Heinrich Zschokke
Der Freihof von Aarau
Heinrich Zschokke

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21.
Das Wiederfinden

Das Abendrot eines der schönsten Tage war schon verblüht, als Isenhofer über Baden nach Aarau gelangte und durch die engen Straßen des Städtchens in den altertümlichen Freihof einritt. Aus dem Thurm Rore, der sich in der Dämmerung riesenhaft emporstreckte, trat ihm der Jüngling Gangolf zum gastfreundlichen Empfang entgegen und führte ihn in den hell erleuchteten Saal der Veste.

»Du bist mir höchst willkommen,« sagte Gangolf, »denn ich lebe wie ein Einsiedler und bewache mein Haus und die Stadt gegen Thomas von Falkenstein. Man vernimmt zwar nicht, daß er Rüstungen veranstalte; unsere Bürgerschaft ist indessen schlagfertig. Bringst Du mir neue Mähr vom Kriege bei Zürich, Greifensee und Rapperswyl? Es soll da blutige Köpfe setzen, und von den Eidgenossen schon manche Burg und manches Dorf in das Nichts geschickt worden sein. Acht Tage lang und länger mußt Du mir davon erzählen.«

»Lieber Junker, es sind mir bei Euch kaum acht Stunden vergönnt, versetzte Isenhofer, »denn, glaubt mirs, mich treiben ernste Geschäfte von hinnen. Frühmorgens in der Kühle reite ich über Laufenburg nach Waldshut, mein Haus vielleicht für geraume Zeit zu bestellen, und zum Pfingstmontage muß ich wieder bei Euerm Herrn Vater eintreffen.«

Beim heitern Abendessen erzählte Isenhofer seine Erlebnisse, das unglückliche Ende des Freiherrn von Sax und die eigene wunderbare Rettung, welche seine Dankbarkeit dem greisen Rüdiger zuschrieb. Darüber wurde von beiden lange hin und her gesprochen; zwischendurch that Isenhofer, wie von ungefähr, mancherlei Fragen, bald nach Gangolfs Vater, bald die Zigeunerin betreffend, ob diese seitdem im Freihof wieder erschienen sei, oder statt ihrer vielleicht ein fremder Reitersmann und anderes mehr. Gangolf bemerkte wohl, daß die Fragen auf das geheimnisvolle Schicksal und die Erinnerung seines Vaters Bezug hatten; doch drang er nicht weiter in Isenhofer, zu offenbaren, was er von Herrn Rüdigers unglücklichen Verhältnissen kenne, sobald jener erklärte, daß er eidlich angelobt habe, darüber zu schweigen. Es war tief gegen Mitternacht, als die Freunde von einander schieden, um sich einige Stunden des Schlummers zu gönnen, und kaum schimmerte das Felsenhorn der Gisuläflue am Jura im Morgenlicht über das Thal, da saßen sie schon beim Frühmahl beisammen, um die letzte Abrede darüber zu nehmen, wie sie sich oft und mit Sicherheit von einander Kunde geben könnten. Als Isenhofer über die Zugbrücke des Freihofs hinausritt, gab ihm Gangolf neben dem Pferde herwandernd das Geleit zum Stadtthor hinab, über die beiden Aarbrücken bis zu den Hügeln am Fuß des Gebirges

Die ganze weite Landschaft mit den schroffen Felsgipfeln des Jura, den Silberstreifen der Schneegebirge, den weichen Anhöhen und Hainen rings umher schwamm in zartem, durchsichtigem Duft, wie ein Zauberbild. Es sang unterm blauen Himmel die Lerche, am Bache die Amsel, im Gebüsch der Buchfink. Von der Blüte des Apfelbaumes wehte süßer Duft und von Zeit zu Zeit beugten sich die Halme und Blumen der Wiesen sanft zusammen, unter dem wollüstigen Wehen der Morgenluft, während von den Spätkirschenzweigen zartgefärbte Blüten, gleich schimmerndem Silber, herabfielen. Die Anmut des Tages und der Gegend lockte Gangolf, die Begleitung seines Freundes weiter fortzusetzen, als er anfangs beschlossen hatte. Als er vom Hügel, über welchen der Weg führte, rechts über Thälern und Gebüschen, unfern auf dem Kirchberg das weiße und graue Gemäuer der einsamen Pfarrwohnung und des Kirchleins sah, das seit dem zehnten Jahrhundert schon für die Andacht der benachbarten Ortschaften Küttigen und Bieberstein erbauet war, beschloß er, mit hinabzusteigen in das Dorf von Küttigen, welches, im Thale drunten, seine braunen Strohhütten zur Hälfte in einem Wäldchen krauser Obstbäume verbarg. Hier schied er von seinem Freunde, welcher den Weg über die wilde Staffelegg einschlug, die er vor zwei Monaten schon einmal überstiegen hatte, als er zum ersten Mal den schönen Hinz von Sax im Gefolge des Fräuleins Ursula erblickte. Gangolf aber wandte sich, links dem Dorfe, dem Fuße der hohen Wasserflue und des Benkenberges zu, wo ihm über dem Felsen die Fenster des Schlosses Königstein im Morgenschein entgegen glänzten. Er schritt pfeifend durch das stille Thal, in dessen Hintergrund sich Wälder und schroffe Felsen zusammendrängten, und stieg, ohne andern Zweck, als sich in der Frische des Morgens zu ergehen, den Schloßberg hinan. Droben, im Schatten breiter Ahorn und alter Linden, setzte er sich neben die Burgmauern, die weit hinauf von dunkelgrünen Ranken des Epheu umsponnen waren, ruhend nieder. Er verlor sich in ein behagliches Träumen, zu welchem die Seele am liebsten geneigt ist, wenn sie sich, von keiner Hoffnung und keiner Sorge bewegt, dem Genusse des reinen und harmlosen Lebens der Natur hingeben kann.

Das Gebell eines kleinen, schneeweißen Hundes, der schmeichelnd gegen ihn ansprang, dann ins Gebüsch zurücklief und bellend wieder hervorkam, erweckte ihn aus seiner Selbstvergessenheit. Das muntere Tierchen schien ihn durch viele Hin- und Hersprünge zur Begleitung aufzufordern. Er folgte ihm endlich auf einem schmalen, selten betretenen Fußwege, der durchs Gebüsch nordwärts lief, und über den Bergrücken jenseits in ein bewohntes Thal hinabführte. Das Hündchen sprang lustig über die Wiesen, über einen schmalen Bach hin, dann jenseits wieder bergan. Auch dahin folgte Gangolf mit behendem Schritte. Der Berg zog sich nur allmählich aufwärts, doch zu einer beträchtlichen Höhe, wo ein uralter Rottannenwald die breite Fläche des Bergrückens beschattete. Gangolf, so weit gelockt, folgte dem kleinen Wegweiser, da die Sonne schon heftig brannte, neugierig in den Schatten des Forstes. Nach einer Weile wurde es lichter um ihn; er kam an eine kleine Wiese und erblickte am Ende derselben im Schatten zweier hohen Eichen ein kleines Bauernhaus gelegen, von behauenen und in einander gefügten Baumstämmen ganz neu aufgeführt.

