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Das japanische Schrifttum – das hier zum erstenmal in Deutschland in einem Überblick vorgelegt wird – will von dem Leser nicht anders wahrgenommen werden, als etwa eine Abteilung ostasiatischer Flora in einem groß angelegten botanischen Garten. Wie dort der Gärtner, so hatte hier die Übertragung ein Zweifaches anzustreben: ästhetischen Genuß neben der bloßen Belehrung. Es liegt auf der Hand, daß diese beiden Aufgaben an einem so exotischen Gegenstand nicht immer gleichzeitig zu erfüllen waren.
Das Japan, das man in diesem Bande kennen lernt, ist nicht die einseitig graziöse impressionistische Kunstprovinz der Keramik und der Lackarbeiten, noch weniger das europäisierte und industrialisierte Land unserer Gegenwart. Aber auch nicht allein das ritterliche, strenge Feudalland von gestern oder das in unsere Zeit fremdartig hineinragende Reich eines, an den alten Orient und an Afrikanisches gemahnenden, Gottkaisertums. Man wird kein bloßes Brevier adeliger Hofkunst vorfinden und auch keine Art buddhistischen Breviers. Die japanische Literatur umfaßt vielmehr, als Spiegel einer mehr als tausendjährigen Geistesgeschichte und Beeinflussung von ältesten Kulturen her, alles das – und in Wahrheit noch etliches mehr und viel Tieferes. Ohne eine gewisse fortlaufende Beachtung der kulturellen und auch der sogenannt politischen Erscheinungen in ihren Grundzügen kann die so abgelegene japanische Dichtung und Prosa gar nicht aufgefaßt werden.
Die älteste schriftlose, nur mittelbar überlieferte Urzeit und die wichtigen religiösen Dokumente der, nach der ersten dauernden Kulturstätte Nara benannten, Epoche (8. Jahrhundert) zeigen ein Volk von Fischern und Jägern, das gerade den Reisbau, jedenfalls vom Festlande her, eingeführt und geregelt hat. Aber dieses Volk ist, wie die meisten werdenden Kulturvölker, nicht mehr homogen. Die hellere Urbevölkerung der Ainu (Emishi) ist von Festländern gründlich und von seewärts einbrechenden malaiischen Herrenstämmen oder Seeräubern politisch durchsetzt worden. Das »Kojiki«, der nach Jahrhunderten redigierte Niederschlag der Anschauungen dieser letzten Einwanderer, zeigt die den polynesischen Vettern verwandte Götter- und Kulturheroenwelt in ihrer teils kriegerischen, teils friedlichen Auseinandersetzung mit den »Landesgöttern«, d. i. den Autochthonen. Dieses, japanisch nur lesbare, weil von der schriftlosen jungen Nation in chinesischer Bilderschrift niedergeschriebene Geschichtswerk vom Beginn des 8. Jahrhunderts hat freilich, gleich seinem rein chinesischen Parallelwerk, dem »Nihongi«, die wichtigen innern Kämpfe zwischen den einzelnen Erobererstämmen vertuscht. Sie sind da und dort noch erkennbar; ganz charakteristisch in dem Streit von Sonne (Amaterasu) und Wind- und Unterweltsgott Susanowo um ihre Nachkommenschaft, d. i. um die Vorherrschaft auf den »Acht Inseln« (Seite 44). Jimmu-Tenno, der Häuptling der südlichen Insel Kiushu, der Sonnensproß – ein Priester nach unserer modernen Auffassung – überschattet erst im Laufe von Jahrhunderten die andern Stämme (jap. Uji), seine Nachkommen überwältigen auch die Nachkommen Susanowos mit der Tochter des »Herrn vom Großen Berge«, des Gottes Fuji. Doch das im Kojiki so fertig aussehende, von uns so genannte Mikadotum ist darum noch lange nicht vollendet. So etwa wie der Horus-Falke in Ober- und