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Zwölftes Kapitel

Als eines Morgens Berta sich eben bei ihrer Mutter befand, kam Adele, um mit verstörter Miene zu melden, daß der junge Herr Saturnin mit einem fremden Herrn da sei. Der Direktor des Asyls Von Ville-Evrard hatte die Eltern wiederholt verständigt, daß er ihren Sohn nicht in der Anstalt behalten könne, weil die Ärzte keinen völligen Wahnsinn bei ihm feststellten. Als er später von der Unterschrift Kenntnis erhielt, die Berta ihrem unglücklichen Bruder entlockt hatte, um die 3000 Franken zu erhaschen, die ihm gehörten, sandte er den Burschen seiner Familie zurück.

Allgemeines Entsetzen. Frau Josserand, die erdrosselt zu werden fürchtete, wollte mit dem Herrn über die Sache reden, allein dieser erklärte ganz einfach:

Der Herr Direktor hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, daß, wenn man gut genug ist, seinen Eltern Geld zu geben, man wohl auch gut genug sei, bei ihnen zu leben.

Aber er ist ja verrückt, mein Herr! Er wird uns umbringen!

Als er unterschreiben sollte, war er nicht verrückt, entgegnete der Herr und entfernte sich ruhig.

Saturnin kehrte übrigens ganz ruhig zurück mit den Händen in den Taschen, als komme er von einem Spaziergang in den Tuillerien. Er sagte kein Wort über seinen Aufenthalt im Tollhause. Er umarmte seinen Vater, der Tränen der Rührung vergoß, und küßte seine Mutter und Hortense, die beide in Furcht erbebten. Als er dann Berta bemerkte, schien er entzückt; sie benützte rasch die zärtliche Stimmung, in der sie ihn sah, um ihn davon zu unterrichten, daß sie schon verheiratet sei. Er zeigte keine Aufregung darüber, schien anfangs nicht einmal zu begreifen, als habe er seine wahnsinnigen Anwandlungen von ehemals vergessen. Allein als sie hinuntergehen wollte, begann er zu heulen. Es sei ihm gleichviel, ob sie verheiratet sei, rief er, wenn sie nur immer da bleibe, bei ihm, mit ihm. Als sie das entsetzte Gesicht ihrer Mutter sah, die schon davonlaufen wollte, um sich einzuschließen, kam Berta auf den Gedanken, Saturnin zu sich ins Haus zu nehmen. Man werde ihn im Kellermagazin schon irgendwie verwenden können, und sei es nur dazu, die Pakete zusammenzubinden.

Am Abend brachte sie ihrem Gatten die Sache vor, und trotz sichtbarem Widerstreben gab August endlich ihrem Wunsche nach. Sie waren kaum drei Monate verheiratet, und schon entstand zwischen ihnen eine dumpfe, immer mehr anwachsende Uneinigkeit. Es war die fortwährende Reibung von zwei verschiedenen Naturen und Erziehungen: ein mürrischer, zaghafter, leidenschaftsloser Gatte und eine Frau, die in dem schwülen Treibhause eines falschen Pariser Luxus aufgeschossen, lebhaften Wesens, das Leben auszubeuten, es für sich allein zu genießen suchte als selbstsüchtiges, verschwenderisches Kind.

Er hatte kein Verständnis für ihr fortwährendes Bedürfnis nach Bewegung, für ihre unaufhörlichen Ausgänge, um Besuche zu machen, spazieren zu gehen, Wettrennen beizuwohnen, Theater, Festlichkeiten, Ausstellungen zu besuchen. Zwei- bis dreimal wöchentlich kam ihre Mutter, sie abzuholen; sie blieb dann aus mit ihr bis zum Essen und war glücklich, die reichen Toiletten ihrer Tochter zeigen zu können, die sie nicht mehr bezahlte. Die Entrüstung des Gatten kehrte sich besonders gegen diese auffallenden Toiletten, deren Nutzen er nicht begreifen konnte. Wozu sei es gut, sich über seinen Rang und sein Vermögen zu kleiden? In dieser Weise Geld auszugeben, das man im Handel weit besser verwenden könne? Er pflegte zu sagen: Wenn man an andere Frauen Seide verkauft, muß man selbst Wolle tragen. Allein bei solchen Gelegenheiten nahm Berta die wütenden Mienen ihrer Mutter an; sie fragte ihren Gatten, ob er sie nackt herumgehen lassen wolle? Sie regte ihn noch mehr auf durch die zweifelhafte Reinlichkeit ihrer Unterröcke, durch ihre Sorglosigkeit hinsichtlich der Wäsche, die man nicht sah. Sie hatte stets einige Redensarten in Bereitschaft, um ihm den Mund zu stopfen,, wenn er bei der Sache beharren wollte.

Ich will lieber Neid als Mitleid erwecken. Geld ist Geld; und wenn ich zwanzig Sous hatte, sagte ich immer, daß ich vierzig habe.