In selten besuchter, wilder Gegend den Spuren der schaffenden Menschenhand zu begegnen, spricht freundlich zu jedem Gemüt. Doch Gangolf's Aufmerksamkeit wurde plötzlich von einem ganz andern Gegenstand gefesselt. Neben der Stelle, wo er aus dem Walde hervorgetreten war, bildeten die blühenden Äste eines wilden Quittenbaumes, durchflochten vom Laube der Waldrebe und vom Grün und Rot eines dazwischen aufgeschossenen wilden Rosenstrauchs, ein vorhangendes Dach, in dessen leichtem Schatten ein junges Mädchen schlief. Eine große, schwarzbraun geschuppte Juraviper bewegte sich in engen Windungen über die Schlummernde hin, streckte Kopf und Hals gegen Gangolf aus und züngelte ihn drohend an, als wäre sie zum Schutz der Schläferin da. Gangolf erstarrte fast, als er, obgleich das Antlitz der Jungfrau, von ihm abgewandt, seitwärts auf dem Arm lag und vom vorgefallenen Goldgeflecht des Haupthaares zum Teil bedeckt war, dennoch die zarte, in das weite, aschfarbene Kleid verhüllte Gestalt, diesen schönen Kopf und im sichtbar gebliebenen feinen Kinn das Grübchen erkannte. Es war die Begutte Veronika.

Er sprang zur Seite, ergriff einen dürren Baumast, und verfolgte mit demselben die Schlange, welche von der Begutte hinweg durchs dünne Gras dem Dickicht zufloh. Mit wenigen Schlägen tötete er sie. Als er sich wieder zurückwandte, sah er die vom Geräusch erwachte Begutte aufgerichtet, in holdseliger Verwirrung vor sich stehen.

»Es war eine Schlange, die über Euch kroch,« sagte er halblaut und stammelnd. »Verzeiht meiner Verwegenheit, Euch gestört zu haben.«

Er schwieg und hatte nichts mehr hinzufügen können, denn er wagte kaum aufzublicken. Aber in diesem plötzlichen Verlegenwerden lag eine Beredsamkeit, welche wohl fähig war, die Furchtsamkeit der schüchternen Veronika zu mildern.

»Es muß wohl immer eine Gefahr sein, um derenwillen Euch Gott zu mir sendet,« erwiderte sie mit niedergeschlagenen Augen. Ein freundliches Lächeln umschwebte bei diesen Worten ihren Mund, und ein leises Vorneigen der Stirn schien der Ausdruck ihres Dankes zu sein.

Beide, ohne Zweifel gleich sehr durch das unverhoffte Zusammentreffen überrascht, fühlten ihre Zungen wie von unbekannter Macht gebunden. Gangolfs Herz schlug, er wußte selber nicht, ob aus Bangigkeit oder Entzücken. Und die Begutte zog sich bei der leisesten Bewegung des Jünglings scheu zusammen, wie die schamhafte Mimose, wenn sie von einer Hand berührt wird. Sie warf nur flüchtig ihre Blicke über die edle Gestalt Gangolfs, der ehrfurchtsvoller vor keiner Königin hätte stehen können. Es entspann sich endlich ein Gespräch von sehr gleichgiltigen Dingen, währenddessen die Begutte mehrmals mit Unruhe die Augen nach der Hütte im Hintergrunde der Wiese wandte,

»Ist jenes Eure Wohnung in dieser Wildnis?« fragte er,

»Nicht unser Eigentum,« erwiderte sie. »Mein Vater hat Haus und Garten von einem Landmanne des Dorfes Erlisbach gemietet. Beliebt es Euch, mir zu folgen und auszuruhen? Der Tag wird heiß und Ihr habt Euch vielleicht in der Hard verirrt. Wollt Ihr Euch bei uns erquicken, so steht unser ländliches Mahl von Brot und Milch bereit.«

»Nur einen kühlen Trunk Wassers erbitte ich von Eurer Güte,« antwortete Gangolf, froh der empfangenen Erlaubnis.

Selig ging er ihr nach, dem die Einöde ein neues Eden war. Die hohen Tannen rings umher in ihrer finstern Majestät schienen stolz darauf zu sein, das verborgene Paradies zu hüten. Als Veronika der Hütte nahte, säuselten ihr die Wipfel der halbtausendjährigen Eichen, welche von allen Seiten der bescheidenen Wohnung und über derselben ihre grünen Arme verschränkten, wie zum Gruß freundlich entgegen. Unter der niedern Hausthür trat tiefgebückt ein langer, hagerer Mann hervor, den Gangolf am eisgrauen Haare und an den harten Zügen des Gesichts sogleich erkannte. Es war der Lollhard.

»Tretet gesegnet in den Schatten meiner Hütte!« sagte derselbe und reichte dem jungen Manne die knöcherne, dürre Hand zum Willkommen. »Welch ein Geschäft führt Euch diesen Berg hinauf, den man sonst selten besucht?«

Dabei lud er ihn ein, sich auf dem hölzernen Bänkchen unter dem Dach der Hütte niederzulassen. Gangolf nahm gern das ihm angebotene Ruheplätzchen an und erzählte, indem er seinen Namen und Wohnort nannte, welche Zufälligkeiten ihn in die Hard gebracht hätten, wo er die Jungfrau schlafend neben der Schlange gefunden habe.

»Es war eine laue, sternhelle Nacht,« sagte der Lollhard, »und das Kind durchwachte sie fast ganz mit mir unter Betrachtungen und Gebeten. Darum ist es von Müdigkeit überfallen worden. Warum aber erschluget Ihr die Schlange? Die Unschuld schlummert sicher, wie Daniel zwischen den Löwen, denn es wachen die Engel des Allmächtigen über sie.«

Veronika hatte sich schon entfernt, als der Jüngling sein Gespräch mit dem Alten begonnen, aber noch sah er sie, in seiner Einbildung, schlummernd unter den Weinrosen und silbern blühenden Quittenbäumen, und als der Greis von wachenden Engeln redete, strömte himmlischer Glanz über das ganze Bild. Bald darauf trat die Begutte aus der Hütte hervor, in ihrer Hand eine hölzerne Schale voll krystallhellen Wassers; sie ging damit zum Gaste und überreichte sie ihm schweigend und zitternd.

»Möge,« rief der Lollhard, als er den Jüngling trinken sah, »möge Euch bald, edler Herr, der Brunnen des Wassers, der das ewige Leben giebt, die dürstende Seele laben!« Er ging mit diesen Worten in die Hütte, um Brot herbeizubringen. Gangolf setzte nach einigen Zügen die Schale von den Lippen und blickte mit dankbarer Rührung zur Jungfrau hinauf. Sie stand vor ihm in stiller Demut, die Augen zur Erde gesenkt, das schöne Haupt, wie im stillen Sinnen, ein wenig seitwärts geneigt. Dann sah sie ihn an, wie er vor ihr saß, und wie ihr Blick in dem seinigen versank, löste sich ihr Ernst in ein unschuldiges, wahrhaft göttliches Lächeln auf, während das Rosenrot der Scham ihr ganzes Gesicht umfloß. Er aber, in der zitternden Hand die Schale, konnte die Augen nicht wieder von ihr wenden; sein Herz pochte; er wollte zu ihr sprechen; doch die Stimme erstarb ihm im Munde. Eine plötzliche Glut durchlief seine Glieder. Der Atem blieb ihm stehen, und als sich ein grauer Nebel vor seinen Augen auszubreiten schien, entfiel die Schale seiner Hand.

