicht erfüllen konnte. Wie mancher frischte diese Hoffnungen beim Glase immer aufs neue an, bis diese Anfrischungen ihn in einen Zustand versetzten, welcher jede gewünschte Anstellung unmöglich machte. Höchst ehrenwerte Ausnahmen kamen indes auch vor. Mancher Offizier, der seine Epauletts und seine Schärpe mit Ehren getragen, legte sie ruhig ab und trat wieder hinter den Ladentisch. Wer den flimmernden Nimbus, der um die Offiziersehre sich bei uns gewoben hat, kennt, wird die ganze Größe dieser Entsagung zu würdigen wissen. Auch unser Capitaine d'armes war Kaufmann gewesen. Möglich, daß er gleich vielen andern umsonst nach Beschäftigung suchte. Er hatte ein besseres Schicksal verdient.
Am 13. Juli hatte sich die Festung Maubeuge ergeben. Der Artilleriepark kam von dort, um Landrecy zu beschießen, und noch in derselben Nacht mußten wir in aller Stille aufbrechen, um nach Merville zurückzumarschieren. Denn, wie ich in meinen Briefen lese, war unser Lager, in welchem wir bis da ziemlich ruhig gelegen, so nahe der belagerten Festung, daß uns die Paßkugeln von den Wällen mit Leichtigkeit bestreichen konnten. Nur unbedeutende Höhen, welche wir nie betreten durften, hatten uns dem Gesicht des Feindes entzogen. Wenn wir Lärm machten, konnte man nicht anders erwarten, als daß er auch laut antworten werde. Für Tirailleure war dort nichts zu tun.
Der Oberst von Tippelskirch vor Maubeuge hatte ein unrichtiges Wort gesprochen. Der Krieg war mit der Schlacht noch nicht zu Ende. Die Festungen in der Pikardie wollten sich nicht ergeben, wenigstens nicht, wie die preußischen 1806, auf den ersten Anlauf. Ihre Kommandanten wollten belagert sein, und entweder Krieg oder Krieg spielen, beides um die Ehre. Etwas Brand, Blut, viel Pulver, Geld, Zeitverlust, Strapazen und Langeweile, das war der Preis des kostbaren Spieles. Prinz August von Preußen leitete diese Belagerungen. Ihm war es wissenschaftlicher Ernst. Gegen den hatten wir nichts einzuwenden, wo es galt, wohl aber gegen die vielen großen Paraden, welche vor und nach der Einnahme jeder Festung vor ihm stattfanden. Auch darin hatte der Oberst unrecht, daß wir ohne Not gekommen seien. Die Umzinglung und Belagerung so vieler Festungen erforderte viele Mannschaft. Man benutzte uns, wenngleich nicht als Futter fürs Pulver, doch dermaßen, wo ein Posten zu besetzen, ein Loch zu stopfen war, daß die Gedienten vom vorigen Jahre behaupteten, wir würden nicht als Freiwillige behandelt, sondern als gut genug, um den Linientruppen ihre Arbeit und Lasten abzunehmen. Wieweit das richtig war, laß ich dahingestellt. Vor dem beständigen Auf-die-Wache-ziehen konnten wir freilich nicht zu den besondern Ezerzitien kommen, welche für unsre Waffenart bestimmt sind. Und wenn wir exerzierten, geschah es in Reih und Glied; von dem Schultern, Rechts- und Linksum, Präsentieren und dem unseligen Parademarsch kamen wir erst sehr spät zu dem freieren, lustigeren Tiraillieren, bei dem sich der Soldat erst als ein selbständiges Wesen fühlt. Dennoch schlug die Jägerlust so gut an, daß schon nach wenigen Übungen darin Major Diest uns das Zeugnis seiner Zufriedenheit gab und erklärte, wenn es noch dazu käme, könne er uns jetzt getrost dem Feinde entgegenfahren.
Endlich wurden wir zum Ernst gebraucht, zwar einem sehr milden Ernst, aber doch immer besser als das Spielen und Putzen und Paradieren. Ich ward abends am 17. Juli zum ersten Male zu einem Pikett kommandiert, welches sich den Festungswällen in der Nacht möglichst nähern sollte. Die tiefe Stille, in der dies Geschäft abgetan wird, die Dunkelheit und die noch tiefern Schatten der Gegenstände, welche aufzusuchen recht unser Studium war, gaben dieser Expedition einen eigenen Reiz für mich. Als das Pikett sich hinter einer Mauer gesammelt, wurden die Befehle flüsternd erteilt, und in möglichster Geräuschlosigkeit, die Gewehre unterm Arm, schlichen wir unter Führung des Gefreiten auf unsre Posten, die, wie sich versteht, hier stets Doppelposten waren; in der Regel bilden ein Musketier und ein Jäger das Paar. Die Umgebungen der französischen Festungen sind wie geschaffen für diesen Vorpostendienst, indem alle Gärten mit lebendigen Hecken umzäunt sind, hinter denen die Piketts sich fortschleichen und die Wachtposten sich unbemerkt aufstellen können. Freilich ist dies coupierte Terrain auch ebenso vorteilhaft für die Belagerten, die sich, bei besserer Kenntnis der Lokalität, unbemerkt heranschleichen, die Vorposten aufheben, Ausfälle bewerkstelligen oder Emissäre aussenden können. Die Aufmerksamkeit unsrer Wachtposten mußte daher sehr groß sein. Auf diesem meinem ersten Posten vor dem Feinde fühlte ich zum ersten Male empfindlich den Verlust meiner Brille und mußte mich auf die Sehkraft meines Musketiers und auf mein gutes Gehör verlassen. Kluge Leute meinten, ich würde auf dem Vorpostendienst in freier Luft und im Grünen durch die fortdauernde Anstrengung meine Augen stärken, daß ich der Brille vielleicht gar nicht mehr bedürfe. Ich kann das Mittel leider nicht als probat empfehlen.
Unser Posten war in einem mit Hecken umschlossenen Garten, der etwas hoch gegen das Glacis der Festung zu lag. Obgleich Mondschein war, und die Wälle sehr nahe vor uns, konnte ich sie doch wegen des starken Nebels nicht genau sehen; desto deutlicher hörte ich die Stimmen der französischen Wachtposten. Es war die Stunde von elf bis ein Uhr. Also in der Geisterstunde der Nacht vom 17. bis 18. Juli 1815 stand ich zum ersten Male vor dem Feinde; leicht erreichbar für jede Muskete, die vom Walle her auf mich anlegte. Ich leugne nicht, daß das Herz etwas lebhafter schlug. Die Hecke vor mir verbarg nur den untern Teil des Körpers, und wenn wir gleich, auf Anweisung meines Mitpostens, stumm und bewegungslos wie Stöcke dastanden, die blinkenden Gewehre nach unten gehalten, so würden die Wachen in der Festung, wenn der Mond hell auf uns schien, uns doch schwerlich für Baumstämme gehalten haben. Die tiefe Stille, wir durften kein Wort uns zuflüstern, hatte nicht minder etwas Unheimliches. Aber zugleich entging mir auch nicht das Poetische meiner Situation. Mitternacht, im fremden Frankreich, die Einsamkeit, die romantische Szenerie, die dunkeln Hecken, hinter denen Gestalten und Wesen uns belauschen konnten, und vor einer Festung, gespickt mit Eisenschlünden, die plötzlich losdonnern konnten, und, was noch romantischer war, ein dichter Nebel machte diese Festung, die doch dicht vor uns lag, mit den Händen zu greifen, unsichtbar! Der Verstand sagte mir dazu, wenn sie dich auch sehen, werden sie doch nicht auf dich schießen. Mir kam der Wachtposten aus dem »Hamlet« in den Sinn. Jetzt wünschte ich fast, daß uns etwas begegnen möchte. Aber es blieb totenstill in den Hecken und in der Luft. Nur die Nachtvögel schwirrten um unsre Köpfe; nur die Wolken zogen über den Mond. Wir hörten unsern eigenen Atem.
Und doch hörten wir ein Geräusch, und mit der bestimmtesten Deutlichkeit, aus der Festung her, und dieses Geräusch trug, da ich es zum erstenmal vernahm, nicht wenig dazu bei, den Reiz des Schauerlichen zu mehren. Es war kein Glockengeläut, die Glocken verstummen in einer belagerten Stadt; kein froher Rundgesang der Wachtsoldaten, es klang wie ein unheilverkündendes Unkengeschrei. Die Wachtposten auf den Wällen der französischen Festungen rufen sich nämlich des Nachts zur Erweckung ihrer Aufmerksamkeit fortwährend einige Worte zu. Aus weiter Ferne erscholl ein Ruf, den ich nicht verstand; er ward erwidert und kam näher. Unwillkürlich faßte ich meine Büchse und prüfte den gespannten Hahn. Aber mein Musketier flüsterte mir zu: »Stille, Jäger, es ist nichts.« Der Zuruf kam immer näher, bis ich deutlich die Losung hörte: Sentinelle, prenez garde à vous! Dumpf und monoton war der Schall; aber gerade das vermehrte das Schauerliche. Jetzt schmetterte es so deutlich, als stände der Mann zwanzig Schritt vor mir. Bald ward es schwächer, bald schien es ganz zu verhallen, um nach einer Weile von der andern Seite wiederzukommen. Zuletzt ward ich so gleichgültig wie beim Ticken einer Wanduhr. Ein scharfer Sinn konnte aus der Zahl und Dauer dieser Pulsschläge militärischer Wachsamkeit allenfalls den Umfang der Festungswälle ausrechnen. Die Schlußfolge wäre wenigstens sicherer gewesen als die, welche Philologen auf die Größe des wahrhaftigen Troja aus dem Umstände ziehen wollen, daß Achill Hektors Leiche dreimal in einem Atem um die Mauern schleifte. Mein Sinn war damals vom Rechnen weit entfernt.
Um ein Uhr bewegte sich allerdings etwas hinter den Hecken. Es war der Gefreite mit der Ablösung. Wir hatten nichts zu melden, und die Ablösung erfolgte in der Stille und mit der Behutsamkeit, wie wir aufgezogen waren. Um drei Uhr zog das ganze Pikett in der Morgendämmerung sich zurück. Nur einige entferntere Posten blieben von Musketieren besetzt, die sich in Erdlöchern versteckten. Es wäre Tolldreistigkeit gewesen, sich offen bei Tageslicht dem Mutwillen der feindlichen Schützen auszusetzen. Erst beim Abzuge der Piketts erfolgten einige Schüsse von den Wällen her, wenn auch zu keinem andern Zwecke, als um uns zu beweisen, daß man aufmerksam sei.
Der Pikettdienst wurde für mich bald zu einer Art Erholung vom Exerzieren und Putzen. Es war das Gefühl der Wichtigkeit, der Freiheit, der Gefahr und die Lust des Geheimnisses, die ihre Reize verlieh. Darüber vergaß ich gar die Mühseligkeiten, die er mit sich führte, wenn, wie dies wohl vorkam, das Pikett zwei Tage und zwei Nächte dauerte. Zwar war es nichts weniger als unterhaltend, oft den Tag über im Chausseegraben in brennender Sonne liegen zu müssen, ohne ein Feuer anzuzünden, ohne laut sprechen zu dürfen, und mit trockenem Kommißbrot die Langeweile herunterschlucken zu müssen. Wie gern kroch man auf allen vieren den Graben entlang nach einem kleinen Strauch, um den Kopf dahinter vorzustecken und zu sehen, wie die Welt außerhalb des Grabens aussah. Wie sehnsüchtig erwartete man, daß die Sonne sich senke. Dann aber, wenn mit der Dämmerung der kühle Abendhauch kam, fing unsre Lebenslust an. Wie mutig und erwartungsvoll der Dinge, die da kommen sollten, erhob man sich, und die Posten schlichen an die ihnen angewiesene oder bekannte Stelle. Nichts war da von Schultern, Marschieren vor dem Schilderhaus, kein Gewehrpräsentieren vor Offizieren. Der Soldat war ein kleiner Feldherr, wenn er auch nur sich selbst zu kommandieren hatte; er durfte seine Sinne und seinen Verstand anstrengen und sich selbst seine Operationspläne machen. Das war bei verschiedenen, ich möchte sie ambulante Posten nennen, der Fall. Ein gewisser Distrikt war ihrer Wachsamkeit angewiesen. Wir schlichen aufrecht oder gebückt, den Finger am Drücker des aufgespannten Hahnes, durch Hohlwege und Hecken, und der Kitzel der Neugier oder die Wollust der Gefahr drängte immer weiter. Einer spornte den andern an: noch einen Schritt weiter! Wie wäre es, noch bis hinter jenen Busch? Aber eine mondhelle Fläche lag zwischen dem Busch und uns. Wir warteten, bis eine Wolke über den Mond zog, und huschten dann nach dem verbotenen Ort, wo wir eben nicht mehr sahen als vorhin; aber wir hatten doch etwas gewagt. Besonders trieb uns ein Kitzel, möglichst nahe dem Wallgraben zu kommen. Nun waren wir dicht daran, das Herz schlug, diesmal wohl mehr vor Lust als Bangigkeit, so nahe, unbemerkt dem Feinde, am Rande fortzuschleichen. Wir hörten die Hunde drinnen anschlagen, das Gespräch der Schildwachen, und nachdem wir nichts belauscht und nichts gewonnen, huschten wir wieder zurück, mit dem süßen Bewußtsein, einer möglichen Gefahr sehr nahe gewesen zu sein. Wir waren siebzehn Jahre alt; aber auch die älteren Musketiere vergnügte es, so etwas zu wagen, was ihnen nicht befohlen, aber auch nicht verboten war.
Wochenlang vor einer Festung stehen, in Wetter und Ungemach, in Erdlöchern und Strohhüten, in Regen und Hunger, erhitzt die Phantasie mit wunderbaren Vorstellungen von der Herrlichkeit, die mit eisernen Toren uns verschlossen ist. Da wohnen sie in der Stadt in festen Häusern und schlafen in weichen Betten. Essen und Trinken ist in Fülle vorhanden, und unter allen Lebensbedürfnissen braucht der Soldat nur zu wählen. Den Spaniern erschienen die Mauern der peruanischen Städte, ehe sie drinnen waren, von gegossenem Silber. Nicht viel anders betrachteten wir das trotzige Landrecy, und der Reiz mochte eben noch den Umstand erhöhen, daß wir es eigentlich gar nicht sahen, außer in nächtlichem Nebel und nur von den Streiflichtern des Mondes beschienen. Ich war auch später niemals drinnen; wahrscheinlich aber ist es ein dürftiges Städtchen wie die meisten Festungen im nördlichen Frankreich. Eines Abends, als wir nach einem ermüdenden Tage uns früh zur Ruhe begeben wollten, bliesen die Hörner zum Sammeln. Wundervolle Kunde! In Landrecy stand kein Bayard, Pierre du Terrail, Seigneur de Bayard, der »Ritter ohne Furcht und Tadel,« vereitelte als Feldherr Franz I. von Frankreich 1520 den Einfall Kaiser Karls V. in die Provence. der es mit den Geschützen der Belagerer aufnehmen wollte. Als die Batterien zum Bombardement fertig waren, ergab sich der Kommandant, wie der von Maubeuge, unter der Bedingung des freien Abzugs der Garnison. Augenblicklich sollten wir packen, antreten und in ein näher der Stadt gelegenes Biwak rücken, um am nächsten Morgen, vor unserm Prinzen August vorüberdefilierend, als Sieger in die eroberte Stadt zu ziehen. Ungern verließen wir unsre guten Quartiere in Merville. Die Sache hatte aber noch außerdem Unangenehmes; unsre Wäsche hing großenteils noch feucht an den Leinen. So, bedeutend schwerer, mußte sie eingepackt werden, und auf den überladenen Tornistern noch die neuerdings uns verabreichten Kochgeschirre. Was aber bedeutete das gegen den Triumph, als Sieger in eine belagerte Stadt zu rücken! Dort sollten wir acht Tage rasten und herrlich und in Freuden leben von den ungeheuren Magazinen, welche der Feind zurückgelassen, und die gar nicht zu bewältigen wären. Wein, der erste französische Wein, sollte uns zur Belohnung geliefert werden; und dann, glaube ich, sollten wir, neu ausgerüstet, nach Paris marschieren! Wer dachte an das elende Biwak, in welchem wir diese Nacht kampierten! Wenige schliefen, wenige kochten; morgen mußten die Bürger von Landrecy uns Festmahle bereiten. Aber Feuer wurden angezündet, und darum, angefrischt von dem Weine, den wir morgen trinken wollten: »Körners wilde Jagd«, »Der Sturm bricht los« und »Du Schwert an meiner Linken« gesungen. Unsre Stimmen klangen gut. Wer froh ist, singt immer gut. Unser Kapitän kam dazu und lobte unsre Lust und unsern Gesang. Wir plauderten und sangen bis nach Mitternacht.
Auf die Nacht mit Morgenrot folgte ein grauer Tag. Wir sollten nicht in Landrecy als Sieger einmarschieren, nicht acht Tage dort in Herrlichkeit und Freuden zubringen, nicht Wein erhalten und nicht nach Paris ziehen, sondern am nächsten Tage, ohne Wein und Rast, mit Sack und Pack auf dem Rücken, ostwärts nach Philippeville marschieren, um mit der Belagerung da anzufangen, wo wir in Landrecy aufgehört. Statt der verheißenen Herrlichkeit erhielten wir für die Eroberung eine doppelte Ration Branntwein! Was sollte uns der! An Branntwein hatte es nie gefehlt. Mit der Deutschtümlichkeit und der Frömmigkeit waren damals die Mäßigkeitstheorien noch nicht aufgekommen. Branntwein, aber kein Fleisch und Brot! Wir hungerten den verfehlten Freudentag über. Erst am Abend ward eine Korporalschaftssuppe fertig. Wenigstens entgingen wir der Parade.
Zwischen der Sambre, die wir verließen, und der Maas, der wir uns wieder näherten, liegt die kleine Festung Philippeville. Auf einem mäßigen Höhenzuge, der sich im Westen der Stadt weithin dehnt, wie ein Hochplateau, mit der Fernsicht auf die tief in der Ebene liegende Festung stand das Lager, oder sollte es stehen, das uns aufzunehmen bestimmt war. Ach, wenn es schon gestanden hätte! Begleite mich der geneigte Leser auf zwei anstrengenden Tagesmärschen von Landrecy bis auf diese Höhe vor Philippeville, in den Hundstagen, und mit Wehr und Waffen und dem Kochgeschirr auf dem Rücken! Zum Hinsinken müde, kamen wir abends um sieben Uhr auf diesen freien Platz, wo nur zertretenes Heidekraut wuchs. »Dies, Jäger, ist Euer Lager,« hieß es, »dort hinter Euch ist ein Busch, haut Euch Holz, Stroh ist requiriert und wird kommen, die Ingenieure werden Euch inzwischen den Platz anweisen und das übrige ist Eure Sorge, nämlich ein Haus zu bauen, wo Ihr die Nacht schlafen könnt.«
Der Offizier hatte nicht nötig gehabt zu kommandieren: »Rührt euch!« Wir waren wie eine müde Herde hingesunken, und doch standen wir wieder auf, stellten die Büchsen zusammen, warfen die Tornister und Patronentaschen auf einen Haufen und stürzten mit gezogenem Hirschfänger in den Wald. Die armen jungen Stämme, auf die wir es abgesehen – die alten waren für unsre Klingen zu mächtig – heute wären es stattliche Bäume. Der Wald wurde gelichtet und unser Lager gerüstet, in einer langen, langen Linie, mit gehörigen Zwischenräumen für Feuersgefahr. Das Stroh zum Decken und zum Lager kam auch an. Wir waren jetzt schon etwas in der Arbeit geübt. Andre mußten kochen, noch andre Wasser holen, aus einer Quelle, die eine halbe Stunde entfernt war. Es ging, wer hätte es geglaubt, und zwischen zehn und elf Uhr war alles soweit fertig, daß man sich zum Schlafen niederlegen konnte.
Ein Palast war es gerade nicht. Stelle man zwei Spülbecken auf die breite Kante, und oben lehne man sie aneinander, das war unsre Hütte, nur daß man auch die schmalen Giebelseiten mit Stroh verputzte. Aufrecht konnte ein mäßig großer Mann eintreten, auch aufrecht stehenbleiben, wenn er sich gerade in dem Mittelstrich hielt; wenn er aber auch nur um einen Zoll sich seitwärts bewegte, mußte er den Kopf bücken. Aber von stehen, gehen und bewegen, geschweige denn etwas aufrecht darin zu tun, war nicht die Rede. Die Hütte hatte man zum Liegen gemacht. Vierzehn Personen sollten von Rechts wegen darin liegen, einer neben dem andern, und dann war der Bodenraum dermaßen bedeckt, daß buchstäblich kein Apfel zu Boden konnte. Wer später kam und seinen Schlafplatz suchte, mußte, so gut es ging, unter den andern, die schon lagen, fortkriechen, wobei es Fuß- und Armstöße gab und viel geflucht wurde. Oder er mußte am Eingange liegen bleiben, ein Platz, der nicht gesucht wurde, nicht sowohl um deswillen, daß jeder über ihn wegstieg, sondern weil er Wind und Regen aus der ersten Hand empfing. Warm lagen die andern, ob gerade angenehm, das kam auf den Geschmack und die Nachbarn an. Toilette wurde nicht gemacht, viel sich zu rühren verbot sich von selbst, der Tornister war das Kopfkissen.
Auf vierzehn, sage ich, war von Rechts wegen gerechnet, denn so groß war die Korporalschaft; aber faktisch hatten höchstens zwölf Platz. Auch gewissermaßen von Rechts wegen; denn von vierzehn waren gewiß wenigstens zwei in jeder Nacht auf Wache. Leider hatten in dieser ersten Nacht vor Philippeville zufällig unsre ganze Korporalschaft Ruhe, und leider hatte ich mich verspätet, entweder beim Wasserholen, Kochen oder dem Geschirreinigen. Kurzum, als ich mich zum Schlafen meldete, war die ganze Hütte besetzt, und ein Lachen und Brummen wies mich ab. Möglich, daß noch ein nachhaltiger Groll gegen den Hermannsbündler dabei mitspielte; sonst wären sie wohl zusammengerückt. Ich mußte noch froh sein, daß eine gutmütige Seele, die am Eingange schlief, mir erlaubte, den Kopf und den halben Oberleib in das Heiligtum zu stecken; mit drei Vierteilen des Leibes schlief ich im Freien. Es war eine Julinacht und ich siebzehn Jahre alt.
Alles das waren Kleinigkeiten gegen die Verdrießlichkeiten, welche mich noch hier vor Philippeville erwarteten. Ich war der fleißigste Korrespondent nach Hause, und zog mir dadurch oft den Spott meiner Kameraden zu. Wo ich eine halbe Stunde dem Exerzieren, dem Putzen und dem Schlaf abstehlen konnte, schrieb ich. Von einem Breslauer Juden hatte ich ein unschätzbares Gut, was hier ganz fehlte, Tinte, gekauft. Ich saß, ein Kommißbrot auf meinem Schoß, die flache Seite als Tisch benutzend, den Tintenstecher neben mir in der Erde, und schrieb meine Briefe, die zugleich meine Tagebücher waren. Acht bis neun waren schon nach Hause gegangen; aber unglücklicherweise hatten sich die letztern, bei der Unregelmäßigkeit der Feldposten, verspätet, und die Meinen in Berlin waren durch deren Ausbleiben in großer Sorge um mich. Wer verdenkt es der mütterlichen Zärtlichkeit, wenn sie alle Hebel in Bewegung setzte, um von dem verlorenen Sohn zu hören. Da wurden durch Bekannte alle diesen Bekannten bekannte Offiziere in der Armee angegangen, sich nach mir zu erkundigen, und alle diese Offiziere schrieben an das Regiment Kolberg, ob ich gestorben oder verdorben, und daß man der achtbaren, betrübten Familie doch Auskunft über mich geben möge. Ich ward plötzlich zitiert, um Rede und Antwort zu stehen; denn alle diese Mahn- und Fragebriefe waren zur selben Zeit eingelaufen, und nach ihrem Inhalt mußte ich ein höchst gewissenloser Mensch und Sohn sein, wenn ich noch lebte. Da letzteres nun feststand, so fuhr man mich in jenem Sinne an. »Aber ich habe geschrieben.« – »Wie oft?« – »Neunmal.« Die Offiziere sahen sich betroffen an. So oft hatte noch kein Mitglied des Regiments geschrieben, es wäre denn ein sehr verliebter Bräutigam darunter gewesen. Man entließ mich und wußte nicht, was man sagen sollte. So stand ich – ich weiß nicht ob als das juste milieu zwischen zwei Feuern. Hier angeklagt des zu wenig Schreibens, dort, ich schriebe so viel, daß die Feldpost Beschwerde gegen mich eingelegt habe.
Bald darauf trat schlechtes Wetter ein. Unsre Hütten waren an jenem Abende, wie man sich denken mag, nur leicht gebaut. Auch am folgenden Tag hatte man es nicht für nötig erachtet, sie fester zu machen und dichter zu decken, da das Gerücht sich wieder erneute, wir würden nach Paris marschieren. Auch hatte es geheißen, daß wir dies zu entfernte Lager auf dem Berge verlassen und näher der Festung, die noch immer zwei und eine Viertelstunde entfernt lag, biwakieren sollten. Der Regen strömte vom Himmel, der Wind trieb immer neue Wolken heran, und wenn die Güsse nachließen, rieselte von dem grauen Himmel ein alles durchweichender Staubregen herab, der tagelang anhielt. Was half da Flicken und Reparieren, wo der ganze Bau nichts taugte; und was den Regen von oben abhalten, wo er unten schon eingedrungen war! Der Boden war lehmicht und bald ganz aufgelöst. Der Platz, auf dem unsre Baracke stand, lag niedriger als die Höhen dahinter, und niemand hatte uns gesagt, daß wir Gräben darum ziehen müßten, um das Wasser abzuleiten; so drang es denn in hellen Strömen herein, und hatte nur einen Rivalen an dem Wasser, welches schon oben durchsickerte ober bald durchplätscherte. Unsre Uniformen und Mäntel waren durchnäßt; nirgends ein Ort zum Trocknen, oder, wenn man sie etwa am Feuer getrocknet hatte, wo man sie aufhängen konnte. Selbst wo den Schatzkasten, der unsre »Omnia« »Alles«, mit Anspielung auf den Satz des Weisen Bias aus Priene (570 v. Chr.), der gewöhnlich in der lateinischen Fassung »Onmia mea mecum porto« (All das Meinige trage ich mit mir) zitiert wird. Auch Matthias Claudius wählte sich diesen Spruch zum Motto. enthielt, den Tornister sicher unterbringen? Auch unsre Wäsche wurde feucht und stockte. Endlich ward man gleichgültig, als sollten wir und unsre ganze Equipage sich im Regen auflösen, der eine Woche anhielt. Man warf die Sachen hin, wo es war, und ließ den Himmel dafür sorgen.