Berta nahm in der Ehe ganz die Art ihrer Mutter an; ja sie übertraf diese noch. Sie war nicht mehr das gleichgültige Mädchen von ehemals, das sich den mütterlichen Maulschellen fügt. Sie war ein Weib, entschlossen zum Widerstände, von dem festen Willen erfüllt, alles ihrem Vergnügen dienstbar zu machen. August betrachtete sie manchmal, erstaunt über diese schnelle Reife. Anfangs fand sie eine stolze Freude darin, im Laden zu thronen in einer ausgesuchten Toilette von eleganter Bescheidenheit. Doch ward sie des Handels bald überdrüssig; sie fühlte sich unbehaglich in dieser Unbeweglichkeit hinter dem Zahltisch und drohte, krank dabei zu werden; sie fügte sich darein mit der Miene einer Unglücklichen, die ihr Leben dem Geschäfte aufopfert. Von da ab gab es einen unaufhörlichen Kampf zwischen ihr und ihrem Gatten. Sie zuckte hinter seinem Rücken mit den Achseln wie ihre Mutter hinter dem Rücken ihres Vaters. Sie begann alle jene häuslichen Zänkereien mit ihm, die sie in ihrer Jugend gesehen; sie behandelte ihn als den Mann, der einfach da ist, um zu zahlen, und überschüttete ihn mit jener Verachtung gegen den Mann, die gleichsam die Grundlage ihrer Erziehung war.

Mama hat recht gehabt! rief sie nach jedem solchen Streite aus.

Und doch hatte August in der ersten Zeit sich bemüht, sie zufriedenzustellen. Er liebte den Frieden, träumte von einer bescheidenen, ruhigen Häuslichkeit, war launisch wie ein Greis, ein Sklave der Gewohnheiten seines keuschen, sparsamen Junggesellenlebens. Da seine frühere Wohnung im Zwischenstock nicht mehr genügte, hatte er jene im zweiten Stockwerk auf den Hof hinaus genommen und glaubte, eine törichte Verschwendung begangen zu haben, indem er sie mit einem Aufwände von 5000 Franken möblieren ließ. Berta, die sich anfangs glücklich fühlte in ihrem Zimmer mit Möbeln vom Holz des Lebensbaumes mit blauer Seide überzogen, zeigte später nach einem Besuch bei einer Freundin, die einen Bankier geheiratet hatte, die größte Geringschätzung gegen eine solche Einrichtung. Der erste Streit entstand unter ihnen wegen der Mägde. Die junge Frau, die an schmutzige, arme Mägde gewohnt war, denen man das Brot vorschnitt, stellte jetzt solche übertriebene Anforderungen an ihre Mägde, daß diese halbe Tage weinend in der Küche zubrachten. Als August, der sonst nicht eben übermäßig zartfühlend war, es sich einmal einfallen ließ, der mißhandelten Magd einige beschwichtigende Worte zu sagen, mußte er sie eine Stunde später aus dem Hause jagen, weil seine Frau in Tränen zerfloß und ihm wütend zurief, daß er zwischen ihr und »diesem Geschöpf« zu wählen habe. Nach dieser Magd kam eine andere, die sehr pfiffig schien und sich danach benahm, bleiben zu wollen. Sie hieß Rachel und schien eine Jüdin zu sein, obgleich sie dies in Abrede stellte und ihre Heimat verleugnete. Es war ein Mädchen von beiläufig 25 Jahren mit harten Zügen, einer großen Nase und tief schwarzen Haaren. Anfangs erklärte Berta, daß sie diese Person keine zwei Tage im Hause dulden werde; später aber zeigte sie sich angesichts ihres stummen Gehorsams, ihres Benehmens, alles zu begreifen und nichts zu reden, allmählich zufrieden; sie schien jetzt ihrerseits sich zu fügen und die Magd um ihrer guten Eigenschaften willen zu behalten, vielleicht auch aus geheimer Furcht. Rachel, die sich ohne Widerrede die schwersten Arbeiten und dazu trockenes Brot gefallen ließ, bemächtigte sich rasch der Hauswirtschaft, hielt die Augen offen und den Mund geschlossen wie eine Dienstmagd, die der verhängnisvollen, mit Sicherheit vorausgesehenen Stunde harrt, in der die gnädige Frau es nicht mehr wagen wird, ihr das geringste zu verweigern.

Nach den Aufregungen, die das plötzliche Ableben des Herrn Vabre hervorgerufen hatte, war übrigens im Hause – vom Erdgeschoß bis hinauf zum Dienstbotenstockwerk – eine tiefe Ruhe gefolgt. Im Treppenhause herrschte wieder die spießbürgerliche Stille einer Kapelle. Kein Hauch drang aus den allezeit verschlossenen Mahagonitüren hervor, hinter denen die tiefe Ehrbarkeit dieser bürgerlichen Behausungen sich barg. Es ging das Gerücht, daß Duverdy mit seiner Frau sich versöhnt habe. Valerie und Theophil sprachen mit niemandem; steif und stolz gingen sie vorüber. Niemals hatte das Haus den Anstrich strengerer Grundsätze gezeigt. Herr Gourd, in Pantoffeln und Samtmütze, machte mit der Feierlichkeit eines Kirchendieners seine Runde.

Eines Abends gegen zehn Uhr ging August erregt im Laden auf und ab; jeden Augenblick erschien er in der Türe und warf einen Blick auf die Straße. Eine immer steigende Unruhe bemächtigte sich seiner. Berta, die beim Essen von ihrer Mutter und ihrer Schwester abgeholt war, ohne daß sie ihr Zeit gelassen hätten, ihren Nachtisch zu verzehren, war nach dreistündiger Abwesenheit noch nicht zu Hause, obgleich sie fest versprochen, zur Ladensperre zurückzukehren.

Mein Gott, mein Gott! sagte er endlich, krampfhaft die Hände ballend.

Er wandte sich an Octave, der damit beschäftigt war, Seidenabschnitte auf einem Pulte zu beschreiben. Zu dieser späten Abendstunde kam keine Kunde mehr in diesen entlegenen Winkel der Choiseul-Straße. Man hatte nur noch offen, um den Laden in Ordnung zu bringen.