»Wie werdet Ihr so blaß! Euch ist nicht wohl!« rief sie besorgt. »War Euch der Trunk zu kühl?« Sie fürchtete, er würde zusammensinken, und streckte schon die Hand gegen ihn hin. Das verneinte er; sich erholend, und mit stummem Lächeln den Kopf schüttelnd, ergriff er die Spitzen ihrer zarten Finger, führte sie zu seinen Lippen, und das entflohene Rot kehrte schnell auf seine Wangen zurück. Veronika aber trat zitternd und erblassend einen Schritt zurück.

»Mir ist wohl,« sprach Gangolf sanft, nahm die Schale vom Erdboden, stand auf und blieb vor Veronika unbeweglich stehen.

»Wenn ich jetzt, wo ich so glücklich bin, bei Euch zu sein, wenn ich jetzt sterben könnte!« sagte er endlich mit einem Blick zum Himmel, während der Greis mit Brot und Wein aus der Thür hervortrat.

»Sterben!« rief der Lollhard und sah, indem er das Brot und den irdenen Weinkrug auf ein Tischchen neben der Bank hinsetzte, den Jüngling voll Ernstes an. »Sterben, Herr Gangolf! Habt Ihr schon gelebt?«

Die Begutte wandte sich gesenkten Hauptes von den Männern hinweg und begab sich mit schwankendem Schritte in die Wohnung. Gangolf sagte: »Ich habe genug gelebt.«

»Irret Euch nicht, edler Herr!« sprach der Lollhard. »Traum ist kein Leben; Klarheit und Wahrheit im Leben ist nicht eigener Wille des Menschen, sondern nur das Wollen Gottes durch uns, denn nur in Gott ist Klarheit und Leben. Werfet ab die Banden des Schlafes, worin Welt und Teufel die Kinder der Menschen gefangen halten, und erwachet in Gott. Der Herr aber verleihe mir Kraft, Euch zu wecken; Euch vor tausend anderen, denn Ihr scheinet die Zeichen der Berufung und Erwählung an Euch zu tragen.«

Der Lollhard fuhr noch lange fort in diesem Geiste zu reden. Nachdem Gangolf diese Predigt eine volle Stunde, mit freilich geringer Andacht, angehört hatte, erwachte er in der That wie aus einem Traume, oder wie aus einem Rausche nüchtern geworden. Die schöne Begharde war nicht wieder gekommen, und seltsam genug fürchtete Gangolf, sie wieder zu sehen. Er hielt es für an der Zeit, die heilige Familie nicht länger in ihrer Einsamkeit zu stören, sondern sich auf den Heimweg zu begeben. Der Lollhard griff nach seinem Stabe, um den Gast eine Strecke zu begleiten. Indem sie aufbrachen, durchbebte ein wunderbarer Schauer das Innerste des Jünglings, als er von der Thür hinter sich ein Geräusch vernahm. Er sah zurück, doch die Vermutete war es nicht, sondern eine junge Bäuerin, welche aus der Hütte nach dem kleinen Garten ging. Als sie den Wald durchwandert hatten, senkte sich der Weg nach einem Thale, welches oben, am Ende des Gebüsches, zwischen Laubgehölzen und Felsen schmal, aber nach unten erweitert, den Berg hinablief. Sie wanderten an einem langen, verfallenen Gebäude vorüber, welches vor Zeiten, zur Benutzung für Kranke, die dort in einer Heilquelle baden wollten, errichtet war. Nicht weit davon erhob sich, in offenen Wiesen, am Fuße des grauen Felsens der Ramsflue, eine kleine, dem heiligen Laurentius geweihte Kapelle. Der Thalkessel, ringsum von Wald umgeben, erschloß sich links gegen die Hütten des Dorfes Erlisbach. Hier verließ der Lollhard seinen jungen Freund, welchen er, nachdem er seine Predigt fortgesetzt hatte, schon wie einen Halbbekehrten betrachtete und den er wohlwollend ermahnte, zuweilen in die Einsamkeit der Hard zurückzukehren, wenn ihm daran gelegen wäre, seine verirrte Seele zu retten. Gangolf schüttelte ihm dankbar die dürre Hand und schlug die ihm wohlbekannten Wege seitwärts durch die finstern Tannenwälder des Hungerberges ein, um schneller Aarau und den Freihof zu erreichen.

22.
Der zweite Besuch.

Einen heiligeren Abend, als den vor Pfingsten, glaubte Gangolf nie erlebt zu haben. Die Häuser der Stadt, die ländlichen Strohhütten am Gebirge, die Gärten, die Höhen und Thäler nah und fern schienen in ein überirdisches Licht getaucht; die Wellen der Aar rauschten wie Gesang am Turm und an der Stadt vorüber, die Winde schienen mit leisen Engelsstimmen zu singen, die bewegten Zweige sich in Schauern der Ehrfurcht, die ganze weite Welt in Feierlichkeit vor dem unsichtbaren Gott zu neigen. Er war mehr als glücklich. Niemand besuchte am Pfingstsonntage mit tieferer Andacht als er die mit grünen Zweigen geschmückte und durchduftete Pfarrkirche der Stadt. Über sein Gemüt war die Fülle des heiligen Geistes ausgegossen, wie vor Jahrhunderten über die Apostel und Jünger des Herrn. Reiche Almosen sandte er allen ihm bekannten dürftigen Haushaltungen der Stadt zu, einigen trug er es in großer Demut und Freude selber hin.

In seinem Erlebnis auf der Hard erblickte er eine übernatürliche Eingebung; die Gottheit selbst hatte ihn zu jener geweihten Einöde gesandt. Das weiße Hündchen, welches ihn geführt hatte, war nicht durch Zufall gekommen und verschwunden; und die Schlange, welche, wie ein böser Geist den Schatz, Veronikas Schlummer bewacht hatte, schien sich wie ein Sinnbild der mißgünstigen Hölle zwischen ihm und dem Himmel gelagert zu haben. Doch war es eine gute Vorbedeutung gewesen, daß das giftige Tier von ihm erlegt worden war. Es zog ihn mit Sehnsucht nach der Einöde, aber er wagte es nicht, sie zu befriedigen. Er zitterte vielmehr vor dem Gedanken, die Heilige jenes Waldes wieder zu sehen; denn er fand sich unwürdig, ihr in seiner Unvollkommenheit nahe zu treten, ihr, die ihm an Schönheit und Heiligkeit des Sinnes, an innerer und äußerer Herrlichkeit über alle Kreaturen erhaben schien. Es vergingen mehrere Tage, ohne daß er sich etwas anderes erlaubte, als von seinem Fenstersitz im Turmsaal hinüber zu schauen in die dunkeln, übereinander hinaufragenden Berge jenseits der rauschenden Aar.