Ich bewunderte einige meiner Kameraden, die sich in vollem Mißmut oder in vollkommener Resigniertheit auf den nassen Moder in unsrer Hütte zum Schlaf hinwarfen; denn alles darauf geworfene trockene Stroh half nichts: es ward Mist. Den Mantel über das Gesicht gegen den Tropfenfall von oben, trösteten sie sich mit der Erinnerung an die Lagerstätten der Preußen nach dem Rückzüge von Dresden, Bei Dresden erfocht Napoleon am 26./27. August 1813 über die sogenannte böhmische Armee der Verbündeten unter Schwarzenberg einen bedeutenden Sieg. Bei schlechtem Wetter, mangelhafter Verpflegung zogen sich die Besiegten über das Gebirge nach Böhmen zurück. wo die Ermüdeten ohne weiteres ihre Mäntel in dem kniehohen Kot ausbreiteten und sich darauf warfen. Für mich war es in diesen Tagen eine Wohltat, wenn ich zur Wache oder auf Pikett kommandiert wurde. Dort gab es doch zuweilen Orte, wo man sich trocken niederlegen konnte, einen Torweg, einen Schuppen, und wo nicht, so begegnete man durch Tätigkeit den niederdrückenden Einflüssen der Witterung. Auf einzelne Stunden fand ich wohl Unterkunft in den Hütten meiner Kameraden, die günstiger gelegen und fester gebaut waren, und benutzte sie, wenn meine Freunde gerade auf Wache zogen; die mehrsten dieser Schreckensnächte aber kauerte ich auf einer Tonne und daneben liegenden Reisigbündeln. Auf einer runden Tonne und im Reißig kann sich der Regen nicht setzen; man bleibt wenigstens von unten, wenn nicht trocken, doch nicht in einem unfreiwilligen Schlammbade. Die Tonne lag, soviel ich mich entsinne, an der hintern Giebelwand einer der größern Hütten, die zu allgemeinen Zwecken, also splendider und solider erbaut waren. Das Dach stand um etliche Zoll über; diesen Schutz benutzte ich für meinen Kopf, ohne mich zu entsinnen, ob dann der Hals die Traufe erhielt. Es gab so viel Regen und Traufe, daß man die Details ganz vergaß.
Wie sehnsüchtig erwartete ich den Morgen, um mich von der Nacht zu erholen. Aber womit? Ich weiß es selbst nicht. Regnete es am Tage weniger? In der Nacht fühlte man ihn doch nur, aber beim Tageslicht sah man noch dazu den Regen. Die Sonne, wenn sie vorblickte, trocknete nicht, und die angezündeten Feuer gingen wieder aus. Mit nassem, grünem Holze Feuer anmachen müssen auf nassem, durchwühltem Lehmboden, und während des Regens und den Regen hindurch es brennend erhalten, könnte unter Herkules' Arbeiten aufgezählt werden. Freilich Herkules hätte sie vollbracht. Er hätte fette Kieferbäume übereinander getürmt, die einen Brand geben, um den Regen in Respekt zu setzen. Ähnliches wurde auch bei uns versucht; einige große Feuerbrände schwelten Tag und Nacht fort, und die von Frost und Nässe Durchschüttelten standen darum, sich und ihre Mäntel einmal zur Abwechslung zu wärmen, besser gesagt, zu räuchern. Von der dicken Luft niedergehalten, strich der Rauch von den Hunderten von erlöschenden oder nicht brennen wollenden Feuern durch das Lager. Rauch, branstiger Geruch, Fettdampf, sprühender Regen und Windstöße, unten ein aufgewühlter Morastboden, die Schuhe durchweicht, die Kleider mit Kot bespritzt, nirgends ein Ruheplatz, nirgends eine Erholung: das waren die Lagerfreuden vor Philippeville.
Noch waren sie damit nicht erschöpt. Wer konnte kochen, wo kein Feuer brannte! Nur dann und wann gelang es, eine warme Suppe, ein halb gar gekochtes Fleisch sich zu verschaffen. Zwar wurden die Feuer, wenn ich mich recht entsinne, korporalschaftsweise angelegt, lange Linien vor den Baracken, jede Feuerlinie im rechten Winkel mit der Front der Zeltlinie, und die Kameradschaften hatten, je zwei und zwei, die in einem Geschirr kochten, links und rechts daran ihre bestimmten Plätze. Wehe denen, gegen die der Wind stand. Sie mußten oft, weil sie es vor Rauch nicht aushielten, ihre Töpfe im Stiche lassen, oder rissen sie im Unmut weg, um halb rohes Fleisch hinunterzuwürgen oder den ganzen Inhalt auszuschütten. Dann aber kam ein Platzregen, und für alle war die Hoffnung zu Ende. Wer unmutig ist, zankt gern. An heftigen Streitigkeiten fehlte es denn auch nicht am Feuer.
Also auch mir waren diese sieben Regentage ohne Obdach Schreckenstage. Kaum einmal eine kräftigende, warme Speise, um dem Frost von außen Widerstand von innen zu leisten. Auch waren die Naturallieferungen sparsam; es mochte eine ärmere Gegend sein als die um Landrecy. Kommißbrot und Branntwein sollte uns aufrecht erhalten. An letzterem fehlte es denn auch hier nicht, und die Verführung, ein Trinker zu werden, lag nahe genug. Aber der Branntwein schmeckte mir schlecht, und ich brauchte ihn nur als ein notwendiges Existenzmittel. Zum Glück wimmelte das Lager bald von Verkäufern und Verkäuferinnen. Es war ein völlig freier Markt von alliierten und französischen Marketendern; Greise, Frauen, Kinder hielten alles mögliche feil für den – der bezahlen konnte: Milch, Kaffee, Schokolade, Stiefelwichse, Trinkwasser. Letzteres ein sehr gesuchter Artikel wegen der Entfernung der Quelle; Schokolade war in solcher Fülle da, daß jeder Bauer davon in seinem Hause eine Fabrik zu haben schien. Möglich, daß es auch so war; denn sie war sehr schlecht. Noch bewahrte ich eine Tafel von einer Berliner Fabrik im Tornister als letztes Auskunftsmittel in der äußersten Not.
Schokolade konnten wir allenfalls kochen; wer aber kann auf die Dauer davon leben und Soldatendienste verrichten! Endlich sehnte sich das Herz nach einer Kräftigung, und mein Kochkamerad und ich beschlossen, trotz Wind und Wetter uns doch einmal eine warme Fleischsuppe zu bereiten. Verzeihe der geneigte Leser, wenn ich ihm davon berichte; es ist ein Stilleben der gemeinsten Art, aber man liest ja gern, auch im Alter, Robinsonaden, und mir steht die Geschichte meiner Fleischsuppe so lebendig vor Augen, als wäre sie erst gestern geschehen. Wir hatten zusammen ein halbes Pfund Kuhfleisch und etwas Reis geliefert erhalten. Der Kamerad übernahm die Sorge für das eine, ich für das andre Element; er nämlich für das Feuer, ich für das Wasser. Beides war schwierig. Von jenem redete ich schon. Aber die einzige Quelle mit trinkbarem Wasser war über eine halbe Stunde vom Lager entfernt, und unser einziges Gefäß zum Kochen und Wasserholen unser Kochgeschirr. Während er auf den Knien das Feuer anblies und die zarte Flamme mit beiden Händen gegen den Windshauch schützte, machte ich mich auf den Weg nach der Quelle. Welch ein Weg! Bei jedem Tritte versank der Fuß im aufgeweichten Lehmboden, und über die Arbeit, ihn wieder herauszuziehen, verstrich so viel Zeit, daß es ein doppelter Weg, nach Stunden zu rechnen wurde. Nun rechne man, wieviel mehr Zeit und Mühe ich bei der Rückkehr brauchte, wo ich mit aller Behutsamkeit mein volles Wassergeschirr tragen mußte, aber trotzdem ein gutes Teil vom Inhalt verschüttete. War der Weg schlecht, wie war die Quelle und wie der Boden umher! Von diesem zuerst. Zehn Schritt in der Runde ein Morast; denn das halbe Lager holte hier seinen Wasserbedarf, nicht allein die Menschen, auch die Tiere. Pferde gehen tiefer als der Mensch. Endlich watete ich bis an die Quelle, vermittels Steine und Holzblöcke, die man in das Moor gesteckt, und fand allerdings noch Wasser, aber welches! Da hatten die Pferde gesoffen, die Wäscher und Wäscherinnen gespült. Was alles mußte erst weggeräumt werden! Und vorher wurde das Fleisch gewaschen, und dann nach einer Weile ein Wasser geschöpft, welches wir damals klar nannten! Es ging. Das Feuer brannte, das Wasser kochte, das Fleisch tauchte auf und unter, ein angenehmer Brodem stieg in unsre Nasen. Sogar schäumten wir mit unserm Blechlöffel die Suppe ab; wir waren Gourmands, wir wollten einen reinen Genuß. Aber das Feuer trug den Sieg über das Wasser davon nach dem natürlichen Prozeß, den man in jeder Küche beobachten kann. Die Suppe kochte rasch ein, und wenn wir nicht die Hälfte verlieren wollten, mußte Wasser zugegossen werden. Noch einmal trat ich den sauern Weg nach der Quelle an. Aber mit welchem Gefäß! Mit dem flachen Deckel des Kochgeschirrs welches so eingerichtet ist, daß es Zugleich als Teller dient. Wieviel Wasser ich auf dem langen Wege zurückbrachte, mag man denken. Während ich gegangen, war wieder ebensoviel eingekocht, als ich brachte.
Unser Durst war groß, und die Quelle fern. Einen Mosesstab besaßen wir nicht; aber ringsumher auf dem Felde waren kleine, tiefe Löcher von den Pferdehufen, in denen sich das Regenwasser gesammelt hatte. Die Suppe duftete so kräftig, daß sie wohl den Zusatz von etwas Regen- und Lehmwasser vertrug. Die Zwiebeln würden das weitere tun, den etwa üblen Geschmack zu verdecken. Also schöpften wir, siebten so gut es ging, und füllten. Endlich regnete es. Wer hätte jetzt den Topf zugedeckt! Lieber das Feuer, daß es nicht ausgehe. Scheite Holz, die wir, um sie zu trocknen, auf der Brust eingeknöpft trugen, wurden darauf gelegt, was von Talg und Fett da war, ins Feuer geworfen. Item, es ging, das Feuer prasselte herrlich trotz dem Regen, und wir teilten uns in eine Suppe, die mir noch heute schmeckt und Leib und Seele erfrischte, ob sie schon angebrannt und räucherig zugleich war.
Schnupfen, Husten, rheumatische Affektionen und Krankheiten der verschiedensten Art, wer sollte die nicht als notwendige Folge eines solchen Lagerlebens erwarten! Aber ich blieb gesund und weiß auch nichts von vermehrten Krankheitsfällen im Lager. So waren diese Mühseligkeiten zu ertragen? – Gewiß, durch frische Jugendkraft, im Sommer und in der gesunden Luft einer hochgelegenen Gegend. Aber Soldaten haben in allen Kriegen weit größere Strapazen, Entbehrungen und Fährlichkeiten erdulden müssen. Und sie erdulden sie ohne Murren? – Ohne Zweifel, wo es etwas galt: eine Eroberung, einen Sieg oder einen Rückzug. Wo Großes auf dem Spiele steht, und wäre es auch nur die Rettung des eigenen Lebens, kann der Mensch ungeheuer viel, seine Kraft wird elastisch gehoben. Hier aber galt es gar nichts, als eine Festung von weitem einschließen, die auch ohne uns wäre eingeschlossen worden, und eine Festung erobern, die auch ohne uns wäre erobert worden. Der große Krieg war beendet; dies waren Nachspiele seines blutigen Ernstes, der gegenseitigen Ehre wegen, um diplomatischer Vorteile oder irgendeines Gewinstes willen gespielt. Das fühlten wir alle; der Fanatismus gegen den Welteroberer war abgekühlt. Um solche Nachexerzitien der Kriegslust schien uns das zu viel auferlegt. Auch wozu das Putzen und Paradieren, die Exerzitien im Gamaschendienst? Vergeudete Zeit, fortgeworfene Mühe, wenn der Krieg zu Ende ging! Wollte man uns ganz als Soldaten behalten, vergessend, daß wir uns als Freiwillige zum Krieg selbst und zu dem für die Interessen des Vaterlandes gestellt hatten? Dergleichen trübe Anschauungen, genährt durch das trübe Wetter, stellten sich damals ein, um später immer stärker vorzutreten.
Während Waffen, Riemenzeug und Kleider im Kot umherlagen, oder beschmutzt und naß uns am Leibe hingen, sahen wir der nächsten Zukunft, wo die Sonne schien, eigentlich nicht recht froh entgegen. Denn wir wußten, sobald sie scheint, heißt es geputzt! Statt uns aber mit diesem Mechanismus zu befreunden, wurde er uns immer widerwärtiger, je mehr wir darin geübt wurden; und diese Aussicht auf das Putzen ließ uns fast wünschen, daß das schlechte Wetter noch anhalten möchte. Wie trefflich Reinlichkeit und Ordnung in allen Lebensverhältnissen auch sind, und für einen Soldaten insbesondere, so widerstrebte uns doch die kleinlich ängstliche Art, mit welcher man von uns verlangte, daß wir unsre Sachen blank und zierlich erhielten. Hatten wir denn zum Paradedienst die Waffen ergriffen und uns selbst equipiert? Dieses Brennen und Polieren des Riemenzeugs mit schwarzem Wachs, diese Masse von Gerätschaften dazu, welche man mitschleppen mußte, um zu streichen, reiben, glätten aus voller Leibeskraft, bis das Bandelier oder die Patronentasche spiegelblank war auf – einige Stunden! Und hatte man einen halben Tag gebrannt, gegossen, gerieben, »gefummelt« (mit dem Fummelholz; die Kunst hatte ihr eigene Technologie), mit dem Wollenlappen poliert, mit dem Leinenlappen darüber gewischt, und hielt das Leder nun die letzte Probe aus, den Hauch des Mundes, um, die Rauheit abschüttelnd, sich in vollkommener Schönheit zu präsentieren – alsdann ging man von der schwarzen zur weißen Kunst über. Die Kragen und die Aufschläge der Pommern waren weiß. Daß dies Weiß im Schweiße eines Julimarsches und im Kot des Lagers nicht ganz weiß blieb, ist begreiflich. Aber die Farbe der Unschuld ließ sich mit Kreide wieder herstellen. Geschabt zu Pulver, mußte diese mit wollenen Lappen so dick und stark auf den Kragen eingerieben werben, als die Wolle des Tuches nur aufnehmen wollte. War diese Operation fertig, ward der Kragen wieder ausgeklopft, und zwar so lange – das sollte wenigstens die Normalprobe sein –, bis kein weißes Stäubchen mehr herauskam. Freilich war nun die grüne Uniform eingepudert, und es galt diese auszuklopfen und auszubürsten, wobei der weiße Kragen dann wieder etwas grün oder grau wurde. Die Theorie auf die Spitze getrieben, wäre es eigentlich eine endlose Schraube des Bürstens, Klopfens, Reibens geworden. Und diese Operationen in dem engen Räume einer Hütte vorgenommen, in einem staub- und koterfüllten Lager! Es war dafür aber auch etwas Erhebendes, wenn bei der kleinen Morgenparade die weißen Kragen wie Kreidefelsen aus grünen Ufern vorblitzten; wenn der Kapitän die Reihen entlang ging, Kragen für Kragen mit dem Finger »knipste« und die Spitze sich dann besah, ob sie weiß abfärbte. Welche gegenseitige Seligkeit in den Blicken der Soldaten und des Offiziers, wenn an dem Finger von Kreide nichts zu sehen war! Es war ein purifizierter Jäger. Hierin der doppelten Bedeutung: ein »gesäuberter« Jäger und ein Jäger, »wie er im Buche steht«. Und wehe, wo ein weißes Staubwölkchen aufflatterte. Da sammelte sich eine finstre Wolke auf der Stirn des Kapitäns. Der Jäger hatte seine Pflicht nicht getan als – Vaterlandsverteidiger!
Dies sind nicht Gedanken von heut. Die Sache war uns schon damals, wenn nicht klar, doch sehr bedenklich. Wozu der Krimskrams, die Schererei, dieser Gamaschendienst? fragten wir uns. Im Jahre 1813 war davon nicht die Rede; weshalb heute? – Um uns zu zeigen, daß wir nicht besser seien, uns nicht mehr einbilden sollten als die andern Soldaten? – Wollte man uns beweisen, was Schmalz Th. A. H. Schmalz, Professor der Rechte an der Universität Berlin, erregte 1815 durch eine kleinere politische Schrift, In der er den Schutz der Regierung gegen den »revolutionären« Geist der neuen Zeit anrief, bedeutendes Aufsehen, Niebuhr, Schleiermacher, Ludwig Wieland, Friedrich Förster und viele andre freier Denkende befehdeten ihn deshalb aufs heftigste. Es kam so weit, daß 1816 eine königliche Kabinettsorder erging, die bei namhafter Geld- und Leibesstrafe verbot, irgendwelche Veröffentlichungen, gleichviel ob für oder gegen die Sache, im Druck erscheinen zu lassen, Schmalz wandte sich später dem Pietismus zu. bewies und Gentz: daß es mit unserm Freiwilligentum nicht viel auf sich habe?
Daß wir nicht mehr getan, als gute Bürger bei einer Feuersbrunst, die nach den Löscheimern griffen und ihre Pflicht taten, sagte jener. Dieser rechnete aus, wieviel konskribierte Soldaten und wieviel Freiwillige in dem Befreiungskriege gefochten hätten, und sein Fazit war: die gezwungenen Soldaten haben den Sieg erfochten. Der reaktionäre Luftstrom in den höheren Regionen war allerdings damals schon in Bewegung. Das: »Mit Gott für König und Vaterland!« erhielt eine Auslegung, welche das erwachte Volksgefühl wieder dämpfen sollte. Aber ich zweifle, daß man schon mit bestimmtem Bewußtsein unfern Mut abdämpfen wollte. Eine Influenz von oben herab auf die Subalternen war da – alle geistige Strömung zuckt elektrisch durch die Lüste – aber das nächste Motiv war ein allgemein menschliches: die Lust zu befehlen. Großes war nicht mehr da; also begnügte man sich mit dem Kleinen.
Wo das blankere Bandelier, das glänzender geputzte Messingzeug den Ausschlag gab über den Wert des Soldaten, war es natürlich, daß diejenigen bald das Übergewicht erhielten, welche in diesen mechanischen Verrichtungen durch ihren Lebensberuf mehr geübt waren. Die Sattler, Schneider, Schuhmacher, Gerber glänzten voran. Sie wußten auch bessere Hütten zu bauen, zu kochen und Ordnung ins Leben zu bringen, als die Gymnasiasten, Künstler, Kaufleute. Der Fluch des Hermannsbundes lastete noch immer auf uns. Sie waren jetzt ein freier Bund, der in allen wichtigern Fragen den Ausschlag gab.
Darüber, daß sie uns tyrannisiert hätten, kann ich nicht eigentlich klagen. Sie ließen uns nur ihr Übergewicht, wie praktische Männer gegen unerfahrene Neulinge, fühlen! Zuweilen zeigten sie etwas von Protektormienen; während andre, in Voraussicht, daß dem Kriegszustande bald ein andrer folgen müsse, sich im voraus um Protektion gelegentlich bewarben. Besonders war eine Anzahl von Schreibern, aspirierenden Bureaubeamten, welche geständlich nur um deswillen die Büchse ergriffen hatten, damit sie im Zivildienst später zu besseren Anstellungen berechtigt wären. Diese ambierten schon jetzt bei den Söhnen bureaukratischer Familien um dereinstige Fürsprache. Auch von den Professionisten empfahlen sich einzelne mit ihrer Arbeit und baten um Kundschaft. So löste sich auch schon innerlich die Begeisterung auf.
Dennoch war das mens agitat molem anerkannt. Gebildet wollten die meisten sein. Da war, wie ich schon oben andeutete, eine gewisse Mittelklasse, die vortrefflich sprach, in Sentenzen, welche man schon irgendwo gehört zu haben glaubte, und die gedruckt werden konnten, wenn sie nicht schon gedruckt waren. Es waren solche, die auf Liebhabertheatern geglänzt und von daher einen Firnis mitgebracht hatten, welcher nicht ganz unerfreulich war, wo er mit wirklichen Lebenserfahrungen verbunden erschien. Der Gentleman wußte sich also auch in diesen Klassen hervorzutun. Wir hatten manchen unter uns, der ein bewegtes Leben geführt und viel erfahren hatte, ja, dem unser Krieg ein Spiel dünken mußte. Leider hat mich hier die Erinnerung verlassen, und ich entsinne mich nur noch einiger weniger, denen ich mich gern anschloß. Nicht, weil ich durch das Gemüt zu ihnen gezogen wurde, sondern weil ich ihre selbsterrungene Lebensbildung achten mußte.
Es war mir etwas Neues, als ich bis da nur gelehrte Bildung kennen gelernt hatte. Da war ein junger Mann aus Berlin, ein Sattler, für mich damals von besonderem Interesse, weil er ein Schwager des berühmten Sattlers in der Königsstraße war, wo ich mein sämtliches Lederzeug eingekauft hatte. Er war erst im Anfang der Zwanziger; aber seine Lebensgeschicke hätten wohl zu einem Roman Stoff abgegeben. Als ein wilder Bursch, wie er selbst einräumte, war er schon mit fünfzehn oder sechzehn Jahren von Hause fortgelaufen und den Franzosen gefolgt. Fünf Jahre mit ihnen und in ihrem Dienst in Spanien, war er endlich von einem der beiden Mina Don Francisco Espoz Y Mina und sein Neffe Don Xavier waren 1804–14 als Führer spanischer Freischaren (»Guerilla«) gegen die Franzosen tätig. Als England diese Freischärler 1809 durch eine Armee unterstützte, wurde ersterer Korpskommandant (unter Wellington). – Die weiterhin erwähnte englisch-deutsche oder königlich deutsche Legion (Kings German legion) wurde 1803 nach Auflösung der hannoverschen Armee aus Hannoveranern gebildet. Seit 1805 reihte man die Legionäre abteilungswelse in das englische Heer ein, und mit diesem kämpften sie auf fast allen europäischen Kriegsschauplätzen. Im Februar 1816 wurde schließlich aus der Legion wieder eine hannoversche Armee errichtet. gefangen worden. Er ward nach Portugal und von da nach England abgeführt. Hier nahm er Dienste in der Englisch-Deutschen Legion und diente nun in Spanien als Kavallerist gegen die Franzosen, hatte aber wieder das Unglück, von diesen gefangen zu werden, wurde jedoch glücklicherweise nicht als Überläufer erkannt, sondern nach Holland gebracht, wo ihn 1813 die Alliierten befreiten. Ich glaube schwerlich, daß ihn der Haß gegen Frankreich jetzt in unsre Reihen führte; es war nur der Geist der Unruhe, die Lust an einem bewegten, wechselvollen Leben. Wie er waren viele. Auch haben manche Deutsche von diesem beweglichen Sinne, bald hüben bald drüben, die Waffen in der Hand, gestanden. Es war erst das Jahr 1813, welches den Nationalsinn so erhob und befestigte, daß auch der Gedankenlose die Schmach fühlte, in den Reihen gegen sein Vaterland zu stehen. Auch unsern Sattler hatte der Krieg zum Gentleman gemacht; er sprach Französisch, Spanisch, Portugiesisch und Englisch, oder – wollte es sprechen. Und ebenso gern erzählte er von seinen Liebesbegebenheiten dort in den fremden Ländern, von woher freilich keine Zeugen für die Wahrhaftigkeit seiner Geschichten zitiert werden konnten. Eine Spanierin in Madrid hatte ihm ihr kleines Messer, welches sie so geschickt zu werfen verstehen, gegen das Herz geschleudert; nicht weil er Rechte forderte, welche sie zu gewähren abgeneigt war, sondern weil er von diesen Rechten keinen Gebrauch mehr zu machen geneigt war, im Besitz andrer neuerer Rechte, die für ihn von mehr Reiz waren. Er hatte das Messer entweder mit dem Mantel aufgefangen, oder, aus ihren Blicken ihren Vorsatz ahnend, sie schnell entwaffnet. Aber, der Ungalante, er hatte darauf die schöne Spanierin, die doch nichts verbrochen, als daß sie den natürlichen Gelüsten ihrer Eifersucht nachgab, der Polizei überliefert. Über die Moralitat der Handlung gab das viel Stoff nachzudenken; zu ähnlichen Abenteuern, und um aus eigener Erfahrung zu prüfen, was da das Rechte sei, fehlte uns in unserm Feldzuge die Gelegenheit.
Gedacht sei hier noch eines andern Kameraden, an den mich die politischen Fragen der Gegenwart wieder lebhaft erinnern. Ein kleiner, untersetzter, schwarzer Mann, nicht schön und in seinem Wesen nichts von einem Gentleman. Wenn er nicht die Büchse trug, waren seine Waffen Schere und Nadel, und er säumte auch nicht, in jedem Quartier, wenn er vom Dienste frei war, die Beine übereinander zu schlagen und den Faden zu wichsen. Unsre Uniformstücke verdankten ihm, daß sie noch so erträglich aushielten; wenigstens, wenn sie Miene machten auseinanderzugehen, war er es, der sie zu ihrer Pflicht fürs Vaterland zurücknötigte. Aber er stand, trotz seiner Unansehnlichkeit, in großem Ansehen, und bei den Hänseleien, die im kameradschaftlichen Leben unvermeidlich sind, wagte sich ihm niemand zu nahe; denn es war bekannt, daß er sich in dem vorigen Feldzuge tapfer gehalten hatte und mehrmals verwundet war, wovon seine Hand Zeugnis ablegte. Er hieß Schwarzbram und war ein Jude.
Die Regenwolken zogen endlich ab, wenigstens schien die Sonne wieder dazwischen, um uns trocknen und putzen zu lassen. »Das waren traurige Tage«, steht in meinem Tagebuch von den gewesenen. Wir benutzten die heiteren, um uns eine festere, trockne Hütte zu bauen. Des Königs Geburtstag, der 8. August, brachte nicht die Übergabe der Festung, aber eine große Kirchenparade vor Prinz August. Mit den Tornistern und dem Kochgeschirr auf dem Rücken hörten wir eine Predigt, oder standen doch wenigstens in Reih und Glied, während andre für uns hörten. Denn nur die ersten Reihen vermögen bei einer Feldpredigt den Worten des Predigers zu folgen. Wären aber auch Worte von vorn zu uns gedrungen, der Tornister und das Kochgeschirr zogen alle Aufmerksamkeit allein hinter uns. Wir priesen insgesamt mehr unsern Gott, als die Parade zu Ende war, und wir Tornister und Gewehr abwerfen konnten. Einige hohe Bäume, mit Festgirlanden und Blumen, waren vor unsrer Hüttenfront aufgepflanzt, und zur Feier des Tages wurden die Offiziere und Ordensritter durch ein europäisch zubereitetes Festmahl bewirtet. Wir hatten das Vergnügen, diesem Festmahl zusehen zu dürfen und den ungewohnten Geruch der Speisen und Braten einzuatmen. Daß uns dies etwas ganz Fremdartiges geworden, mag man, nach dem Vorangegangenen, glauben. Außerdem erhielt jeder Mann eine halbe Flasche Wein. Man sagte uns, zur Entschädigung für den in Landrecy versprochenen.
Der Regen, der uns weich gemacht, hatte die Herzen der Belagerten nicht erweicht. Philippeville wollte sich nicht ohne Feuer ergeben. Täglich sah ich es von unsern Höhen herab in duftiger Ferne, und in einigen Nächten habe ich auch auf Pikettstreifereien seine nähere Bekanntschaft gemacht; ich streifte wenigstens gebückt im Schatten seiner Mauern und habe auch wohl einen verstohlenen Griff mit dem Arm in die Tiefe seiner Gräben getan, um mir selbst das Zeugnis abzulegen, daß ich so weit vorgewesen. Aber obgleich ich nachher selbst durch seine verwüsteten Straßen marschiert bin, muß ich doch bekennen, daß mir auch von dieser Stadt gar kein Eindruck geblieben ist.