Niederägypten, Gau um Gau, muß sich der »Himmelsenkel« von Kyushu auf der Hauptinsel Hondo, vom aufgesogenen Yamato östlich und nördlich vordringend, bei den andern Göttersprossen durchsetzen. Diese Art von Bundesverfassung lokaler Stammgottheiten weicht erst im 7. Jahrhundert dem in China schon seit langem orthodox gewordenen Königsprinzip der zentralen Beamtenverwaltung. Das geschieht durch die sogenannte Taikwa (Reform), wodurch, nach längerem vorbereitenden Einfluß von Korea, die chinesische Hierarchie der »Mützenränge« eingeführt wird, und durch die im wesentlichen bis zur Revolution von 1867 maßgebende Codification der Aera Taiho (um 700 n. Chr.). Der Literaturgeschichte hat diese frühmittelalterliche Zeit neben den mehr chinesischen Staatsdokumenten die Niederschriften der weit älteren Shinto-Riten hinterlassen als das kostbarste und großartigste Erzeugnis des alten Japan (Seite 21 ff.). Wie so oft, ist auch hier das Archaische von nicht wieder erreichter Schönheit. Die Wirkung, die sich aus seinem noch magischen und geglaubten Inhalt von selbst ergibt, übertrifft psycho-physisch alle später erstrebte Wirkung auf Sinne oder Gemüt.
Die Gedichte (gesammelt im 9. Jahrhundert zu dem, sprachlich in ihrer Niederschrift bald unverständlich gewordenen, Manyoshu) sind demgegenüber bereits bewußte Erzeugnisse. Am nächsten der alten Zauberwelt freier Rhythmen stehen die Hymnen oder Oden Hitomaros, eines orphischen Pindar, und die Verse des gleich nationalen Akahito. Die ungefähren Zeitgenossen: Okura, Tahibito und dessen Sohn Yakamochi sind bei aller großartigen geistigen Fortgeschrittenheit, besonders des Okura – stark im Banne der chinesischen Tang-Dichtung. Nicht solcher Stimmungsbilder, wie sie alle Welt von Li-Tai-Po kennt, sondern der zugleich weit ausladenden und realistisch eindringenden Dichtung etwa eines Tu-Fu. Um jene Zeit ist Japan bereits eine geistige Provinz Chinas, dessen imponierende, in den Staatseinrichtungen und einer klassisch-kanonischen Literatur niedergelegte Weisheit es jedoch in engster Verbindung mit einem schon lange chinesisch gewordenen Buddhismus erhält. Japan wird etwa 300 Jahre später als China von dem Licht des Ostens erleuchtet und tiefer durchleuchtet als dieses Durchgangsland der buddhistischen Patriarchen. Auf dem »Großen Fahrzeuge«, der weit mehr als alle katholische Kirchenpolitik aller Zeiten dem Polytheismus entgegenkommenden »Mahayana«-Richtung des nördlichen Buddhismus, flüchten Japans alte Götter (die Kami) in den Kern des alleinseligmachenden Lotus, von wo sie auch durch die spätesten neukonfuzianischen und nationalen Reinigungen nicht wieder zu entfernen sind. Der, mehr oder minder weltflüchtige, mehr oder minder gelehrte Mönch wird die wichtigste geistlich-geistige Erscheinung im fernen Osten ebenso wie ungefähr gleichzeitig im fernsten Westen auf der »Grünen Insel«. Und nahezu in demselben Jahre wie Monte Cassino kommt Boddhidharma, der Gründer der Meditationssekte Chinas, der späteren Zensekte Japans, in das Land des Tao. Seine Mission vollbringt dann, in Fortsetzung der theologischen Tendai-Richtung, das Butsudo, die geistige Umwandlung des malaiischen Recken in den buddhistischen japanischen Ritter. Ein Bernhard von Clairvaux hat ähnlich den Adel Frankreichs mit Mystik getränkt. Man lese dazu die Proben aus dem Heike-Monogatari und dem Gempei Seisuiki (Seite 217 ff. und 224).