Sie müssen wissen, wohin die Damen gegangen sind! sagte er zu dem jungen Manne.

Dieser blickte mit überraschter, unschuldiger Miene auf.

Aber, sie haben es Ihnen ja gesagt: zu einer Vorlesung.

Die Vorlesung war um neun Uhr zu Ende. Anständige Frauen müssen um diese Zeit schon zu Hause sein.

Dann nahm er seinen Gang durch den Laden wieder auf und warf zuweilen hämische Blicke auf den jungen Mann, den er verdächtigte, daß er mit den Damen einverstanden sei oder zumindest sie entschuldige.

Auch Octave beobachtete ihn heimlich mit unruhiger Miene. Niemals hatte er ihn so nervös gesehen. Was geht denn vor? Als er den Kopf wandte, bemerkte er im Hintergrunde des Ladens Saturnin, der mit einem in Spiritus getränkten Schwamm einen Spiegel putzte. Der Verrückte ward im Hause allmählich zu allerlei dienstlichen Verrichtungen verwendet, damit er wenigstens seine Verköstigung verdiene. An diesem Abend glühten die Augen Saturnins in einem seltsamen Feuer. Er schlich sich hinter Octave heran und flüsterte ihm zu, ohne August aus den Augen zu lassen:

Aufgepaßt! Er hat ein Papier gefunden! ... Ja, er hat ein Papier in der Tasche! Ich habe es gesehen ... Darum aufgepaßt!

Dann kehrte er rasch wieder zu seinem Spiegel zurück. Octave begriff nichts von allem. Der Narr hatte ihm seit einiger Zeit eine seltsame Zuneigung bekundet, die der Fügsamkeit einer Bestie glich, die, einem Instinkte folgend, die Krallen einzieht. Was redete er ihm von einem Papier? Er hatte an Berta keinen Brief geschrieben; er erlaubte sich höchstens, sie mit zärtlichen Blicken anzuschauen, und harrte der Gelegenheit, ihr ein kleines Geschenk zu machen. Er hatte nach reiflicher Erwägung diese Taktik angenommen.

Elf Uhr zehn Minuten! rief August plötzlich wütend aus.

Im nämlichen Augenblicke kehrten die Damen zurück. Berta trug eine herrliche Robe von rosa Seide mit weißer Perlenstickerei, während ihre Schwester in Blau, ihre Mutter in der Malvenfarbe noch immer ihre abgetragenen Kleider trugen, die zu jeder Jahreszeit überarbeitet wurden. Zuerst trat Frau Josserand ein, breit und imposant, um ihrem Schwiegersohn die Vorwürfe in der Kehle zu ersticken, die sie in einem an der Straßenecke gehaltenen »Kriegsrate« vorausgesehen hatten.

Sie ließ sich herab, ihre Verspätung durch ein längeres Herumbummeln vor den Schaufenstern der Kaufläden zu entschuldigen. August, der sehr bleich war, ließ übrigens keine Klage vernehmen; er gab eine kurze, trockene Antwort und hielt sichtlich an sieh. Die Mutter, die mit ihrer vieljährigen Erfahrung in häuslichen Zwistigkeiten ein Gewitter voraussah, verweilte noch kurze Zeit und suchte ihn einzuschüchtern; dann entschloß sie sich aber doch hinaufzugehen, nicht ohne vorher zu sagen:

Gute Nacht, meine Tochter, und schlafe wohl, wenn du lange leben willst.

Ohne Rücksicht auf die Gegenwart Octaves und Saturnins zog August, der sich nicht länger beherrschen konnte, sogleich ein zerknittertes Papier aus der Tasche, das er seiner Frau mit den Worten unter die Nase hielt:

Was ist das?

Berta, die den Hut noch nicht abgelegt hatte, errötete tief.

Das ist eine Rechnung, erwiderte sie.

Ja, eine Rechnung! Eine Rechnung für falsche Haare, wenn du erlaubst! Als ob du keine auf dem Kopfe hättest! ... Doch davon will ich schweigen. Du hast die Rechnung bezahlt, wie? Womit hast du sie denn bezahlt?

Immer mehr verwirrt, erwiderte die junge Frau endlich:

Mit meinem Gelde.

Mit deinem Gelde? Aber du hast ja kein Geld. Es wäre denn, daß dir jemand Geld gegeben, oder daß du es hier genommen hättest ... Höre, ich weiß alles: du machst Schulden. Ich werde alles dulden, nur keine Schulden, hörst du? Schulden niemals!

In diesem Ausruf drückte sich der ganze Abscheu eines wirtschaftlichen Junggesellen aus, seine kaufmännische Ehrlichkeit, die darin bestand, niemandem etwas zu schulden. Er erleichterte sich ordentlich das Herz, warf seiner Frau ihre fortwährenden Ausgänge vor, ihre Besuche in allen vier Ecken von Paris, ihre Toiletten, ihren Luxus, den er nicht bestreiten konnte. Ist es klug, bei ihrer Lage bis elf Uhr auszubleiben in rosa Seidentoiletten mit weißer Perlenstickerei? Wenn man solche Wünsche und Launen hat, muß man auch 500 000 Franken Mitgift haben. Er kenne übrigens die Schuldige: es sei die schwachsinnige Mutter, die ihre Kinder dazu erziehe, ganze Vermögen durchzubringen, ohne auch nur soviel zu besitzen, daß sie ihnen am Tage der Hochzeit ein Hemd auf den Leib geben könne.