Zuletzt würde er sich in seiner Schwärmerei die einsame Bewohnerin der Hard als ein ätherisches Wesen im Umgang mit den Seraphim des Himmels vorgestellt haben, wenn nicht endlich die Sehnsucht seine Schüchternheit überwältigt und er sich nicht auf die Wallfahrt zur heiligen Höhe begeben hätte; doch geschah dieses nicht ohne langen Kampf mit sich selbst.

Als er jenseits des Hungerberges ins Thal niedergestiegen und in die Nähe der kleinen Kapelle des heiligen Laurentius gekommen war, wo eben in weiten Kreisen um den zerklüfteten Gipfel der Ramsflue ein Steinadler schwebte, befiel ihn neue Bangigkeit, ein wahres Zittern vor dem Herannahen des großen Augenblicks, wo er die Wiese und die Hütte unter den dicht belaubten Eichen sehen würde. Er stieg langsam den Berg hinauf; er trat mit Herzpochen in den ihm heiligen Wald; kalt und heiß, wie Fieberschauer, durchzuckte es ihn, als er in der Wiese die Hütte, welche wie von Engeln auf einem heiligen Lande hierher getragen zu sein schien, gewahr wurde, und ein Schwindel ergriff ihn fast, als er unter das hervorragende Strohdach trat. Er mußte zuvor auf dem Bänkchen niedersitzen und Kraft und Atem schöpfen. Niemand war zu sehen, obschon die Thür der Wohnung halb offen stand. Eine Stimme, die er drinnen hörte, war weder der weiche Ton der Begutte, noch die knarrende, harte Stimme des Alten, eine fremde schien es zu sein. Darauf hörte er Tritte, eine schlecht gekleidete Pilgerfrau, bleichgelben krankhaften Gesichtes, in der einen Hand einen großen, weißen Stab und langen Rosenkranz, in der andern ein unansehnliches Reisebündel, verließ das kleine Haus. Das eine Auge schien ihr erst kürzlich durch ein Unglück verloren gegangen zu sein, denn neben dem darüber gebundenen schwarzen Bande erkannte man noch die Spuren des Blutes. Ihr, von einem breitkrempigen Hute bedecktes Haupt war größtenteils verhüllt, und ihr Mantel, nach Pilgerweise, mit einzeln darauf befestigten Austerschalen und andern Seemuscheln geschmückt. Hinter dieser betagten Wallfahrerin, ihr das Geleit gebend, trat jene junge Bäuerin aus der Wohnung. welche Gangolf schon das erste Mal hier wahrgenommen hatte

Es fiel ihm auf, daß das wallfahrende Weib bei aller Gebrechlichkeit, Ermüdung oder Altersschwäche, sobald es in's Freie kam, den Kopf so behende nach allen Seiten drehte, und ihn selber mit dem einen funkelnden Auge zweimal, flüchtig, doch scharf, beobachtete. Nicht minder erregte es seine Verwunderung, welche die junge Bäuerin unter der Thür mit ihm zu teilen schien, daß die schwankenden Schritte der Pilgerin beim Weitergehen immer mehr an Festigkeit gewannen und, auf der Wiese, bei zunehmender Entfernung an Schnelligkeit wuchsen. Plötzlich war die Alte im Gebüsch verschwunden.

»Wer ist diese Pilgerin?« fragte der junge Ritter die Bäuerin an der Thür.

»Ach!« antwortete die Befragte, welche sich jetzt erst von ihrem Erstaunen erholte. »Sie ist gar weit her; kömmt von den heiligen Örtern; sie versprach, für ein Almosen St. Johannes Evangelium für uns zu beten. Doch der Alte hier im Hause mag die herumziehenden Beter nicht leiden, er gab ihr eine harte Ermahnung, Brot und einige Angster, und hieß sie weiter gehen. Ich hatte Erbarmen mit der Frau, aber, segne mich Gott! ich glaube fast, es gehet bei ihr nicht alles natürlich zu. Wollet Ihr eintreten, Herr?«

Bei den letzten Worten hatte sich die Bäuerin von der Thür zurückgezogen, um ihm Platz zu machen. Er trat unwillkürlich ins Haus, auf dessen Herde ein halberloschenes Feuer brannte, Die Bäuerin öffnete seitwärts eine andere Thür und er befand sich in einem niedrigen Zimmer, dessen Wände und Decke mit feingehobeltem Tannenholze getäfelt waren. An einem kleinen, sauberen Tische saßen der Lollhard und die Begutte bei ihrem Mittagsmahle, welches in zwei irdenen Schüsseln aufgetragen war; in der einen ein Stück Lammbraten, in der anderen Brunnenkresse mit Essig und Nußöl.

Bei diesem Anblick, bei den freundlichen Begrüßungen und der dringenden Aufforderung, sich zu Tische zu setzen, wußte Gangolf kaum, wie ihm geschah. Es war ihm, als wiche ein lange dauernder Zauber von ihm. Statt der himmlischen Licht- und Glanzgestalt seiner Träume saß ihm nun ein schönes, zartgebautes, irdisches Mädchen an der Seite, welches die eben empfundene Überraschung mit einem Erröten bezahlen mußte. In stummer Verwirrung und sprachlos blickte Veronika vor sich nieder, während er mutiger denn je, und sich selber unbegreiflich, sie einige male betrachtete, um gewiß zu werden, ob sie es wirklich sei, oder ob er sich täusche, oder bisher sich getäuscht habe? Als sie aber, nachdem er sie angeredet, mit holdseliger Schüchternheit, und doch nicht ohne trauliches Wesen, antwortete, wurde er von neuem ungewiß, ob sie in diesem Augenblick, oder wie sie ihm in seinen Träumen, gleichsam vergöttert, erschienen war, liebenswürdiger sei? Er fand ihre und seine Verwandlung wunderbar, in jedem Falle aber war sie zu seinem Vorteil. Er begann die Sprache des Hausfreundes, oder wenigstens des Bekannten zu reden. Er nahm an dem einfachen Mahle teil, wiewohl es ihm fast eine Versündung schien, in Veronikas Nähe einen Bissen zum Munde zu führen; auch kam es ihm beinahe unglaublich vor, daß die zarte Heilige gleich andern Sterblichen wirklich essen könne. Aber sie aß, wenn auch so wenig, daß ihr Mahl kaum einen Singvogel des Waldes gesättigt haben würde; und dabei lächelte sie ihn im Gespräch zuweilen mit verschämten Blicken an. Fast wollte es ihn bedünken, daß das Menschliche, worin sie ihm näher trat, weit göttlicher sei, als das Himmlische seiner Träume.