Doch Buddha war, wie gesagt, zugleich mit den chinesischen Klassikern eingezogen. Wem das unvorstellbar ist, der denke zum Beispiel an die gemeinsame Wirkung des weltlichen und des christlichen Rom auf die jungen Völker Nordeuropas und, noch nach Jahrhunderten, die Entwicklung der »beiden« römischen Rechte oder die aristotelische Thomistik. Der Buddhismus ergreift Japan mit der Unendlichkeit seiner gereihten und gestuften Buddhas und Boddhisattvas; Chinas Konservativismus wirkt mehr auf die Kräfte des Verstandes. Man muß sich vor Augen halten, daß die volle Gestaltung der chinesischen Klassik erst eine Tat der weit späteren Sungzeit (Chu-his im zwölften Jahrhundert) ist, und daß der echte, ursprüngliche Konfutse ein großartiger Bauer ist, wie ein Cato major mit einer immerhin vorhandenen strengsten Gebundenheit an das Überweltliche (religio). Das vormals von einer fremden Kaste geübte, bald für den Beamtenadel Japans obligatorische Studium der westlichen Werke hat also damals noch Raum für religiösen und politischen »Aberglauben« genug. Auch der Taoismus, zu Anfang bekanntlich kein glatter Gegensatz zur späteren Staatslehre, wirkt sich, wenn auch nicht gerade übermäßig, in Japan aus. Die Heiligen und die »Genien«, die Alchimisten und die Sucher des Lebenselixiers gedeihen hier freilich nicht recht, auch die Exorzisten (Seite 189) erwachsen wohl aus dem buddhistischen Tantra. Aber die Seligen Inseln der Taosucher tauchen hie und da auf (so im Märchen Seite 148), und für immer überwältigend steht dann das buddhistische Westliche Paradies, das »Reine Land« des realen Erlösers Amida (Japans Jo-do) am Herzenshorizont. So herrscht China, das klassische des Kong und das indische des Fo, überall in Gedanken und Gefühlen, in Schriften und in besonderen sinojapanischen Verssammlungen. Aber bei der Sicherheit, die den Chinesen noch mehr als zum Beispiel den alten Römer auszeichnet, und die sich bei ihm in Eleganz wandelt, wurde er auch der Schöpfer der eigentlich blühenden Gattung des Schrifttums, des Fu, das ist des von den Historikern so genannten Essays, oder wie wir unbedenklich sagen wollen, des (sophistischen) Feuilletons. Man begreift, daß solche rhetorische Übung in einer Hofbeamtensphäre, halb von der Art der karolingischen, halb der um Louis Quatorze, vor allem Fuß fassen konnte. Das Kajo (Vorwort) der kaiserlichen Verssammlung Kokinshu (nach 900) mag als Beispiel dienen (Seite 94 ff.). Von dieser Viel- und Schönschreiberei zweigt sich auch die Reise- und Tagebuchliteratur ab. In Japan, in Nachwirkung der Familienverfassung einer Geschwisterehe, bei freiester sozialer Stellung der Frau, entsteht die klassische schöne Frauenliteratur. Der noch heute meistgefeierte Roman Japans ist von einer Frau verfaßt und um dieselbe Zeit (1000 n. Chr.) auch die geistreichen Reflexionen der Hofdame Sei-Shonagon (Seite 163 und 179).
Immer jedoch steht China blendend am Westhimmel, auch für die schreibenden Frauen. Auch die Sprache wird, freilich nicht schon in dieser klassischen Heian-Zeit, sondern erst nach einem Jahrhundert des Untergangs, allmählich zur chinesischen Mischsprache, etwa wie das verwelschte Deutsch des siebzehnten Jahrhunderts. Doch mit der Zeit entsteht die Gefahr eines durchgehenden Sino-Japanisch, eines neuen Idioms von der Art des damaligen normannisch-angelsächsischen. Von einer japanischen Literatur könnte man bald nur noch wie von einer mundartlichen reden, wenn sich nicht die fast rein japanische Lied- und Spruch- (Tanka-) Dichtung erhalten hätte. Diese in Europa vorzüglich bekannte, aber wohl durchgängig mißverstandene, nationale Dichtungsart Japans bedarf hier einer besonderen Untersuchung.