Sprich nichts Übles von Mama! rief Berta erbittert, indem sie den Kopf erhob. Man kann ihr nichts vorwerfen, sie hat ihr Pflicht getan. Deine Familie aber sind saubere Leute. Menschen, die den eigenen Vater getötet haben!

Octave war in seine Arbeit vertieft und schien nichts zu hören. Doch folgte er mit halben Blicken dem Streit und beobachtete insbesondere Saturnin, der mit dem Reinigen des Spiegels aufgehört hatte und zitternd mit geballten Fäusten dastand, bereit, seinem Schwager an den Hals zu springen.

Lassen wir unsere Familien, entgegnete August trocken; wir haben mit unserer eigenen Ehe genug zu schaffen. Höre mich an: du wirst deine Lebensweise ändern; ich gebe keinen Sou für diese Dummheiten her. Das ist mein fester Entschluß. Dein Platz ist hier in diesem Laden, einfach gekleidet, wie es einer Frau geziemt, die sich selbst achtet ... Und wenn du wieder Schulden machst, werden wir weiter sehen.

Berta blieb sprachlos angesichts dieser Gattenhand, die so rücksichtslos in ihre Gewohnheiten, Vergnügungen, Toiletten dreinfuhr. Er entriß ihr alles, was ihr teuer war, alles, wovon sie bei ihrer Verheiratung träumte. Doch in ihrer Frauenart ließ sie die Wunde nicht merken, aus der sie blutete; um dem Zorn einen Vorwand zu geben, der ihre Wangen schwellte, wiederholte sie in heftigem Tone:

Ich werde es nicht dulden, daß du Mama beleidigst!

August zuckte mit den Achseln.

Deine Mutter – du gleichst ihr vollständig. Du wirst häßlich, wenn du in einen solchen Zustand gerätst. Ja, ich erkenne dich nicht mehr, ich glaube deine Mutter vor mir zu haben. Meiner Treu, ich habe Furcht!

Berta ward im Augenblick besänftigt. Sie schaute ihm ins Gesicht und sagte:

Geh doch hinauf zu Mama und sage ihr, was du mir gesagt hast; du sollst sehen, wie du hinausgeschmissen wirst.

Sie wird mich hinauswerfen! rief August wütend. Ich gehe hinauf, um es ihr sofort zu sagen.

Er wandte sich in der Tat zur Türe. Es war die höchste Zeit, daß er hinausging, denn Saturnin mit seinen Wolfsaugen hatte sich hinterrücks herangeschlichen und war auf dem Sprunge, ihn zu erdrosseln. Die junge Frau war erschöpft in einen Sessel gesunken und murmelte halblaut:

Mein Gott, den möchte ich schwerlich heiraten, wenn ich von vorne beginnen müßte.

Als August bei den Josserand anläutete, kam Herr Josserand selbst, ihm die Türe zu öffnen, weil Adele schon zu Bett gegangen war. Da er sich eben anschickte, die Nacht mit der Anfertigung von Adreßschleifen zuzubringen, trotzdem er in letzter Zeit über Unwohlsein sich beklagte, geleitete er ihn verwirrt, die Entdeckung seiner Beschäftigung fürchtend, in das Speisezimmer, wobei er etwas von einer dringenden Arbeit, von der Abschrift des Inventars der Glasfabrik zu Sankt-Joseph stammelte.

Als aber der Schwiegersohn anhob, seine Tochter anzuklagen, ihr die Schulden vorzuwerfen, von dem Streit zu erzählen, der wegen der falschen Haare entstand, begannen die Hände des armen Mannes zu zittern. Im Herzen getroffen, die Augen voll Tränen, vermochte er kaum ein Wort vorzubringen. Seine Tochter verschuldet, ihr Leben unter fortwährenden ehelichen Zwistigkeiten hinbringend wie er selbst! Das ganze Unglück seines Lebens sollte sich also in seiner Tochter wiederholen! Noch eine andere Angst machte ihm das Blut erstarren: er fürchtete jeden Augenblick, daß sein Schwiegersohn die Geldfrage anregen, die Heiratsausstattung fordern, ihn als Dieb behandeln werde. Sicherlich wußte August alles, wenn es ihn so drängte, nach elf Uhr nachts zu kommen.

Meine Frau ist im Begriff, zu Bett zu gehen, stammelte er, immer mehr den Kopf verlierend. Es ist nicht notwendig, sie zu wecken, wie? Wahrhaftig, Sie erzählen mir schöne Dinge! Und diese arme Berta ist nicht bösartig, versichere ich Ihnen. Üben Sie Nachsicht; ich will mit ihr sprechen ... Was uns betrifft, hoffe ich, mein lieber August, daß wir nichts getan haben, um Ihr Mißvergnügen zu erregen.

Er forschte ihn mit den Blicken aus und war beruhigt, als er sah, daß August noch nichts zu wissen scheine. Da erschien Frau Josserand auf der Schwelle ihres Schlafzimmers. Sie war schon in Nachttoilette, ganz weiß, fürchterlich anzuschauen. Obgleich sehr erregt, wich August zurück. Ohne Zweifel hatte sie an der Türe gehorcht, denn sie begann mit einem geradeaus geführten Hiebe:

Ich hoffe, Sie sind nicht gekommen, um Ihre 10 000 Franken zu fordern. Mehr als zwei Monate trennen uns noch von dem Termin. In zwei Monaten werden wir sie Ihnen geben, mein Herr. In unserer Familie ist es nicht üblich zu sterben, bevor man seinen Verpflichtungen nachgekommen.