Nach Beendigung der einfachen Mahlzeit, welche sich durch Gangolfs Erzählungen von seinen Reisen, von seinen Bekanntschaften, von seiner Lebensweise im Freihof zu Aarau sehr verlängert hatte, faltete der Lollhard betend die Hände, fiel auf die Kniee und senkte Arme und Stirn demutvoll auf den Fußboden des Zimmers. Auch die Begutte warf sich in einem Winkel des Gemaches betend nieder, und legte ihr Antlitz über die gefalteten Finger auf die hölzerne Bank. Der Ritter, den die andächtige Sitte rührte, folgte dem Beispiel. Er konnte nicht beten, und doch war sein ganzes Gemüt voll des Gebetes. Es ergriff ihn bei dem Gedanken an das höchste Wesen, vor welchem der Greis und ein Engel im Staube lagen, unaussprechliche Ehrfurcht und Wehmut. Er stammelte, mit dem Gedanken an den, der allgegenwärtig ist, leise drei Namen, die ihm teuer waren: den seines Vaters, den des Lollhard und Veronikas. Er stützte sein zur Brust gesenktes Haupt an die Wand, in frommer Selbstvergessenheit, so daß er noch kniete, als die andern schon aufgestanden waren. Ihr Geräusch rief ihn in die Wirklichkeit zurück.

Er stand nur erst halb gesammelt vor Veronika. Sie sah Thränen in seinen Wimpern, und blickte ihn mit sichtbarer Rührung, stumm und stilllächelnd an, Auch der Alte bemerkte Gangolfs nasse Augen. Er führte ihn an der Hand hinaus unter das Schirmdach, auf die Bank vor der Hütte, entschlossen, die Bekehrung des Jünglings, die er zum Heil für dessen Seele längst beschlossen haben mochte, keinen Augenblick zu verzögern.

»Ritter,« sprach er mit einem Tone von Herzlichkeit, der ihm sonst nicht eigen war, »es will mich bedünken, als habe Euch der Geist Gottes herausgeführt in diese Einöde der Hard, daß Ihr die höchste Seligkeit finden möget, nach der Euer innerstes Verlangen ist.«

»Ich selbst glaube es fast,« antwortete Gangolf verlegen und mit niedergeschlagenen Augen, denn er gedachte an eine andere Seligkeit als der Alte, und zitterte heimlich vor dessen Eröffnungen.

»So leget denn ab,« fuhr der Lollhard fort, »Eure weltliche Furcht, Eure Gefügigkeit unter die Gewalt der eingeführten Sitten des Lebens, Eure abgöttische Schätzung der Gefäße des Staubes, der steinernen Altäre und Tempel, der gelehrten und verkehrten Pfaffen und ihrer Baalslehren. Sehet hier, vom Wiesengrunde bis zum Firmament, den Tempel des Allerheiligsten, der nicht von Menschenhand gebaut worden. Schauet aufwärts zur Sonne und den Sternen, dort sind die wahren, ewigen Lichter. Eure Gebete sind die rechten Wallfahrten, Eure Seufzer die Heiligenfeste, alles andere ist Priestertrug von Anfang bis zu Ende. Werfet ab das Joch Eurer Vorurteile, Eurer Einbildungen von Geburt, Stand, Reichtum und Ehre. Lasset Euch nicht durch die Welt, nicht durch Euch selbst betrügen. Werdet frei, handelt wie die Macht des Geistes Euch treibet, und Ihr werdet, als wahres Kind Gottes, nicht mehr wollen, als was Gott in und durch Euch will. Es giebt keine Sünde, es giebt keine Hölle, als in unserer schnöden Selbstsucht und dem Verwachsensein mit dem Schein und Trug der Welt.«

»Wie werde ich das können?« fragte Gangolf, von der ihm frevelhaft scheinenden Frömmigkeit des Alten betroffen und verlegen.

»Ihr fraget,« antwortete dieser, »wie der reiche Jüngling Christum, den Herrn, unser Vorbild. Ich aber spreche: Waget es, streifet die Welt ab; gebet, was Ihr habet, den Armen, und seid reich; schleudert Stammbaum und Adel in die Flammen, und seid edel; verachtet, um in Gott zu wandeln, das Urteil der blinden, befangenen Menschheit, und Ihr seid göttlich und sündenlos, eine reine Ausstrahlung des Wesens aller Wesen. Der innere Mensch muß rein dastehen wie ein heiliges Feuer; alles Äußere ist Tod. Was kann Euch das Bespritzen mit Taufwasser, was Seelenmesse, was priesterlicher Ablaß frommen?«

»Wie, seid Ihr auch wahrhaft ein Christ, oder ein Heide?« rief Trüllerey ganz erschrocken und rückte dabei etwas auf der Bank zurück.

»Höret mich an, ich will Euch ein Geheimnis offenbaren,« sagte der Alte halblaut, doch würdevoll. »Ein neues Weltalter ist nahe, das letzte vor dem Untergange aller Dinge. Nachdem Gott Vater in den Tagen des alten Bundes vergebens durch den Mund der Propheten, dann vergebens der Sohn durch die frommen Apostel zum sündlichen Geschlecht der Menschen geredet hat, wird nun, im dritten Alter der Welt, nach dem Ratschlusse Gottes der vom Vater und Sohn ausgehende Geist das ewige Evangelium offenbaren. Denn was der Allmächtige zweimal begonnen, kann er das unvollbracht lassen, und was sein Mund verheißen, kann das unerfüllt bleiben? Siehe, da sendet er nach Christum nun den Tröster der kranken Welt, den heiligen Geist.«

»Ich bin ein ungesattelter Theologe,« versetzte der Ritter, »und weiß nichts zu erwidern, doch möchte ich wissen, von wo Euch die Offenbarung der geheimen Dinge geworden sei?«

»Durch den Geist Gottes, der mich ergriffen und zu seinem Werkzeug erkoren hat,« antwortete der Lollhard mit Wärme. »Ich stand einst hoch, er stürzte mich in den Abgrund; ich war einst irdisch begütert, er schleuderte mich hinaus in Elend und Not; ich wurde durch die zärtliche Liebe einer Gattin getröstet, und er brach auch diese Naturbande, und ich weinte mit meinem Kinde über dem Leichnam einer Heiligen. Da verblutete mein Herz. Meine Tochter sandte ich in ein Kloster, um sie Gott zu weihen. Und doch vermählte ich mich wieder mit einem bösen Weibe, und verlor alles . . . alles! . . . Damals aber wandelte ich noch in Blindheit des Herzens, und wußte nichts vom Gotteslicht. Ich floh in die Einöden. Da erweckte mich der Geist zum wahren, innern Leben, als ich des erleuchteten Predigers Johannes Taulerus Buch deutscher Theologie durchforschte und endlich zum rechten Verstande dessen, was Adam und Christus sei, gelangte. Dazu half mir insonderheit der gottbegeisterte Mann Niklaus von Buldersdorf, der mir das Licht des ewigen Evangeliums angezündet hat. Und ich erhob mich und ging aus der Einöde hervor, gerufen vom heiligen Geiste, nahm die arme Veronika aus dem Kloster, aus den Klauen des ehebrecherischen Roms. Wir besiegten die Welt, indem wir ihr entsagten.«

