Theophil Zolling
Die Million
Theophil Zolling

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XXVI.

»Mein Kollege Burslem feiert nach der Vorstellung seinen Geburtstag,« hatte Miß Leona in einer Pause hinter der Manege zu Wicky und Lothar gesagt. »Er hat seine nächsten Freunde ins nahe »Artistenheim« eingeladen und Sie noch besonders. Also ein ganz kleines Komitee, denn meine englischen und amerikanischen Kollegen sind fast alle Temperenzler. Sie dürfen sich nicht entziehen.«

Wicky hatte Müdigkeit vorgeschützt, denn fünf Abende nacheinander war sie schon in dieser Woche in Gesellschaft gewesen und stets nach Mitternacht nach Hause gekommen, aber im Grunde bedauerte sie lebhaft, auf ein so eigenartiges Fest verzichten zu müssen. Viel entschiedener lehnte Lothar ab, der in Uniform war. Doch nun mußte gerade ein fürchterliches Schneetreiben hereinbrechen! Die ganze Stadt begraben. Die Pferdebahnen stockten, kein Wagen weit und breit. Ratlos standen Kousin und Kousine in dem am Eingange sich stauenden Menschenstrom, der sich gleichfalls nicht in das Unwetter hinauswagte, und sie hofften auf ein Nachlassen des Sturmes, einen plötzlichen Umschlag, ein Wunder. Als dieses nicht eintraf und der Schnee immer dichter durch das breite Portal hereinwirbelte, gingen sie in die Garderobe; vielleicht konnte Miß Leona ihnen einen Wagen abtreten.

»Gefangen!« rief sie ihnen aber lustig entgegen, »es ist kein Entkommen mehr! Sie müssen mit!«

Und die ganze Künstlergesellschaft, Schulreiter, Dresseur, Panneauspringerin, Clown, Kanonenmensch, umringte die beiden, und auch dem Leutnant ließ man keine Zeit mehr zum Besinnen und zog ihn mit Hei donc! und Hoplah! den vorauseilenden Damen nach. Draußen empfing sie heulend der Sturm und schlug ihnen die großen weißen Flocken ins Gesicht. Das verscheuchte die letzten Bedenken, und nun beschleunigten sie ihre Schritte zum nahen Asyl und rannten förmlich durch die schlecht erhellte Sackgasse der Spree zu, an deren Uferecke ein grell erleuchtetes Erdgeschoß mit dem rötlichen Schimmer, der durch die Purpurgardinen drang, schon von weitem zur Einkehr einlud. Fröstelnd strömte die Schar durch die niedere Glasthür in das qualmige Lokal. Mit lautem Gruße wurden die Ankömmlinge von Wirt, Gästen und Aufwärtern begrüßt. Es war wie eine große Familie, die freudig heimkehrende Angehörige empfängt.

»Der Salon ist den Herrschaften reserviert,« sagte der behäbige Wirt, der tadellos befrackt und frisiert war, und Burslem ließ es sich nicht nehmen, ihn sofort als seinen ehemaligen Kollegen Lampère vorzustellen. Er war in der That eine hervorragende »Kraft« gewesen, ein Gymnastiker, der fingerdicke Eisenketten durch bloßes Anschwellenlassen der Armmuskeln sprengen konnte, aber er hatte das Unglück, zu stürzen und »sich weh zu thun«, wie der Kunstausdruck für doppelten Beinbruch lautet. Das Bein wurde schlecht geheilt, eine Schwäche blieb zurück, und er war genötigt, die Künstlerlaufbahn aufzugeben. So machte er sich denn als Restaurateur um das leibliche Wohl seiner Kameraden verdient, und sein Artistenheim blühte, denn sie ließen ihn nicht im Stiche. Mancher ehemalige Kollege wurde auch durch geschäftliche Rücksichten hergeführt, denn Lampert, wie er eigentlich hieß, war nebenbei Agent für den großen Troß der Artisten, und oft wurde beim schäumenden Krug ein Vertrag entworfen, der am anderen Morgen oben im »Bureau« zum bindenden Abschluß gelangte.