Dieses hochfahrende Auftreten drückte Herrn Josserand vollends zu Boden. Seine Gattin fuhr übrigens fort; sie verblüffte ihren Schwiegersohn durch ganz außerordentliche Erklärungen und ließ ihm nicht Zeit zu sprechen.

Sie sind nicht gerade klug, sagte sie. Wenn Sie Berta krank machen, werden Sie den Arzt holen lassen müssen; Arzt und Arznei kosten Geld: da werden doch wieder nur Sie der Gimpel sein. Ich bin vorhin weggegangen, als ich Sie dabei sah, eine Dummheit zu begehen. Nur zu! Prügeln Sie Ihre Frau! Mein Mutterherz ist ruhig, denn Gott wacht, und die Strafe wird nicht ausbleiben.

Endlich kam August dazu, ihr seine Beschwerden auseinanderzusetzen. Er sprach wieder von ihren häufigen Ausgängen, von ihren Toiletten und erkühnte sich sogar, die Erziehung zu verurteilen, die Berta genossen. Frau Josserand hörte ihn mit tiefster Mißachtung an. Als er zu Ende war, sagte sie:

Alldas ist so albern, mein Lieber, daß es keiner Erwiderung wert ist. Mein Gewissen ist ruhig, das genügt mir. So spricht ein Mensch, dem ich einen Engel anvertraut habe! Ich will mich in nichts mehr einmengen, da ich beschimpft werde! Suchen Sie, allein fertig zu werden.

Aber Ihre Tochter betrügt mich schließlich! rief August von neuem erzürnt.

Mein Herr, Sie tun das Ihre, um es herbeizuführen.

Damit kehrte sie ihm den Rücken und ging in ihr Schlafzimmer mit der Würde einer kolossalen, hochbusigen, weißgewandeten Ceres.

Der Vater hielt August noch einige Minuten zurück. Er suchte, ihn zu versöhnen und ihm begreiflich zu machen, daß man sieh von den Frauen vieles gefallen lassen müsse. Es gelang ihm schließlich, ihn milder und zur Verzeihung geneigt zu stimmen. Als er sich aber wieder allein im Speisezimmer vor seinem kleinen Schreibpulte sah, begann der gute Mann zu weinen. Es war aus; es gab für ihn kein Glück mehr, er konnte niemals Adressenschleifen genug zusammenbringen, um seine Tochter insgeheim unterstützen zu können. Der Gedanke, daß dieses Kind sich in Schulden stürze, erdrückte ihn wie eine persönliche Schmach. Er fühlte sich krank; das war ein neuer Schlag für ihn; eines Abends mußten ihn die Kräfte verlassen. Endlich ging er, die Tränen gewaltsam verschluckend, wieder an die Arbeit.

Berta war im Kaufladen unten einen Augenblick regungslos, das Gesicht in den Händen verbergend, sitzen geblieben. Ein Ladenbursche hatte eben die Fenster geschlossen und stieg in das Kellermagazin hinab. Diesen Augenblick hielt Octave für geeignet, sich der jungen Frau zu nähern. Schon seitdem August hinaufgegangen war, hatte Saturnin ihm über den Kopf seiner Schwester hinweg allerlei Winke gegeben, sie doch zu trösten. Als er endlich den jungen Mann sich seiner Schwester nähern sah, strahlte er vor Freude; er verdoppelte noch sein Augenzwinkern, und als fürchte er, nicht verstanden zu werden, sandte er mit der überströmenden Zärtlichkeit eines Kindes Küsse in die Luft.

Wie, du willst, daß ich sie küsse? winkte Octave ihm zurück.

Ja, ja! erwiderte der Narr, freudig mit dem Kopfe nickend.

Als er den jungen Mann lächelnd vor seiner Schwester stehen sah, die von allem nichts gemerkt hatte, setzte er sich auf den Boden, hinter einem Pult verborgen nieder, um sie nicht zu stören. Noch brannten die Gaslampen mit vollen Flammen in der Stille des geschlossenen Kaufladens. Es herrschte eine tiefe Ruhe, in welche die Seidenstücke den faden Geruch ihrer Zurichtung sandten.

Gnädige Frau, ich bitte Sie, machen Sie sich nicht soviel Kummer, sagte er mit seiner zärtlichen Stimme.

Sie fuhr zusammen, als sie ihn so nahe neben sich sah.

Um Vergebung, Herr Octave: es ist nicht meine Schuld, wenn Sie Zeuge einer so peinlichen Auseinandersetzung waren. Doch bitte ich Sie, meinen Mann zu entschuldigen; er muß heute abend krank gewesen sein ... Es gibt in allen Ehen kleine Verdrießlichkeiten ...

Sie schluchzte heftig. Die Absieht, das Unrecht ihres Gatten vor der Welt zu beschönigen, hatte den Strom der Tränen entfesselt. Saturnin steckte den Kopf unruhig über das Pult hervor, zog ihn aber sofort wieder zurück, als er sah, wie der junge Mann die Hand seiner Schwester ergriff.

Mut, gnädige Frau! sagte Octave.

Nein, es überwältigt mich, stammelte sie. Sie waren da, Sie haben gehört ... Wegen der Haare für 95 Franken! Als ob heutzutage nicht alle Frauen falsche Haare trügen ... Doch er weiß nichts und begreift nichts. Er kennt die Frauen so wenig wie der Großtürke, denn er hat niemals eine besessen, Herr Octave ... Ach, ich bin sehr unglücklich! ...

