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Der Hüter des Erbes

Der zweite August 1914 reißt Europa in Stücke. Und mit der Welt bricht auch der Glaube, den die Brüder im Geiste, Johann Christof und Olivier, mit ihrem Leben erbaut, zusammen. Ein großes Erbe liegt verwaist. Voll Haß scharren in allen Ländern die Kärrner des Krieges mit zornigen Spatenschlägen den einst heiligen Gedanken der menschlichen Brüderschaft wie einen Leichnam zu den Millionen Toten.

Romain Rolland ist in dieser Stunde vor eine Verantwortung ohnegleichen gestellt. Er hat die Probleme geistig gestaltet: nun kehrt das Ersonnene zurück als furchtbare Wirklichkeit. Der Glaube an Europa, den er Johann Christof zu hüten gegeben, ist unbeschützt: er hat keinen Sprecher mehr, und nie war es notwendiger, seine Fahne gegen den Sturm zu tragen. Und der Dichter weiß, jede Wahrheit ist nur eine halbe Wahrheit, solange sie im Wort gefangen bleibt. Der wahre Gedanke lebt erst in der Tat, ein Glaube erst als Bekenntnis.

In Johann Christof hatte Romain Rolland alles im voraus gesagt zu dieser unvermeidlichen Stunde; aber doch, um das Bekenntnis wahr zu machen, muß er jetzt noch etwas hinzufügen: sich selbst. Er muß tun, was sein Johann Christof für Oliviers Sohn tat: die heilige Flamme hüten; er muß, was sein Held prophetisch verkündigte, lebendig erstehen lassen durch die Tat. Wie er es getan hat, ist uns allen unvergeßliches Beispiel geistigen Heldentums geworden, ein Erlebnis, noch hinreißender als das geschriebene Werk. Christof und Oliviers Gerechtigkeitswillen sahen wir in seiner Gestalt restlos gelebte Überzeugung geworden, mit dem ganzen Gewicht seines Namens, seines Ruhmes, seiner künstlerischen Kraft einen Menschen aufrecht stehen wider Vaterland und Ferne, den Blick geradeaus erhoben in den Himmel des überzeitlichen Glaubens.

Daß dieses Beharren auf der Überzeugung, dieses scheinbar Selbstverständliche für eine Zeit des Wahns das Schwerste war, hat Rolland nie verkannt. Aber – wie er an einen französischen Freund in den Septembertagen 1914 schrieb: »Man sucht sich nicht seine Pflicht aus, sie zwingt sich einem auf, und die meine ist (mit Hilfe jener, die meine Gedanken teilen), aus der Sintflut die letzten Überreste des europäischen Geistes zu retten.« Er weiß, »die Menschheit verlangt, daß gerade die, die sie lieben, ihr standhalten müssen und sogar gegen sie kämpfen, wenn es not tut«.

Diesen Kampf im Kampfe der Völker haben wir durch fünf Jahre heroisch gesteigert erlebt, das Wunder eines Nüchternen gegen den Wahn der Millionen, des Freien gegen die Knechtschaft der öffentlichen Meinung, des Liebenden gegen den Haß, des Europäers gegen die Vaterländer, des Gewissens gegen die Welt. Und es war in dieser langen blutigen Nacht, da wir manchmal in Verzweiflung über das Sinnlose der Natur zu vergehen meinten, einzige Tröstung und Erhebung, zu erkennen, daß die stärksten Gewalten, die Städte zermalmen und Reiche vernichten, doch ohnmächtig bleiben gegen einen einzigen Menschen, wenn er den Willen und die seelische Unerschrockenheit hat, frei zu sein; denn die sich Sieger über Millionen dünkten, konnten eines nicht meistern: das freie Gewissen.

Vergebens darum ihr Triumph, sie hätten den gekreuzigten Gedanken Europas begraben. Der wahre Glaube schafft immer das Wunder. Johann Christof hatte seinen Sarg gesprengt und war auferstanden in der Gestalt seines Dichters.


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