Die Tanka (sinojapanischer Ausdruck für das Kurzgedicht von dreimal sieben und zweimal fünf Silben) gilt als rein artistisches, höfisches Produkt. Man darf aber darauf hinweisen, daß Raffinement in der ganzen Kunstgeschichte eine Eigenschaft der »barbarischen« und nicht der »entwickelten« Verhältnisse ist. Technik ist hier immer irgendwie im dunkelsten Primitiven verankert. Doch die Tanka, eine Lied- und Spruchdichtung, die nur formal aber nicht als Gattung von den Versen etwa eines »Kürenbergers« unterschieden ist, ist ein Produkt der Kaiserhöfe einfach darum, weil der Kaiser seit der großen Hierarchisierung zum Brennpunkt alles Zeremoniellen geworden ist, Spruch und kurzes Lied aber von gleichem zeremoniellem Ursprung sind wie der Hof selber. Sie sind Gruß- und Wunschdichtung; und, was hier nicht näher ausgeführt werden kann, von Haus aus: Anwünschung, Zauberspruch, in einem Hauptfall zum Beispiel Liebeszauber. Wie bei allen primitiven oder sehr alten Völkern sind auch in dem kastenmäßig gebliebenen alten Japan – das Uji, ehemals Stamm, bedeutet jetzt auch den Stand – die Stämme, beziehungsweise Sippen, im Besitz eigener Riten (vergleiche unter anderem Seite 211). In Japan mußten also, wie in China (und anderswo), die Kaiser diesen magisch-poetischen Kraftzuwachs aus einer dunklen Erinnerung her zu monopolisieren, zum Regale zu machen bestrebt sein. Das ist etwas ganz anderes als das zumeist angenommene, auch psychologisch unfaßbare, oberflächliche Mäzenatentum dieser Höfe. Gewiß sind diese Grundlagen schon den Japanern der klassischen Zeit verdunkelt gewesen. Solche Dichtung erfordert und besitzt aber feste Regeln, nicht anders als solche auch das primitive Rechtsverfahren erfordert. Die scheinbare Wortspielerei, die »Kissen«- und »Angelworte« (Seite 77 f.), erklären sich zunächst, und wie auch sonst ähnliches in der Weltliteratur, aus dieser Gebundenheit der Primitiven, was sich auch leicht im einzelnen durch Parallelen der Naturvölker belegen läßt. Gruß- und Gefühlslieder blühten auch in dem stammverwandten, ästhetisch ähnlich anziehenden, Polynesien. Das japanische Gedicht, das dann in abermals barbarischen Zeiten als ein wichtiger Kult die ganze freie Rhythmik verdrängte, ist daher als eine Reliquie in einem etwas barbarisch-kostbaren Schrein anzusehen, wie das gemalte chinesische Lied.