»Ihr nanntet vorhin den Niklaus von Buldersdorf,« sagte schaudernd der Ritter. »Wisset Ihr denn nicht, daß er von den zu Basel versammelten Vätern ergriffen, verdammt und in den Gefängnissen für die Flammen des Scheiterhaufens aufbewahrt ist? Sehet Euch vor, daß Ihr nicht den Ausgang dieses Mannes nehmet!«

Mit Erhabenheit, mit glänzendem Blick und Antlitz, worin der Schwärmerei überirdische Heiterkeit wirklich wohnte, erwiderte der Greis: »Was mehr, als daß sie den Leib töten? Wer sich des ewigen Seins erfreut, achtet des niedrigen Lebens wenig. Täglich sterben Tausende; warum soll es mir, der ich ewig bin, wichtig sein, ob ich zu diesen Tausenden heute oder morgen zähle? . . . Sie haben die Propheten des alten Bundes gesteinigt und getötet; sie haben Christum, die Apostel und Märtyrer gekreuzigt und getötet. Heute überantworten sie die Auserwählten Gottes den Flammen. Des Teufels Macht ist groß. Immerdar hat sich die abtrünnige Welt wider diejenigen gesträubt, welche zur Heiligung und Rückkehr ermahnten. Es ist keine Wahrheit, keine Freiheit, kein Recht oder anderes Kleinod von der Menschheit empfangen worden, ohne blutige Opfer. Herr Trüllerey! Ihr werdet mich Lobgesänge anstimmen hören, wenn die Scheiterhaufen ihr goldenes Gewölbe über meinem Haupte erglänzen lassen.«

»Wie? Möget Ihr Veronikas Schicksal vergessen? Wohin soll die Verlassene ohne Euch?« rief Gangolf mit der Stimme des Entsetzens.

»Wohin? Die Strahlen der Gottheit kehren in die Gottheit zurück,« antwortete der Alte mit erhabener Ruhe. »Aber ich sage Euch, der große Tag des Herrn ist vor der Thür. Die Stunden des zweiten Weltalters sind verlaufen. Der Morgen des ewigen Evangeliums graut und die leidende, seufzende Kreatur harret nicht länger auf die Ankunft des Reiches der Vollendung. Bereitet Euch vor! Die Meßopfer, das Geplärre und die falschen Lehren Eurer Priester werden abgethan; die Völker treten zu Gott, anbetend im Geist und in der Wahrheit, Eure Burgen, Eure Kirchen sind unreine Gefäße; sie werden zerschlagen. In der Kindschaft zu Gott giebt es nur gleichverbrüderte Wesen; keinen Adel, keine Leibeigene, keine Herren, keine Knechte. Das ist die Herrlichkeit des ewigen Evangeliums, daß die unmündige Menschheit zur Mündigkeit hingeführt wird und die teuflischen Erfindungen des Stolzes und der Habsucht zertreten werden im Staube.«

Gangolf starrte den begeisterten Priester des Evangeliums an, ungewiß, ob er ruchlos rede, oder höhere Weisheit vom Himmel offenbare. Endlich sammelte er sich und sprach: »Fürchtet Ihr denn nicht, daß Euch die heilige Kirche wegen Eurer vermessenen Rede in den Bann thue?«

»Fürchten,« erwiderte der Lollhard mit Hoheit, »fürchten die zerfallende, die zertrümmerte? Ihr habet keinen Gottesdienst, sondern Kirchen und Priesterdienst; ich habe Gott, Gott hat mich. Er ist der Kern und das Leben; alles andere ist tote Schale. Gott ist in allen Gestaltungen, im Seraph, im Baum, in dem verachteten Insekt. Ich thue keinen Schritt, Gott begegnet mir. Ihr wandelt noch in der Blindheit, Ihr kennet, Ihr sehet ihn nicht bei dem trüben Licht, dem Ihr mit Euren irdischen Lehren folget; Ihr betet nur Staub an. Ihr dienet dem Geiste mit totem, äußerem Gepränge. Nicht Moses, nicht Christus, der Gottessohn, lehrten, was Ihr in Euren Kirchen lehret und thut.«

Bei diesen Worten erhob sich der Alte plötzlich und sagte: »Nun ist's genug für heute. Ich sollte Euch wecken; Gott wird sich in Euch selbst offenbaren. Seid still; harret der Ankunft des heiligen Geistes. Geht in Euch; er wird aus Eurem Innern zu Euch reden und Euch erfüllen, und was Ihr nachher thut, wird von ihm sein.«

Gangolf verweilte träumend auf der Bank und sann den sonderbaren Worten des Mannes nach, der sich entfernte.

Ohne Zweifel sind die Leser dieser Begebenheiten nicht minder als der junge Ritter über die wunderliche Frömmigkeit des Alten erstaunt. Indessen waren Schwärmer dieser Gattung in den Schweizergebirgen von jeher keine Seltenheit, und sie sind es bis auf diesen Tag nicht. In der Einsamkeit ihrer schönen Thäler oder Alpenberge, umschwebt von den Bildern einer majestätischen Natur, hingegeben ihren eigenen Betrachtungen über göttliche Dinge, wurde ihnen der gemeine Kirchenglaube zu enge, und das übliche Gepränge des Gottesdienstes kleinlich. Sie feierten das höchste Wesen nach eigener Weise auf eine höhere Art in ihrem Gemüte. Bei den überspannten Vorstellungen dieser Schwärmer von innerer Heiligkeit und Einigkeit mit Gott, wurde ihnen das Irdische so verächtlich, daß sie in demselben nicht mehr sündigen zu können glaubten. Gemeinschaft der Güter und Weiber schien ihnen gar zu oft nur Rückkehr zur Unschuld des Paradieses und ein allzu vertrauter Umgang so wenig Sünde, als die Stillung des Hungers und des Durstes. So lebten viele, mit Verachtung aller Irrtümer der Welt, wie sie es nannten, auf Bergen, in Dörfern und Weilern, als Klausner, oder ohne Heimat, wie die zahllosen Lollharden, Begharden, Begutten und Beguinen. Einzelne wohnten selbst in Städten, häufig in Bern und Freiburg; thaten den Armen Gutes; bauten Siechenhäuser und den Wanderern Herbergen. Schon im zwölften und bis zum vierzehnten Jahrhundert wurden sie mit Vermögensentziehung, Gefängnis und Hinrichtung aufs Schwerste und vergebens verfolgt.