Aber der Tag, der für Troja kam, mußte auch für Philippeville kommen. Wenn es über ist, dann marschieren wir nach Paris, hieß es, und von Paris aus nach Hause. Aufrichtig gesagt, ich empfand gar keine so besondere Lust nach Paris. Unsre altdeutschen Gedanken von dem neuen Babel mochten noch vorherrschen. Daß man es auch nach diesem Kriege noch nicht zerstörte! Ich will nicht behaupten, daß ich das gerade damals noch dachte; aber Streiflichter des Gedankens mochten noch an mir vorüber spuken. Die Mehrzahl meiner Kameraden aber freute sich. Wie wollten sie da die Sieger spielen! Man verhieß sich goldene Berge. Quartier werde jeder erhalten und so und so viel Franken täglich als Siegerlohn und zu seiner Beköstigung. Zwei rohe Burschen machten schon im voraus die Rechnung, wie viel sie sogar noch aus Paris mitbringen wollten; nämlich alles bare Geld, denn ihren Wirt – den zukünftigen, ideellen – wollten sie prügeln, bis er ihnen Essen und Trinken gäbe. Ich führe dies nicht als Charakteristikum an; es waren Stimmen von einzelnen, nicht aus Barbarei und Bosheit, sondern aus Rachegefühl. Ihre Väter waren auch geprügelt worden. – Ich wollte in Paris nur einen Besuch machen, und bedaure noch heut, daß ich damals nicht hinkam; bei einer spätern Reise nach Paris lebte der edle, wunderbare Mann nicht mehr, den ja aufzusuchen ich in jedem Briefe Weisungen von Hause erhielt. Unser deutscher und mein schlesischer Landsmann, der Graf Schlabrendorf, der als Einsiedler, Sonderling, Gelehrter, Politiker, Menschenfreund und halbes Rätsel in Paris seit einem Vierteljahrhundert lebte, hatte die deutschen Freiwilligen mit ebensoviel Herzlichkeit und Gastfreundlichkeit aufgenommen, als er sonst gleichgültig gegen die Botschaften und Liebesbezeigungen aus der Heimat blieb, selbst die Briefe daher unbeantwortet lassend. Nicht seiner weltbürgerlichen oder wissenschaftlichen Bedeutung wegen sollte der Berliner Gymnasiast bei dem liebenswürdigen Greise sich vorstellen, sondern weil mein seliger Vater in Breslau mit der Schlabrendorfschen Familie und dem Grafen selbst in genauen Geschäftsverbindungen gestanden. Des Vaters sich erinnernd, dürfte er doch auch den Sohn freundlich aufnehmen, wie er alle Preußen aufgenommen, zumal seine Schlesier. Zwar würde der siebzehnjährige Schüler nichts beobachtet haben, was der Welt über den wunderbaren Mann jetzt mehr Nachricht gegeben hatte; aber für ihn selbst würde die Erinnerung eine willkommene Begleiterin durchs Leben gewesen sein.
Das Bombardement von Philippeville hatte angefangen. Ich stand gerade auf der Wache, als unter mir Rauchwolken aufstiegen. Es brannte in der Stadt. Die Wolken verbreiteten sich immer mehr, »der Himmel verfinsterte sich« steht sogar in meinem Tagebuch. Gegen Abend schlugen die hellen Flammen in die Höhe. Philippeville brannte. Ich hatte doch Ähnliches schon erlebt als Kind. Ich war einst ein Belagerter gewesen, 1806 in Breslau, und kannte alle die Schrecken und Verwüstungen, welche feindliche Bomben in einer belagerten Stadt verursachen, den Lärm der Feuerhörner, das Prasseln der Flammen, das Einstürzen der brennenden Häuser, die Not an Rettungsmitteln, die platzenden Bomben, welche die Löschenden und Flüchtenden auseinander treiben, und dazu die Schrecken der Nacht! Was ich damals passiv miterlebte, sollte ich nun aktiv erleben. Die Franzosen hatten uns mit Bomben geängstigt, wir ängstigten sie wieder mit Bomben. War nun ein Vergeltungsgefühl plötzlich in mir erwacht, daß ich das schreckenvolle Schauspiel vor mir nur schön fand? Weiter finde ich keine Bemerkung und Betrachtung darüber in meinem Tagebuche, keine Erschütterung, kein Mitleid mit den Leidenden. Waren denn die brennenden Bürger drinnen dieselben Franzosen, welche 1806 Breslau bombardierten? Es waren unschuldige Einwohner, jetzt noch dazu nicht einmal mehr Franzosen, welche mit ihrem Hab und Gut, vielleicht auch mit ihrem Leben, für den Heroismus oder das militärische Ehrgefühl bezahlen mußten, das den Gouverneur und die Garnison veranlaßte, sich nicht auf den ersten Kanonenschuß zu ergeben, wie Maubeuge und Landrecy! Und wir – wir beschossen Philippeville, um beim Friedensschluß einige Vorteile mehr in die Wagschale zu tun. Alles ging mit Rechten zu, jeder handelte nach seiner Pflicht, der Gouverneur, die Garnison, die Preußen; beide gewannen, jene den Ruhm sich tapfer gehalten zu haben, wir eine Festung, die ausgelöst werden mußte, Kanonen, Bomben und Munition; nur die Bürger drinnen gewannen nichts, sie verloren das Ihre. Sie hatten nicht Napoleon aus Elba zurückgerufen, sie, aller Vermutung nach, waren es nicht, welche ihre Garnison zu halsstarriger Ausdauer anspornten. Wer hat ihnen den Schaden ersetzt? – Ich weiß es nicht. Frankreich vermutlich nicht; denn es mußte Philippeville im Frieden abtreten. Die Niederlande? Was sollten sie einen Schaden ersetzen, den sie nicht verschuldet. Es ist nichts Unrechtes dort geschehen, nur das, was in der ganzen Welt geschieht, wo das Kriegs- und Völkerrecht gilt. Der Kleine und Unschuldige muß bezahlen, was der Große und Schuldige verbrochen.
Ich stand, wie gesagt, Wache vor unsern Baracken und sehe noch heut das brennende Philippeville zu meinen Füßen. Die übrige Szenerie ist mir indes nicht mehr ganz erinnerlich. In meinem Tagebuch aber steht geschrieben: »Es war ein herrlicher Anblick. Zur Linken Wiesen, die sich in die Tiefe verlieren; jenseits sanfte Anhöhen, die mit Dörfern untermischt, sich erheben. Vor uns, unten am Horizont die brennende Feste, und zu unsrer Rechten türmen sich die finstern Ardennen. Hinter uns aber ist das fröhliche Gewühl des Lagers, und die ganze große Landschaft in der Beleuchtung der Flamme und der untergehenden Sonne.«
Das war der Abend des 8. August 1815. Am Morgen des 9. wurden wir mit der Nachricht geweckt – nämlich wer geschlafen hatte–, Philippeville hat sich ergeben. Morgen am 10. ist große Parade, und wir marschieren mit klingendem Spiel, aber auch mit Sack und Pack in die Stadt, um – durchzumarschieren, nicht nach Paris, sondern nach Givet, der unüberwindlichen Festung, auf Felsen an der Maas gelegen, um bei Givet anzufangen, wo wir bei Philippeville aufgehört hatten.
Also diesmal grad und offen; wir wurden nicht durch Verheißungen getäuscht. Kein achttägiges Quartier, kein Wegweiser nach Paris, keine Verpflegung aus den Magazinen von Philippeville, kein Wein und nicht einmal eine doppelte Ration Branntwein. Aber uns blieb – eine Parade!
»Das war wieder ein Donnerschlag«, steht in meinem Buche.
Der 9. August des Jahres 1815 verging mit Wachsschmelzen und Kreideschaben, mit Klopfen, Bürsten, Streichen, Walken, »Fummeln«, Polieren, Schmieren. Ob wir auch gekocht haben, steht nicht notiert. Doch beigefügt ist: »Ein Milchreis hatte mich erquickt.«
Um drei Uhr weckten uns am 19. die Hörner, und der strapaziöseste Tag des ganzen Feldzugs begann, ehe noch sein Licht uns aufgegangen war. Völlig gerüstet mit Tornistern, Brotbeuteln und Kochgeschirren traten wir um vier Uhr an. Wegen der Dunkelheit wurde manche Kleinigkeit in den Baracken umsonst gesucht. Obgleich das Lager nur zwei starke Stunden von Philippeville entfernt lag, defilierten wir doch erst um neun Uhr bei Prinz August vorüber und marschierten in die Stadt. Drei volle Stunden hatten wir vor derselben mit Sack und Pack auf dem Rücken stehen müssen, bis alle Regimenter in der gehörigen Paradeordnung sich versammelt hatten. Die Stadt sah wüst und branstig aus, wie es am zweiten Tage nach einem so heftigen Bombardement und Brande zu erwarten war. Wir waren froh, als wir jenseits hinaus und wieder im Freien waren. Wie groß der Schaden gewesen, und ob viele Bürger umgekommen waren, habe ich nicht erfahren.
Der gerade Weg von Philippeville nach Givet, etwa 3 bis 4 Lieues, wäre ein kurzer Tagesmarsch gewesen; aber wir kamen von 2 Lieues weiter, mit Sack und Pack, hatten eine Parade überstanden und rückten erst gegen zehn Uhr von Philippeville aus. Und nicht unser Jäger-Detachement allein. Wenn nicht das ganze Belagerungskorps, so zogen doch wenigstens drei Viertel davon mit hinüber gen Givet. Wenn ich auf einer Höhe stand, sah ich, so weit das Auge reichte, vor mir und hinter mir Bajonette, Tschakos, Federbüsche, Büchsen, Munitions- und Bagagewagen, Roß und Mann: Jäger, Freiwillige der verschiedensten Detachements, Infanterie der Linienregimenter, Landwehr, Pioniere, Artillerie, einzelne Trupps Kavallerie. War gleich eine bestimmte Reihenfolge des Zuges angeordnet – wie ließ eine solche sich festhalten, wo alle nur eine Straße ziehen, die eng ist, wo die Züge sich stopfen, wo einige saumselig, andre ungeduldig sind? Dieser rastet erschöpft, jener benutzt den Augenblick, rasch ihm voraus zu eilen.
Eine solche militärische Völkerwanderung kann ihr Anmutiges haben, besonders in einer bergichten Gegend, und das hatte sie hier, solange unsre Kräfte reichten. Wie mancher traf hier mit Freunden zusammen, welche er lange nicht gesehen. Da nickte mir ein bekanntes Gesicht vom Pferde zu; ein Schulkamerad, den ich in Berlin verließ. Dort schrie mich einer an aus einem überfüllten Wagen; es kostete aber Mühe, ehe ich ihn unter den vielen Köpfen und Uniformen als einen Kameraden vom Marsche heraus erkannte, der von Lüttich aus zu einem andern Regimente abgezogen war. Aber als wir uns die Hände schütteln wollten, drängte sich ein andrer Zug dazwischen. Es hieß: Marsch! Beiseite! Dennoch rief der Freund immerfort meinen Namen; ich lief seitwärts, um zu ihm zu gelangen; aber jetzt ging es bergab, und Rosse und Wagen waren fort und mir aus dem Gesicht. Ich mußte unter den schon gemischten blauen und grünen Röcken mich wieder zu meinem Detachement zurecht suchen. Aber wohin war es? Es war hinter mir und vor mir. Da klopfte mir jemand auf die Schulter. Ein Freiwilliger vom ersten Pommerschen Regimente, er eilte seinem Bataillon nach; aber vorher ein Händedruck, ein paar gewechselte Freundschaftsworte. Neue kamen den Berg herauf, noch mehr seiner Freunde, nähere, vertrautere. Da mußte man sich doch umarmen, Bruderküsse, Kernworte der Freundschaft wechseln, aus dem Feldflaschen mit verkreuzten Armen trinken, mitten auf der Straße. Aber sie war für alle. Ein Train Artillerie kam an. Platz! Platz! Man wich rechts und links, und der Geschütztrain rasselte so lange vorüber, den Staub aufwirbelnd, bis die Freunde längst wieder getrennt waren. Jetzt sprengten unsre Offiziere heran, die Feldwebel riefen, die Oberjäger schrien bei Namen; es galt unser Detachement sammeln. Ermahnungen, Flüche, Bitten! Es ging nicht allein so bei unserm Detachement. Der Soldat müßte aus andern Stoffen sein, wenn bei solchen Zügen die Ordnung streng innegehalten werden sollte.
Das war das Angenehme. Es war ein Tröpfchen, das im heißen Sande versiegt. Wir trugen, wie gesagt, unser Alles auf dem Rücken. Wo wären Wagen zu requirieren gewesen, um unsre sämtlichen Tornister aufzuladen! Es war ein heißer Augusttag, es ging bergauf, bergab, die Gegenden wurden immer schöner, je mehr wir uns den Ufern der Maas näherten; aber wer konnte sie betrachten? Es war physisch unmöglich vor dem aufgewirbelten Staube. Den mußten wir noch mittragen, denn er lag fingerdick auf unsern Kleidern; wir mußten ihn schlucken, bald klebte unsre Zunge am Gaumen, und die Mittagsstunde war vorüber, der heiße Nachmittag lag brennend auf den Bergen und Tälern.
Gewisse Erinnerungen, wo die sinnlichen Eindrücke besonders stark waren, stehen mir so lebendig vor Augen, als wäre es gestern erst geschehen. Die Straße schlängelte sich einen ziemlich steilen Berg hinan. Die Luft schien mir zu brennen. Die Knie wankten und bei jedem Schritt in die Höhe wollte mich der Tornister und das Kochgeschirr rückwärts reißen. Ich durstete sehr; da half für den Augenblick die Schnapsflasche, freilich damit der Durst nachher nur um so heftiger werde. Aber ich hungerte auch. Es mochte drei Uhr nachmittags sein, und um drei Uhr am Morgen hatten wir unser spanisches Frühstück, Brot und Zwiebeln, verzehrt. Unterwegs war uns keine Schenke begegnet, nicht einmal ein Marketender war bis zu uns gedrungen. Mein Brotsack war leer. Da, Gott weiß, wie es kam, fiel mir ein Goethesches Lied ein. Ich murmelte einen Vers zwischen den knirschenden Zähnen, und nun – werden meine zartfühlenden Leserinnen vielleicht denken – verging mir über der Macht der Poesie der Hunger, der Durst und die Müdigkeit. Ganz das Gegenteil.
Ich ärgerte mich tief, ja, ich war erbost, daß ein Dichter so leichtfertig und heiter singen könne. Goethe sollte nur auf einen Augenblick an meiner Stelle sein, da würde ihm die Lust schon vergehen, mit solchen leichtfüßigen Sprüngen über die Qualen des Lebens fortzutändeln. – Ich könnte den Ort malen, wo ich das dachte, und der Gedanke gab mir nachher noch viel nachzudenken, wie ich einmal so habe denken können. Wie viele unbewachte Posten hat der geistige Mensch, wo ihn die tierische Natur überfällt! Zum Glück dauerte der Sieg derselben diesmal nicht lange. Ein Freund keuchte hinter mir herauf, dasselbe leidend wie ich, ob auch dasselbe denkend, bezweifle ich. Jetzt Professor an einer großen Universität und ein besonders im pädagogischen Fache geachteter Schriftsteller, war er von je an mehr Philosoph als Gefühlsmensch; Goethe stand ihm daher nicht so hoch, als er mir stand. Er sagte, ich möchte mich nur zur Ruhe geben, und gab mir aus seinem Brotsacke einen Kant trocken Kommißbrot. Ich feuchtete dasselbe mit dem Rest Branntwein aus meiner Flasche an, und fühlte wieder so viel Kraft, um mich bis zum nächsten Ruheplatz zu schleppen.
Der gerade Weg von Philippeville bis Givet ist, wie gesagt, nur mäßig lang; aber unser Weg ging nicht nach Givet selbst, sondern, wie wir auf dem Marsche erfuhren, in unser jenseits der Maas gelegenes Lager. Über die Örtlichkeit Givets und der damit verbundenen Felsenfesten Charlemont und Mont d'Or später das Mehrere.
Wir mußten in nördlicher Richtung von der Stadt in einem weiten Umwege einen Übergangspunkt über den Fluß suchen, um drüben, wieder in einem großen Bogen, nach unserm von der eigentlichen Stadt und Festung Givet entfernten Lagerplätze zu gelangen, indem die Felsenburg Charlemont noch dazwischen liegen blieb. Auf unserm Marsche berührten wir das Lager unsrer Truppen auf dem diesseitigen Maasufer. Es sah stattlicher aus als die Lager, welche wir uns selbst gebaut, und diese festen, goldglänzenden Strohhütten wurden schon ein Gegenstand unsres Neides. Und mehr noch, als ein Kamerad unsrer Korporalschaft von einem Bruder, der dort als Offizier stand, auf eine halbe Stunde zurückbehalten wurde. Was erzählte er uns von den Wundern der Einrichtungen in diesen Hütten! Paläste seien sie gegen die unsern. Da gab es sogar Tische, auf denen Karten gespielt wurde, Feldstühle und – am Eingange hatte ein Trinkeimer gestanden, voll – Rotwein! Unser Kamerad hatte trinken dürfen, solange er Durst hatte. Kaum hätten wir es geglaubt, wenn wir es ihm nicht angesehen, daß er noch etwas mehr getrunken.
Wir endlich fanden Wasser. Die breite Maas rauschte zwischen grauen hohen Felswänden. Ein Heer, hundertmal größer als unsres, hätte Wasser genug gefunden, um zu trinken; aber ich – war zu müde. Wir lagen, hingestreckt, wo wir haltgemacht, rücklings auf unsern Tornistern. Selbst das war für uns zu viel Mühe, sie abzustreifen; und das Flußufer war doch noch um hundert Schritte entfernt.
Wer den brennenden Durst überwinden kann aus Müdigkeit, muß sehr müde sein. Ein kleiner, untersetzter Kamerad kam mit einem vollgemessenen Kochgeschirr mit Maaswasser vorüber. Hundert Stimmen riefen ihn: »Komm her! Nur einen Schluck!« Er war mit schnippischen Reden vorübergegangen; denn wenn er jedem der Durstigen auch nur den einen Schluck gereicht, um den er bat, hätte er für seine Korporalschaft das leere Gefäß mitgebracht. Warum war er bei mir mitleidiger, warum hörte er auf meine Stimme? – Weil ich ihn bei einem Namen beschwor, der uns beiden so nahe ging; es war unser eigener Des Dichters Vatersnamen ist eigentlich Häring oder richtiger Hareng; denn die Familie stammte aus der Bretagne und verließ Frankreich nach der Aufhebung des Edikts von Nantes. Den aus dem französischen Hareng vom Großvater verdeutschten Häring verwandelten Wilhelms Kommilitonen auf der Universität in einen griechischen Alexis (alex = Hering), und bereits sein erstes Werk veröffentlichte der Dichter wie hinfort alle übrigen unter diesem Schriftstellernamen, indem er zugleich als Vornamen das klangvollere »Wilibald« wählte. . Namen sind bedeutungsvoll, schöne Namen klingen noch immer und legen ein Gewicht in die Wagschalen, wo man meinen sollte, daß nur echtes Metall den Ausschlag gebe. Namen klingen auf der aristokratischen, sie klingen aber auch auf der liberalen Seite; und wer das Unglück hat, einen zu führen, der nicht klingt, muß mehr Arbeit aufwenden als andre, um den Klang durch den Wert vergessen zu machen. Selbst ein Charles Fox, wie lange mußte er, nicht mit dem Vorurteil, aber mit dem Witz kämpfen! Denn die Partei ergreift alle Waffen, um den Gegner herabzudrücken. »Traue dem Fuchs!« riefen die Aristokraten zum Volke, und der »Fuchs« Charles Fox lief durch alle Blätter und Karikaturen Englands, um Charles Foxs Aufrichtigkeit zu verdächtigen. Was leugne ich es, daß ich einen Namen führe, der jedem Schulknaben einen Spott an die Hand gibt. Auf der Schule muß man das ertragen; in der Hochschule, dachte ich, wird es anders sein. Mitnichten. Aber in der Hochschule des Lebens denkt man an ernstere Dinge. Ich trat als Schriftsteller auf. Was war den Kritikern, die mit der Sache fertig werden wollten, willkommener als mein wahrer Name, als dieser bekannt wurde. Ich dachte, der Witz ist so wohlfeil; es kommt doch wohl die Zeit, wo sie seiner überdrüssig werden. Gewiß, sie kommt für jeden einzelnen. Aber ich vergaß, daß die Generationen sich ablösen, und das geschieht sehr schnell in Deutschland. Börne hatte sich satt gespottet in seinem Heringssalat über meine Salz- und Süßwassernamen. Da kam Menzel und fand doch noch neuen Stoff im alten Namen, und eben, sehe ich, hat auch Herwegh die eingesalzenen Heringe in seine Distichenperlen eingereiht. Wenn ein jüngeres Deutschland Herwegh und das Seinige ablösen wird, wird es mit so vielem andern auch vergessen, daß der Witz alt und verbraucht ist, und ich bin gefaßt auf eine immer neue Wiederholung dessen, was mich eigentlich niemals kränkte, aber sehr ernste Gedanken hervorrief – Gedanken über die Mächtigkeit der Glücksgüter und deren ungleiche Verteilung. So mächtig und so ungleich, daß das redlichste Streben sie nicht ausgleicht, und der liberalste Geist sich darüber hinwegzusetzen nicht imstande ist.
Nun, wenn ich um meines Namens willen gelitten habe, will ich auch nicht vergessen, daß ich einmal um meines Namens willen mit einem Trunk Wasser erquickt wurde.
Auf der Höhe vor Philippeville rief ein Adjutant des Regimentskommandeurs mit lauter Stimme ins Lager: »Jäger Häring!« Ich stand auf Wache und durfte meinen Posten nicht verlassen; auch schickte es sich nicht, aus der Ferne zu antworten. Aber ein kleiner, untersetzter Mann in Jägeruniform, den ich bis da nicht gekannt, meldete sich; er kam gerade vom Kochen und hielt einige der Apparate in der Hand, die ihm eben nicht ein sehr kriegerisches Ansehen gaben. Der Adjutant aber hielt einige Briefe in der Hand und warf flüchtige Blicke in dieselben, während er den Ankömmling musterte: »Sie heißen?« – »Häring.« – »Sind?« – »Aus Berlin.« – »Aus einer achtbaren –« murmelte der Offizier lesend und musternd und fuhr fort: »Ich soll Sie ernstlich zur Rede stellen über Ihre Nachlässigkeit. Wie können Sie Ihre würdige Familie in solchen Todesängsten lassen? Sie haben den Ihrigen keine Nachricht von Ihrem Ergehen gegeben?« – »Nein!« – »Wann schrieben Sie zum letzten Male nach Hause?« – »Gar nicht!« – »Das ist sehr unrecht. Ihre Familie beschwert sich beim Regimente, und ich weise Sie an, schleunigst die besorgten Ihrigen durch einen Brief –« Der kleine Jäger sperrte seltsam den Mund auf: »Ich soll ihm ja nicht schreiben. Vater sagte: Was! Briefe! Die kosten immer Geld – Wenn einer mal nach Haus kommt, laß uns sagen, wie's dir geht.« – »Wer ist denn Ihr Herr Vater –?« – »Schuhmachergeselle in der ... straße.« Der Adjutant warf wieder einen Blick in die Briefe und las daraus, daß er sich in einem Irrtum befand. Ich hatte inzwischen Gelegenheit gefunden, durch einen Kameraden mich als den wirklichen Häring bei ihm melden zu lassen, und es erfolgte die Explikation, von der oben die Rede war.
Seit der Zeit wußte ich von der Existenz meines Namensvetters und er von der meinigen. Ich kann nicht sagen, daß dies ein geistiges Band zwischen uns knüpfte. Aber jetzt an den Ufern der Maas ward es die Ursache, daß er mir einen vollen Trunk Wasser aus seinem Geschirr gönnte: »Weil du Häring heißt, sollst du trinken, und die andern sollen dursten.«
Etwa gegen fünf Uhr nachmittags waren wir über den Fluß gesetzt. Ein steiler Berg mußte erstiegen werden oder eigentlich ein Felsen erklettert. Die Ruhe, der Abend- und Wasserhauch hatten die erschlafften Nerven wieder etwas gekräftigt. Es war eine wahrhaft romantische Gegend, welche wir von den Höhen überschauten. Auf einige Augenblicke war ich imstande, ihre Schönheit zu genießen. Die Maas hat meines Wissens noch nicht ihre pittoresken Reisebeschreiber gefunden, mit ihren steilen, hohen, massenhaften Felsufern, mit ihren Burgen von hohem Altertum, die aber lange hineingelebt haben in die Geschichte der Gegenwart. Nur der anmutige, freilich auch sehr leichte, englische Novellist Colley Grattan liefert in seiner »Erbin von Brügge« eine malerische Schilderung dieser Maasufer und ihrer altersgrauen Felsburgen, die, noch in dem niederländischen Befreiungskriege als Festungen benutzt, bedeutende Rollen spielten. Givet oder vielmehr sein Mont d'Qr und das gegenüberliegende Charlemont sind solche Felsburgen der Maas, wo Kunst und Natur um die Wette arbeiteten, sie fest zu machen, und das Auge weiß kaum, wo unter der altersgrauen Kruste, die sich über beide gelegt, der Felsblock aufhört und das Mauerwerk anfängt. Von einer jenseitigen Höhe herab sahen wir zum erstenmal das Ziel unsrer neuen Arbeit: die Mauern, Türme und Felsen von Givet. Die Abendtinten lagerten schon auf der Gegend, die Sonnenstrahlen drangen nicht mehr ganz in die chaotischen Felsmassen, die ringsumher ausgestreut liegen. Desto deutlicher sahen wir die Zinnen der Festung und ihrer Kastelle, in vielfachen Zacken gegen den Abendhimmel abschneidend. »Das wird lange trotzen!« hieß es. »Das ist eine uneroberliche Festung!« sagten andere. Mir wurde wohl zumute: die Schimmer und Zauber des Mittelalters ruhten auf diesen Mauern. Hell glänzte die weiße Fahne auf den Türmen. Die Besatzung hatte sich inzwischen für Ludwig XVIII. erklärt. Sie verteidigte die Festung im Namen desselben gegen uns, die wir sie als Alliierte, also im Namen desselben, angriffen. Seltsame Verhältnisse, und doch nicht ohne Beispiele in der Kriegsgeschichte.
Eine wunderschöne, in der Dämmerung immer wunderbarer werdende Gegend lag zu unsern Füßen. So oft wir eine neue Höhe erstiegen, eine neue Aussicht. Einsame Täler, Schlösser, Hämmer, Meierhöfe und Dörfer aus dem Grün hervorblickend und wieder verschwindend, aus der Nacht unten bald Lichter und Feuer vorblickend; nur noch die Kuppen der Felsen waren matt vom Abendlicht angehaucht. Aber so viel wir sahen und ahnten: unsern Lagerplatz sahen wir noch nicht. Es hieß: »hinter jenem Berge!« Wir stiegen ihn hinauf und hinab; unten hieß es: »dort hinter dem andern!« Bergauf, bergab! Es ward sechs – es ward sieben – es ward acht! »Nur munter, munter, Jäger! Man hat uns eine schöne Lagerstelle abgesteckt.« Aber sie kam nicht. Meine Knie wankten; und nicht meine allein. Nüchtern, erschöpft taumelten wir; einer stieß an den andern; die steilen Berge, die wir in der Dunkelheit hinabklettern mußten, hatten unsre letzten Kräfte erschöpft. Und was wartete unser am Lagerplätze? Vielleicht ein Stoppelfeld; kein Feuer, kein Bissen Brot, kein Trunk Wasser, kein Stroh und Heu. Daran dachten wir nicht; nur Ruhe. Schon waren einige abgefallen. Sie konnten nicht weiter und warfen sich, in ihr Schicksal ergeben, in den nächsten Graben, in das nächste Kornfeld. Ich wollte noch mutig sein.