In ihrer Erbitterung sagte sie alles. Ein Mann, den sie aus Liebe geheiratet zu haben glaubte, und der ihr bald ein Hemd verweigern wird. Erfüllt sie etwa ihre Pflichten nicht? Hat er ihr das geringste vorzuwerfen? Wenn er nicht in Zorn geraten wäre, als sie das Geld für die Haare verlangte, wäre sie nicht genötigt gewesen, sie insgeheim zu bezahlen. Wegen der geringsten Dummheiten die nämlichen Geschichten! Sie konnte nicht den unbedeutendsten Toilettegegenstand verlangen, ohne an seine mürrische Knauserei zu stoßen. Natürlich hat auch sie ihren Stolz; sie verlangt jetzt nichts mehr und entbehrt lieber das Notwendigste, als daß sie sich erfolglos demütigen sollte. So hatte sie beispielsweise schon seit zwei Wochen ein wahnsinniges Verlangen nach einem Phantasieschmuck, den sie in dem Schaufenster eines Juweliers im Königspalast gesehen.

Wissen Sie: drei Sterne in die Haare zu stecken! Das Ganze kostet eine Kleinigkeit, 100 Franken, glaube ich. Ich konnte mit meinem Mann vom Morgen bis zum Abend darüber reden, er begriff nichts.

Octave hatte gar nicht gewagt, auf eine so günstige Gelegenheit zu rechnen. Er ging daher geradeaus auf die Sache los.

Ja, ja, ich weiß; Sie haben auch mir den Schmuck erwähnt. Ich bin von Ihren Eltern so freundlich empfangen worden; Sie selbst haben mich mit soviel Güte aufgenommen, daß ich glaubte, wagen zu dürfen ...

Mit diesen Worten zog er eine längliche Schachtel aus der Tasche, in der die drei Sterne, auf einem Stück Wolle ruhend, funkelten. Berta erhob sieh sehr erregt.

Unmöglich, mein Herr! Ich will nicht. Sie haben sehr unrecht gehandelt.

Er benahm sich sehr sanft und ersann allerlei Vorwände. Im Süden sei es eine allgemein verbreitete Sitte, behauptete er. Auch sei es ja ein ganz wertloser Schmuck. Sie hatte zu weinen aufgehört, ihr Gesicht war hochgerötet. Ihre Augen hafteten leuchtend auf der Schachtel, gleichsam entzündet an den falschen Steinen.

Ich bitte Sie, gnädige Frau ... Es wäre mir ein Beweis, daß Sie mit meinen Leistungen im Geschäfte zufrieden sind.

Nein, wahrhaftig nein, Herr Octave! Dringen Sie nicht weiter in mich ... Sie machen mir nur Kummer.

Jetzt war Saturnin wieder erschienen; er betrachtete den Schmuck verzückt wie einen Heiligenschein. Doch sein feines Ohr hörte jetzt die Schritte des zurückkehrenden August. Er benachrichtigte Berta davon, indem er leise mit der Zunge schnalzte. Da entschloß sich die junge Frau endlich gerade in dem Augenblicke, als ihr Gatte eintrat.

Ich werde sagen, daß ich das Geschenk von Hortense habe, flüsterte sie und steckte die Schachtel hastig in die Tasche.

August ließ das Gas auslöschen und ging dann mit ihr hinauf schlafen, ohne auch nur mit einem Worte auf den Streit zurückzukommen, im Grunde froh, daß er sie ruhig und heiter fand, als ob nichts vorgefallen sei. Der Laden versank in tiefe Finsternis; im Augenblicke, da er sich zurückzog, fühlte Octave, wie im Finstern zwei brennende Hände die seinen drückten. Es war Saturnin, der zurückblieb, da er im Kellermagazin schlief.

Freund ... Freund ... Freund ... blökte der Verrückte in einem Erguß wilder Hingebung.

In seinen Berechnungen enttäuscht, faßte Octave eine jugendlich ungestüme Leidenschaft für Berta. Hatte er anfangs seine alte Verführungsweise befolgt, seine Entschlossenheit, durch die Frauen zum Ziele gelangen, so sah er jetzt in ihr nicht nur die Herrin, deren Besitz das ganze Haus seinem Einfluß unterordnen mußte; er verlangte vor allem nach der Pariserin, diesem liebenswürdigen Geschöpf voll Luxus und Anmut, das er in Marseille nicht hatte genießen können. Er empfand einen Heißhunger nach diesen kleinen Händen, nach diesen kleinen Füßchen in den Stiefelchen mit hohen Absätzen, nach diesem zarten Halse, der sich in einer Spitzenwolke verlor, ja selbst nach den Unterröcken von zweifelhafter Reinlichkeit, nach dem Küchengeruch, den er unter diesen allzu reichen Toiletten witterte. Diese plötzlich aufflammende Leidenschaft ging so weit, daß sie die Trockenheit seiner wirtschaftlichen Natur zum Schwinden brachte, so daß er in Geschenken und Ausgaben aller Art die 5000 Franken hinauswarf, die er aus dem Süden mitgebracht und seither durch geheimgehaltene Finanzoperationen schon verdoppelt hatte.

Am meisten beunruhigte ihn aber, daß er, indem er verliebt geworden, zugleich auch bedächtig ward. Er empfand nicht mehr die entschiedene Hast, auf das Ziel loszugehen, vielmehr eine behagliche Freude daran, nichts zu übereilen. In diesem vorübergehenden Rückfall seines sonst praktischen Geistes betrachtete er schließlich Bertas Eroberung wie einen Feldzug von außerordentlicher Schwierigkeit, der einen hohen Grad von diplomatischer Bedächtigkeit und Schonung erforderte.