Der Kaiserhof von Kyoto wurde um diese Zeit wirklich zu einem religiösen Relikt, zu einem theoretisch unantastbaren Fetisch für die politisch Gleichstrebenden. Wie überall in der Geschichte taucht auch hier der Stammesseparatismus aufs neue auf. Es entstehen die sogenannten Militärklane, zunächst an den Marken, mit einem Hörigenaufgebot und einer Hausmacht. (In den Stammländern Yamato, Idsume stand alles nutzbare [Reis-] Land im Obereigentum des Kaisers). Auch die Beamten im Innern verwandelten sich in selbstbewußte, nach einem Gesetz der Geschichte bald wieder erbliche, Benefiziare, und das Kaisertum ist jahrhundertelang Schild der einzelnen Territorialherren. Die Taira und zuletzt deren Gegner die Minamoto werden die faktischen Herren ihrer kaiserlichen Gebieter, nicht als Kanzler (Kwambaku), wie zuvor im neunten und zehnten Jahrhundert die mitunter allmächtigen Fujiwara-Hausmeier, sondern als Oberfeldherren (auf chinesisch Shogune). Es kam die Praktik auf, prinzliche Kinder zu Kaisern zu machen und sie nach Erlangung der Jünglingsmütze (bei erreichter Mündigkeit also) ins Kloster zu stecken. Nach endlosen wechselseitigen Greueln und Ausmordungen, auch in der eigenen Partei und Gens, blieb 1189 der Minamoto Yoritomo Sieger. Die Minamoto verwalteten danach 700 Jahre lang bis zum Jahre 1868 in ihren verschiedenen Zweigfamilien das Reich. Sie gründeten die angebliche Millionenstadt Kamakura (von der bis zum letzten Erdbeben fast als einziger Rest der berühmte goldene Buddha übergeblieben war). Bis zum vierzehnten Jahrhundert aber war unter ihnen die Hojo-Gens im Besitze des »Oberministeriums« (als ›Shikki‹).
Diese Zeiten, erfüllt von Krieg und Kriegsgeschrei, sind literarisch durch die geschichtlichen Volksbücher (Monogatari) charakterisiert, und durch die Tagebücher, nun nicht mehr der Frauen, sondern der Mönche. Das Hojoki und das Tsuredsuregusa (das erstere klösterlich sentimental, das zweite intellektuell und zweideutig, Seite 229ff. und 258ff.) gelten als Höhepunkte dieser Art Mönchsliteratur. Die politische Verwirrung wird dann durch ein Schisma eines illegitimen, südlichen Kaiserhofs weiter vergrößert (in der Nambokucho-, das heißt »Nord-südhof«-zeit bis 1398). Danach regiert der Ashikagazweig der Minamoto in dem Kyotoer Stadtviertel Muromachi. Ein neuer Hofstaat blüht auf, mit neuen Zeremonien: Teezeremonie, Blumenbindzeremonie, Gartenkunst. Und in der Literatur entsteht aus uralten, noch heute in Resten erhaltenen, Shintopantomimen vor Buddhatempeln ein buddhistisch-gerichtetes Melodram und Mysterienspiel (auf chinesisch No, soviel wie »Kunst«), konservativer als das damals bereits breit und bunt gewordene chinesische Drama der Mongolenzeit (Seite 280ff.). Eine ausschweifende wuchtige Spätgotik für alles Volk entsteht in den eingelegten Farcen (Kyogen) und in den schillernden, oft realistischen Volkserzählungen (Otogi-dsohi).
Auch die Chroniken, die freilich in Reimerei und Naivität, in Theologie und Gelehrsamkeit ausschweifen, unterscheiden sich nicht in allem vorteilhaft von den älteren Monogatari. Sogar eine Art pragmatischer Geschichtschreibung beginnt nach dem Vorbild der alten Szema-Tsien und Sung Tsema Kiang und der fortgesetzten chinesischen Reichsannalen. Japan wird um diese Zeit anscheinend volkreich.