Der vielseitige Mann, dessen muskulöse Arme noch den gewesenen Herkules verrieten, ging seinen Gästen voran und führte sie aus der nach dem Buffett und seinen Toddies und Whiskeys duftenden Trinkstube durch ein hell erleuchtetes Zimmer, wo allerlei Gäste an einem länglichen Tische tranken, rauchten und Karten spielten. Lothar fiel im Vorübergehen die Hast auf, womit der Wirt an der Spielergesellschaft vorbeisegelte, aber saß dort nicht der lange Gollnow, der Buchmacher von Charlottenburg und Hoppegarten, hinter einem vollen Weinglase, die unzertrennlichen Karten in der Hand? Es war noch ein Wunder, daß der Spieler im Eifer nach den Eintretenden aufsah und dabei den flotten Gardeleutnant erkannte, dem er als Roßkamm mehr als ein Pferd gekauft und verkauft und einmal einen wichtigen Dienst geleistet, als er sich eines bösen Wucherers mit Anstand entledigen wollte, denn Gollnow machte mitunter auch Geldgeschäfte und lieh auf Wechsel und Pfänder.

»Meine Hochachtung, Herr Baron!« rief er über den Tisch. »Das letzte Mal in Hoppegarten haben Sie es abgelehnt, sich an einem kleinen Jeuchen zu beteiligen, und ich konnte es Ihnen nicht verdenken, denn die Tempelritter waren lauter kleine Leute und Spießer. Aber heute lass' ich mir keinen Korb geben, da Sie nun schon in der Höhle des Löwen sind. Alles feine Partner diesmal, Herr Baron! Darf ich die Herren bekannt machen? Herr Gerichtsassessor von Gehricke – Herr Zigarrenfabrikant Mechelke – Herr Kaufmann und Reserveleutnant Sendig ...«

Aber Lothar mußte »seiner Dame« wegen ablehnen und verschwand in den kleinen Salon, dessen Wände mit schönen englischen Pferdebildern und Jagdstücken behängt waren. Die Gesellschaft nahm um den runden Tisch Platz. Auch ohne Trikots und Gazekleidchen, Mehl und Schminke erkannte man die Artisten wieder. Die Farbe hatte ihren Teint verdorben, ihre Schnurrbärte waren gepicht und wie Hufschmiere glänzend, und auch die Gelenkigkeit ihrer Gliedmaßen hatten sie nicht im Zirkus gelassen. Ihre Verbeugungen waren hastig; unwillkürlich dachte Lothar bei den Damen an den mit beiden Händen gespendeten Kuß der ganzen Welt, und bei den Clowns vermißte er unwillkürlich die Nachhilfe der Hand am Hinterkopfe, wenn sie ihm zunickten. Das war ein geschmeidiges Wiegen in den Hüften, ein übertriebenes Schlenkern der Arme, ein Trippeln und Hüpfen, als würde gleich der saut périlleux oder der Saltomortale nach hintenüber folgen, wobei die glühenden Augen und der Mund mit den schimmernden Zähnen ohne Gage mitspielten. Und dann die falsche, unangebrachte Eleganz, der Geschmack grell, übertrieben, alles Talmi! Die Damen wie Kundinnen vom Trödelmarkt, und die Herren in großkarierten Röcken, mit Cylinder oder Melonenhut, mit ausgetretenen Halblackstiefeln und brandroten Kravatten, riesigen Nadeln mit falschen Steinen, und an jedem Finger einen Ring. Und erst ihre Unterhaltung! Alle Dialekte Europas schwirrten durcheinander mit einer Geläufigkeit, als handelte es sich um ein schwieriges Sprechkunststück, und jeder Grammatik und sämtlicher Ausspracheregeln wurde gespottet. Das Englische näherte sich dem pigeon-english, die Sprache Dantes erklang in mundfaulen neapolitanischen oder lispelnden venezianer Lauten, und das Französische war reichlich mit belgischen » savez-vous?« und dem Singsang der Provence durchsetzt. Sogar die unverleugbaren Deutschen hatten sich diese Zirkusreden so angewöhnt, daß sie ihre Muttersprache nur noch virtuos radebrechen konnten, gewiß weniger um vor ihren Kameraden, dem Direktor und dem Publikum als Original-Engländer zu gelten, als aus Gewohnheit und unbewußtem Nachahmungstrieb. Nur Wicky schien von der Komik ihrer Gesellschaft nichts zu merken, oder wenigstens empfand sie es nicht so stark wie Lothar, der sich einiger spöttelnder Bemerkungen nicht enthalten konnte. Sie unterhielt sich auch viel besser als er, denn ihre Freundin Miß Leona und deren groteske Mutter saßen neben ihr und waren ungemein zuvorkommend, und die Herren überboten sich in Galanterien. Erst wurde das Nachtessen bestellt, und so einig war man auch in Geschmacksachen, daß beschlossen wurde, jede Sonderbestellung sollte verpönt sein und ein gemeinsames Gericht an ihre Stelle treten. Es dauerte auch nicht lange, und die beschurzten Küper, die hier als Kellner dienten, brachten eine Riesenschüssel voll Rehbraten herein, dazu Polenta, Kartoffeln und die üblichen »Hindernisse«. Dann klapperten die Messer und Gabeln, mit denen nicht im geringsten jongliert wurde, und sogar der ungeschlachte Kanonenmensch wußte gar zierlich damit umzugehen. Das wilde Durcheinander des Gespräches ruhte indes nicht einen Augenblick, und besonders als die Schleusen des Champagners in die Luft flogen, vernahm man vor lauter Schreien, Singen und Lärmen sein eigenes Wort nicht mehr. Die Zielscheibe und Quelle der allgemeinen Heiterkeit war Leonas Mutter, deren gelber Teint wie von Fett glänzte, während lange goldene Ohrgehänge bei jeder ungestümen Bewegung ihres Kopfes nach allen Richtungen schlugen. Sie wurde mit Recht als das Ideal einer mère d'écuyère gefeiert, und sie war unermüdlich, um der Gesellschaft ihre Tugenden und die ihrer Töchter anzupreisen. Jetzt gab sie eine verführerische Schilderung ihrer Glanzzeit zum besten, die etwa zwanzig Jahre zurückliegen mochte, als sie noch einen wandernden Zirkus leitete.