Da schlug eine Glocke, nicht allzufern, neun Uhr. Ein Gerücht verbreitete sich: »das Lager ist noch drei Stunden entfernt!« Das war zu viel. Der Unmut wurde laut. Wer sah in der Dunkelheit die Schreier.
Eine Art Emeute brach aus. Gegen wen wußten wir nicht eigentlich, noch was wir wollten. Man schrie, lärmte, schimpfte und sang Spottlieder. Plötzlich sprengte ein Adjutant durch die Reihen: »Sind Sie rasend, Jäger! Stille! Um des Himmels willen stille! Wir marschieren innerhalb Kartätschenschußweite vor den feindlichen Schanzen! Wer noch ein lautes Wort –« Er sprengte weiter. Es war keine leere Drohung. Um unsern Weg abzukürzen, hatte man, der Dunkelheit vertrauend, uns über die Chaussee geführt, welche von den feindlichen Kugeln bestrichen wurde. Ich glaube gehört zu haben, daß diese Anordnung spater gerügt wurde. Aber die Batterien eröffneten glücklicherweise kein Feuer; ein Feuer, das in unsern dichtgedrängten Massen furchtbar würde gewütet haben.
Es ward tief stille. Auch um deswillen, weil unser immer weniger wurden. Rechts und links ab schlich einer, zwei, drei, und warf sich hin. Es gab kein Mittel, sie zu hindern. Die Kommandierenden waren zufrieden, nur ein letztes Häuflein an ihren Bestimmungsort zu bringen.
Ich gelangte nicht mehr dahin. In einem verwüsteten, ehemaligen Kloster, das ich späterhin sehr genau kennen lernen sollte, stand ein äußerster Vorposten, wenigstens des Nachts hindurch. Er war diesmal von Magdeburger Landwehr besetzt. Es waren gutmütige Leute; ein verstecktes Feuer brannte hinter einer Mauer. Auch sie ermahnten uns zur größten Stille und Vorsicht, denn es sei in der Festung nicht richtig; aber sie boten uns freundlich ein Nachtlager an. Wieviel von uns dort zurückblieben und wer, das weiß ich nicht mehr. Nur das weiß ich, ich war darunter. Ich sank an der Mauer nieder, die Besinnung war mir vergangen. Nach einer Weile weckte mich ein Landwehrmann. Er führte mich in eine zerstörte Halle, wo sie Heu für uns geschüttet hatten. Im großen Kamine prasselte ein Feuer, und einige meiner Kameraden kochten. Der Landwehrmann bot auch mir von seinem Mehl an. Ich war viel zu müde zum Kochen, vielleicht auch zum Essen. Ich lechzte nur nach einem Trunke. Er führte mich durch eine Seitenpforte in den Garten. Ein Wasserbassin war mit hohen Bäumen umstanden. Ich wollte mich am Rande niederwerfen, er hielt mich aber am Arm und sagte, das Wasser sei grün, und zeigte auf eine Fontäne, die in der Mitte des Bassins plätscherte. Auf einem übergelegten Brette kroch ich dahin und trank und füllte meine Flasche. Wie gern hätte ich auf dem kühlen Brette geschlafen. Die Fontäne plauderte so verführerisch. Aber er zog mich zurück. Auf meinem Heulager war ich bald fest eingeschlafen; die prasselnden Flammen und das Plätschern der Fontäne hörte ich noch lange im Schlaf.
Ich höre die Fontäne noch jetzt. Vierzehn Jahre später, im Jahre 1829, habe ich sie, bei einer Reise nach Frankreich, wieder aufgesucht, und noch einmal von dem Wasser getrunken, welches mir damals wie ein Lebensquell erschien. Sie plätscherte noch, aber sehr dürftig. Das Bassin umher war ein grüner Sumpf geworden, auf dem Enten schwammen.
Eine Stunde vor Mitternacht ungefähr war ich hier umgesunken. Um drei Uhr morgens wurden wir geweckt. Die Landwehr zog von dem Vorposten ab, und wir machten uns auf den Weg nach unserm Lager.
Sinnliche Eindrücke, in der frühen Jugend empfangen, leben bekanntlich bis ins Alter in wunderbarer Frische und Deutlichkeit fort, während die Erlebnisse der reifern Jahre, die der Verstand auffassen half, dagegen zurücktreten, oft ebenso wunderbar schnell verschwinden. Aus meinem Lagerleben in den Ardennen sehe ich Szenen, Menschen, Gegenden so anschaulich vor mir, ich höre den Ton der Stimmen, ich sehe die Flammen der Wachtfeuer, die Schlagschatten der Sonne, als wären nicht dreißig Jahre vergangen, sondern es wären Begebenheiten von eheletzt. Und doch, welche Täuschungen in bezug auf Raum und Maß, auf Zeit und Ort, impfen sich grade durch diese Jugendeindrücke in uns ein, denen wir später schwer entsagen, und wenn wir die Wirklichkeit mit den Augen des Mannes wiedersehen, finden wir uns unangenehm berührt. Die Pracht, die uns entzückte, erscheint dürftig, die Räume, die Entfernungen, die uns so weit dünkten, rücken zusammen; auch der Schönheitssinn ändert sich, und der Duft, der die Gegenstände umgab, ist verschwunden. Das ist der natürliche Prozeß des Altwerdens, es ist der des ganzen Menschengeschlechts, der Welt selbst; nur werden die Dinge nicht anders, wir selbst sind andre geworben.
Töricht, darüber zu klagen! Selbst der Dichtung mögen wir nicht mehr gern dieses elegische Recht zugestehen; sie hat andre Aufgaben, Anweisungen auf die Zukunft, erhalten. Aber freuen mögen wir uns doch, wenn wir uns frei von diesem Prozeß erhielten. Einmal ist es mir gelungen. Ich sah später als Reisender die Gegenden wieder, die wunderbare Eindrücke auf den noch halben Knaben zurückgelassen, und fand mich nicht enttäuscht.
Der Name der Ardennen hatte zur romantischen Zeit einen wunderbaren Klang. Ich weiß nicht, ob jetzt noch; man gibt ja nicht viel auf Klänge. Es war nicht gerade der »Eber der Ardennen« Den »wilden Eber der Ardennen« nennt Walter Scott in seinem bekannten Romane »Quentin Durward« (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 1106–10) den Grafen Wilhelm von der Mark, den Führer einer zügellosen Soldateska. – In Shakespeares »Wie es Euch gefällt« ist der Ardennenwald der Inbegriff eines Märchenwaldes. Die Verirrten Liebespaare begegnen darin Löwen und wandeln unter Palmen. , den man 1815 noch nicht kannte, noch waren es Shakespeares phantastische Liebespaare, in ihren Schluchten verirrt, aber es war der dunkle, unheimliche Wald, der Deutschland von Frankreich schied. Ich habe Tage, Wochen, Monde in ihm verlebt, die ich stets zu den denkwürdigsten in meinem Leben rechnen muß, eben weil es damit anfing, zu einem Bewußtsein überzugehen, wenn auch die Begebenheiten selbst an und für sich nicht mehr und nicht weniger waren, als was tausend andern damals auch begegnet ist. So schauerlich düster wie ihr Name sind die Ardennen nicht. In den Schluchten, wo die Eber und die Raubtiere gehaust, ist es dunkel, wenn es regnet, und hell, wenn die Sonne scheint. Frisches und dunkles Grün aus den geklüfteten Bergen, auch gelb und rot der Laubwald, wenn der Herbst ihn ansprenkelt, und so habe ich ihn durch alle Schattierungen dieser Farben gesehen. Ich streifte durch melancholisch düstere Gegenden; aber andre mögen desselben Weges gegangen sein, und ihnen sind sie heiter und lieblich erschienen: die Frühlingssonne schien durch die Buchen, als sie ins Tal gingen. Als ich bergan stieg, streifte ein kalter Oktoberwind durch die feuchten Nebel. Sie brachten die Luftigkeit mit in die Ardennen, ich eine Stimmung, die in einer gewissen Jugendzeit sehr beliebt ist, nur zu jeder Zeit in andern Formen. Man kokettierte damals weder mit dem trotzigen Selbstbewußtsein noch mit der Zerrissenheit und Verzweiflung, aber mit einer süßsauren Wehmut. Es waren noch die Nachläufer der Ossianischen Periode Der schottliche Dichter James Macpherson hatte 1785 unter dem Namen des sagenhaften gälischen Barden Ossian eine Sammlung von Dichtungen veröffentlicht, »sentimentale Heldenpoesie« (mit Scherer zu reden), »die bei dem empfindsamen und kriegerisch gestimmten Dichtergeschlechte« des Deutschlands jener Tage »rauschenden Beifall fand«. Musikalische Leser seien an des Dänen Niels W. Gade feierliche Overtüre »Nachklänge aus Ossian« erinnert. .
Und dazu paßten die Ardennen, wie ich sie kennen gelernt; diese schroffen Felsufer, diese tiefen Klüfte, das rieselnde Regenwetter, ein beschwerliches Wanderleben des Krieges ohne Krieg und Frieden, die Ungewißheit unsrer Bestimmung. Auch die Einsamkeit. Es war hier und ist jetzt gewiß auch viel Leben, nur nicht das, was wir poetisch nennen; aber die Hämmer und Eisenwerke und Mühlräder standen großenteils während der Invasion und der Belagerung der Festungen still.
Aber ein Waldgebirge kann keinen ganz düstern, menschenfeindlichen Eindruck hervorbringen, wenn ein großer lebendiger Fluß es durchströmt. Die Maasufer sind schön mit ihren grau, starr anstrebenden Felskuppen, von Wald gekrönt, von Buschwerk durchschlungen; und in den Biegungen, eingeklemmt zwischen Felswand und Fluß, liebliche Dörfer, altertümliche Städte, Landhäuser und Schlösser. Die verwitterten Burgen des Rheins sah ich freilich nicht auf den Felskuppen über den Fluß ragen. Aber wo sich die Ufer erweiterten, blickte uns manches altehrwürdige Feudalschloß an; es hatte mit der Zeit fortgelebt, wie der belgische Adel, der durch so viele furchtbare Gewitterstürme sich leidlich wohl in der Anerkennung des Volkes erhalten hat. Man renovierte dies und jenes, man fügte sich in das Unvermeidliche, und die Stürme gingen über die stolzen Häupter vorüber, die sich etwas niedergeduckt, um sich desto stolzer wieder aufzurichten. Daher wurden auch ihre Schlösser keine Ruinen.
Am erhabensten erweitern sich die Maasufer bei der Grenzfestung Givet mit ihren Felsenkastellen zu beiden Seiten des Flusses, dem Charlemont links und rechts dem Mont d'Or. Es war ein entzückender Anblick, diese malerisch aufeinander getürmten Felsmassen, zu beiden Seiten des hellen Wasserspiegels, und auf ihrer Höhe die alten, verwitterten, moosbedeckten Mauern. Ich wünschte, wenn ich abends auf einer Höhe stand, ein Maler zu sein, um das Schauspiel zu fesseln: wenn die Felsen violett sich färbten, die Bergspitzen, Türme und Zinnen in Goldrot glühten, die starren Linien der Felsmassen in die blühende Landschaft ihre Schlagschatten warfen, und die Maas silberhell aus der Tiefe heraufschimmerte. Dieser Eindruck blieb durch lange Jahre in mir lebendig; aber ich sagte mir doch, daß ich mich getäuscht finden würde, wenn der Zufall mich wieder herführen sollte. Ich habe damals mit den Augen eines Knaben gesehen, und die Felsen, die Mauern, die Stadt zu Füßen mit ihrer Brücke, würden mir dann klein, die Landschaft gewöhnlich vorkommen. Vierzehn Jahre später, als ich auf der Rückkehr von Paris Givet und die Umgegend wieder aufsuchte und einen Tag darauf verwandte, den Ort, wo unser Lager gestanden, die Vorposten, die verschlungenen Gänge, auf denen unsre Patrouillen streiften, wieder aufzusuchen, fand ich indes alles wieder; mancher lange Weg war freilich jetzt kurz geworden, weil man nicht mehr Krümmungen und Schluchten zu suchen brauchte, die vor den Augen der Wachtposten auf den Wällen Schutz boten, weil man über bequeme Brücken gehen konnte, wo wir über Bäche sprangen. Aber der Totaleindruck war hinreißend, überraschend. Ein majestätisches, weit ausgebreitetes Fels-, Wald- und Flußtheater, mit allem Licht, mit aller Dunkelheit und allen Tinten, die beide verschmolzen, und zum Schmuck des landschaftlichen Charakters die behaglich eingeschachtelte Stadt in der Tiefe und oben, wie damals, unerweitert, unverändert, die verwitterten graubraunen Mauern. Aber die Werke von Menschenhand bleiben doch nur kleine Aufsätze auf dem großen, schönen Naturcharakter.
So der Eindruck vierzehn Jahre nachher. Seitdem sind wieder sechzehn Jahre verstrichen; wer bürgt mir dafür, daß nun nicht auch Veränderungen vorgingen, nicht an den Ufern der Maas, jenes entfernten Winkels, wo kaum ein Reisender hin sich verirrt – aber in mir selbst? Verbürgt mir, daß ich mich nicht jetzt wieder verwundern würde, wie ich zweimal eine Gegend so schön und reizend habe finden können, die den Vergleich mit zu vielen andern Gegenden, die ich seitdem besucht, nicht aushält?
Was ich gelitten, was ich entbehrt, ausgestanden habe mitten in diesem romantischen Irrgarten von Felsen, Schluchten, Wäldern, Giesbächen und Ruinen: das ist die Errungenschaft, die im Alter bleibt. Wenn ich auch wieder auf die Felsspitze träte, die über die Maas gebeugt ist, und vergebens das Abendrot beschwörte, den Zauber von damals über die Gegend auszubreiten, wenn ein grauer Nebel der Gewöhnlichkeit sich darüber hinlagerte – Blitze würden doch hindurch zucken, die nur Szenen, Momente zeigten, bei denen die Seele auflacht. Es war ja die erste Romantik der Jugend! Ich sehe vor mir dieses Lagerleben mit seinen Entbehrungen und Freuden, mit seiner Strenge und Freiheit, mit seinem bunten Wechsel und seiner Monotonie. Ich höre einen bangen Seufzer einer halb kindischen Verzweiflung über die Beschwerden, das geisttötende Einerlei, über die trübe Aussicht, weil unsre Fernsicht nicht über das Nächste hinausging. Und ich höre auch die ausgelassenen Laute der Freude über Dinge, Schauspiele, Überraschungen, von denen ich heute nicht begreife, wie einer sich darüber so ungemein freuen konnte. Ein vollständig organisiertes Lagerleben war es, dürftig, wie die Umstände es mit sich führten, voller Wechsel und Strapazen, da der Dienst überaus beschwerlich war, und doch so bewegt, so reich an Erscheinungen und so dauernd, so unendlich lange dauernd und langweilig, daß wir uns der kindischen Furcht hingeben konnten, es werde immer dauern. Wir maßen nicht nach Ellen, wir maßen nach Spannen. Ich habe schon so viel von dem Kleinleben in Feldlagern erzählt, daß ich Wiederholungen fürchten muß, wenn ich auch das von Givet schildere; und doch waren es nur flüchtige Vorläufer einer wirklichen Existenz. Das Federstäubchen im Sonnenschein hat für den Wert, der einmal im Sonnenschein lag und seinen zitternden Flug mit seinen Gedankenspielen verfolgte. Ich will nicht alle diese Stäubchen sammeln, nur einzelne Momente, besonders helle, besonders dunkle; wer über meinen Sammlerfleiß lächelt, eile darüber hinweg, ich weiß doch viele, die mir gern folgen.
Die starren Felsmassen des Mont d'Or auf dem rechten Maasufer werden von niedrigen Höhen und Felsen durch eine Schlucht getrennt, die jetzt nur ein kleiner Bach durchsickert, welcher sein spärliches Wasser dem Flusse zuführt. Er war dicht umwuchert von Eichen, Birken und wildem Gesträuch; aber mehr als die Vegetation mochten unsre Schöpfeimer, unsre Pferde und unsre Wäschereien an seinem Wasser zehren. Die Forelle, wenn es dergleichen gegeben, hätte nicht mehr Spielraum gefunden, kein Bette tief genug, um bis zu den Quellen zu springen. Stellenweis schien der Bach in den Abendstunden gänzlich erschöpft, und man stürzte des Morgens hinzu, um unter den Ersten zu sein, welche von der angesammelten frischen Nachtflut schöpften. Der kleine Bach mußte ein großes Belagerungsheer versorgen! Er windet sich durch die Felsmassen in vielen Krümmungen hier an nackten Wänden hin, dort hat er fruchtbares Erdreich weithin ausgespült, und in einem solchen Felskessel war das Hauptlager auf diesem Maasufer aufgeschlagen. Die Schlucht lernten wir durch das Gefühl mehr als durch das Gesicht kennen; sie war der nächste Weg nach unsern Vorposten, konnte aber mit Sicherheit nur im Dunkel passiert werden. Ließen die Vorposten sich am Tage überraschen, oder sollte die Ablösung und Verstärkung früh ausrücken, so mußten wir einen vielstündigen Umweg durch die zerrissenen Gebirge machen.
Auf diesem Schluchtwege erreichten die Maroden, welche in der Nacht auf dem gastlichen Landwehrposten, den ich weiter oben schilderte, zurückgeblieben waren, am frühen Morgen das Lager. Der Anblick war nicht tröstlich. Im düstern Felsenkessel auf einer bruchigen Wiese lagen unsre Kameraden hingestreckt. Selbst die Wachtposten schienen, die Büchse im Arm, schlaftrunken zu taumeln; es war der Anstrengung auf dem vorigen Tagesmarsche zu viel gewesen. Ein feiner Staubregen rieselte auf die im Freien Schlafenden nieder. Die Dünste der Brüche stiegen aus, die Wachtfeuer flackerten nur noch, ohne Wärme zu verbreiten. Ich erinnere mich, daß am Abende dieses Tages die Geisteskräfte eines unsrer Kameraden dem Andrang physischer Widerwärtigkeiten erlagen. Er hatte den Tag über stumm vor sich hingebrütet; am Abende gab er wunderliche Töne, zwischen Lachen und Weinen, von sich, und wollte mit lautem Aufschrei plötzlich ins Feuer springen. Der Unglückliche wurde als geistesverwirrt ins Lazarett gebracht. Der großen, täglichen Anstrengung, der Bewegung in der freien Bergluft verdankten wir, daß der ungesunde Aufenthalt in diesem Felstal nicht schädlicher auf unsre jugendlichen Konstitutionen eingewirkt hatte.
Der drei-, vierstündige Schlaf auf dem Vorposten hatte uns nach dem vortägigen Marsche unsre Kräfte nicht zurückgegeben. Wir sanken ohne Gruß und Bewillkommnung neben unsre Kameraden hin und träumten wahrscheinlich vom Schlaf, als das Horn schmetterte, und man uns gewaltsam weckte. Es war kein Feind da; aber die im Kriege so nötige ökonomische Sorge durfte unser Lager uns nicht gönnen.
Es war von den zuerst Angekommenen schnell requiriertes Heu. Heu ziemte sich für Pferde, nicht für Menschen. Wir mußten nicht allein selbst aufstehen, sondern das Heu zusammenraffen, binden und nach den Böden zurücktragen, für – eine Anweisung auf Stroh, welches aber so spärlich ankam, daß wir auch vor Givet einige Tage in Hütten ohne Obdach liegen mußten, und vom Himmel goß es drei Tage lang.
Aber auch zu Hütten, wie unsre, gehören Pfosten, Sparren, Stäbe. Von Latten, Brettern, Holz war nichts geliefert. Man wies uns auf die Felsen umher. Dort holt euch, was ihr braucht. Steile Felsen, achtzig bis hundert Fuß hoch, vielleicht auch noch höher, mußten wir hinanklettern, um mit unsern Hirschfängern in einem jungen Walde unsern Bedarf zu schlagen, Unsre Vorgänger hatten bereits die besten Stämme, wahrscheinlich auch mit bessern Werkzeugen, gefällt; uns blieb der junge, krüppelichte Aufwuchs, der unsre Klingen schartig machte und unsre Hütten krumm und schief. Wir waren darauf angewiesen, den Robinson noch einmal praktisch zu studieren. Wäre es nur mit der sauern Arbeit getan gewesen; aber nachdem das Bauholz notdürftig gefällt war, waren wir genötigt, uns auf demselben Wege Tag um Tag auch unser Brennholz zu holen. Der mächtigste Zwang war da – der Hunger.
Stroh, Holz, ein Obdach und selbst die Lebensmittel fehlten in den ersten Tagen. Da erinnerte ich mich eines Schatzes, den ich von Berlin in meinem Tornister unberührt bis an die Ufer der Maas getragen, und er erquickte mich und einige Kameraden: ein Stück Tafelbouillon, welches uns eine kräftige Brühe und – Mut für das Weitere gab. Ob ich durch diese frühen Strapazen den Kern zu einer spätern Gesundheit legte, lass' ich dahingestellt; aber die Schule war in andrer Beziehung von Segen. Den Mut, der aus dem Geringfügigsten wieder erwächst, der, nach der tiefsten Niedergeschlagenheit, die Nerven wieder stählt und die ganze, lange Plage hinter uns, unter der der Geist zu erliegen drohte, im Augenblick vergessen macht, möchte ich aus dieser frühen und ungewohnten Lebensschule herschreiben. Im übrigen machte sich das Feldlager mit der Zeit erträglicher. Zwar hatte ich das Unglück, zu einer Korporalschaft zu gehören, welche wenig oder gar keine architektonischen Studien gemacht hatte – ein Fehler, den ich in späteren Lebensjahren wieder zu meinem Schaden gutzumachen suchte – und unsre Hütte war und blieb die schlechteste und unbequemste; aber außerhalb der Hütte ward es bunt und lustig im Lager, und mancher Komfort, an dem man am wenigsten denken sollen, stellte sich unerwartet ein. Hatte der Regen durch unser Dach einen Eingang gefunden oder, was schlimmer war, kam er von den höher gelegenen Teilen des Lagers und fand von unten einen Eingang, unser Lagerstroh durchnässend, so brannten dafür hundert Feuer im Lager, um sich daran am Morgen zu wärmen. Aus allen vier Winden waren Marketender gekommen, deutsche und französische, und hatten ihre Buden aufgeschlagen. Ich fand es bequemer, in einer derselben meinen Kaffee zu trinken, als Holz vom Felsen zu holen, Wasser vom Brunnen und eine Stunde lang eine Suppe zu kochen. Hier gab es Unterhaltung, etwas von Politik, etwas von Ästhetik, selbst ein Blatt der »Vossischen Zeitung« hatte sich dahin verirrt. Eines Morgens fand ich unter denjenigen meiner Kameraden, über deren ästhetisch-theatralische Bildung ich gesprochen, eine allgemeine Betrübnis. »Tot! Auch sie tot!« – »Wer?« – »Die Nethmann-Unzelmann.« Friederike Nethmann-Unzelmann wirkte seit 1788 am Berliner Haftheater. Sie war eine Künstlerin von »unendlicher Feinheit und Anmut im Spiel«, charakterisiert sie Alexis einmal an andrer Stelle. Die Nachricht lief durch unsre Reihen. Wer hatte nicht wenigstens ihren berühmten Namen gehört? Diesen Zoll der Teilnahme aus einer düstern Ardennenschlucht hatten ihre Verehrer in Berlin schwerlich erwartet.
Aber wichtiger war die Nachricht, die wenigstens in jeder Woche einmal auftauchte: es ist Order gekommen, wir marschieren nach Paris. Paris war genügend besetzt; hier bedurfte man unser. Es war nur die Sehnsucht, aus unsrer drückenden Lage loszukommen, ein Wunsch, der zum Gerücht so leicht sich gestaltet. Daß er fehlschlug, daran waren wir gewöhnt, wir erwarteten es nicht anders. Aber diese immer von neuem auftauchende Hoffnung gehörte dazu, uns mit unserm Lose zu versöhnen.
Ich könnte mich verlieren in die Robinsonaden unsres Küchenlebens. Dort habe ich Studien gemacht, ohne Magdeburger, ohne Scheibelsches Kochbuch: wie man das Fleisch sanft aufwallen läßt, wie man vor dem Überkochen sich wahrt, wie man abschäumt, in welchen Momenten man Wasser zugießt, um das Einkochen zu verhindern, wie man das Feuer in sanfter Glut erhält, nicht zu schwach, nicht zu stark. Fleisch, Salz, Mehl, Reis, Speck, Erbsen fanden sich bald in der nötigsten Fülle ein, und Milch, Eier, Butter, Zucker kamen als Handelsartikel auf den Markt. Es war die Übergangsperiode im Jünglingsleben, wo man den Wert des Fleisches schätzen und es den Milch- und Mehlspeisen vorziehen lernt. An ernsten Ermahnungen ließen es einige Kameraden nicht fehlen: »Milchspeisen kitzeln nur den Gaumen, geben aber nicht Kraft und Saft, um die Strapazen zu ertragen; das Fleisch, wenn es dir auch nicht schmeckt, verschafft dir die Kraft, das zu ertragen, was dir unerträglich dünkt.« – Und ich fügte mich und erkannte die Bedeutung des Fleisches. Selbst Beefsteak muß ich, ohne den damals in Deutschland kaum gekannten Namen zu wissen, zubereiten gelernt haben; denn in meinem Tagebuch steht: »Auch brieten wir Rindfleisch, ohne es vorher gekocht zu haben, in unsern Feldgeschirren.« Als wesentliches Ingrediens kommt dabei die Zwiebel vor.
An wahrhaft kräftiger Speise fehlte es also nicht, um die Anstrengungen des Dienstes zu überstehen; aber – so ist der Mensch – plötzlich, im Vollgenuß der nötigsten und besten, stieg die Sehnsucht in mir und meinen Reisekameraden nach einem heimatlichen, nach einem idyllischen Gerichte der guten alten deutschen Zeit auf, nach – Birnen und Klößen. Birnen und Klöße in Frankreich zu essen, welches nicht einmal den Namen dieser gemütlichen Speise kannte, war doch ein entzückender Gedanke! Klöße konnten wir täglich bereiten und taten es. Dazu bedurfte es, nach unsrer damaligen Ansicht, nur des Mehles und der Butter, die man gehörig gemischt, in kochendes Wasser oder in die kochende Fleischbrühe warf. Auf dem Erfahrungswege – denn, wie gesagt, bei unsrer Koch- wie bei unsrer Baukunst hatten wir mit der Theorie nichts zu schaffen – hatten wir die Entdeckung gemacht, daß das Mehl im Wasser quillt, und beim ersten Versuche zu unserm Erstaunen gesehen, daß die hineingeworfene Masse sich weit über das Niveau des Kessels erhob. Wir waren keine Geologen und Mineralogen, um etwa daraus Schlüsse auf die Hebungstheorie der Berge zu ziehen; aber den Schluß zogen wir doch, daß man weniger Mehl brauche, um viel Klöße zu erzielen, was für uns von großem praktischem Wert war. Aber die Birnen, das Backobst, fehlte und war im Lager nicht zu beschaffen. Wir wollten nun einmal Birnen und Klöße essen, koste es, was es wolle, und sahen uns nach einem Surrogat für die ersteren um. Einige Kameraden hatten uns von der Fülle von Brombeeren erzählt, die sie bei einem Streifzuge in einer entfernten Gebirgsschlucht angetroffen. Die Brombeeren hatten für mich einen großen Wert, erstens, weil ich sie gern aß, und zweitens Falstaffs wegen, den ich schon kannte; aber noch hatte ich sie nirgend in der Fülle angetroffen, wie sie zu Falstaffs Zeit in England gewachsen sein müssen, daß er »Gründe« für »so gemein wie Brombeeren« erklären konnte. Wir gingen die französischen Marktleute an, Brombeeren zu pflücken und zu Markt zu bringen. Sie lachten uns aber geradezu aus; die seien zu schlecht und wertlos, um sich die Mühe ihretwegen zu nehmen. Dadurch stieg unser Verlangen nur um so mehr.