In dieser Übergangszeit stürzt das künstlich und vorläufig gestützte Feudalsystem und macht einer besser ausgeglichenen, staatsrechtlich allerdings nicht minder zweifelhaften Doppelordnung Platz. In Wirren, in denen auch die Jesuiten und die christlichen Nationen bereits eine (zweite) Rolle spielen, unterwirft Nabinogu die Territorialherren – so wie es kurz zuvor in Europa Könige und Reichsfürsten taten. Doch bietet das städtearme Japan für einen Absolutismus vorläufig keine Grundlage. Man teilt die Macht (nachdem noch ein Hideyoshi als Krieger nach innen und zum Teil nach außen größere Triumphe errungen hat). Es entstehen die sogenannten »Hundert Gesetze des Jeyasu«. Die Daimyos (Barone) erhalten als Lehen Naturaleinkommen für ihre Vasallen(Samurai) garantiert; der Shogun in Yeddo (Tokio) außer seiner großen Hausmacht ein eigenes Heer, Gouverneure und die Steuern einer Zentralregierung (Bakufung). Ein Hofadel residiert um ihn wie auch um den Mikado. Dieser selbst bleibt seitwärts in Kyoto als ein Papst. In dieser großen Verteilung ordnen sich auch die geistigen Mächte neu. Die Zeit der Staatsschwäche ist vorbei, und fürs erste zieht die, in China abermals schon ergraute, spekulativ begründete, neukonfuzianische Staatsphilosophie ein. Jetzt versucht auch Japan ernsthaft die alte weise »Mitte« einzuhalten. Die »Kleine Lehre« (das Siao-hi des Chu-hi), jene Polizeiverordnung der Geister, die, zusammen mit den andern Werken der Richtung, China bis in die allerneueste Zeit gefangen hielt, wird auch in Japan eingeführt und dient dann bis in die neueste Gegenwart als Schulbuch. Von einem bedeutenden, aber von der Regierung bald zurückgedrängten Überschwang an Spekulation, die einigen Richtungen mehr Raum gewährte als das Mutterland selbst, blieb die Staatslehre der Sinologen, der Kangakusha übrig. Das chinesische Japan schien vollendet. Es gab sogar Gelehrte, die sich ihren chinesischen Lehrmeistern gegenüber als »Barbaren des Ostens« bezeichneten. – Vielleicht im Zusammenhang mit wirtschaftlichen und allgemeinen Mißständen erhob sich eine romantische reaktionäre Japan- und Shintorichtung (der Wagakusha). Die Regierung versuchte auch diese auf einem rein literarischen Niveau zu halten. Doch war der Mikado im Hintergrund eine ausgezeichnete Deckung. Der Zusammenbruch der für Naturalleistungen berechneten Finanzen um die Mitte des Jahrhunderts, Mißernten und die Verwicklungen mit den Amerikanern führten dann politisch zu der letzten Revolution eines neu hervorgeholten, jedoch konstitutionellen Mikado als Herrscher über ein europäisch organisiertes Volk; geistig aber begünstigten sie einen nicht recht geglückten Neushintoismus, dem vor allem die noch unverändert lebenskräftige Symbiose mit dem Buddhismus entgegensteht ...
Diese Neuzeit Japans (seit dem 16. Jahrhundert) unter den Tokugawa-Shogunen eröffnet alle Schleusen der so lange traditionell gebliebenen Literatur. Das Volk, durch Gewerbe (Seidengewebe, von Korea eingeführte Keramik) zur Masse erstarkt, durch Handel in seiner Oberschicht reich geworden, ergreift die Herrschaft zunächst über das gedruckte Wort. Romanes et Circenses. Die legendären Geschichten und Märchen werden immer zahlreicher, in schnellerem Tempo erzählt (mündlich auf den Straßen vom Geschichtenerzähler, schriftlich und beholzschnittet von bürgerlichen Bohemiens). Die ganze bunte Phantastik einer noch halb primitiv gebliebenen, durch Volksmassen schon in China reich entwickelten Geisteswelt ergibt ein Dorado der Erzählungskunst. Nirgendwo seit dem Orient der römischen Kaiserzeit und nicht einmal unter den Kalifen wird so vielfältig und ausgiebig fabuliert wie in China seit dem 16. und im Japan des 17. und vor allem des 18. Jahrhunderts. Das gilt von der neueren aus dem Bänkelsängertum (Joruri) und dem Marionettentheater (einem malaischen Requisit ehrwürdigen Ursprungs) noch mehr als aus dem Tempelhoftanz (Kagura) entstehenden Bühne. Das scheint vor allem von dem Roman zu gelten. Scheint – denn keinem Europäer und vermutlich auch keinem Eingeborenen ist die ganze Hochflut dieser Novellistik zugänglich, die in den Sittenschilderern und Erotikern des 18. Jahrhunderts –, wenn sie auch vermutlich nicht oft die bekannte Obszönität Chinas erreichte, doch vom Schund zum Pathos und zu feiner Psychologie, und wieder zurück zum Schund taumelte, etwa wie die Pariser gleichzeitigen Erzeugnisse. Einer Fülle, die in Ikku einen ebenso genialen wie klassischen Humoristen hervorbringt und in Bakin einen repräsentativen Ostasiaten an der Schwelle der neuesten Zeit. Manches erinnert an die in Europa bekannte Entwicklung der Malerei und des mit der Bücherschreiberei engverknüpften Holzschnittes, an die beide hier nur erinnert werden kann.