» O mes enfants, quelle vie!« jubelte sie in der Erinnerung an jene goldene Zeit, und ihr zärtliches Mutterauge ruhte auf ihrer Tochter. »Viel Rubel, viel Anbeter, viel Freiheit! Vive la liberté! Und jeden Abend zog die Familie mit ihrer tente – wie sagt man, Leona?«

»Ihrer Tante,« übersetzte Lothar mit Humor.

»Nix Tante,« eiferte sie. »Ein Stock und eine Leinwand, und darunter arbeiteten, aßen und schliefen wir.«

»Ein Zelt,« rief Miß Leona.

» C'est ça, Zelt!« wiederholte die Alte mit einem glühenden Dankesblick. »Und ein Zelt für uns, die Pferde, die caniches und die Clowns! Natürlich nur im Sommer. Im Winter hatten wir unsere maringotte, den Wagen für Wohnung und Gepäck.«

Aber dieses Glück schien ihrem Ehrgeize doch nicht zu genügen, denn auf allgemeines Befragen gestand sie, daß die Familie auf die Nachricht, in Paris werde eine Weltausstellung abgehalten, das heilige Rußland, das sie damals bereiste, verließ. Leona war zu jener Zeit noch ganz klein und Reiterin auf dem »Nudelbrett«, dem Panneau.

»Ich versammelte meine Truppe,« erzählte die Alte eifrig weiter, »und hielt folgenden discours: Enfants, il y a un coup à faire à Paris, j'y vais avec Lorenzita ... Vous autres, allez planter la tente en Norvége

»Brava! Brava!« rief die Gesellschaft mit lautem Händeklatschen.

» Et après?« fragte Mister Burslem.

»Acht Tage später debütierte meine ältere Tochter im Cirque, aber mit éclat! Eines schönen Abends sah man im Stallgang einen jeune homme du monde, der sich damit amüsiert, die billets de mille auf allen tapis verts laufen zu lassen.«

»Ah, ein Spieler also?«

» Oui, mais un pré-ince!« verbesserte sie den Übersetzer, indem sie mit einem unnachahmlichen provenzalischen Accent den prince der Gesellschaft gleichsam zu kosten gab. » Oui, ma Lorenzita lui avait donné l'oeil! Er zeigte sich alle Abende bei Franconi, war galant, généreux, empressé auprès de la belle écuyère en vogue. Es gab sogar un soir eine scène zwischen ihm und einer dame qui se croyait des droits sur lui. Nichts half, ni supplications, ni coups d´éventail. Der Sportman hatte eben auf den Augen den bandeau d´amour, und wenn man hat dreißig Jahr macht er für einige Tage blind, und wenn man hat vierzig, kann er nicht mehr abgenommen werden.«