Die Schlucht war entfernt, in einem abgelegenen Teile des Gebirgs. Urlaub zu erhalten, daran war in der Zeit nicht zu denken, am wenigsten, wenn wir unsern Grund angaben. Aber das Verlangen, die Sehnsucht, stieg mit jedem Tage. Wieder war einer von einem Streifzuge zurückgekommen, es war ein heißer Tag gewesen, und er konnte uns nicht genug erzählen, wie er seinen Durst in den Brombeeren der Zauberschlucht gelöscht. So dick standen sie, daß man sie mit den Händen abstreifen könne. Nun war nicht länger zu widerstehen. Wir hatten an dem Tage keinen Dienst, erst am Abend war Appell. Bis dahin, wenn wir uns früh auf den Weg machten, mußten wir zurück sein; gute Freunde versprachen, für Ausreden zu sorgen, wenn inzwischen etwas vorfiele. Wir konnten nach Holz uns in die Berge verstiegen haben, auch zur Wäsche ausgegangen sein. Denn auch dies Geschäft erlernten wir in diesem Lager. Man warf sein Hemde in den Bach, rieb es etwas mit den Händen, auch mit Sand und Erde, warf es dann wieder hinein, ließ es von den Wellen lustig aufschwellen in allerhand lustigen Gestalten, zog es dann heraus und rang es mit einem Kameraden aus. Dann ward es auf einen Strauch gehängt, und wenn es trocken war, hieß es gewaschen. Das machte allerdings einige Mühe, aber auch einigen Spaß, und als Resultat fand ich, daß die Wäsche, welche die Marketenderinnen besorgten, nicht viel besser ausfiel. Doch vergaß ich, zu sagen, daß wir zuweilen uns auch dem Luxus hingaben, unsre Wäsche zu bügeln. Der Hirschfänger ward über dem Feuer warm angehaucht, und dann strichen wir über die Leinwand damit. Wenn solches die Wäsche auch nicht gerade weiß und glatt machte, so befreite es diese doch von manchem Zuviel, dessen Schilderung ich den zarten Leserinnen ersparen will – was indessen von einem dreimonatigen Lagerleben, in Strohhütten und in dieser Gesellschaft unzertrennlich ist. Im »Simplizissimus« dem berühmten Grimmelshausenschen Romane aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. (Univ.-Bibl. Nr. 761 – 765.) finden wir eine andre Operation verzeichnet, durch welche eine freundliche Bauersfrau den Helden des Namens von diesem Übel befreite. Sie warf seine ganze Kleidung in einem Bündel in den Backofen; es knisterte etwas, und in weniger als drei Minuten erhielt er seine vollständig gereinigte Wäsche zurück. Uns fehlte es an solchen Backöfen; sonst hat sich darin seit dem Dreißigjährigen Kriege nichts geändert. Jeder Krieg hat seine traurigen Begleiter, und diese lebendigen sind nicht die schlimmsten.
Im Morgennebel schlichen wir uns, das Kochgeschirr unterm Mantel, über die Berge. Die Sonne ging aus, es ward ein herrlicher Tag. Der Weg war lang, und es ward ein heißer Tag. Wir erreichten gerade zur rechten Zeit die Schlucht, nicht um uns an der Schönheit der Lage zu freuen, sondern um unsern Durst an den Brombeeren zu stillen. Die Beschreibung war keine lügnerische gewesen. Die Bergränder starrten von schwarzglänzenden Traubenbüscheln. Wir fuhren, wir wühlten hinein. Das Kochgeschirr war in kurzer Zeit gefüllt, um in noch kürzerer wieder geleert zu sein. Wir warfen uns in die Sträucher, um zu ruhen, und ruhten, um nur wieder aufzustehen und uns aufs neue an die Arbeit zu machen. Die geritzten Hände und Gesichter, die aufgeschlitzten Kleider wurden nicht geachtet. Endlich war es genug; unser Durst war gestillt, unser Geschirr wieder gefüllt, die Sonne brannte nicht mehr auf unsern Scheitel, sie senkte sich schon gegen die Berggipfel, und wir traten unsern Rückweg an. Aber unsre Zeitrechnung war unrichtig. Die Sonne senkte sich immer tiefer, und wie wir auch eilten, wir erreichten nicht mehr zur Appellzeit das Lager. Unsre Angst war nicht gering; denn durften wir auch nicht besorgen, als Deserteure vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden, so war es doch höchst unangenehm, um einen Kessel voll Brombeeren in Arrest geschickt zu werden oder auch nur nachexerzieren zu müssen, unbeschadet des Hohngelächters unsrer Kameraden. Und hatten wir denn wirklich einen Kessel mit Brombeeren erobert? Der Rückweg war auch heiß und lang, und die Angst und Eil' machte uns noch durstiger. Wir mußten uns immer wieder erfrischen und brachten höchstens die Hälfte unsrer letzten Sammlung ins Lager.
Der Appell war vorüber; aber zwei Kameraden waren so freundlich gewesen, beim Namensaufruf mit verstellter Stimme für uns zu antworten, und der Feldwebel noch freundlicher, in das rieselnde Gelächter mit einzustimmen und schnell zu andern Namen überzugehen. Wie hätten wir auch bei hellem Tageslicht vor der Front erscheinen sollen; mit zerfetzten Gesichtern und vom Blut der Brombeeren rot gefärbt! Aber das Gericht Birnen und Klöße ward doch am folgenden Tage gekocht; denn die Erfahrung, daß die Klöße schwellen, also viel Raum einnehmen, führte uns auf den Schluß, daß der Kessel nicht ganz mit Brombeeren gefüllt sein durfte, um Platz für jene zu gewinnen. Eine andre Erfahrung, die wir machten, war, daß Brombeeren nicht Birnen sind. Sie zergingen beim Prozeß des Kochens und lieferten nur eine blaue Sauce, in welcher die Klöße, wenn auch nicht einen besondern Geschmack, doch eine besondere, interessante Färbung annahmen. Ich und mein Kamerad glaubten doch unser Ziel erreicht zu haben, wir hatten ein Gericht Birnen und Klöße uns verschafft. Mein Kamerad wird diese Erinnerung an jenes Abenteuer schwerlich lesen. Er war Theolog und verfiel nach dem Feldzuge in jene dumpfe Untätigkeit, der sich leider, wie ich früher erzählte, so mancher Freiwillige später ergab. Man hielt ihn für einen verkommenen Menschen. Ein andrer Kamerad, der später in eine glückliche, geehrte Lage versetzt wurde, nahm sich seiner in der humansten Weise an. Er führte lange Zeit ein anscheinend bewußtloses Bienenleben. Verschlossen, karg in Worten, arbeitete er, was man Bästeln in Schlesien nennt. Er liebte, schnitt, ordnete in den Sammlungen, die man ihm übertrug, willig, folgsam jeder Weisung, ohne daß man einen Funken von eigenem Willen, von selbstschaffender Tätigkeit durch lange Jahre in ihm entdeckte. Da plötzlich erklärte er, es dulde ihn länger nicht in diesem Dasein: der Geist sei erwacht, er müsse den Heiden predigen und das Heil verkünden. Mit wunderbarem Ernste warf er sich in seinem vierzigsten Jahre wieder auf die Theologie und ist in diesem Augenblicke als Missionsprediger in Amerika tätig und geachtet.
Trotz der anscheinenden Größe des Belagerungskorps war der Dienst doch schwer. An jedem dritten Tage ward auf Vorposten gezogen. Der romantische Sinn fand dabei volle Befriedigung, wenn wir in weiten Umwegen und in Totenstille über Berg und Tal, Klipp auf, Klipp ab, auf Posten zogen. Bei den Abwechselungen, den Anweisungen ward nur geflüstert, wir standen immer in Schußweite vom Feinde. Dann die Patrouillen, die sich bis an die äußern Schanzen der Grenzen schleichen mußten, den Hahn gespannt, den Atem angehalten; die verlornen Posten hinter einem Felsen, einem Busche; wenn viel uns fehlte – an Interessantem fehlte es nicht. Hier lagen wir in einem zerstörten Kloster, das Wachtfeuer brannte in der Mitte eines Refektoriums, und dem Rauch stand frei, ob er durch die Fenster, die Türen oder die Mauerspalten den Ausweg suchen wollte. Dort in einem zerstörten Landhause mit zierlichem Garten, der auf schroffen Klippen über die Maas hing, mit der entzückenden Aussicht, die ich vorhin schilderte. Hier wieder unter einer jäh überhängenden Felswand, die von dem Wachtfeuer schauerlich angeleuchtet ward; wir stumm umherstehend oder gelagert, Gruppen, wären wir nicht so sehr uniformiert gewesen, eines Salvator Rosa würdig. Salvator Rosa (1615-1673), ein sehr vielseitiger italienischer Künstler, zeichnete sich besonders als Maler wildromantischer Landschaft mit entsprechender Staffage und von Schlachtenbildern in greller Beleuchtung aus.
Aber die Romantik fehlte auch sonst nicht. Denke man sich die zerrissene Felsgegend im Mondenschein, der hier verhüllte und dort aufdeckte. Ein solcher Wachtposten, auf einer freien Höhe, an einem mit hohen Laubbäumen umkränzten Teiche ist mir besonders erinnerlich. Wie der Mondenstrahl in den Wipfeln über unsern Häuptern spielte – auf solchen bedeutungsvollen Posten stand man immer zu zweien – und sein Licht sich in dem Wasserspiegel zu unsern Füßen zu sammeln schien, während es auf die weite Umgegend nur einen Dämmerschein warf. Die Sinne waren geschärft. Wer seinem Auge nicht ganz trauen durfte, mußte sich aus sein Ohr verlassen. Wir streckten uns abwechselnd auf die Erde, um zu horchen. Ein Geräusch ließ sich von der Festungsseite her vernehmen. Noch war nichts zu sehen, aber es ward deutlicher; mit angelegten Gewehren standen wir an unsre Bäume gelehnt, bis ich mehrere Gestalten um die Felsecken springen sah. Ein lautes »Werda?« schwebte schon auf meinen Lippen, als mein Partner, ein gedienter Soldat, mir zuflüsterte: »Nicht laut gerufen, Jäger, es können Überläufer sein.« Ein Schuß aus der Festung bestätigte die Vermutung. Die Gestalten, ohne Gewehre, näherten sich scheu. Auf ein leises »Werda?« folgte die ebenso unterdrückte Antwort, die jene Vermutung zur Wahrheit machte. Dennoch konnte es eine Kriegslist sein, obgleich es nicht wahrscheinlich war; also galt es Vorsicht. Das gewöhnliche Kommando erfolgte unserseits: »Ein Mann vor, die andern kehrt!« Man gehorchte, der eine erschien und sagte uns, was wir wußten. Er ward nach dem Hauptposten eskortiert und eine Patrouille holte dann die übrigen ab. Am Feuer unter der Felswand wurden die Überläufer examiniert, welche des Krieges und der Belagerung überdrüssig, die ihnen ebenso unnötig erschien als uns, und in der Festung gelangweilt, sich nach den Fleischtöpfen der Heimat fehnten.
Das Schauspiel wiederholte sich mehrmals in dieser Nacht, wie es schon in früheren sich ereignet hatte, und die Gruppe nächtlicher Gestalten um das Feuer gewann immer mehr Mannigfaltigkeit. Den sogenannten Überläufern durfte man weder Verrat noch Treulosigkeit oder Feigheit vorwerfen. Es waren meistens junge Rekruten, die, rasch während der hundert Tage enrolliert, »Cent-Jours«, letzte Regierungszeit Napoleons I, nach seiner Rückkehr von Elba, vom 20. März bis 28. Juni 1815. in die Festungen gesteckt waren. Waren sie Napoleonisten, was ich bezweifle, so war die Sache, welche ihre Kommandanten angeblich verfochten, nicht mehr die ihre. Diese hatten, wie ich schon sagte, die Fahne der Bourbonen aufgesteckt und behaupteten, für Ludwig XVIII. ihre Festungen zu halten. Royalisten waren die armen Burschen gewiß ebensowenig, und ihnen, wie jetzt eigentlich auch uns, dünkte es sehr überflüssig, noch Krieg zu spielen, wo die Hauptfrage längst entschieden war. Truppweise wurden sie ins Hauptquartier eskortiert, und mit welchem Jubel hörten sie die Verkündung ihrer Freiheit an. Ja, so überdrüssig waren sie des Soldatenseins, daß sie mit Vergnügen alles, was daran erinnerte, für eine Kleinigkeit verkauften; ihre Tschako nicht ausgenommen, trotz der weißen Kokarde daran, und einige unter uns waren so töricht – oder, wie nenne ich es –, diese Kopfbedeckungen gegen ihre Mützen einzutauschen, weil – ja, weil man mit uns noch Soldaten spielen wollte! Das Putzen, Exerzieren und Paradieren, was wir nach wie vor trieben, genügte noch nicht. Man wollte uns Freiwillige, einen Schritt vorm Ende, noch möglichst ganz in die militärischen Gamaschen knöpfen. Davon später mehr. Einstweilen mißfiel der militärischen Orthodoxie insbesondere unsre ungleiche Kopfbekleidung; die Mehrzahl trug nur mit Wachsleinwand überzogene Mützen. An Ermahnungen fehlte es nun nicht, jede Gelegenheit zu benutzen, um uns Tschakos anzuschaffen; diese machten den Soldaten! Fast dreißig Jahre hat diese Manie gedauert, bis endlich Geschmack, Vernunft und Gesundheitsrücksichten gesiegt und die barbarisch unnütze Erfindung, ungestaltet, wahrhafte Kopfdrücker, ohne praktischen Nutzen, zu verdrängen angefangen haben. Die Initiative hat Deutschland, Preußen gemacht; aber dreißig Jahre gingen darüber hin! – Mit den monströsen, hohen Kommißtschakos der französischen Infanterie, die sich auf Karikaturen vortrefflich ausnehmen, sah man nun viele unsrer freiwilligen Jäger paradieren!
Auch in friedlicher, wenngleich in andrer Weise, traf ich noch einmal mit dem Feinde zusammen. Ich stand wieder mit einem Musketier auf einem weit vorgeschobenen Doppelposten an der Maas. An der Landstraße, näher den Wällen zu, sahen wir den vorgeschobenen feindlichen Posten, an eine Pappel gelehnt. Er machte eine Bewegung, und der Musketier forderte mich auf, auch unsrerseits eine Bewegung zu machen. Die Feinde näherten sich bis auf etwa zwanzig Schritt, aber nicht in mörderischer Absicht. Der Franzos grüßte freundlich, und mein Kamerad forderte mich auf, doch mit ihm zu sprechen. Es war nicht allein das Bedürfnis der Mitteilung, sondern eine Geschäftssache. Der Franzos fragte, ob wir Tabak brächten? Morgen wolle er zwei Flaschen Branntwein schaffen.
So erfuhr ich, was freilich offiziell ein Geheimnis blieb, daß auf diesem Posten ein lebhafter Tauschhandel getrieben wurde, der so weit ging, daß die Unsern sich Effekten aus der Stadt bestellten, die auf dem Lande nicht zu haben waren, und auch richtig erhielten, wofür unsrerseits Lebensmittel, die in der Stadt nicht zu haben waren, geliefert wurden. Sogar soll hier einmal ein Gewehrtausch stattgefunden haben. Ein friedlicher und unterhaltender Verkehr zwischen den Vorposten gehört nicht zu den Seltenheiten im Kriege; daß man aber auch Waffen tauscht, mochte an die homerischen Zeiten erinnern.
Ein Schuß aus der Festung trieb uns auseinander. Jeder der beiden Posten eilte im Schatten der Pappeln auf seinen Platz zurück. Der Schuß galt uns indessen nicht. Jenseits der Maas hatte ein Trupp Hessen, die zum Belagerungskorps gehörten, – ich weiß nicht mehr, in welcher Absicht – sich den Außenwerken zu sehr genähert. Die Belagerten protestierten von ihren Schanzen dagegen. Es war ein schönes Schauspiel. Die Ufer jenseits der Maas waren niedriger. Die Sonne ging unter, mit ihrem Zauberglanz die ganze reiche Gegend beleuchtend; aber das Licht, welches sie auf den Kampfplatz warf, ward noch blendender durch die schwarze Wolkenschicht, die vom Westen aus sich erhob, und die ganze Szene zu verdunkeln drohte. Die Bajonette der Hessen glänzten silbern im Tale, und Pulverwolken stiegen von der Felsenzitadelle und den äußern Grenzen auf, die Wolken weiß schattierend. Noch war es zu hell, als daß der Blitz der Kanonen eine Wirkung hervorgebracht hätte; aber ihr Krachen fand einen zehnfachen Widerhall in den Bergen. Dazu das Pfeifen der Kugeln, ihr Niederschlagen in die Erde oder ihr Einschlagen in die einzelnen Häuser. Die Kanonade dauerte, bis die Hessen sich hinter die letztern zurückgezogen hatten, und die Wolken den Himmel verdunkelten. Ein Krieg, zu Füßen des ruhigen Zuschauers gespielt.
Doch floß auch auf unsrer Seite dann und wann Blut. Man glaubte sich daran erinnern zu müssen, daß man im Kriege war. Eine von den Belagerten verlassene Schanze ward in der Nacht erstiegen und schnell in Verteidigungsstand gesetzt. Den Feinden dünkte dies eine zu nahe Nachbarschaft. Sie erklärten indes zuerst höflich durch Parlamentäre, daß wir uns geirrt haben müßten: die Schanze gehöre ihnen und nicht uns. Wir haben vermutlich wieder erklärt, daß wir sie für eine res derelicta angesehen, welche dem zufällt, der sie zuerst in Besitz nimmt. Da diese Debatten zu keinem Resultat führten, kam es zu einer Kanonade, in der einiges Blut floß und einige von den Unsern fielen; die Schanze aber wurde behauptet, doch wohl nur der Ehre wegen, denn, wenn ich mich recht entsinne, gab man sie später als unnütz auf.
An einzelnen Neckereien fehlte es nicht. Die Ablösungen sollten, wie ich sagte, im Dunkel an- und im Dunkel abziehen. Indessen traten bei den weiten, beschwerlichen Wegen häufig Verspätungen ein. Man war dann zu noch größeren Umwegen gezwungen, und konnte es doch nicht immer vermeiden, einen Fleck, einen Weg zu passieren, wo man uns von den Wällen aus sehen und beschießen konnte. Es geschah schnell und geräuschlos, und die Feinde fanden selten Anlaß, uns zu beunruhigen. Aber ein dreister Jäger, der Spaßmacher der Kompagnie, sah sich einst vom Mutwillen getrieben, als die Patrouille rasch von einem Waldende zum andern über die Straße geflogen war, allein zurückzubleiben und den Wachtposten auf dem Walle diejenige höhnische Bewegung zu machen, welche dem Ausdruck im »Götz von Berlichingen« entspricht, der nur in der ersten Auflage zum Abdruck gekommen ist. Solche Beleidigung konnte nicht ungerächt bleiben. Noch im Augenblick der Handlung fiel ein Musketenschuß, und eine Kugel fuhr dem Spaßmacher in den Teil des Körpers, den er gut genug für den Feind hielt. Er mußte fortgetragen werden und büßte im Lazarett seinen Mutwillen bis zu dem Augenblick, wo man, nach dem geschlossenen Frieden, seiner Dienste nicht mehr bedurfte. Das Lazarett galt als eine harte Strafe.
Romantik, wo ich hinblicke Romantisches! Oder, ist es das nicht, wenn Soldaten unter dem Befehl, dem unmittelbaren Kommando eines Weibes stehen? Kommt es uns nicht wie ein Märchen aus dem Fabelreiche vor, wenn wir der Mädchen, Frauen gedenken, die, vom allgemeinen Feuer der Begeisterung ergriffen, sich Männerkleider anlegten und als Freiwillige mutig eintraten, mutig ausdauerten! Es sind nicht abzuleugnende, historische Tatsachen. Die Prohaska Eleonore Anna Prohaska, am 11, März 1785 zu Potsdam geboren, trat 1813 unter dem Namen August Renz als Tambour in das Lützowsche Freikorps ein. Bei dem Treffen an der Göhrde (Wald im Lüneburgischen, Sieg der Verbündeten unter Wallmoden) schwer verwundet, starb sie am 5, Oktober zu Dannenberg. Zwei Tage später ward sie unter großen militärischen Ehren bestattet. Ihr gilt das Gedicht Friedrich Förster« »Ich hatt' einen braven Kamerad«, desgleichen das Friedrich Marxsche »Einer aus Lützows Korps«, das ihren Namen tragende Drama Emil Tauberts u. a. m. fiel in der Lützowschen Freischar auf dem Felde der Ehren, und erst in ihrem Blute schwimmend, bekannte sie mit Erröten das Geheimnis, das nicht länger zu verbergen war. Andre kehrten nach dem Feldzuge in ihre Familienkreise sittsam zurück. Im Jahre 1815 ist mir nicht bekannt, daß ein Weib unter die Freiwilligen eingetreten wäre. Aber eine wenigstens, die im großen Feldzuge gedient, sich ausgezeichnet und Ruhm erworben hatte, diente noch oder war doch beim Ausbruch dieses Krieges wieder eingetreten, gewiß eine Freiwillige, aber nicht in der Schar der Freiwilligen, sie war – Unteroffizier unter den Grenadieren und trug das Eiserne Kreuz auf der Brust!
Die Zeitungen haben den Ruhm der Unteroffizierjungfrau Krüger verkündet; sie ward gefeiert, besungen, beschenkt. Nach diesem zweiten Feldzuge heiratete sie einen andern Unteroffizier, und die Hochzeit zu einer Ehe, aus der man ein Geschlecht von Heldensöhnen erwartete, wurde in Berlin unter den Auspizien höchster Gunst gefeiert. Eine der edelsten und zartesten Fürstinnen, welche damals in Preußen an der Spitze der patriotischen Bewegungen im ritterlichen Sinne stand, beehrte sie entweder mit ihrer Gegenwart oder war doch die huldreiche Gönnerin, welche die Gaben für die Heldenjungfrau spendete und weihte. Ob die Hoffnung in Erfüllung ging, und diese Ehe Helden ins Leben gerufen, weiß ich nicht; die Zeit war nicht dazu geeignet, daß Helden sich zeigen konnten. Beim Regimente sah man indessen die Sache anders an als in Berlin. Der romantische Duft fehlte hier durchaus, und man betrachtete den jungfräulichen Unteroffizier eher wie eine Abnormität und Last, die zu tragen man nun einmal gezwungen war. Wenn man sich fragte, warum die Jungfrau noch immer Unteroffizier war, da 1815 so viel Männer beisammen waren, daß es der Waffenergreifung von Frauen zum Besten des Vaterlandes wirklich nicht bedurfte, so konnte man leicht auf den Gedanken kommen, daß nicht die Begeisterung, sondern die Lust am umstreifenden Soldatenleben sie angetrieben. Auch ward diese Vermutung nicht verscheucht, wenn man sie mit den Soldaten plaudern, scherzen, singen, zechen und bei solchen Vergnügungen sah, die Männer in der Regel allein aufsuchen. Sie war immer lustig und guter Dinge; aber unsre ältern Offiziere hörte ich oft fluchen: »Eine Schande, solcher Schürze einen Posten anvertrauen zu müssen!« Einmal hatte auch ich die Bestimmung, unter ihrem Kommando auf Wache zu ziehen. Sie war keine unangenehme Erscheinung; aber von dem »ewig Weiblichen« ließ sich unter dem Kommißrock wenig verspüren.
»C'était la Landiwer«, sagte uns der Wirt in einem der Dörfer um Givet, die ich 1829 aufsuchte, um die Schauplätze unsres Kriegerlebens mir wieder anzusehen. »Die Landwehr war es«, sagte er beschönigend, als er über die furchtbaren Verwüstungen der Umgegend während der Belagerung klagte, und ich mich als einen damaligen Belagerer aus dem Jägerkorps verraten hatte. »Die Jäger waren junge gentile Leute.« Ach, wir waren, wenn nicht ganz, doch beinah so schlimm als die andern. Die Zerstörungswut muß ansteckend sein. Wie zerschlugen wir, wie rissen wir nieder, oft aus bloßem Mutwillen, aus der Vorstellung, es müsse so im Kriege sein! Freilich geschah es immer nur in verlassenen Häusern und Orten, gleichsam zur Strafe dafür, daß ihre Bewohner sie ver- und uns nur die nackten Wände zurückgelassen hatten; aber es kommt mir vor, als wäre derselbe Trieb dabei tätig gewesen, der die Schulknaben antreibt, mit ihren Messern die Tische und Bänke zu zerschneiden. Erobern wollte man freilich auch, Beute machen. In jenem zerstörten Kloster, wo ich die erste Nacht vor Givet zubrachte, war ein kleines Türmchen, auf dessen Dache eine Wetterfahne stand. Was gab man sich nicht Mühe, sie abzubrechen! Das verrostete Eisen, das Stückchen Blech war höchstens einige Sous wert; aber es ward zur Ehrensache für jede Wache, die hier aufzog, sich an die Arbeit des Abbrechens zu machen. Mit Lebensgefahr sah ich Landwehrleute auf das Dach klettern und hämmern, feilen, rütteln; aber die Stange wich nicht. Jede abziehende Wache hinterließ der sie ablösenden das weiter gefühlte Werk mit Neid; denn nun ward die Arbeit doch immer leichter, und am Ende gewann der den Lohn, der am wenigsten dafür getan hatte. Doch will ich nicht behaupten, daß man wirklich zu dem Resultate kam; ich glaube vielmehr, daß, als wir von Givet abzogen, die alte Wetterfahne noch immer auf dem Turme unser spottete. Der schöne Garten an der Maas, die entzückende Aussicht flößten meinen Kameraden keinen pietätvollen Respekt für das Landhaus ein. Die Tische und Bänke, die Fensterläden und Türflügel wurden unbarmherzig zerschlagen zu Wacht- und Kochfeuern. In einem Dorfe, ich glaube Fromlianes, stand ein altertümliches großes Herrenhaus, verlassen und verwüstet. Der industrielle Trieb einiger rohen Gesellen führte sie auf das Dach, und, um doch etwas zu erbeuten, hieben sie die bleiernen Dachrinnen mit den Hirschfängern ab. Als niemand das Blei kaufen wollte, ward der erste beste Nachbar requiriert, der unfreiwillig, wenngleich für ein Spottgeld, etwas kaufen mußte, von dem er gar nicht begriff, wie die Soldaten zum Rechte kamen, es zu verkaufen. Jeder Krieg hat sein bestialisches Gefolge. Unsre Soldaten waren bei den Franzosen in die Schule gegangen, wenn sie auch das Gelernte etwas plumper und barocker dann und wann anwandten.