Dem jungen Ritter aber wurde es nichts weniger als leicht, in seinen Betrachtungen über die Reden des Einsiedlers der Hard das theologische Durcheinander zu entwirren. Wie, dem Spruchwort zufolge, Narren und Kinder die Wahrheit sagen, oft überraschend klar und derbe mitten unter kindischen Albernheiten oder närrischen Grillen, so schien es ihm auch hier zu sein. Mit seinem Kirchenglauben, den er weder zu zergliedern noch zu verfechten Neigung fühlte, ganz wohl zufrieden, überließ er das Geschäft gern andern. Nur konnte er die Neugier nicht unterdrücken, zu erfahren, ob auch Veronika, die eben aus der Hütte hervortrat, gleich ihrem Vater das nahe Reich des ewigen Evangeliums erwarte, und wie sich die ihm sonderbar erscheinende Gottesgelahrtheit desselben, von ihren schönen Lippen gepredigt, ausnehmen möchte. Er gesellte sich mit heiligem Beben zu ihr, als sie ihn einlud, in den Schatten des Waldes, dicht hinter der Hütte, erfrischende Kühlung zu suchen. Es war hier von der Natur, unter dem Laubgewölbe hoher Buchen, deren Stämme, weiß und dunkel gefleckt, eine weite erhabene Säulenhalle bildeten, ein geräumiger Gang, wie zum Lustwandeln eingerichtet, geschaffen.

»Ich bin froh,« sagte er, »mich an Eurer Seite zerstreuen zu dürfen, denn ich war im Nachdenken über die Mitteilungen Eures frommen Vaters ganz verloren. Er erwartet eine wundervolle Zeit. Ich habe ihn aber nicht vollständig begriffen, und keine Klarheit in dem gefunden, was er von göttlichen Dingen lehrte

»Ihr werdet auf diese Klarheit wohl nicht hoffen dürfen,« sagte Veronika, ernst vor sich niederblickend. »Wir sehen hienieden nur in einen dunkeln Spiegel; aber wir haben ja alle das Gefühl der Gottheit in uns, weil wir aus der Gottheit sind und zu ihr gehören. Und bleiben wir eins mit ihr, ists genug zu unserem Heil. Alles andere ist Staub, oder ein Gebilde menschlicher Vorstellung: wir wissen nicht, was das Wahre ist; ich selbst weiß es nicht. Eins weiß ich aber, was wahr ist; doch ich habe keine Zunge, das auszusprechen.«

Gangolf, dem die Rede der schönen Begutte herrlicher klang als Saitenspiel, verstand jedoch von ihren religiösen Ansichten noch weniger, als vom ewigen Evangelium des Lollhard. »O, daß Ihr das aussprechen könnet,« sagte er. »Ich möchte alles und nichts anderes wissen und haben, als Ihr; dann würde ich mich selig nennen.«

»Ihr habt es,« erwiderte sie, und ein sanftes Lächeln flog, wie ein heller Sonnenstrahl, über den Ernst ihrer Mienen.

»Was habe ich denn?« fragte er etwas verlegen.

»Was ich habe: Euch selbst und das Bewußtsein Eurer eigenen, ewigen Göttlichkeit, wie ich mich meiner und meines ewigen Ingottseins bewußt bin. Ja, wir sind göttlichen Geschlechtes; alles übrige bleibt nicht uns, sondern dem All. Gott ist das All, und in dem All offenbar. Leib und Seele sind nur Umhüllungen, Werkzeuge, Formen für das Göttliche in uns, und gehören nicht zu uns.«

»Wie?« rief Gangolf überrascht, indem er stehen blieb und seine schöne Lehrerin mit erstauntem Blicke ansah. »Also nach dem Tode gehen Leib und Seele, selbst die Vernunft, und alles unter. Was bleibt denn?«

»Ihr, der Gottessohn; Ihr, der Ewige; Ihr, wie ich, das göttliche Selbst,« sagte Veronika und blickte mit Anmut und Würde dem Ritter in die Zweifel verratenden Augen. »Alles, was aus dem unendlichen Schatz Gottes, aus der Natur genommen ist, was Ihr mit allen ähnlichen Wesen gemein habt, fällt nach Euerer Entwickelung in den unendlichen Schatz zurück. Ihr fühlt und wißt es ja, Ihr selbst seid nicht die Vernunft, sondern Ihr habet sie nur, wie alle Menschen. Wäret Ihr selber die Vernunft, so wäret Ihr nicht Ihr, sondern ein sich unbewußtes, willenloses Gesetz. Ihr seid nicht die Seele, Ihr habet sie, wie alle fühlenden Geschöpfe, wie auch die Tiere. Ihr seid nicht der Leib, sondern Ihr habet ihn, wie alle Pflanzen. Ihr unterscheidet Euch von allem, was außer und in Euch ist, als etwas Anderes, Besonderes, Höheres, Selbständiges, in Fremdes eingekleidetes Göttliches. Alles bewegt sich und ist innerhalb der Gesetze der Natur, welche die Gedanken Gottes sind; die Vernunft ist das Naturgesetz unseres Ichs. Er aber, der Allordner, ist höher denn alle Vernunft. Eben das Bewußtsein unserer Selbständigkeit, unseres Verschiedenseins von allem ist die Bürgschaft unserer göttlichen und ewigen Natur.«

Der Jüngling fühlte sich bei diesen wunderbaren Reden der Begutte wie von einem Schwindel befallen; er wußte selbst nicht, ob wegen ihrer seltsamen, unverständlichen Äußerungen oder wegen der fast überirdischen Hoheit, in der sie, wie eine Prophetin, lehrend und das Geheimnis Gottes offenbarend, vor ihm stand. Eine milde, warme Röte glänzte von dem schönen Antlitz und das vom Hauch der Abendluft bewegte goldbraune Haargelock bildete eine Art Heiligenschein um ihr Haupt.

Als sie die Betroffenheit und Verwirrung Gangolfs bemerkte, legte sie die beiden Flächen ihrer kleinen Hände wie betend gegen einander und an ihre Brust, schlug die Augen demutsvoll nieder und sagte mit inbrünstiger Überzeugung. »Lasset uns gut und heilig sein wie der Gute und Heilige, zu dem wir Abba rufen!«

»Ihr möget es wohl sein,« antwortete der Jüngling gerührt und seufzend, »ich aber bin ein sündiger Mensch. O, dürfte ich Euch immer hören und mich durch Eure Nähe heiligen. Vielleicht würde ich zuletzt verstehen, was Ihr, wie aus fernen Himmeln, zu mir redet.«

»O edler Herr, wollet Euch nur selber verstehen, dann verstehet Ihr das, was aus den Himmeln redet, denn Gott offenbaret sich in uns, wie er sich vor uns in allen Heiligen und Sündern offenbart hat, Ihr wisset es besser denn ich, warum sollte ich's Euch sagen? Horchet nur auf die Stimme der ewigen Liebe aus den Himmeln.«

»Ich höre sie ja; ich höre sie ja von Euren Lippen, o Veronika, und alle meine Sinne horchen in mir auf.«

»Gott spricht auch zuweilen durch den Mund der Sterblichen; doch ich bin nicht würdig, des Herrn Werkzeug zu sein.«

»Und doch seid Ihr es, fromme Veronika, denn Eure Macht über mich ist nicht ganz menschlicher Natur. Ich fühle mich, wenn ich bei Euch bin, wie aus mir selber herausgerissen, und fern von Euch ist meine ganze Seele von Euch erfüllt. O versuchet es und gebietet, was Ihr wollet.«