Die Lyrik ist hinter diesen breiteren Gattungen seit Jahrhunderten zurückgeblieben, hat aber in dem, aus dem primitiven »Kettengedicht« (Japans und Chinas) abgelösten Epigramm doch ein glänzendes langblühendes Genre erzeugt. Wie die Tanka, so zeigt auch dieser Dreizeiler einen primitiven, und zwar einen buddhistischen Einschlag und (mindestens entfernten) Ursprung. Er ist ein volkstümlicher Predigtbrocken und allmählich ein kleines östliches carmen buranum. Von der Gesellschaft wird die Tanka weitergepflegt; von einer, uns zeitgenössischen, national-japanischen Literatur kann jedoch anscheinend so wenig die Rede sein wie von einer zeitgenössischen japanischen Malerei. In einer Übersicht altjapanischen Wesens solche europäisch gerichteten Werke mit aufzunehmen, erschien darum bei aller Anerkennung individueller Verdienste oder Bedeutungen nicht angemessen.
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Die folgende Auswahl ist etwa zu drei Vierteilen identisch mit der aus einheimischen Sammlungen geschöpften »Anthologie Japonaise« des Professor Revon (Paris, Delagrave 1919). Es ist dieses die erste in Europa erschienene Chrestomathie. Für etwa zwanzig Stücke wurden die Proben von Karl Florenz aus seinem maßgebenden Werke über japanische Literatur verwendet. Die Mehrzahl der Übertragungen erfolgte, wie etwa die Niederschrift einer runden Hälfte des verbindenden Textes und das zu einem kleinen Reallexikon ausgestaltete Schlußregister, nach eigenen, aus den einführenden Worten sich ergebenden Gesichtspunkten der deutschen Ausgabe. Die Orthographie folgt fast durchgehend der von den Japanern selbst rezipierten englischen Transkription.
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Möge das kleine Werk in der veränderten, deutschen Gestalt zur Erkenntnis nicht nur Japans, sondern der Menschheit als eines großen Ganzen beitragen, entsprechend einem der höchsten Ziele der deutschen Philologie und des deutschen Buches; mögen die dem Bearbeiter wohl bewußten Mängel eines solchen Überblicks dieses Ziel nicht zu sehr beeinträchtigen, und in dem Gemüte des Lesers die Blüten Japans aufgehen gleich dem, einst um die Geburtszeit des Franz von Assisi, von dem Taira Yasuyori in seiner Verbannung gedichteten Liede, das der Altmeister der deutschen Japanologie übertragen hat.
Paul Adler
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Gestalt sowohl wie Sinn sind wandelbar, o weh.
Die Tränen, die mir von den Wangen rollen,
Wie Wasser sind sie eines Wasserfalls.
O möchten sie zum Teiche werden,
Wo wunderbarer Lotus-des-Gesetzes wächst!
Und du, o Gongen, auf dem »Schiffe der Verheißung« fährst,
Mit eingestoßner Ruderstange,
Und uns, die Untersinkenden, aufnimmst zu dir!
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