Der August verging, es war schon tief im September. Die Tage wurden kürzer, die Märsche, die Arbeit, die Stunden auf den Wachtposten blieben dieselben. Und die kalten Nächte auf Vorposten, aus den Vorposten, wo nur einmal oder gar nicht während der Nacht abgelöst wurde! Auch im Lager selbst wurden diese Nächte sehr unbehaglich, besonders in unsren dünnen, schlecht verwahrten Hütten, in abgeriebenen, dünnen Uniformen und Mänteln. Man schichtete sich aufeinander, um sich zu erwärmen. Und doch war die Kälte besser als das Regenwetter, welches darauf eintrat. Doppelt beschwerlich wurden die langen Märsche nach und von den Vorposten, doppelt so lang auf den abschüssigen Hohlwegen, in den morastigen Tiefen. Wir kamen gewöhnlich erst um Mitternacht zurück, einst im furchtbaren Platzregen. Daß wir selbst bis auf die Haut durchnäßt kamen, war das geringere Übel; unser Lager aber schwamm uns fast buchstäblich entgegen. In dem Felsenkessel hatten sich die Wolken zu einem Wolkenbruch gesackt, und Bäche, Ströme, Fluten kamen durch unsre Zelte mit dem Lagerstroh, unsern Habseligkeiten und Vorräten auf uns zu. Wir mußten über den angeschwollenen Bach springen, um zu retten, was zu retten war. Und welche Nacht, welch ein Morgen! Ein andermal riß uns der Ruf »Feuer!« von unsern Kochkesseln, wo wir die Abendsuppe bereiteten. Eine Hütte brannte, mehrere andre fingen Feuer. Man denke sich ein großes Lager von Strohhütten, ziemlich dicht aneinander, in einem Felsentale: ein Windzug und eine Feuersbrunst! Alles war auf den Beinen, um zu greifen, retten, was zu retten war. Die Hörner schmetterten. »Zuerst die geladenen Büchsen! Die Feuer aus! Die Lichter aus.« Man stieß, drängte, trug ins Freie und rannte gegeneinander; die Verwirrung war groß. Die Magdeburger Landwehr schlug mit Kolben drein, und ihrer raschen Tätigkeit gelang es, die brennenden Hütten niederzuwerfen und das Feuer zu dämpfen. In drei Hütten, welche den Jägern einer andern Kompagnie gehörten, waren alle Habseligkeiten derselben verbrannt.
Sechs Wochen schon in diesem Zustande und noch keine Aussicht auf Erlösung. Givet sollte bombardiert werden; aber ein Tag verstrich um den andern. Es sollte Friede sein; aber keine Taube mit dem Ölzweig kam über die Berge geflogen. Da hieß es: Napoleon ist den Engländern entflohen und nach Amerika entkommen. Der Krieg bricht wieder an, er wird ein andrer, man behält uns zurück, es wird wenigstens ein Stammkorps der freiwilligen Jäger errichtet, wo die Jäger bleiben, aber die Freiwilligkeit aufhört. Es hätte mich nicht gewundert, wenn unsre Phantasie in dem dunstigen Felsenkessel noch törichtere Hirngespinste zutage gebracht hätte. Die Strapazen ließen keinen freien Gedankenprozeß zu; und die Gedanken, die sich entwickelten, wurden von dem ewigen Einerlei, von dem trüben Herbsthimmel beherrscht. Das eine Gefühl, was uns klar wurde, war: wir sind nur noch Maschinen; unsre militärische Dressur erinnerte uns täglich daran, und der lebhafteste Wunsch war – nicht nach Ruhm und Kriegstaten, diese Aussicht war vorüber, wir spielten ja nur noch Krieg – es war kein andrer, als einmal doch in ein Quartier zu kommen.
Nun doch schien er erreicht! Das Bombardement fand nicht statt, die Stadt Givet ergab sich. Wir rückten ein; welches Wonnegefühl, den Preis unsrer Ausdauer mit Augen zu sehen! Eine wohlerhaltene Stadt, klein, aber uns kam sie so groß, so wunderbar vor. Kaum wird Paris einem Kleinstädter anders erscheinen, ob wir doch alle aus größern Städten, zum Teil selbst aus Berlin kamen; aber das Lager in den Felsen mußte magisch auf unsre Sinne gewirkt haben. Wie fest die Häuser waren, wie regelmäßig die Türen und Fenster, wie breit die Straßen, wie majestätisch die Brücke, der Markt, die herrlichen Kaufläden, die Cafés und Restaurationen: gewiß ein Klein-Paris! Wie mußte ich lächeln über jene Erinnerung, als ich 1829 diese sehr unbedeutende Landstadt wieder sah, die in ihren städtischen Einrichtungen nicht einmal wie so manche andre den Anspruch macht, dem stolzen Paris gleichen zu wollen. Nur etwas erschien mir auch damals grandios: die himmelhohen, die Stadt überragenden Felsen der Zitadelle und ihre Mauern. Die Schildwachen darauf konnten uns in den Straßen mit Kieselsteinen töten.
Givet, die Stadt und Festung, war übergeben; aber die Zitadelle Charlemont, wohin sich der Gouverneur mit der Garnison zurückgezogen, blieb unerobert und ließ das »drapeau blanc« auf ihren Mauern stolz flattern. Was hatten wir für uns erobert? Das Vergnügen, mit Sack und Pack in die eroberte Stadt einzuziehen, Parade zu machen und matt und hungrig am Abende in unser Lager zurück zu marschieren. Die Zitadelle ward nun an der Stelle der Stadt belagert, und alles blieb beim alten. Wir mußten putzen, exerzieren, paradieren, auf Wache und auf Vorposten ziehen. Nur durch besondere Gunst ward Einzelnen die Erlaubnis, auf Urlaub sich in die Stadt zu begeben, um dort sich zu erholen oder Anläufe zur nötigsten Reparatur ihrer Kleidungsstücke zu machen.
Endlich nahte die Erlösung. Die Bergfestung ward nach wie vor belagert; aber am 23. September ward uns der Paradebefehl verlesen, daß unsre Brigade abziehen und Kantonierungsquartiere zwischen den Städten Rocroy und Vervins beziehen solle. Noch Kantonierungen, und doch ward uns zugleich verkündet, daß der Friede abgeschlossen sei! Warum nicht gleich zurück?
In der Nacht zum 26. September schlug endlich die Stunde der wirklichen Erlösung. Es war eine regnerische, stockfinstre Nacht, als um drei Uhr die Hornisten uns weckten. Um vier Uhr sollte aufgebrochen werden; in solcher Dunkelheit, in diesem Wetter sollten wir den Felsen und Schlünden Lebewohl sagen, in denen wir ein und einen halben Monat verzaubert waren. Das Verlangen wurde laut: sehen mußten wir doch noch einmal den Ort. Eine wahnsinnige Lust schien sich der Freiwilligen zu bemächtigen. »Licht! Feuer« rief es. Von allen Seiten trug man Stangen, Bretter herbei, die uns als Tische und Bänke gedient, und die früher, im Schweiße unsres Angesichts, meilenweit herbeigeschleppt worden; alles auf einen Haufen. Er ward angezündet. Wir wollten sehen und uns wärmen und dem Wetter trotzen. Die Feuer loderten, die Flamme wirbelte auf, der Regen verlor seine Macht vor solcher Glut. Unser aller bemächtigte sich eine wahre Raserei. Wir rissen unsre Hütten nieder, wir rüttelten an den Pfählen, alles was fest stand, mußte heraus, und manche Kameradschaft trug ihr ganzes festes Haus, wie es da war, und das ihnen sechs Wochen lang Schutz und Wärme gegeben, in die Flammen. Es war ein wilder, furchtbar schöner Anblick, die nackten Felsen ringsum von der hellen Glut angerötet, und der Flammenschein stieg in den Himmel, daß man in der Zitadelle die Lärmtrommel rührte. Man billigte, soweit ich mich entsinne, diesen Akt unsrer freiwilligen Freude nicht; aber die Inhibitionen aus dem Hauptquartier kamen zu spät.
Wie oft ich die Maas passiert, kann ich mich nicht mehr entsinnen. Außer der Spree, die Berlin scheidet, gibt es indes keinen Fluß, den ich von Rechts wegen so genau kennen müßte, von Lüttich hinauf bis beinahe Verdun. Denn obgleich Friede war, und wir nur Freiwillige für den Krieg, behielt man uns nicht allein noch monatelang im Dienst und in Frankreich, sondern schob uns aus einer Kantonierung in die andre, immer die Maasufer hinauf, bis wir endlich im Flecken Dun, einige Meilen von Verdun entfernt, den südlichsten Punkt erreicht hatten, um nachher noch einmal das Vergnügen zu haben, wieder in nördlicher Richtung bis über Givet hinaus zurück zu marschieren.
Wir waren vom Lagerleben erlöst, aber nur, um ein neues, beschwerlicheres Wanderleben anzutreten. Es hatte viele Tage lang geregnet, und regnete immer fort, wie im Englischen Liede Falstaffs Trinklied aus den »Lustigen Weibern von Windsor« mit dem Refrain »Und der Regen regnete jeglichen Tag«, bei uns besonders bekannt geworden durch Otto Nicolais geniale Vertonung (»Als Büblein klein an der Mutter Brust«). . Die Wege waren furchtbar, und es war nicht märkischer Sand! Wir waren schon bis an die Knie im Kot der Hohlwege gewatet, als wir, südlich von Givet, über die Maas setzten, um nach Fumay zu marschieren. Ein malerisch in die Kalkfelsen der Maas eingeklemmtes Städtchen von mittelalterlicher Architektur; aber, todmüde wie wir waren, von Naßkälte schauernd, mußten wir durch die freundlichen Straßen, an den gastlichen Häusern vorüber, wieder in eine Fähre uns einpferchen lassen, um jenseits, ein paar Meilen weiter, in einem elenden Dorfe endlich Quartiere zu finden, im Vergleich zu welchen unsre verbrannten Strohhütten uns noch komfortabel erschienen. Der Unwille unter den Jägern war allgemein, da hier, wie es oft geschah, die Soldaten von der Linie in der Stadt selbst blieben. »Man braucht uns nicht mehr, man laßt es uns fühlen, daß wir überflüssig sind! Warum entläßt man uns dann nicht ganz und gar?« Wie oft noch wiederholten sich diese Klagen! In der Tat entsinne ich mich aus dem ganzen Feldzuge keines schlechteren Quartiers als in diesem Dorfe Revin, wo wir uns alles, selbst Stroh und Brot, ertrotzen mußten. Die Wirtin, ein widerwärtiges Weib, gab uns indes Anlaß zu manchen Beobachtungen. Bei jeder Forderung schrak sie zusammen, schlug die Hände über den Kopf, seufzte und – klagte. Nicht beim Kapitän, wozu die französischen Bauern immer weit schneller bereit waren als die unsern, sondern bei ihrer Heiligen! Und wo war diese Heilige? In einer Laterne auf einem Küchenschrank; die Himmelskönigin aus dem Bilderladen war an die Stelle der fehlenden Glasscheibe geklebt. Die fromme Frau warf sich jedesmal zu Füßen des Schrankes nieder und murmelte ihre unverständlichen Gebete, daß die Jungfrau die unverschämten Forderungen der Ketzer gnädig abwende. Wir waren in großem Irrtum, als wir meinten, die Revolution habe mit der Religion auch den Bigottismus und Aberglauben in Frankreich ausgetilgt. Auch in den nördlichen Provinzen fanden wir ihn nur zu oft und in seiner krassesten Gestalt wieder.
Abermals ward am Morgen über die Maas gesetzt, in Regengüssen, und der Marsch ging über die Ardennen nach Aubenton. Diesmal sollten wir sie in ihrem finstersten Gebirgscharakter kennen lernen. Diese Schluchten, diese Wege und Hohlwege! Wer hatte Augen für die schauerlichen Reize dieses Gebirges, wenn er, mit dem halben Beine im Kot, bergan steigen mußte! Wir schlugen Nebenpfade ein, um auf dem kürzesten Wege das Gebirge zu kreuzen; es ging durch Dornen, steile Klippen wurden erklommen, Wege, aus denen es uns wahrscheinlich mit allem unsern Gepäck fortzukommen unmöglich geworden wäre. In dieser Voraussicht hatte man einige Ochsenwagen requiriert, die unsre Tornister nachfuhren, sie uns dafür aber erst drei Tage später ablieferten. Einer zog den andern, und doch wie viele glitten aus und küßten die mütterliche Erde des feindlichen Landes. Zuweilen sahen wir uns verwundert an, daß nach solchen Strapazen noch so viel von uns selbst und unsern Kleidungsstücken übriggeblieben war.
Auch in dem freundlichen Fabrikstädtchen Aubenton, wo man uns Kantonierungen versprochen, blieben wir in guten Quartieren nur eine Nacht. Wenigstens lernten wir wieder das Quartierleben von der freundlichen Seite kennen. Die Gegend schien noch nicht ausgezehrt. Reinlichkeit und Fülle der natürlichen Lebensmittel, schönes weißes Brot, ein vortrefflicher Käse und ein kräftiges Bier stärkten uns wieder für eine Kantonierung in den Dörfern, die von diesen Behaglichkeiten wenig oder nichts darboten.
Wir waren wenigstens in dem Dorfe Besmont wieder im flachen Lande. Daß dadurch ein Wunsch erreicht werden könne, hatte ich mir früher in meiner romantischen Stimmung nicht träumen lassen. Aber es war ein Dorf, welches mich an unsre westfälischen erinnerte. Die Gehöfte lagen im weiten Umkreis zerstreut, durch feuchte Wiesen, Hügel, Buschwerk, Seen und Gräben voneinander getrennt. Zum Appellplatz mußte mancher eine Stunde lang gehen, und ich hatte wie gewöhnlich das Unglück, nicht allein bei einer der ärmsten Familien, sondern auch am allerentferntesten von den andern einquartiert zu sein. Wäre es ein Vendéedorf gewesen, und seine Bewohner fanatisierte Feinde, so wäre es ein leichtes gewesen, in dieser Abgeschiedenheit einen und den andern verschwinden zu lassen, ohne daß es nur bemerkt worden wäre. Kaum wußten wir, wo wir uns gegenseitig aufsuchen konnten; es waren Reisen, und über zitternde Wiesen, durch Büsche und labyrinthische Hecken. Aber die Leute waren friedlich und freundlich; sie waren des Krieges satt und matt wie wir. Wir verlangten nur nach Ruhe und fanden sie, und sie gaben, was sie hatten; es entsprach zwar nicht unsern Wünschen und den Verheißungen, die man uns von guten Quartieren gemacht, aber doch den nötigsten Bedürfnissen.
Für die Melancholie, für die Ossianische Stimmung war hier reichliche Nahrung. Ringsum gelbes, abfallendes Laub, ein grauer Novemberhimmel, Nebelstreifen, und Sträucher, Bäume, Felder, Wiesen und Wege von den Perlentropfen des ewigen, andauernden Regens bedeckt. Während der Wochen, die ich in dieser Einsiedelei lag, sah ich nicht einmal die Sonne scheinen; es fiel kein Schuß, es wieherte kein Pferd, keine Kuh brüllte, nur die Hennen gackerten, wenn sie Eier legten.
Ein märchenhaftes Stilleben führte ich, und doch steht es mir in allen seinen Einzelheiten so klar vor Augen, als wäre es erst gestern. »Wir haben nie Einquartierungen gehabt,« sagte die Alte, als sie meinen Zettel empfing. Aber im Hause war doch nicht die Armut, welche entmutigt und den Sinn niederdrückt. Vielleicht war kein Geldstück vom Dach bis zum Keller aufzutreiben; aber was bedurften diese Leute des Geldes? Zwei fette Kühe gaben Milch, Butter und Käse ausreichend für die Wirtschaft. An einen Verkauf oder an ein zur Marktwaremachen dieser Produkte schien hier niemand zu denken. An weißem Mehl und Weißbrot fehlte es nicht; eigene Erzeugnisse, wenn für mich gleich der Umstand sehr unangenehm war, daß dieses Brot nur alle vierzehn Tage gebacken wurde, demzufolge man während dreizehn Tagen, was wir alte Semmel nennen, essen mußte! Aber in Scheiben am Feuer geröstet, mit frischer Butter und Käse darauf, schmeckte es vortrefflich. Die Gärten voll Obstbäume. Nur zu schütteln brauchte man, und goldene Äpfel waren in Fülle da. Auch Kartoffeln waren im Keller. Bedurfte es mehr zu einer Idylle? Und doch gackerten noch achtzehn Hühner im Stalle, zuzeiten die einzige Melodie, der einzige Laut in meiner Einsiedelei.
Die Hausfrau, etwa eine hohe Fünfzigerin, sprach ein Patois (Platt), das ich nicht verstand; aber sie war keine üble Frau, geschwätzig, reinlich, tätig. Ein junger Bursch war da, etwa von zehn bis elf Jahren, ob ihr Sohn oder Enkel lass' ich dahin gestellt, wahrscheinlich der künftige Erbe, und ein junges, hochgewachsenes, hübsches Mädchen von außerordentlich weißem Teint, ihre Tochter. Sie ächzte viel, und es hieß, sie wäre krank; wie es mit dieser Krankheit beschaffen, und ob sie nicht vielleicht eine nur fingierte war, lass' ich auch dahingestellt. Denn es gab noch mehr Rätselhaftes in dieser Familie.
Ein täglicher Besucher fand sich dort ein, ein Mann etwa in den Dreißigen, von nicht eben schönem, imponierendem Äußeren; sein ganzes Wesen aber sagte, daß er schon mehr in der Welt gesehen und in andern Verhältnissen zu Hause wäre, als in dieser kleinen Bauernhütte an den Ardennen. Er trug eine blaue Bluse, Holzschuhe wie die übrigen; aber wenn er meine Büchse aufnahm, blitzte ein eigenes Feuer aus seinen Augen. Es war ihm keine ungewohnte Arbeit. Es lag kein Grund mehr vor, zu verbergen, daß dieser tägliche Gast kein Bauer, sondern ein Militär war, ein Napoleonischer Kapitän, von den Bourbonen auf Halbsold oder ganz ohne Sold entlassen. Wie er in den letzten Zeiten tätig gewesen, ob er die Rolle der Ney und Labédoyère Michel Ney, Herzog v. Elchingen, Fürst v. d. Moskwa, der ausgezeichnete Heerführer Napoleons, hatte diesen nach der Einnahme von Paris (31. März 1814) zur Abdankung gedrängt. Dafür wurde er von Ludwig XVIII. zum Pair von Frankreich ernannt. Als aber Napoleon dann aus Elba geflohen war, schloß Ney sich ihm alsbald wieder an. Am 7. Dezember 1815 wurde er deshalb in Paris standrechtlich erschossen. Dasselbe Schicksal ereilte bereits am 19. August den General Charles Grafen von Labédoyère, der sich als Erster dem zurückkehrenden Napoleon wieder zugewandt hatte. etwa im kleinen gespielt und deshalb für gut befunden, sich in die Herbstnebel der Ardennendörfer zu verlieren, selbst ob er bei Waterloo mit gesuchten, oder ob ich in ihm einen Feind wieder sah, den ich zum letzten Male auf einem der Festungswälle vor mir erblickt, blieb der Vermutung überlassen. Jetzt war er nicht mehr und nicht weniger als ein Knecht, ein freiwilliger Bauernknecht. Er besorgte die Geschäfte der Familie, die aber im Herbst, nach der Ernte, wahrscheinlich nicht bedeutend waren. Denn er konnte stundenlang im Hause sitzen, morgens, mittags und abends noch länger und, die Hände auf den Knien, plaudern.
Seine Firma hier war nicht Kapitän noch Knecht, sondern Bräutigam, Verlobter der Tochter. Ob das nur ein vorübergehender Bräutigamsstand sein sollte, faute de mieux, ob er ernstlicher daran dachte, mit dem jungen Mädchen in den Besitz des Hofes einst zu kommen und den Offizier mit dem Bauer zu vertauschen, oder ob er noch auf einen Umschwung der Dinge hoffte und hier nur die Zeit abwarten wollte – alles das hatte ich mutmaßlich erfahren, wenn mich die Sache näher interessiert, und ich älter als siebzehn Jahre gewesen wäre. Stoff, nicht allein zur Romantik, sondern sogar zum Romane. Aber, siehe da, ich war durch alles Romantische vorher gesättigt; es war mir gleichgültig geworden. Ich wollte Ruhe und dann fort, hinaus, zurück ins alltägliche Leben Der Kapitän mochte lieben oder hassen, lauern oder hoffen, mich ging es nicht an.
Übrigens war er ein ganz angenehmer Mann und Gesellschafter, wenigstens für die Lage hier. Es versteht sich von selbst, daß er an Bildung weit über den andern stand; er machte ihren Lehrmeister, einen praktischen Lehrmeister. Wie weit seine Kenntnisse gingen, konnte ich allerdings nicht beurteilen; aber er schien doch weit mehr zurückzuhalten, als er ausgab. Er war weit in Deutschland umher gewesen, auch längere Zeit in Berlin; er kannte unsre Sitten und sprach etwas Deutsch. Seinen Stand hatte er für den Augenblick ganz aufgegeben und vergessen, wie das eben nur einem Franzosen möglich ist. Nur einmal erwähnte er mit einem spöttischen Zug um den Mund, daß er Ludwig XVIII. nicht besonders lieben könne, da er ihm seine Pension entzöge. Paris liebte er auch nicht und fürchtete von daher. Er versicherte, für fünf Sous könne dort jeder seinen Feind von einem Diener der geheimen Polizei ermorden lassen! Ja, einst entfiel ihm ein merkwürdiges Wort: es wäre für Frankreich nicht gut, wenn die Heere der Verbündeten ohne weiteres herausgezogen würden. Die Parteien würden sich augenblicklich in die Haare geraten, und die Dinge noch schlimmer werden. Sonst schien er blasiert, gleichgültig gegen alles und recht geflissentlich bedacht, in kleinen Dingen und Beschäftigungen sich zu fesseln. Er half mir bereitwillig meine Sachen putzen und lehrte mich Kunstgriffe.
Es war ein eigenes Verhältnis, ich war Sieger, und er der Besiegte, ich im Recht des einquartierten Soldaten, was ein furchtbares Recht sein kann, und er im Verhältnis des scheuen, geplagten Wirtes, der hergeben soll, was man fordert. Aber ich war ein Soldat und ein halbes Kind, und er Offizier, ein Mann in Jahren und von reicher Erfahrung. Ein deutscher Offizier hatte sich in ähnlichen Verhältnissen schwer dazu hergegeben, einem jungen französischen Volontär das Riemenzeug zu putzen, ja, ihn so zu bedienen, wie der Franzose tat. Aber in seinen Adern rann kein aristokratisches Blut; er war ein Mann aus dem Volke und wollte es nicht verleugnen. »Ich bin alles gewesen,« sagte er einmal lächelnd, »Soldat, Korporal, Sergeant, Furier, Sergeant-Major, dann Leutnant, zwei Jahre Kapitän, und jetzt bin ich wieder Bauer.«
Im Sommer mühte das hier ein herrliches Stilleben gewesen sein. Welchen Spielraum umher! War doch jedes Gehöft ein kleines abgeschiedenes Gut für sich, so herrliche, grüne Plätze, mit den schönsten, wilden und Fruchtbäumen, mit Büschen und Hecken umpflanzt, und der Wald nahe, in den man sich verlieren konnte. Aber der Oktober rückte schon weit vor, kein Oktober, welcher den schönen milden Altweibersommer Norddeutschlands mit sich führt. Keine seidenen Fäden flogen durch reine, weiche Luft. Sie schwitzte aus ihrem ununterbrochen grauen Überzuge nur den ewigen Perlregen. Wir waren an das Haus, in die Stube gebannt. In eine einzige Stube. Doch war sie nicht zu eng, und nicht von Unreinlichkeit starrend. Es machte sich soeben. In meinen Briefen finde ich eben eine Stelle, die ich bis jetzt übersehen hatte. »Meine Gesellschaft besteht aus der Hausfrau, einer erwachsenen Tochter, einem Kinde, drei Katzen, achtzehn Hühnern, zwei Kühen, einem Ferkel, zahlreichen Fliegen, und noch einem Franzosen, der Hauptmann gewesen sein soll.« Es muß das wohl in einer ersten, übeln Laune niedergeschrieben sein; denn meine Erinnerung an den Hausstand und das Leben dort ist weit freundlicher. Wenn nicht geputzt, geschrieben oder geplaudert ward, vertrieb ich mir wieder die Zeit mit dem idyllischen Kochen. Für die Lektüre der Nibelungen muß meine Stimmung damals nicht getaugt haben. Der Sinn war früh zum Praktischen angeleitet worden, nur durch die Not. Ich rechne es aber doch zum Glück, daß diese Not wieder aufhörte, um das Praktische wieder auf lange Jahre in den Hintergrund zu drängen. Möchten wir alle, auf dem guten Wege, auf dem wir uns jetzt befinden, fortgehen und eine praktische und industrielle Nation werden, aber dabei nie die Wohltat verkennen, daß wir zuvor eine lange historische Erziehung genossen, welche uns andre Güter schätzen gelehrt, die wir, um zu werden, was wir wünschen, nie aus dem Sinne lassen sollten.
Die Türe stand gewöhnlich offen, ich meine die Stubentür, sie war aber auch zugleich die Haustür. Es geschah vermutlich der Katzen, der Fliegen, der Menschen und der frischen Luft wegen. Wenn etwas Kälte und Regen eindrang, so brannte ja dafür beständig das Feuer im Kamin. An Holz fehlte es der Armut nicht. Der Kamin war die allgemeine Küche. Eine große, eiserne Marmite Die Marmite ist der große, über dem Herdfeuer aufgehängte Kochtopf des französischen Bauern. – »Soupe de légumes«, Gemüsesuppe, ein Nationalgericht der Franzosen, die nach ihrem Suppenessen den Spottnamen »Jean Potage« (Hans Suppe) erhalten haben.–Karl v. Rumohr, der Dresdener Kunsthistoriker, ist besonders durch sein gastronomisches Werk »Geist der Kochkunst« berühmt geworden, das für nachdenkliche Feinschmecker noch heute ein Leckerbissen ist. (Univ.- Bibl. Nr. 2067-70). schwebte beständig über dem Feuer. Immer kochte etwas darin; zuerst für Ferkel und Kühe, dann, wenn diese befriedigt waren, für die Menschen. Die Soupe de légumes war die Hauptmahlzeit. Ich habe in Frankreich so viel Soupe de légumes einschlucken müssen, daß mich schon der Name anwiderte; und doch ist sie, gut bereitet, die natürliche Kost, welche, für Reiche und Arme gleich zuträglich, nahrhaft, selbst von Rumohr anempfohlen wird. Der Kessel siedet über dem Feuer mit Wasser, und nun kommt es nur darauf an, was man in das Wasser hineintut, so kann man die köstlichste Suppe erhalten. In diesen Bauernwirtschaften wird hineingeworfen, was gerade vorrätig oder besser, was der Tag gebracht, und was überflüssig ist: Kohlstrünke und Blätter, Zwiebeln, Rüben, Erbsen, Kartoffeln, möglicherweise Mehl, Salz, vielleicht Butter; ist das Glück gut, ein Stück Speck, in außerordentlichen Fällen sogar ein Stück Fleisch. Zwei Ingredienzien machen das Gebräu aber erst zum Gericht: Pfeffer und Schnitte Weißbrot. Wie man sie nun haben will, ist die Soupe de légumes entweder eine Suppe oder ein konsistentes Gericht. Fleisch kam allerdings in dem Dorfe Nesmont nur hinein, wenn ich etwas beim Appell geliefert erhielt. Soupe de légumes und Salat waren abwechselnd unser Mittagbrot.