Die Gesellschaft spendete dem hübschen Vergleich Beifall; sie warf dafür Kußhände nach allen Seiten, leerte ihr Sektglas auf das Wohl des Geburtstagskindes und fuhr fort:

»Seine guten Freunde waren natürlich erstaunt, daß er nie mehr bei den courses und so zerstreut à la table du Bac, und sie fingen an, mich zu pläsantieren, aber ich antwortete: Messieurs, ma fille est honnête! Sie acceptiert les hommages und die perles fines, c´est l´usage; der pré-ince schenkte uns gestern une rivière de 20 000 balles, vorgestern une équipage, und er installiert uns morgen in ein premier meublé à neuf. Aber ich bin da, ich bin immer da und wache über die Ehre der famille

Eine neue Beifallsalve begrüßte die Worte der tapferen Mutter, und man bestürmte sie um das Ende der Geschichte.

» N-i-ni, c´est fini,« antwortete sie stolz, »denn die Lösung können Sie sich figurieren. Sie kann nicht anders sein, als es will die Ehre der famille. Das Engagement von Lorenzita ging zu Ende, sie machte ihre adieux den camerades, und am folgenden Tage reisten sie, ich und er nach London. Die Hochzeit war zwei Tage spater auf dem consulat de France

Die ganze Gesellschaft lachte, aber die Señora machte eine sehr beleidigte Miene. » Mon Dieu, das ist ein Trick, et ça se nomme en affaires savoir jouer le grand jeu. Und was ist denn weiter? Wir Prinzessinnen vom Zirkus sind den wirklichen pré-inces ebenbürtig.«

Sie warf ihre Behauptung wie eine Herausforderung mit zurückgeworfenem Kopf und flammenden Augen hin und beruhigte sich erst, als das Geburtstagskind die Ansicht aussprach, daß die Reifenspringerin noch viel zu gut für den Spieler war.

»Die Frage ist nur,« warf Wicky schüchtern ein, »ob es Ihre verheiratete Tochter übers Herz bringt, dem Zirkusleben dauernd zu entsagen.«

» Attendons,« antwortete die Alte philosophisch und zuckte die Schultern. »Jetzt habe ich le grand jeux aufgegeben und mache mon petit jeu in der Lotterie und à la bourse. Von Hausse und Baisse versteh' ich aber gar nix. Ma fille joue pour moi

Mit diesen Worten wollte die zärtliche Mutter ihre Leona umarmen, aber diese schüttelte sie ab, daß die Gläser klirrten. » Fiche-moi la paix, maman,« sagte sie, nahm aber gleich den abgebrochenen Faden ihrer Mutter auf. »Übrigens hat sie recht, das kleine Spiel um Geld ist besser als das große um Herzen. Aber Sie kennen ja meine Ideen über diesen Punkt, meine Herren und Damen.«

Da erhob sich der Clown mit einem sehr ernsthaften Gesichte, klopfte an sein Glas, und sein englischer Toast auf die Damen wurden zu einem begeisterten Hymnus auf das Zirkusleben. Wohl nannte er es in trüben Stunden ein Hundeleben voller Narrenspossen, um den Pöbel für seine paar Groschen zu unterhalten, wobei man noch obendrein sein Leben und seine Gesundheit riskiere, aber es sei doch die reinste, bestbezahlte, schönste Kunst. Jeder von ihnen sei ein Meister, denn der Stümper breche sich den Hals. Und wenn sie auch bloße Nummern des Programms seien und der Direktor für sie die Lorbeeren einheimse, so könnten sie doch auf die Kritik pfeifen, denn sie verständen meistens kein Deutsch, und ihr zollhoch gedruckter Name auf den Plakaten und ihr internationaler Ruhm sei ihnen lieber. Auch habe sich der Artistenstand eine soziale Stellung geschaffen, sei organisiert und geachtet, mit Genossenschaften und eigener Presse, und jeder von ihnen habe sein Konto beim Bankier. Durch physische Kraft hätten sie sich die beneidenswerte Stellung von Künstlern errungen, und die Manege werde bald die Bühne entthronen. Ihre Manifestationen der Kraft, Gewandtheit und Formenschönheit seien ein unwillkürlicher Protest gegen die Degeneration der entnervten Kulturvölker. Und wie musterhaft ehrbar sei ihr Leben, denn sie müßten mäßig und immer im Training bleiben, um ihre Frische und Spannkraft zu bewahren! Und doch gehe nichts über die Liebe im Zirkus. Der ritterliche Geist in ihrer Arbeit, dies lächelnde Schweben zwischen Tod und Leben, die kriegerische rauschende Musik, der Todesmut, die Verhöhnung der Gefahr, der Beifallsjubel atemlos schauender Menschen, der Flug über die Barrieren und das erschöpfte Niedersinken im Triumph – und dann eine liebende Hand zu finden, die den Sturm besänftigt, zwei Lippen mit belebendem Kuß, ein Liebesblick, ein süßes Wort ...