Nach seinen Mißerfolgen bei Valerie und bei Frau Hédouin war er von Angst erfüllt, ein drittesmal zu scheitern. Überdies fand sich auf dem Grunde seines Zauderns, seiner Verwirrung eine gewisse Furcht vor dem angebeteten Weibe, der absolute Glaube an Bertas Ehrbarkeit, die volle Verblendung der verzweifelnden, durch das Verlangen gelähmten Liebe.

An dem auf den Streit des Ehepaares folgenden Tage dachte Octave, glücklich darüber, daß es ihm gelungen, die junge Frau zur Annahme seines Geschenkes zu bewegen, daß es klug sei, sich auf guten Fuß mit dem Gatten zu stellen. Da er an der Tafel seines Prinzipals speiste – dieser beköstigte seine Leute selbst, um sie stets bei der Hand zu haben – zeigte er sich ihm gegenüber von einer grenzenlosen Gefälligkeit, hörte ihm beim Nachtisch aufmerksam zu und bestätigte sehr geräuschvoll die Richtigkeit seiner Gedanken. Er schien sogar insgeheim seine Unzufriedenheit gegen seine Frau zu nähren und tat, als wolle er sie überwachen und ihm von Zeit zu Zeit Bericht erstatten.

August schien sehr gerührt; er gestand eines Abends dem jungen Manne, daß er einen Augenblick im Begriffe gewesen, ihn zu entlassen, weil er glaubte, daß er mit seiner Schwiegermutter im Bunde stehe. Octave tat sehr betroffen und bezeugte einen rechten Abscheu gegen Frau Josserand, wodurch die Übereinstimmung zwischen ihnen beiden vollständig hergestellt wurde.

Der Gatte war im Grunde ein guter Mensch; recht widerwärtig in seinem Benehmen, aber sonst leicht zufrieden, wenn man nicht durch leichtfertiges Geldausgeben oder durch einen Verstoß gegen seine Begriffe von Moral ihn aus dem Häuschen brachte. Er schwor, daß er sich nie mehr erzürnen wolle, denn er hatte nach dem letzten Streite eine so fürchterliche Migräne bekommen, daß er drei Tage hindurch ganz blöd davon wurde.

Sie werden mich verstehen, sagte er zu dem jungen Manne. Ich will meine Ruhe behalten ... Sonst kümmere ich mich um gar nichts – die Tugend ausgenommen; auch will ich, daß meine Frau die Kasse unangetastet lasse. Ich hin ein vernünftiger Mensch und verlange von ihr nichts Unmögliches.

Octave übertrieb noch seine Klugheit; sie priesen miteinander die Freuden des Alltagslebens, der gleichmäßig dahinfließenden Jahre, die man mit dem Abmessen von Seidenstoffen zubringe. Um ihm gefällig zu sein, ließ er sogar seine Großhandlungspläne fallen. Eines Abends hatte er ihm einen argen Schrecken verursacht, indem er seinen Traum von den großen, modernen Basars wieder aufnahm und ihm riet – wie er es der Frau Hédouin geraten hatte – das Nachbarhaus anzukaufen, um seine Magazine zu erweitern. August, dem schon zwischen seinen vier Pulten der Kopf glühte, betrachtete ihn mit einer solchen Bestürzung des Krämers, der gewohnt ist, jeden Heller in vier Teile zu schneiden, daß Octave sich beeilte, seinen Vorschlag zurückzuziehen und sich in Lobpreisungen über die zuverlässige Ehrbarkeit des kleinen Handels zu ergehen. So flössen die Tage dahin; Octave nistete sich in dem Hause immer mehr ein. Der Gatte schätzte ihn; Frau Josserand selbst, obgleich er ihr nicht allzuviel Höflichkeit erwies, betrachtete ihn zuweilen mit ermutigenden Blicken. Berta behandelte ihn mit reizender Vertraulichkeit. Sein ergebenster Freund aber war Saturnin, dessen stumme Zuneigung und hündische Treue für ihn in dem Maße stieg, wie seine Leidenschaft für die junge Frau zunahm. Gegen jeden andern zeigte der Verrückte eine dumpfe Eifersucht; sobald ein Mann sich seiner Schwester näherte, zog er die Lippen ein, gleichsam bereit zu beißen. Wenn hingegen Octave sich ungeniert zu ihr neigte und sie zum Lachen brachte, zu dem herzlichen, vollen Lachen einer glücklichen Geliebten, lachte auch er wohlgemut; ihre sinnliche Freude schien sich in seinem Gesichte abzuspiegeln. Er zeigte dem auserwählten Günstling gegenüber eine intime Vertraulichkeit, nahm ihn oft beiseite und erzählte ihm in kurzen, abgebrochenen Sätzen von ihr.

Sehen Sie, als sie noch klein war, da hatte sie Gliedmaßen, nicht größer als meine Faust und schon fett, ganz rosig und sehr heiter... Und sie kroch auf der Erde herum. Mich ergötzte das; ich schaute sie immer an, warf mich vor ihr auf die Knie. Dann gab sie mir mit ihren Füßchen kleine Stöße in den Magen: pan, pan, pan... Das war so schön, so schön!...