Unsre Landwehrleute schüttelten den Kopf, woher der französische »Paysan« zur Arbeit Kraft nehme. Die französischen Bauern schüttelten den Kopf, wenn sie hörten, was ein deutscher Bauer an dicker Grütze, Erbsen, Speck und Schwarzbrot verzehre!
Dieser ewigen Suppe satt, experimentierte ich, zur Verwunderung meiner Wirte, in allerhand Gerichten von Äpfeln, Kartoffeln, Zwiebeln, Milch und Eiern. Meine Milch- und Mehlsuppe zum Frühstück hatte mir vortrefflich geschmeckt; aber dann erwachte mit einem Male die Lust zum Kaffee. Vermutlich nur deshalb, weil ich keinen hatte. Bei unsrer Versammlung waren wir vom Hauptmann, im Namen des Maire, ersucht worden, keinen Kaffee zu fordern, weil die guten Leute im Dorfe das Ding kaum dem Namen nach kannten, und es ihnen unmöglich wäre, es zu beschaffen. Aber der Trieb in mir nach Kaffee war unwiderstehlich erwacht. Ich kaufte mir Kaffee und wollte ihn kochen. Aber eine Kaffeekanne war in unsrer Wirtschaft ebenso unbekannt wie der Kaffee selbst. Töpfe und Näpfe gab es gar nicht, und das einzige, eigentliche Kochgeschirr war die Marmite, in welcher allenfalls ein ziemliches Schwein gesotten werden konnte. Was war in der Not zu tun? – Es gab eine Eierkuchenpfanne. In dieser ward der mit der Reibkeule gestampfte Kaffee übers Feuer gebracht und das bräunlich gefärbte Wasser alsdann in eine flache Schüssel gegossen und mit zinnernen Suppenlöffeln gegessen. Tassen waren hier so wenig als Teller bekannt. Die vortreffliche Milch, geröstet Brot und Butter machten vielleicht das Getränk genießbar, welches sonst mit einer Tasse Kaffee wenig Ähnlichkeit hatte.
Die Abendunterhaltung am Kamin. Sehe ich doch noch die Flammen aufblitzen, höre ich doch noch die Bratäpfel zischen. Wie wir so traulich um das Feuer saßen, ein freundliches Familienbild. Wenn die Unterhaltung einsilbig war, sprachen für uns die Äpfel. Jeder hatte einen an die Kohlen gelegt; wessen Apfel zuerst aufzischte, war der König für den Abend. Wie artig, zuvorkommend die Leute gegen mich waren! Ich erhielt immer den mürbesten, schönsten Apfel. In solcher Idylle sich liebenswürdig zu bewegen, ist auch nur eben den Franzosen und zwar nur denen der alten Zeit gegeben. Aber unsre Konversation konnte auch lebhaft sein. Wenn ich von den großen, steinernen Häusern der Stadt Berlin sprach, wie sahen sie mich verwundert an, und der Kapitän bestätigte alles, was ich sagte, und wußte noch viel mehr von der großen Königsstadt zu erzählen, Dinge, von denen der Gymnasiast nichts wußte. Er war zwei Jahre dort gewesen. Das Merkwürdigste, soviel ich mich entsinne, waren für ihn die stuckernden Charlottenburger Wagen Große, unbeholfene Kremser, die auf der Charlottenburger Chaussee am Tiergarten vor dem Brandenburger Tore ihren Halteplatz hatten. Manch älterer Berliner wird sich noch des typischen Rufes erinnern, mit dem die Kutscher Vorübergehende zur Fahrt nach Charlottenburg zu verlocken suchten: »´t fehlt man bloß noch eine lumpichte Person!« – »Sabots« sind die eigenartigen, ganz ans Holz geschnitzten Schuhe der Bauern in Frankreich und Holland. und die hohen Hüte der Damen. Aber das Allerunglaublichste für seine Geliebte und deren Mutter war, daß ich behauptete, alle Menschen, nicht in Berlin allein, sondern auch in unsern Provinzstädten, ja, sogar in den Dörfern, trügen Schuhe oder Stiefeln von Leder. »Doch nur Festtags?« rief das junge Mädchen, ihre Sabots anblickend. Der Kapitän bestätigte meine Angabe, daß, wer bei uns nicht barfuß gehe, lederne Schuhe trage, daß die Holzschuhe zu den Seltenheiten gehörten, und die eigentlichen Sabots der Bauern in Frankreich bei uns gar nicht vorkommen. Dies glauben zu sollen, schien zu viel gefordert. Sie hätte eher geglaubt, daß bei uns ewige Nacht ist, als daß unsre Bauernmädchen lederne Schuhe tragen. Wie können sie denn Schuhe bezahlen! So fühlten wir uns denn doch in etwas reicher, in der Kultur fortgeschritten, in unserm Barbarenlande; denn so betrachtete der Franzose es damals noch. Diese Ansicht über die Schuhe ist übrigens nicht auf diesen Winkel der Pikardie eingeschränkt.
Wenn die Äpfel ausgedampft, das Feuer in Asche sank, die Unterhaltung stockte, und einer um den andern auf dem Schemel nickte, stand ich auf, um nebenan in die Äpfelkammer zu gehen, wo mein Bette stand. Einen Abend um den andern entspann sich alsdann folgendes Gespräch, dessen Monotonie in dieses Märchenstilleben gehörte:
Ich. »La lampe s'il vous plaît.«
Die Wirtin. »Ah vous voulez vous coucher, monsieur. Voila!«
Ich. »Bon soir!«
Alle. »Bon soir, monsieur!« Wenn ich mich auf meine Strohmatratze von ungebleichter Leinwand gelegt und behaglich gestreckt, rief ich: »Ne voulez-vous pas prendre la lampe?«
Darauf antwortete des Kapitäns Stimme: »Oui, monsieur.«
Er erscheint, fragt noch höflich: »Est-ce que vous êtes assez couvert?«
Ich. »Oui, monsieur.«
Der Kapitän. »Bon soir, monsieur.«
Die Tür geht zu, die Lampe verschwindet, die Äpfel duften süß und lieblich, und ein noch süßerer Schlaf läßt mich bald die Unterhaltung, die Ardennen, die Kantonierung, Strapazen und Krieg vergessen. So einen, so alle Tage.
Der Tagesanbruch konnte mich nicht wecken; denn der Tag brach in meiner Kammer nicht an. Gewöhnlich war es das Geräusch des Tropfenfalles vom Dache, was mich weckte. Ich hatte dann meine bestimmten Zeichen, die mich ans Aufstehen mahnten. Durch jenes Astloch mußte das Licht dann nun den Fleck berühren, der Dämmerschein durch die Spalte mußte den größten roten Apfel anhauchen. Das Spinnrad schwirrte dann so und so, der Kapitän schlug einen Nagel in die Wand oder hämmerte an den Sabots seiner Braut, und der kleine Junge lehrte seine Lieblingskatze oui sagen. Dann war es sechs oder sieben, und ich sprang auf. – Heute kam es mir vor, als hätte der Tropfenfall schon sehr lange gedauert; aber ich hörte noch nicht das Spinnrad, noch nicht den Nagel, noch nicht die Sabots. Auch die Katze quälte sich noch nicht, oui zu sagen; aber sie miaute kläglich mit den andern beiden Katzen. Das Licht aus dem Astloch war schon weit über den Fleck hinaus und der rote Apfel schon wieder dunkel. Ich sprang auf und in die Kleider; aber es blieb still wie vorher. Ich trat in die Stube. Da stand das Spinnrad ruhig an der Wand. Kein Kapitän und seine Braut, nicht der Knabe, nicht die Wirtin waren zu sehen. Die Türe war zugemacht, das Feuer im Kamin schwankte langsam hin, und in der Marmite kochten nur die Rüben- und Kartoffelabzüge für Kühe und Ferkel. Ich rief: keine Antwort. Was war das? Ich suchte und fand keine Spuren. Die Ausgehröcke waren von den Nägeln fort. Hatten meine Wirte mich verlassen? Konnten sie es nicht mehr aushalten von der Einquartierung? War eine Verschwörung im Werke, eine Sizilianische Vesper? Das Blutbad, das die Verschworenen 1282 zur Vertreibung Karls v. Anjou, des vom Papst Clemens IV. zum König von Neapel und Sizilien gemachten Bruders Ludwigs des Heiligen, unter dessen Anhängern zur Vesperstunde anrichteten. – So grau, so einförmig grau war der Tag noch nie gewesen. Ich öffnete die Türe; es stäubte mir naß entgegen, ringsum nichts als gelbe Blätter, dürre Äste, in der Ferne rote Wipfel, die ihr Laub abschüttelten. Ich schrie hinaus. Nur die Hühner im dampfenden Stalle antworteten.
Ein, zwei Stunden vergingen in diesem lautlosen grauen Gemälde. Ich hatte glücklicherweise Milch in der Kammer und Brot gefunden, das Feuer war angemacht, und ich hatte mein Frühstück mit den Katzen geteilt, die ebenso verlassen schienen als ich. Sie müssen wiederkommen. Ich schlug inzwischen die Nibelungen auf, die ich so lange außer acht gelassen. Aber – war es der französische Boden oder das Milchfrühstück oder der Nebel – die kernigen Gestalten der alten Sage paßten nicht hierher. Sie vermehrten nur meine Ungeduld. Ich legte mich aufs Horchen, etwa wie König Günther in der verhängnisvollen Nacht. Jedes Rauschen in den Sträuchern, jedes Blatt im Winde erregte meine Aufmerksamkeit. Ich schlich zu den Hühnern, zu den Kühen, zum Ferkel. Wenigstens hatte ich Gelegenheit, zu beobachten, daß diesen Tieren nichts von den Schauern der Märcheneinsamkeit beiwohnte. Sie krähten, wühlten, streckten sich und flatterten, gerade wie sie es taten, wenn die Bauernfamilie im Hause war. Nur die Katzen nicht so. In ihnen war etwas Unheimliches. Wie wenn ... wir vom damaligen jungen Deutschland, ich meine den ästhetischen Nachwuchs der Romantiker, gaben uns alle Mühe, als Beihilfe zum Patriotismus die nüchterne Vernunft unsrer Väter zuschanden zu machen und im Alltäglichen wunderbare Sympathien aufzusuchen. In manchen Dingen hatten wir es schon weit gebracht – wie leicht wäre es meiner Phantasie geworden, das Märchen vollständig zu konstruieren, die Katzen für verzaubert zu halten, und warum sollte dann meine Wirtsfamilie nicht eine Hexenfamilie sein, die an einem gewissen Monatstage ihre natürliche oder unnatürliche Gestalt als Katzen annahm? Es stimmte so vieles: die einsame Lage des Gehöftes, niemand besuchte sie, niemand sprach von ihnen, sie lebten in den Tag hinein, ohne Arbeit. Ihre Unterhaltung war so sonderbarer Art. Die Alte spann, nicht allein am Rade, sondern auch wenn sie sprach, mit den Lippen; der weiße Teint ihrer Tochter, einer Bauerndirne, ihre sonderbare Krankheit, und – wenn nicht ein verwünschter Prinz, doch ein verbannter, verzauberter Kapitän der großen Armee als Knecht in der Hütte!
Aber, weiß der Himmel, ich konnte mich nicht zu diesen kühnen Schlüssen erheben. Die Wirklichkeit, das Putzen, das Marschieren, das Exerzieren, das Hungern und das Kochen hatten mich, wider Willen, ganz rationell gemacht. Ich schämte mich bisweilen, daß ich der Vernunft so viel Rechte einräumte über Ahnung, Phantasie und Glauben. Aber es ging mir damals wie so manchem Jungdeutschen von heute, welcher sich oft in der Seele schämt, daß ihm noch so viele mittelalterliche Vorstellungen ankleben, und er kann sie nicht los werden. Demnach blieben die Katzen für mich ordinäre Katzen, und meine fatale Vernunft suchte immerfort nach neuen Gründen, weshalb die Leute konnten fortgegangen sein, ohne daß ich doch den rechten fand.
Einmal hatte ich mich in meinen Mantel gehüllt und wollte meinen nächstwohnenden Kameraden aufsuchen, um mit ihm zu besprechen, was in dem Falle zu tun sei. Vielleicht war auch er verlassen; dann war es ein angelegter Plan, und unsere Pflicht war es, uns dem Könige und dem Vaterlande zu retten und mit Sack und Pack ins Hauptquartier zu marschieren, nämlich in unsres. Aber der Nebel war so stark, daß ich das Gehöft nicht finden konnte und zufrieden war, nach dem Umherirren von einer Stunde in Regen und Nässe meine eigene Hütte wieder zu finden. Nun mahnte der Hunger. Die Mittagszeit war längst vorüber, aber in meiner Wohnung alles beim alten, nämlich nichts zu finden als Zwiebeln und Brot. Ich verzehrte dieses spanische Guerilla- mittagbrot und – war unversehens eingeschlafen. – Die hellprasselnden Flammen des Kamins und das Aufsieden der Marmite weckten mich endlich, als es schon ganz finster war. Da war alles, als wäre nichts geschehen, als sei meine Einsamkeit wirklich ein Märchentraum gewesen. Die Alte saß am Kamin und rührte in der Marmite, der Kapitän hämmerte und seine Braut deckte den Tisch.
»Monsieur ist wohl hungrig? Wir sind etwas spät zurückgekommen,« sagte die Alte lächelnd. Ich wollte auffahren; ich hatte Lust zu zürnen. Der Kapitän wußte durch einen freundlichen Scherz das Unwetter abzuleiten. Die Soupe de legumes war sehr warm und heute besonders geraten; ich schlürfte den Unwillen hinunter. Die Familie war nur in den Buchenwald gegangen, um »Faines«, »Buchnüsse« zu sammeln. Was wir, soviel ich weiß, den Schweinen überlassen, ward hier gesammelt, um Öl daraus zu pressen. Ich wollte doch noch ungehalten sein, daß man mich allein und ohne Speise und Trank zurückgelassen. Man bot mir an, das nächstemal mit in den Wald zu gehen; das wäre ein sehr hübsches Vergnügen. Möglich, im Mai und Juni; aber im späten Oktober durch nasses Laub zu streifen, um vom Morgen bis Abend Buchnüsse zu raffen, dazu war ich nicht in Frankreich.
Wozu war ich denn überhaupt in Frankreich, ich meine: jetzt noch? Diese Frage, an der wir alle laborierten, sollte uns bald beantwortet werden, aber nicht zu unsrer Zufriedenheit. Tor, daß ich über die Einsamkeit, die tatenlose Ruhe nur einen stillen Stoßseufzer verloren! Der Märchentraum war in einer Woche vorüber. Wir mußten wieder putzen, exerzieren, marschieren, paradieren, früh bis abends. Es war eine Lust, dieses Exerzieren auf den quellenden Wiesen, im aufgeweichten, fetten Boden, um uns vorzubereiten, zum Kriege – nein, zur Rückkehr in die Heimat! Sieben starke Stunden weit lag die Festung Rocroy, wo das Hauptquartier unsres Regiments war, von unserm Dorfe entfernt. Es gefiel dem Kommandierenden, daß wir wieder einmal dort Parade spielen sollten. Ein rechtes Wetter zur Parade; denn die Regengüsse strömten Tag und Nacht. Und auf den Morgen um neun Uhr war sie angesetzt. Nur die Nacht durch brauchten wir im Sturmschritt zu marschieren, und alles war gut – vorausgesetzt, daß wir gut vorher geputzt hatten!
Wo blieb der Putz, als wir uns endlich um ein Uhr in der Nacht auf dem Versammlungsplatze einfanden. Über Gräben und Hecken, durch einsinkende Wiesen, in stockfinsterer Nacht brauchten viele von uns statt einer Stunde zwei, um nur bis dahin zu gelangen, und viele hatten den vollständigen Abdruck ihrer Figur im Kot der abschüssigen Wege zurückgelassen. Aber diesen Nachtmarsch darauf! Über geackertes Land und nasse Wiesen; denn die hohlen Wege unsrer Bagage waren gar nicht zu passieren. Wenigstens wäre es besser gewesen, im festen Bette eines mäßigen Flusses zu marschieren, als in dem glitschernden Wasser und aufgeweichten Lehmboden. Im ganzen Feldzuge erinnerten wir uns keines ähnlichen Marsches; aber was erträgt man nicht, wenn es zu einem Zwecke dient, wogegen dieselben Anstrengungen zu einer leeren Spielerei mit dem Körper auch den Geist erschlaffen. Natürlich verspäteten wir uns, wurden heftig gerügt, angewiesen, das Versäumte nachzuholen, häufiger zu exerzieren, besser zu putzen und dergleichen. Unsre Offiziere traf der nächste Vorwurf, und daß sie ihn nicht auf sich sitzen ließen, sondern weiter gaben, liegt in der Natur des Menschen. So, todmüde, in Kot starrend, von Nässe durchschüttelt, ward eine große Parade abgehalten, dann einer Feldpredigt beigewohnt – entsinne ich mich recht, so war es ein Friedensfest; ein schöner Friedensanfang für uns! – und dann zurückmarschiert; auf denselben Wegen, aber in einer zweiten Nacht! Zwei Nächte und einen Tag auf grundlosen Wegen marschiert, einen Tag über exerziert und paradiert und nichts zu essen und zu trinken, als was wir im Brotsack und der Flasche mitgebracht.
Der Tag von Rocroy blieb uns allen in furchtbarem Gedächtnis. Was an Waffen, Uniform und Schuhen noch bis da gehalten, saß jetzt in den letzten Zügen. Der Unwille war allgemein. Wozu diese Quälerei? Noch entlud er sich nicht; auch als viele, welche beim nächtlichen Rückmarsch sich verspätet hatten, zur Strafe nachexerzieren mußten, ertrug man es mit Geduld; als aber eine ebensolche Parade zur Feier der Leipziger Schlacht am 18. Oktober, ebenfalls in Rocroy, angesetzt war, und ein noch furchtbareres Wetter die schrecklichste Aussicht bot, ging schon ein dumpfes Gemurmel durch die Reihen. Ob man sich vor der Stimmung fürchtete? Ich bezweifle es. Das Wetter wurde zu schlecht; deshalb ward offiziell die Parade abgesagt. Der Jubel, der durch unsre Reihen scholl, war ein unermeßlicher; er sprach deutlicher als das Gemurmel, wie unsre Stimmung war. In meinem Tagebuche steht: »Eine größere Freude haben wir im ganzen Feldzuge nicht erlebt –« Freude darüber, daß wir nicht die Schlacht bei Leipzig feierten! Ein bedenkliches Zeichen, wenn man die beste Stimmung, die unter uns herrschte, so schlecht zu nutzen verstand.
Aber es geschah in der Tat jetzt alles mögliche, um diese Stimmung zu verderben, uns fühlen zu lassen, daß man auf unser Freiwilligentum nichts gäbe. Um dem alten preußischen Unteroffizierstriebe noch in den letzten Augenblicken zu frönen, wollte man keinen vorübergehen lassen, den wir noch unter militärischer Disziplin standen, uns den ganzen Ballast des Gamaschendienstes auf die Schultern zu laden. Von wem dies ausging, ich weiß es nicht. Vielleicht, wie ich schon früher anführte, war es die politische Strömung von auswärts aus den höheren Regionen herab, damit das Gefühl der Freiwilligen, mit Vaterlandsretter gewesen zu sein, gedämpft werde. Möglicherweise war es aber auch nur eben jener subalterne Trieb des militärischen Zunftgeistes, der nicht von seiner Art lassen konnte. Man mochte fürchten, daß die gefürchtete Freiheit uns zu Exzessen, zum Übermut verleiten könne. Eine sehr törichte Furcht in unsrer Lage und in unsern Kantonierungen!
Da wurden neue Einteilungen gemacht, neue Gefreite gewählt, neue Posten errichtet, nur, um uns zu beschäftigen. Unsre Kompagnie war in zwei Dörfern einquartiert. Da stellte man auf einem hohen Felde zwischen beiden in der Nacht eine Schildwacht, die durchaus nicht wußte, was sie bewachen sollte. Denn wenn sich ein Feind, eine verdächtige Bewegung zeigte, mußte sie eine halbe Stunde bis zur Wache zurücklaufen, um zu rapportieren. Bei einer wirklichen Gefahr wäre sie vom Feinde augenblicklich weggenommen worden, ehe es ihr gelang, zu entfliehen; denn sie stand allein auf einer hellen, weitgesehenen Höhe, und ringsumher in der Tiefe war Buschwerk. Um der Sache einen Namen zu geben, sagte man, sie solle auf etwaiges Feuer acht haben. Ein solcher Nachtwächterposten kam uns aber erst recht ehrenrührig und zugleich sinnlos vor, da einzelne Gehöfte vom Posten mehrere Stunden entfernt lagen, und ein Hof völlig niedergebrannt sein mochte, bis die Schildwacht darüber nur auf der Hauptwache berichtet hatte. Die Kritik über Anordnungen der Art ward auch gar nicht mehr im stillen geflüstert, sondern ging laut von Mund zu Munde. Jenes Vexierpostens spottete man so, daß die ganze Ablösung desselben in heitern Nächten sich hinauf begab und in einer duftenden Heumiete eine Höhle grub. Während die übrigen vortrefflich ruhten, stand der eine Wache, nicht nach Feuer und Feind ausschauend, sondern ob kein Lauscherauge sich nähere.
Die Unzufriedenheit fand auch in mancherlei anderem Nahrung. Man hatte uns zum Lohne für unsern schweren Dienst besonders gute Kantonierungsquartiere verheißen. Das waren auch die bessern in diesen Dörfern nicht. Wir sollten Wein geliefert erhalten; es geschah ein einziges Mal: am Tage der Leipziger Schlacht. Aber diese halbe Flasche war die erste und letzte in Frankreich, das uns für das Vaterland des Weines galt. Allerhand von Veruntreuungen und Einverständnissen ward gemunkelt. Ich habe es vergessen. Einzelne Erinnerungen aus jenen Kantonierungen in den Ardennendörfern sind in eine meiner frühen Novellen »Iblou« übergegangen. Da hat sich denn manches im poetischen Gewände erhalten, über dessen Echtheit ich heute kein Zeugnis mehr ablegen kann. Auch eine dunkle Tradition von einem Liebesverhältnis eines unsrer Offiziere mit einer Französin und einem bösen Maire jenes Namens, welcher nachher von seinen eigenen Leuten im Walde erschossen worden. Solche Verdächtigungen sind immer ein übles Zeichen, weniger der Tatsache, die man argwöhnt, oft irrtümlich, als des unglücklichen Geistes des Mißtrauens, der sich in eine Gemeinschaft eingeschlichen hat. Auch hieß es, daß man den Freiwilligen versprochen, sie nach Paris zu schaffen; ehe sie Frankreich verließen, sollten sie die eroberte und gedemütigte Hauptstadt gesehen haben. Allerdings erging ein solcher Antrag an uns; aber mit solchen Klauseln, daß niemand davon Gebrauch machen konnte. Eine jener halben Maßregeln, durch welche man ganze Schritte wieder halb zurück tat. Der Antrag wurde beim Verlesen satirisch kommentiert und höhnisch verlacht.
Alles das war geringfügig gegen das Gamaschenspiel, das man mit uns trieb. Wer glaubt es heut, daß man uns den ganzen Krieg durch ließ, wie wir uns selbst und auf eigne Kosten equipiert hatten; aber nun er vorbei war, wollte man uns uniformieren und dressieren! Absolut sollten wir uns Tschakos anschaffen; wer, wie ich, trotzig bis zuletzt bei seiner Mütze verharrte, ward in Reih und Glied immer tiefer hinabgedrängt. Auch andre Hosen sollten uns geliefert werden, stramm, eng anschließende graue Kommißhosen, die zugleich in Gamaschen ausliefen, jene unglückselige Bekleidung, welche bis ehegestern den preußischen Infanteristen zu einer Puppe machte und den Körper an jeder freien Bewegung hinderte. Sie hat sich im Felde nicht mehr bewährt oder vielmehr ihre ganze Unzweckmäßigkeit nicht mehr an den Tag legen können. Das Einschnüren versuchte man freilich bei uns nicht; aber wir sahen doch täglich das Beispiel vor Augen, und wer seine Taille recht schmal zusammenpreßte, gehörte zu den »Adretten« und ward vor den »Malpropren« bevorzugt. Es gingen fast dreißig Jahre ins Land, bis dieser Unsinn wie eine überreife Modekrankheit abblätterte, und man zur Erkenntnis kam, daß (wenn auch in sonst nichts) wir in der Kleidung uns doch dem Mittelalter wieder nähern müßten, und daß der Dreißigjährige Krieg für die Soldatenkleidung die besten Modelle liefere. Die Infanterie blieb aber nicht bei den Kleidern haften.
Mit unsern Bärten konnte man nicht spielen, da wir keine hatten, wenigstens der größere Teil. Dafür richtete man sein Augenmerk auf unsre Haare. Wie in Tiecks »Fortunat«,» Fortunat« ist ein satirisch-ironisches Märchendrama in zwei Teilen, (Bd. III des »Phantasus«.) – »Starch is the thing« (»Stärke ist das Ding«), angeblicher Ausspruch Georges Bryan Brummels, des Modekönigs am Hofe Georgs III. von England. Barben d'Aurevilly hat eine Studie über Brummel geschrieben, darin er sagt: »Von 1799 bis 1814 hat es in London keine Festlichkeit gegeben, wobei nicht die Anwesenheit des großen Dandy als ein Triumph, seine Abwesenheit als eine Katastrophe betrachtet worden wäre.« Brummel ist der »Held« in Bulwers Roman »Pelham« (Univ.-Bibl. Nr. 1041–45) und in Listers Roman »Granby«. Sogar eine zweibändige Biographie Brummels (von Jesse) ist veröffentlicht worden. ward uns ein Normalkopf gezeigt, der kurz hinten abgeschnitten war: und diese kurzen Haare starrten wieder wie die Borsten einer Bürste in die Höhe. Wie aber das bewerkstelligen? Bürsten und Kämmen allein tut es nicht, sagte unser Hauptmann in vertraulichem Ernst; es gehört noch etwas andres dazu. »Starch is the think!« – diese goldene Erbschaft hinterließ bekanntlich der große Brummel seinem undankbaren Vaterlande, als er dasselbe, in die Verbannung gehend, verließ; und seitdem trägt man in England steife Halsbinden. Aber Stärke war nicht das Ding hier, sondern Bier. Mit Bier, das wir übrigens nicht einmal zum Trinken geliefert erhielten, wie uns verheißen worden, mit Bier sollten wir jeden Abend unsern Hinterkopf waschen, dann das Haar seitwärts schräg in die Höhe kämmen und bürsten und endlich, wenn es in die rechte Lage gebracht, ein Tuch darum schlagen, es fest um den Kopf binden, und so die Nacht schlafen. Das würde unsern Kopf preußisch normalmäßig zurechtsetzen!
Ich muß unserm Hauptmann das Zeugnis geben, daß er hierin nicht als Despot auftrat, daß er diese Manipulation nicht befahl, sondern als aufrichtiger Freund nur anempfahl. Von der Masse es zu erwarten, wäre zu viel gefordert gewesen; aber er hoffte von den Erwähltern, daß der bessere, innere Trieb sie antreiben werde, sich über die andern zu erheben, das heißt, ihre Haare. Ich, mit mehreren, empfand eine herzliche Verachtung gegen diese Jämmerlichkeiten; und doch – wer erklärt diese Irrung der Natur – ich fing an, mein Haar naturwidrig zu Berge zu streichen, ja, wenn ich Bier zur Hand hatte, feuchtete ich es wohl damit an, still erfreut, wenn es gut stand. Es hat lange Jahre gedauert, bis ich zu den Gesetzen der Natur zurückgekehrt bin; es war, meinte ich, eine unschuldige militärische Erinnerung. Ja, noch jetzt betreffe ich mich zuweilen, daß ich unwillkürlich das Haar in die Höhe bürste!