Laute Hochrufe, Bravo, Cheers erhoben sich, als er geendet. Man trank die Gläser aus und in einer verschwiegenen Ecke, doch von Wicky nicht unbemerkt, fanden sich zwei Lippenpaare. Der Clown hatte die stolze Schulreiterin besiegt.

Unter solchen Gesprächen wurde eine Champagnerflasche um die andere geleert, und nicht nur mit diesem »faden Zeug«, wie Leonas Mutter es nannte, begnügte man sich. Cognac und Chartreuse gingen herum, und der Kanonenmensch hielt sich mit Lothar an den schweren Porter, den sie mit Sillery mischten. Aber schließlich wurden die Hitze und der Tabakrauch lästig. Man öffnete die auf den Hof gehenden Fenster, trotz der Einsprache des Wirtes, und Lothar, der etwas benebelt war, verschwand ins Nebenzimmer. Dann hob man die Tafel auf und wagte ein Tänzchen, wozu einer der Herren auf dem Pianino aufspielte, doch wurde es Wicky zu arg, denn Burslem und die Stehendreiterin fingen an zu kankanieren. Sie verlangte nach Hans, um so mehr als eine namenlose Müdigkeit sie befiel. Aber wo war ihr Kousin? Der Clown verwies sie ins Spielzimmer, wo sie wirklich Lothar auf dem Platze des Assessors traf, der nach anfänglich großem Glücke seinen Gewinn und obendrein seine ganze Barschaft verspielt zu haben erklärte. Sobald der Leutnant für ihn eingesprungen, waren schon aus Achtung vor seiner Uniform die Einsätze auf zwanzig Mark erhöht worden. Und Lothar gewann ganz ansehnliche Beträge, was er, abergläubisch wie alle Spieler, einem »Fetisch« zuschrieb, den er in der Person des hinter ihm stehenden Assessors erkannt zu haben glaubte. Leider verlor er ihn bald, denn nachdem der Zuschauer ein eben benutztes Spiel Karten, das von Gollnow durch ein neues ersetzt wurde, unbemerkt an sich genommen, verschwand er aus dem Zimmer, worauf wirklich das Glück von Lothar zu weichen schien.

Wickys Unbehagen stieg, als der Kousin gar nicht zu bereden war, sie nach Hause zu begleiten, sondern seine Verluste wieder einzuholen suchte, wobei er immer tiefer in die Klemme geriet. Ganz erschöpft und mit zerrissenen Nerven sank sie auf einen Stuhl, und Leonas und der übrigen Unterhaltung versank ihr in einem dumpfen Brausen. Die ganze Artistengesellschaft hatte sich um den Spielertisch versammelt und verfolgte mit steigender Spannung die Partie, wobei Miß Leona mit ihren Kollegen auf Lothars Gewinn oder Verlust zu wetten anfing.

Mitternacht war längst vorbei. Die Gäste vom Buffett hatten sich entfernt, nur im Spielzimmer ging es noch hoch her. Der Wirt hatte die Holzläden gegen die Straße schließen lassen, aber sei es nun, daß ein verräterischer Lichtschein oder der Lärm der Gäste auf die Straße gedrungen war, plötzlich hörte man ein lautes Pochen, und im selben Augenblicke kamen eilige Schritte von rückwärts aus der Küche her.