»Ach, wie glücklich würde ich arme Magd Gottes mich preisen, wäre ich die Erwählte, Euch, mein edler Herr, der Vergänglichkeit zu entziehen und dem Ewigen und Göttlichen zu gewinnen. Ja, Euch, nur Euch! Mein Beruf auf Erden wäre erfüllt.«

Die Begutte sagte diese Worte mit einem inbrünstigen Blick zum Himmel und mit einer Unschuld, wie sie kein Raphael seinen Madonnen giebt. Gangolf stand mit gefalteten Händen, mit demutsvoller, frommer Ergebung und mädchenhafter Ehrfurcht vor der Priesterin der ewigen Liebe. Sie schien ihm wieder die Göttliche seiner Träume zu sein, von allem Irdischen entbunden. »Was fordert Ihr,« sagte er, »daß ich thun müsse, um Eurer Huld würdig zu werden?«

»Nicht meiner Huld, sondern der Huld Gottes! Selbst das Leben für sie darzubringen, muß Euch leicht sein.«

»Das Leben? Ach, Veronika, das Opfer unseres Lebens ist bei weitem nicht das schwerste aller Opfer. Gebietet, wann, wie, wo muß ich sterben? Ich habe ja den Tod oft nahe gesehen.« Er sagte das so treuherzig und fest und entschlossen, daß die Begutte fast erschrak und ihn mit Bestürzung ansah.

»Wie meint Ihr das?« fragte sie mit ungewissem Tone, in welchem es ausgedrückt war, daß sie ihn nicht verstanden zu haben glaube.

»Ich will sterben; ich habe immer Sehnsucht nach dem Tode,« erwiderte er. »Seid Ihr der Engel meines Todes; winket mir. Ich sterbe rein und gut, und gehe zu Gott.«

»Ritter!« rief sie bestürzt und machte eine Bewegung, als müsse sie ihn aufhalten. »Warum sterben? Wie könnte ich Euern Tod wollen?«

»Habt Ihr nicht mein Leben verlangt?« sagte er und blickte schüchtern zu ihr auf.

»Nein, so wörtlich hättet Ihr mich nicht verstehen sollen,« erwiderte Veronika. »Um alles Heiligen willen, wie könnte ich . . . nein, wär's Euch möglich, edler Herr, das von mir zu glauben?«

»Sollte ich an der Wahrheit Eurer Worte zweifeln?«

»Ich habe gefehlt, denn ich wollte das nicht sagen, sondern nur, Ihr müsset das Liebste zum Opfer bringen können und fahren lassen das Teuerste auf Erden.«

»Wie soll ich's zum Opfer bringen, wie fahren lassen?«

»Ich müsset es von Euch stoßen, verachten und vergessen.«

»Das kann ich nicht; das ist schwerer als der Tod,« sagte der Jüngling mit schwachem Kopfschütteln halblaut vor sich hin.

»Wie, könnt Ihr das nicht?« sagte sie mit kindlicher Gutmütigkeit, und sah ihn mit besorgten Blicken an, da sie eine geheime Traurigkeit an ihm wahrzunehmen glaubte. Doch erhob sie sich bald wieder im schwärmerischen Mut ihrer unbedingten Gottergebenheit und setzte hinzu: »Wenn aber Gott das Opfer verlangt, Ihr sollet und Ihr könnet es bringen, so werdet Ihr es!«

»Nein, nein, nein!« rief Gangolf mit abgewendetem Gesicht, als wollte er den Schmerz verbergen, den schon der Gedanke an die Möglichkeit des Opfers ihm erregte. »Nein, Veronika! Euch kann ich nicht verstoßen, nicht verlassen, nicht vergessen.«

»Ich rede nicht von mir,« sagte Veronika unbefangen.

»Aber ich von Euch,« versetzte Gangolf treuherzig, »und fordert es der Himmel, ich kann es nicht; Gott möge mir gnädig sein!«

Eine Thräne fiel bei diesen Worten von seinen Augen. Er blickte nicht auf, er sah nicht, wie sie plötzlich erblaßte und, von einem Schauer ergriffen, sprachlos die Hände faltete. Sie nahm endlich in ängstlicher Verlegenheit das Wort und sagte:

»Edler Herr, warum redet Ihr von Dingen, die ich nicht meinen konnte?«

»Ihr spracht von dem, was ich das Teuerste auf Erden nenne,« antwortete er ruhig, aber niedergeschlagen.

Sie erblaßte abermals und sagte. »Ritter, geht!«

Er verbeugte sich und ging schweigend durchs Gebüsch nach den hohen Zwillingseichen neben der Hütte.

Als wäre sie selbst über die Gewalt ihrer Worte, oder über den stummen, widerspruchslosen Gehorsam des edlen Ritters betroffen, sah sie ihm erst eine Zeit lang mit starren, großen Augen nach. Dann streckte sie in ängstlichem Schweigen ihren Arm nach ihm aus, als könnte sie sein Verschwinden verhindern, that unwillkürlich zwei kleine Schritte und rief. »Scheidet nicht zürnend!«

Er blieb stehen und wandte sich zurück.

»Wohin wollt Ihr?« sagte sie, langsam an ihn herantretend.

»In die Ferne, wie Ihr mir geboten habt,« antwortete er, zu ihr zurückkommend.

»Es ist nicht an Eurer Magd, edler Herr, Euch zu gebieten,« erwiderte sie. »Mein Vater ehret Euch: er sieht Euch gern, versagt ihm nicht die Freude, in seiner Einsamkeit Euch zuweilen zu sehen. Er ist mein guter Vater; lasset nicht mich die Schuld Eurer Entfernung tragen.«

Sein Antlitz erhellte sich bei diesen Worten und ein Wort der Freude oder des Dankes schien von seiner Lippe fallen zu wollen, doch verstummte er wieder.

»Nur eine Bitte an Euch vergönnet mir,« fuhr sie nach einer kurzen Weile fort. »Seid gut und heilig; täuschet nicht Euch um mich. Schwöret alles Irdische ab und redet nie zu mir, wie Ihr eben geredet habet. Nie, nie! Dürftet Ihr mir dies Versprechen geben?« sagte sie und machte, sich selber unbewußt, eine Bewegung der Hand gegen ihn, als müsse er's in diese Hand geloben. Er legte zitternd seine Hand in die ihm dargebotene. »Ich werde schweigen und gehorchen,« sagte er, aber er ließ die Hand nicht fahren, und obwohl er schwieg, brach er doch, durch den Ausdruck seiner Gefühle, in allen Zügen und Bewegungen das eben abgelegte Gelübde, wie auch die Begutte, von einer geheimen Verwirrung überwältigt, vergaß, die Hand zurückzuziehen. Sie that es endlich, doch fast zu spät. In einsilbigen Gesprächen gingen sie zur Hütte zurück, wo sie den Lollhard in einer langen Pergamentrolle lesend antrafen.

Den schönen Tag beschloß ein schöner Abend. Gangolf genoß denselben unter harmlosen Gesprächen mit dem Einsiedler-Paare. Als er von ihnen schied, begleiteten ihn beide durch den Wald, den Berg hinab bis zur St. Lorenzenkapelle unter der Ramsflue.


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