Kurz vor dem Ende dieses Feldzugs ward noch eine wichtige Entdeckung entweder gemacht oder doch vervollkommnet: es war die neue Art, die Mäntel zu rollen und zusammen zu schnallen, dergestalt, daß sie wie eine dralle, runde Wurst kranzförmig um die Schultern gehängt werden konnten; der Tornister darüber oder darunter – hierüber schwankte noch die Theorie. Es war etwas unbequem, sollte aber sehr gut aussehen. Fünf, sechs, wo nicht mehr Kameraden waren jedesmal nötig, um den Mantel, der wie ein Prelltuch in der Luft ausgebreitet wurde, auf diese Weise zusammenzurollen Dürfen wir hier an das vielzitierte »Was nutzt mich der Mantel, wenn er nicht gerollt ist« erinnern? Es entstammt den »Fliegenden Blättern« (V, Nr. 98, 1847), wo es »der Einjährig-Freiwillige auf dem Marsche« sagt. . Das gab viel Beschäftigung, Sorge und Kritik; doch förderte es den Gemeingeist: der einzelne konnte für sich nichts tun. Was wetteiferten die Kameradschaften, durch Zerren, Pressen, im Schweiß ihres Angesichts die schlanksten Mantelwürste zu produzieren! Daß das Tuch selbst darunter litt und faserdünn wurde, darauf konnte es natürlicherweise nicht ankommen, wenn der Hauptmann dafür mit Vergnügen hinter den Reihen schritt und die glattesten und dünnsten Mantelschlangen mit eigner Hand befühlte und teilnehmend darauf klopfte.
Der Winter kam an. Das helle Wasser stand auf den Wiesen, daß wir dem Augenblick entgegensahen, wo wir zu Kahn zum Appell fahren würden; aber noch verlautete nichts von Entlassung oder Rückmarsch – nur von neuen Paraden! Ich träumte von einer, die im Städtchen Aubenton angesetzt war, als es in der Nacht heftig an die Türläden pochte. Eines Kameraden Stimme rief meinen Namen mit lautem Hallo. Er stürzte durch die erbrochene Tür; mit Sack und Pack, mit Wehr und Waffen. »Der Generalmarsch wird geblasen! Wir rücken aus! Es ist kein Augenblick zu verlieren!« – Wohin? – Das wußte niemand. Hatte der Kamerad doch selbst nur von einem Bauer die Nachricht erhalten, das Signalhorn nur in der Ferne gehört, durch Nacht und Nebel schmettern. So zerstreut lagen wir, daß in der Eile kein Umlauf zu bewirken war. Aufspringen, nach Licht rufen, Feuer anmachen, suchen, die zerstreuten Sachen zusammenwerfen, packen, war das Werk eines Augenblicks, während mein Kamerad mit dem Büchsenkolben auf die Schwelle stampfte, um mich und meine Wirtin zur Eile anzutreiben. Ein erschreckender Gedanke: allein zurückbleiben zu müssen. Ein Stück Brot, einen Apfel in der Tasche, mit einem Händedruck für meine gutwilligen Wirte, stürzte ich ins Dunkel und den Regen hinaus, um die Hütte, in der ich vier Wochen gelegen, nicht wieder zu sehen. Die Eile war unnötig; diesmal waren wir die ersten auf dem Platze und mußten zwei Stunden im Regen warten, bis abmarschiert ward. Doch mit einigem Troste. Nicht nach Metz, wie das Gerücht sagte, sondern nach der Maasfestung Mezières ging der Marsch und von dort nach der Stadt Sedan, wo wir mit unserm Regimente eine neue, letzte Kantonierung beziehen sollten, um nach Hause entlassen zu werden.
Mit den Fatalitäten dieser Märsche will ich meine Leser, die mir bis hier gefolgt, nicht unterhalten. Die französischen Chausseen waren mit den unsern jener Zeit nicht zu vergleichen; aber im regnerischen Oktober- und Novemberwetter und von Heereszügen und Artillerietrains aufgewühlt, waren sie nicht viel besser, als die durchweichten Landwege, welche wir bis da hin und wieder von den Chausseen herab bis in die entfernt gelegenen Dörfer zu machen hatten. Dazu fast immer Nachtmärsche, nun, zu Ausgang eines trüben Oktobers, zuweilen unter Fackelbegleitung, weil es durchaus unmöglich war, den Weg zu finden.
Wir marschierten in Parade durch Charlesville und Mezières, eine traurige Parade, da wir an uns wirklich nichts mehr hatten, um zu paradieren. Ein grauer Regenhimmel hängte seinen schützenden Mantel über unsre Blößen oder unser Zuviel. Die durch Bayards Verteidigung berühmt gewordene Festung soll in ihrem Innern noch manche Erinnerung an jene Zeit aufzuweisen haben; im Äußern sieht man nichts vom edlen Rost des Altertums. Noch weniger sahen wir im Felde umher etwas von den berühmten Schanzen, welche Franz von Sickingen gegen den Helden ohne Furcht und Tadel aufwarf. Der Umstand selbst, daß wir hier auf einem auch für Deutschland klassischen Boden standen, war wohl keinem unter uns bekannt.
In Sedan zogen wir mit Spiel und Klang ein, um des Glückes zum erstenmal teilhaftig zu werden, in einer größeren, französischen Stadt Quartiere zu beziehen. Sie waren leidlich und wurden durch den Umgang mit freundlichen Wirten selbst angenehm. Wie manches kam uns nach dem langen Biwakieren und den Quartieren in armen Gebirgsdörfern sogar als Luxus vor, was uns zu Hause eine alltägliche Erscheinung war. Ein Bette, ein servierter Tisch, sauber wenigstens angerichtete Speisen und dazu französische Höflichkeit. Die Stadt ist verhältnismäßig groß, heiter und trägt noch einige Spuren ihres ehemaligen mittelalterlichen Charakters, als sie die Residenz und Hauptstadt nicht unmächtiger Dynastengeschlechter an der Grenze zwischen Frankreich und Deutschland war. Hier herrschten die Bouillons, die einst die Krone von Jerusalem eroberten und trugen, hier die Herren von der Mark, denen Walter Scott durch seine karikierte Schilderung des »Ebers der Ardennen« nicht geschmeichelt hat, Fürsten, zuzeiten wohl geeignet, ihr Schwert in die Wagschale zu legen, die zwischen Deutschland und Frankreich schwankte. Franz von Sickingen Luthers Freund Franz v. Sickingen wurde als Hauptmann des oberrheinischen Ritterbundes 1523 von den deutschen Fürsten auf seiner Feste Landstuhl belagert und starb hier auch an einer Verwundung. war lange Zeit noch mit ihnen verbündet, und seine letzte Hoffnung auf Landstuhl war auf Robert von der Mark gerichtet. Sie versagte. Mit der konsolidierten Macht des französischen Thrones ward die unabhängige Stellung dieser Grenzherren immer prekärer. Noch versuchten sie in den Reibungen der Feudalherren mit der Krone unter Ludwig XIII. sie zu retten, und nicht ohne Klugheit mischten sie sich in die Kämpfe der Prinzen von Geblüt mit dem allmächtigen Minister; aber Richelieus Klugheit war überwältigender, und Sedan, so oft der Waffenplatz der Mißvergnügten an der Grenze, ward der französischen Regierung unmittelbar unterworfen.
Von dem alten Feudalrecht steht noch ein gewaltiger Stengel inmitten der Stadt: die Burg mit ihren kolossalen, verwitterten, graubraunen Mauern, ehrwürdig, zerrissen, hinfällig vom Alter, und doch ein imposanter Anblick, trotz seiner wankenden Türme. Ich sah Sedan seitdem nicht wieder; aber entzückt ruft der siebzehnjährige Romantiker in seinen Briefen: »Ein ungeheures Riesenwerk, von Stein und Menschenhänden aufgeführt; keine erhabenere Ritterburg habe ich je gesehen.« Kanonen waren noch auf den Mauern aufgepflanzt. Unter der Tür zu einer verfallenen Kammer stand mit goldenen Buchstaben: Ici naquit Turenne. Die Bewohner von Sedan lassen sich noch heute gern »fils de Turenne« nennen.« Ici naquit Turenne: »Hier wurde (1611) Turenne geboren«, der berühmte Feldherr Ludwigs XIV. – »Söhne Turennes.« Aber nach unsern Begriffen achten sie die Wiege des Helden nicht besonders, indem sie die »Bequemlichkeiten«, welche man in den hoflosen, engen Häusern vermißt, unter den Mauern seiner Burg aufsuchen. In demselben naiven Sinn, wie jener Italiener den Reisenden anrief: »Non qui e palazzo«, wies uns die Tochter unsres Wirtes, als wir im Hofe suchten, nach dem alten Schlosse.» Non qui e palazzo« (»das ist hier kein Palast«) . . . noch heute hat man von solchen hygienischen Einrichtungen in Italien oft merkwürdige Vorstellungen.
Das gute Mädchen fragte mich einst in vollem Ernste, ob denn der Boden bei uns bebaut würde? Ich »ärgerte mich furchtbar darüber«, steht in meinem Briefe. Die Sünde der Unwissenheit dieses armen Mädchens teilen viele ihrer Landsleute. Noch eines andern naiven Ausdrucks entsinne ich mich. Sedan ist eine betriebsame Fabrikstadt. Ein Teil der Bevölkerung gehört der reformierten Kirche an. Auf unsre Frage, ob auch ihr Vater reformiert sei, antwortete die Tochter mit einem bescheidenen Erröten: »Ach nein, mein Herr, mein Vater ist nur ein Schlosser. Nur die reichen Einwohner, die großen Fabrikanten sind reformiert; wir Handwerker sind katholisch.« Es kam beinahe heraus, als wollte sie auch das »nur« sagen. Wenn das gute Kind sich sehnte, reformiert zu sein, so war es nur ein stiller Wunsch, auch, wie die geputzten Frauen und Töchter der reichen Fabrikherren, in die helle reformierte Kirche zu gehen. Aber ein seiden Kleid trug sie, trotzdem, daß sie nur katholisch war. Der bigotte Sinn des Landvolks war hier nicht eingedrungen.
Es gab auch ein Theater in Sedan. Tragödien und Lustspiele wurden abwechselnd aufgeführt; das Haus war mehr durch die Besatzung als die Einwohner gefüllt. Ich sah des unsterblichen Corneille »Nicomedes« über die Bretter schreiten, welcher, nach des großen Voltaire Urteil, die vorzüglichste Tragödie desselben war, und die Einwohner von Sedan sollten zum ersten Male das Vergnügen und die Ehre haben, dieses Meisterwerk auf ihrer Bühne zu bewundern. So sagte ein ellenlanger, roter Zettel an den Ecken; aber »die Söhne Turennes« schienen wenig auf diese Ehre zu geben. Bei jeder Ankündigung eines neuen Stückes verfehlte der Direktor nicht, den Einwohnern im voraus zu sagen, wie außerordentlich dieses Stück den Parisern gefallen; also, stand hinter den Zeilen, hätten sie sich wohl danach zu achten, und wenn sie nicht jeden Anspruchs auf Geschmack sich begeben wollten, ebenfalls entzückt zu sein. Mich verdroß diese offene Darlegung der Geschmackstyrannei einer Hauptstadt; die Tragödien langweilten mich, natürlich schon um deswillen, weil ich als guter deutscher Romantiker an klassischen Tragödien der Franzosen keinen Geschmack finden durfte, und die Lustspiele, die, wie von allen französischen Truppen, mit Lebhaftigkeit und Grazie gespielt wurden, verstand ich nicht. Dennoch besuchte ich gern dieses Theater. Es war ein zu wunderbarer Gegensatz gegen die Ardennenhütten und das Lagerleben. Einige Kameraden gingen in der Bewunderung so weit, daß sie mitspielten. Da es mit unserm Freiwilligentum aus war, wurden sie freiwillige Römer und Griechen – nur aus unüberwindlicher Theaterlust. Statisten hier wie dort. Auch die in Deutschland als Oper einst so beliebt gewesene »La chasse du jeune Henry« Oper von Etienne Nicolas Mohul, komponiert im Jahre 1797. Namentlich die Ouvertüre war lange Jahre eine begehrte Zwischenaktsmusik. Eine sehr interessante Kritik über die Oper schrieb E. Th. A. Hoffmann 1812 für die »Allgemeine Musikalische Zeitung«. ward hier wiedergegeben. Im Parterre erhob sich die Bourbonen- und Friedenspartei und stimmte mit vollem Jubel in das »Vive Henry quatre!« ein. Vielleicht ein Schaustück für uns?!
Am 25. Oktober waren wir in Sedan eingerückt, um von dort aus in die Heimat entlassen zu werden. Am 9. November marschierten wir aus, noch nicht entlassen, um noch einige zehn Meilen tiefer in Frankreich hineinzumarschieren. Nur der Ordnung wegen! Vom 3. Oktober war der Kabinettsbefehl, daß man uns entlassen sollte! Aber nicht alle konnten mit einem Male entlassen werden, und an uns kam die Reihe zuletzt. Wieviel hundert Listen mußten vorher geschrieben und unterschrieben, abgeschrieben und kollationiert werden! Eine Kompagnie, die entlassen werden soll, ist wie eine Baurechnung, die oft noch nicht ganz erledigt und revidiert ist, wenn das Haus schon anfängt einzufallen. Aber anstatt uns zu lassen, wo wir waren, mußten wir unserm Regimente in dessen neu angewiesene Kantonierungen – es sollte auf fünf Jahre unter den Besatzungstruppen bleiben – nachfolgen. Zu welchem Zwecke diese mühsamen, unnützen, kostspieligen Märsche! Um noch etwas zu exerzieren, putzen, paradieren? Um nicht aus der Gewohnheit Zu kommen!
Die Gewohnheit, das heißt das Beispiel vom vorigen Kriege, forderte, daß aus der Zahl der Freiwilligen einige als Offiziere entlassen würden. Die letzten Spielereien hatten uns aber gegen das fernere Soldatensein einen solchen Widerwillen eingeimpft, daß unter uns dazu Aufgeforderten die Mehrzahl die Erklärung abgab, sie danke, es sei damit genug, und mache auf den Ehrentitel keinen Anspruch. Die zweite Frage war, wer weiterdienen wolle? Nur wenige, denen die Aussichten zum bürgerlichen Fortkommen durch Verhältnisse oder eigene Schuld versperrt schienen, meldeten sich dazu. Die Mehrzahl rief protestierend: »Wir wollen keine Tschakos, keine neuen Hosen, wir wollen nur nach Hause!«
Ungern schied ich nach einem längern als vierzehntägigen Aufenthalt von Sedan. Es war mir dort wohl ergangen, meine Wirte hatten sich von Tag zu Tage freundlicher bewiesen, mich, als ich krank war, gepflegt, selbst Wein angeboten – etwas, wozu sich der französische Wirt in diesen Gegenden sehr schwer entschloß – selbst freundlich waren sie geblieben, als ich eine große Delikatesse, welche die Töchter mir bereitet, ausschlug – ein Gericht Froschkeulen! Ich konnte mich nicht überwinden.
Und nun aus dem gastlichen, freundlichen Stadtaufenthalt wieder die Maas hinauf in Dörfer und Hütten, ohne Ziel! Nur etwas tröstete: der Frost und der Sonnenschein. Ich fror lieber in meiner abgeriebenen, dünnen Kleidung, als dies ewige, nasse Nebelwetter auf den Straßen, deren Kot wir an Schuh und Kleidern mitschleppen mußten.
Zehn Tage nach dem Ausmarsch aus Sedan finde ich mich endlich, wonach das Herz so lange sich gesehnt, bei dem alten Dun in einem Weindorfe, dem ersten und letzten in Frankreich. Aber grade mein Wirt behauptet, keinen Wein zu haben; er sei ganz arm, und der Wein teuer. Da entdeckten wir im Keller aus dem Boden eine große Anzahl Fässer, Kufen. Nun muß er geben; die gewöhnliche Ausrede, daß er nie zu Napoleon gehalten, hilft ihm nicht. Aber der Wein ist herzlich schlecht, und unsre Ärzte lassen uns warnen, davon zu trinken, da er Haut- und Eingeweidekrankheiten veranlasse. Den Becher an der so lange dürstenden Lippe, müssen wir ihn absetzen. Aber wir sind doch im Weinlande gewesen und haben Weinberge, vom Novembersonnenschein angerötet, gesehen. Und hier die ersten warmen Öfen. Wie das an die Heimat mahnte!
Aber auch in dem Weindorfe bei Dun noch keine Erlösung. In der Nacht hatte es unerwartet geschneit, fußhoch, und wir brachen auf, wieder westlich in die Gebirge, in eine neue, vierte Kantonierung. Auch im Schneekleide, von der Sonne angeglänzt, nahmen sich die Ardennen schön aus. Hier lagen wir bis gegen Ende November, und noch immer waren unsre Listen nicht fertig, unsre Marschroute nicht bestimmt. Noch einmal mußten wir wieder nördlich die Maas hinaufmarschieren, heute auf festgefrornem Boden, morgen hatte es getaut, und am Tage darauf hatten wir wieder grundlose Wege, bis an die Knie versinkend, bis ans Kinn bespritzt, zu durchwaten. Elende Quartiere, hier in Hütten, dort gelegentlich in einem alten Herrenhause mit allem Luxus aufgenommen. Wenigstens sollten wir diesen Teil von Frankreich in allen Klassen seiner Bewohner kennen lernen. Aber wir waren müde, wir hatten genug, kein moralischer Impuls trieb uns mehr; wir wollten nichts mehr lernen.
Und doch muß ich manches da gelernt haben. Es taucht vieles aus der Erinnerung auf, was ich in meinen Briefen nicht notiert finde. Wäre ich nur älter als siebzehn Jahre gewesen, welche Studien des französischen Bauerncharakters hätte ich machen, ich hatte »Dorfgeschichten aus der Pikardie« schreiben können! Wie ward ich oft als Wunder angestaunt wegen meiner Gelehrtheit, und welche Schulmeister lernte ich kennen und ward dieser meiner außerordentlichen Eigenschaft wegen zu ihnen geführt, ohne, es tut mir leid, es zu sagen, ihnen das Kompliment wiedergeben zu können. Da sollte ich Lateinisch mit einem sprechen. Der Schulmeister hielt es für angemessener, mir ein Glas Zider (Obstwein) vorzusetzen und mich zum Trinken aufzufordern. Wenn ich heute an des Schulmeisters Stelle wäre, machte ich es ebenso. – Aber in einem entlegenen Dorfe in den Ardennen wuchs dies Erstaunen zu einem gespensterhaften Ausdruck. Wir saßen am Kaminfeuer, als mein Zeltgenoß – derselbe, der spater den Heiden in Amerika predigte, damals aber Fouqués »Zauberring« für das größte Werk der Deutschen hielt – in den Winkeln umherstöberte und einen alten, schweinsledernen Band auffand, welcher, der Himmel, weiß wie, dahin geraten war. Es waren Ovids »Metamorphosen«. Er schlug lachend mit der Hand auf den Fund und begann den ersten Vers zu rezitieren, als ich, der noch etwa fünf bis sechs Monate vorher in Sekunda meinen Ovid wohl durchpflügt und wenigstens die ersten Verse im Kopfe hatte, einfiel:
In nova fert animus mutatas dicere formas Corpora.
So respondierten wir beide. Die Blicke der guten pikardischen Bauern und Bäuerinnen zu schildern, ist mir nicht möglich. Einer schrie dem andern das Wunder zu: »Il sait par coeur, ce qu'aucun, dans tout le village peut lire.« Ein gemeiner Soldat, ein Soldat aus dem Barbarenlande, und er weiß ein Buch auswendig, was selbst der Pfarrer nicht recht kannte. Man kam, mich zu sehen als ein halbes Wundertier oder einen Zauberer. Dann sollte ich dem Pfarrer vorgestellt werden. Ich weiß nicht, warum es unterblieb. Der Zider des Herrn Pfarrer war vermutlich nicht süß genug. Endlich siegte der industrielle Sinn über das Märchenhafte. Man berechnete, daß ein solches Buch, welches wir in der Barbarei auswendig wußten, außerordentlichen Wert haben müsse, und bot es mir zum Kauf an. Ich dankte dafür, weil es jeder bei uns besäße.
In Givet sollten wir förmlich entlassen werden; dorthin waren die Jägerdetachements aller Regimenter beordert, um gemeinschaftlich den Rückmarsch anzutreten. So waren wir schon von unserm Regimente getrennt, und der Kommandeur desselben ließ uns schriftlich sein Bedauern ausdrücken, nicht mehr uns wiederzusehen und persönlich von uns Abschied nehmen zu können. Er war ein strenger Ehrenmann, wenn er uns gleich, nach unsrer Meinung, ohne Not zu sehr gequält hatte. Zu Bysanci in den Ardennen entließ uns ein andrer General nach einer Parade mit den Worten: »Na, Jäger, nun werdet Ihr nach Hause gehen. Ich danke Ihnen im Namen des Königs. Na, und wenn's wieder losgeht, so kommen Sie doch wieder?« Nur einige Stimmen antworteten; fort war er geritten. Der General ist jetzt tot; er war erst seit kurzem ein Preuße geworden.
Auch der November war verstrichen, und ein regnerischer, unfreundlicher Dezember sah uns noch immer in Frankreich. Am 4. standen wir, von einem Marsche durch Wasser und Schmutz bis über die Ohren bespritzt, in einem großen Kasernenhofe zu Sedan, viele Tausend freiwilliger Jäger um einen freien Mittelpunkt, wo der General von Ziethen zu Pferde eine Entlassungsanrede an uns hielt. Es stäubte vom Himmel. Der Tag, die Rede sind mir unvergeßlich. Der Sinn der Rede war: nun sei es aus. Wir sollten uns nicht einbilden, mehr getan zu haben, als unsre Schuldigkeit wäre; wir hatten getan, was wir hätten tun müssen, und weil es nun vorbei sei, schicke uns der König nach Hause. Aber doch sollten wir darum nicht denken, daß es aus wäre; denn wenn Seine Majestät der König beföhle, müßten wir wiederkommen, und dann ginge es wieder an. Danach hätten wir uns zu achten. –
Also darum – Freiwilliger! Der Regen war nicht kalt; aber die Rede wirkte wie ein Glas kaltes Wasser. Wenn ich später den seligen Professor und Geheimrat Schmalz hörte und Friedrich v. Gentz' Artikel über die Freiwilligen las, dachte ich an den General Ziethen und den Kasernenhof in Sedan.
Ein andrer General sprach nach Ziethen. Ich glaubte, es sollte ein Zuckerpulver werden auf den harten Teig, den wir zu verdauen hatten; aber es war Pfeffer, auf Wunden gestreut. Dieser General sollte den Rückmarsch der heimziehenden Jäger befehligen; er hielt es deshalb für nötig, die strenge Seite im voraus herauszukehren. Seine Worte waren Drohungen von In-die-zweite-Klasse-versetzen, Stockschlägen und Von-Gendarmerie-zurückbringen-lassen. Sah er uns denn an, daß wir Marodeure waren? Er konnte uns höchstens unser Mißvergnügen ansehen.
Von diesem Augenblicke an war mein und mehrerer andrer Entschluß gefaßt, die uns schon früher angebotene Entlassung zu nehmen, um auf eigene Kosten zurückzukehren. Obgleich diese Anordnung nicht von unsern unmittelbaren Vorgesetzten herrührte, sondern aus höherer Quelle kam, stellte man uns doch alle möglichen Schwierigkeiten in den Weg, und es gehörte Geduld, Ausdauer und ein so fest gewordener Entschluß dazu, um endlich unsern Paß zu ertrotzen.
Ich wollte nicht länger Soldat spielen, ich wollte nicht einen Tschako auf meinen Kopf drücken, und meine Haare nicht länger in die Höhe pressen. Es gibt Augenblicke, da die willigste, duldsamste Natur die Grenze des Duldens erreicht hat und zu einem Widerstande, vor dem sie sonst erschrocken wäre, fähig ist. Überdem war es eine traurige Aussicht, auf der großen Heeresstraße, im Gefolge von 4000 Jägern, die zugleich entlassen wurden, in langsamen Märschen und im Winter nach der Heimat zu kehren. Während es mir sehr poetisch vorkam, mit wenigen Befreundeten und nach Muße durch das südliche Deutschland, über altberühmte Städte dem Vaterlande als ein freier Mann zuzueilen. Wir wollten über Luxemburg, Trier, Mainz und Frankfurt reisen. Mit dem »auf eigene Kosten« ward es in solchen Fällen nicht zu streng genommen, da es ein ganz ungewöhnlicher Fall war, daß Soldaten, die vom Feldzuge zurückkehrten, nicht einquartiert würden; auch hätte unsre Barschaft allein wohl schwerlich noch zu dieser Reise ausgereicht.
Noch abermals zehn Tage zog man uns hin. Noch einmal marschierten wir zurück in die Gebirge, noch einmal kehrten wir nach Givet zurück, und erst am Abende des 13. Dezember kehrten wir mit unsern Pässen in das schon früher genannte Dorf Fromlianes zurück, einst während der Belagerung der Sitz eines der Vorposten, um zum letzten Male mit unserm Detachement daselbst zu übernachten. Es war ein seliges Gefühl, als wir uns auf das elendeste Strohlager niederwarfen; denn wir waren frei. O diese Nacht, wo wir ausschlafen konnten, Herren über unser Geschick! Und als am Morgen das Horn weckte und rief, und alles fortstürzte – uns ging es nicht mehr an, wir konnten uns umwenden, strecken, die Augen wieder schließen. Nein, wir sprangen doch auf, nur später, und doch zeitig genug, um an den Reihen unsrer nicht so glücklichen Kameraden vorüberzugehen, die Hände mit ihnen zu schütteln und, als das Horn wieder schmetterte, die Kommandoworte erschallten, ein fröhliches Auf-Wiedersehen im Vaterlande uns zuzurufen. Es war ein bewegter Abschied.
Warum war es nur der Abschied der Zeltgenossen, warum nicht der ganze Ausgang eines glücklichen Krieges? Weil – der Jammer schon anbrach, der jedem aufgeregten Zustande folgt. Weil man schon anfing, es zu bereuen, aus dem alten Geleise gewichen zu sein, weil der tote Organismus unbemerkt Herr ward über den lebendigen Geist. Noch wußte man es nicht, daß man einen Schritt zu weit gegangen war; aber das Gefühl, der Instinkt war schon da, daß man Kräfte aufgerufen, die man weiterführen oder zurückdrängen mußte. Ein Stillstand war nicht möglich. Dieses unbewußte Gefühl arbeitete in den Trägern der alten Ordnung. – – –
Ich breche hier ab; ich wollte eine mir werte Erinnerung an die letzten Ausläufe einer großen Zeit niederschreiben, nicht Epigramme, wie die Halbheit scheuer Bewachung den Sieg davontrug über, rückhaltloses Vertrauen und zu volle gläubige Begeisterung.
Unsre Rückreise war nicht ohne Abenteuer, Fährlichkeiten und angenehme Erlebnisse. Von den Vieren, welche sie zusammen antraten, vom schönsten Winterwetter begünstigt, ist mir der eine aus den Augen verschwunden, der Zweite ist ein namhafter Arzt und glücklicher Dirigent einer berühmten Irrenanstalt, und der Vierte, der sich nicht zu retten wußte vor den Nachwirkungen und Versuchungen des Soldatenlebens, ist wahrscheinlich in Amerika verkommen.