»Nur ruhig Blut und warm angezogen,« sagte Gollnow, der die Bank hielt. »Es wird der Nachtwächter sein. Ich zahl' ihm eine Weiße, und er beruhigt sich.«

Aber da stürmte der Wirt herein. »Ruhe, meine Herrschaften!« sagte er halblaut. »Es ist die Polizei.«

Die Damen erblaßten unter ihrer Schminke, und Wicky fiel vor Schrecken in Ohnmacht. Während Lothar und Leona ihr beisprangen, lief ein Küper herein.

»Die Polizei! Der Spieler wegen! Der Assessor war ein Vigilant.«

»Soll ich den Jas ausdrehen?« fragte Gollnow, der an solche Auftritte gewöhnt war und keinen Augenblick die Geistesgegenwart verlor. Die Damen protestierten heftig, aber er sprang gleichwohl auf den Tisch und drehte den Hahn ... Die augenblickliche Finsternis rief eine Verwirrung hervor, die Gollnow und seine zwei Spießgesellen dazu benutzten um das Geld und die Karten aufzuraffen und schnell nach dem hinteren Ausgange zu verschwinden. Die Damen schrieen und lagen in Krämpfen, die Herren rannten durcheinander und stießen sich an. Zum Glück war der Salon nebenan noch beleuchtet, so daß durch die geöffnete Thür ein Schein auch in das Spielzimmer drang. Und zu all der Aufregung das laute Pochen von außen.

Lothar dachte trotz seiner vom Wein und Spiel umnebelten Sinne an seine bloßgestellte Uniform und rannte ins Nebenzimmer, wo er nach Mantel und Degen griff. Dann öffnete er einen Fensterladen und schwang sich hinaus in die dunkle, von eisigen Flocken durchwirbelte Nacht. Doch das Haus war umstellt. Zwei Behelmte vertraten ihm den Weg, und in seiner sinnlosen Erregung zog er den Säbel und schlug sich unter wilden Schimpfreden durch. Im Schneesturm verschwand er.

Drinnen wimmerten und schrieen die Damen noch immer. Der Clown und der Kanonenmensch hatten Wachshölzer angezündet und beruhigten die Gesellschaft umsonst mit der Versicherung, daß keine Gefahr sei, und daß die Razzia bloß den Hazardspielern gelte. Endlich brachte man brennende Lichter. Das Klopfen hörte auf. Von der Küche her vernahm man laute Stimmen und Schritte. Und gleich darauf drangen die Schutzleute in das Zimmer.

»Niemand rühre sich!« rief der Polizeileutnant und lüftete seinen blauen Mantel. »Wirt, stecken Sie das Gas an, damit man sich die Gesellschaft besser besehen kann.«

Der Herkules gehorchte, und im aufblitzenden Lichte sah man den Clown, den Athleten und die übrigen Zirkuskünstler eingeschüchtert und schlotternd in ihren Mänteln und Pelzen und am Sofa hingestreckt die Damen: Wicky ohnmächtig, Leona in Krämpfen, ihre Mutter die Hände ringend, nur die »ungesattelte« Reiterin hatte sich halbwegs gefaßt und warf dem hübschen Polizeileutnant einen flehenden Blick zu.

»Guten Abend, meine Damen!« sagte er lächelnd und strich seinen blonden Schnurrbart. »Fürchten Sie sich nicht. Es geschieht Ihnen nichts. Unser Besuch gilt der andern Gesellschaft da.«

Zwei Schutzleute brachten die Spieler herein, die ihnen auf der Flucht gerade in die Hände gelaufen waren.

»Na, Herr Gollnow,« fuhr der Leutnant fort, »wo Sie mit Mechelke und Sendig beisammen sind, da weiß man gleich, daß getempelt wurde. Die Karten her.«

»Wir haben keine!« entgegnete der Buchmacher frech.

»Sind schon da!« rief ein Schutzmann aus der Küche, wo ein Küper das ihm von Gollnow zugesteckte Spiel eben ins Herdfeuer schleudern wollte.

»Na, wir können auch damit dienen,« sagte der Polizeileutnant und nahm die Karten, welche ihm der angebliche Assessor gab, auf den Gollnow einen wütenden Blick warf. »Alles gezinkt!« rief er aus und prüfte die Karten mit tastenden Fingern. »Mit Ausnahme des As mit Nadelstichen versehen, jede Karte nach ihrem Wert. Der Bube hat ein Dreieck, die Dame ein Quadrat, der König drei Punkte ... Das genügt!« Dann drückte er sein Glas ins Auge und begann die Gesellschaft zu mustern. Es war ein ehemaliger flotter Gardeleutnant, der aus seiner schöneren Vergangenheit noch gewisse weltmännische Manieren herübergerettet hatte. Mit seiner Schneidigkeit und gutmütigen Noblesse hatte er schon nennenswerte Erfolge erzielt, die ihm eine baldige Beförderung ins Polizeipräsidium sicherten. Das Berliner Leben kannte er gründlich, verkehrte auch noch in der Gesellschaft, und die Künstler und Künstlerinnen waren ihm nicht nur dem Namen nach vertraut. Als er daher Umschau hielt, war es ihm sehr angenehm, fast lauter gute Bekannte zu sehen.

»Na, meine Herrschaften,« schnarrte er mit Humor, »wie geraten denn Sie in diese Spielhölle? Ah, unsere kühne Florentine Diaz!« Er salutierte die Panneaureiterin, die sich schon längst von ihrem Schreck erholt hatte. »Mister Burslem, hoffentlich nicht gespielt, was? Unser Kanonenbezwinger Obadia – wohl auch bloß Zuschauer? Miß Leona, meine Hochachtung! Sogar mit der gnädigen Frau Mama! Angenehm!«

Während Miß Leona ihr schönstes Lächeln spendete, machte ihre Mutter, die früher viel in Militärkreisen verkehrt, einen kurzen, strammen Knix, wobei sie mit beiden Händen die Schöße ihres Kleides faßte: » Mon lieutenant, j´ai l´honneur

Sie fand den kleinen Blonden entzückend und sagte es auch ihrer Tochter ins Ohr. Doch der hatte sich längst zum Assessor abgewandt. »Sie sprachen von Leutnant von Lenz ... wo ist er?«

»Durchs Fenster ausgerückt,« meldete ein Schutzmann, die Hand am Helm. »Er beschimpfte uns und schlug mich mit dem Säbel über den Helm.«

»Auch das noch!« sagte der Polizeileutnant mit aufrichtigem Bedauern. »Er wird die Folgen zu tragen haben.«

Ein fester Schritt kam näher. Es war Lothar, den das Schneetreiben völlig ernüchtert hatte, »Leutnant von Lenz ...« meldete er sich. »Ich komme meiner Dame wegen, die ich in der unverzeihlichen Aufregung vergaß.«

Jetzt erst bemerkte der Kleine die reglos auf dem Sofa liegende Wicky, die von Miß Leona und ihrer Mutter verdeckt wurde.

»Na, wer sind denn Sie, schöne Dame?« Keine Antwort, aber die Leichenblässe auf ihrem Gesicht erschreckte den Eleganten. »Heda, ein Schluck Rotspon!« rief er dem Wirte zu. Ein Küper brachte schnell ein Glas Bordeaux aus dem Salon, und Leona gab der an allen Gliedern bebenden Freundin zu trinken. Lächelnd konstatierte der Polizeileutnant, daß sie ihre schönen Augen öffnete, doch nur um sie einen Augenblick später unter nervösem Schreien und Umsichschlagen zu verdrehen. Zum Glücke ging der Anfall vorüber, sie sank auf das Sofa zurück und schlief ein, doch blieben ihre Züge aschfahl und entgeistert.

»Wer ist die Dame?« fragte der Polizeileutnant.

»Eine Dame der Gesellschaft,« entgegnete Lothar zögernd. »Sie kam in meiner Begleitung, um den Geburtstag dieses Herrn mitzufeiern.«

»Und ihr Name?« wiederholte der Elegante, und der Wachtmeister öffnete sein großes Notizbuch. »Ich muß im Interesse der Dame darauf bestehen, denn sonst muß sie mit auf die Wache.«

»Meine Kousine, Frau Fabrikbesitzerin Lenz in Charlottenburg.«

»Ich danke. Auch die Personalität der übrigen Herrschaften muß festgestellt werden. Wir brauchen Ihre Zeugenaussage. Bitte also um Namen und Wohnung. Ich mag Sie bei diesem Unwetter nicht zur Wache bemühen. Sie, Herr Leutnant, sowie der Wirt, werden sich vor den zuständigen Gerichten zu verantworten haben. Gollnow, Mechelke und Sendig, sämtlich wegen gewerbmäßigen Glückspiels mehrfach vorbestraft, sind meine Gefangenen!«


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