So erfuhr Octave allmählich die ganze Geschichte der Kindheit Bertas, dieser Kindheit mit ihren Launen und Spielen, in der sie allmählich zu einem hübschen, ungezähmten Wildling heranwuchs. Saturnin bewahrte in seinem hohlen Schädel mit einer fast religiösen Anhänglichkeit unbedeutende Vorgänge, deren er allein sich erinnerte: Eines Tages hatte sie sich gestochen, und er sog das Blut aus; ein andermal wollte sie auf einen Tisch steigen und fiel herab, wobei er sie in seinen Armen auffing. Zumeist aber kam er auf das große Ereignis, auf die Krankheit, zu sprechen, die sie in ihrer Kindheit überstanden.

Ach, wenn Sie da gewesen wären!... Nachts war ich immer allein bei ihr. Man schlug mich, um mich schlafen zu schicken. Ich kam mit den bloßen Füßen zurück – ganz allein .. Ich mußte weinen, denn sie war so weiß... Und ich betastete sie, ob sie kalt sei. Endlich ließen sie mich doch bei ihr. Ich pflegte sie besser als jene; ich wußte alle Heilmittel; sie nahm nur, was ich ihr gab... Zuweilen lehnte ich, wenn sie allzusehr klagte, ihren Kopf an mich. Wir liebten einander sehr... Endlich war sie geheilt; ich wollte zu ihr zurückkehren, aber man schlug mich wieder.

Seine Blicke flammten wieder auf, er lachte und weinte, als ob diese Dinge sich tags vorher ereignet hätten. Seinen abgerissenen Worten konnte man die Geschichte seiner seltsamen Zuneigung für seine Schwester entnehmen: wie er in seiner geistigen Beschränktheit zu Häupten der kleinen, von den Ärzten aufgegebenen Kranken wachte, sich mit dem Herzen und dem Leibe der teuren Sterbenden widmete, sie in ihrer Nacktheit mit der Zartheit einer Mutter pflegte; wie in ihm die Zuneigung und das Verlangen des Mannes für immer in diesem Liebesdrama festgelegt wurden, dessen Erschütterungen fortdauerten. Trotzdem Berta nach ihrer Herstellung sich undankbar zeigte, war sie ihm doch sein alles geblieben: eine Gebieterin, vor der er zitterte, eine Tochter und Schwester, die er vom Tode gerettet hatte, ein Götzenbild, das er mit einer eifersüchtigen Verehrung anbetete. Er verfolgte denn auch den Gatten mit dem wütenden Hasse eines ergrimmten Liebhabers, erging sieh fortwährend in Schmähungen über ihn und tröstete sieh mit Octave.

Er hat schon wieder ein Auge geschlossen ... Ist der aber widerwärtig mit seinen Kopfschmerzen! ... Haben Sie ihn gestern wieder die Beine nachschleppen hören? ... Schauen Sie, wie er jetzt wieder auf die Straße hinausstiert! ... Ist der blöde, wie? Schmutziges Tier! Schmutziges Tier! ...

August konnte sich gar nicht mehr bewegen, ohne den Verrückten in Wut zu bringen. Zuweilen rückte er gar mit Besorgnis erregenden Vorschlägen heraus.

Wenn Sie wollen, können wir zwei ihn abschlachten wie ein Schwein!

Octave beschwichtigte ihn. An Tagen, wenn er ruhig war, ging Saturnin von Octave zu Berta, von Berta zu Octave, hinterbrachte ihnen die verbindlichen Worte, die sie übereinander gesprochen, besorgte ihre Aufträge und war zwischen ihnen wie ein Band fortwährender Zärtlichkeit. Er wäre bereit gewesen, sich vor ihnen auf die Erde zu werfen, um ihnen als Teppich zu dienen.

Berta hatte das Geschenk nicht wieder erwähnt. Sie schien die schüchternen Aufmerksamkeiten Octaves nicht wahrzunehmen, sondern behandelte ihn als Freund ohne jede Verlegenheit. Niemals hatte er auf seine Toilette eine größere Sorgfalt verwendet und trieb Berta gegenüber eine wahre Verschwendung mit den zärtlichen Blicken seiner altgoldfarbenen Augen, deren sanften Ausdruck er für unwiderstehlich hielt. Doch zeigte sie ihm Erkenntlichkeit nur für seine Lügen an Tagen, wo er einen losen Streich verheimlichen half.

Eine Art Gemeinsamkeit der Schuld entstand so zwischen ihnen; er begünstigte ihre Ausgänge mit ihrer Mutter und lenkte jeden Argwohn des Gatten ab. In ihrem tollen Verlangen nach Spaziergängen und Besuchen kam sie soweit, daß sie sich gar nicht mehr genierte, sondern ganz auf seine Findigkeit vertraute. Wenn sie bei ihrer Heimkehr ihn hinter einem Stoß von Stoffen beschäftigt fand, dankte sie ihm mit einem flotten, kameradschaftlichen Händedruck.

Eines Tages harrte ihrer indes eine große Aufregung. Als sie von einer Hundeausstellung zurückkam, ward sie durch einen Wink Octaves in das Kellermagazin gerufen. Dort übergab er ihr eine Rechnung, die man in ihrer Abwesenheit gebracht hatte: 72 Franken für gestickte Strümpfe.

Sie erbleichte und rief:

Mein Gott; hat August das gesehen?

Er beruhigte sie und erzählte ihr, wieviele Mühe er hatte, die Rechnung vor den Augen des Gatten verschwinden zu lassen. Dann fügte er verlegen und halblaut hinzu:

Ich habe die Rechnung bezahlt.

Sie suchte in den Taschen, fand nichts und sagte endlich:

Ich werde Ihnen das Geld zurückgeben... Wie dankbar bin ich Ihnen, Herr Octave! ... Ich müßte sterben, wenn August das gesehen hätte.

Diesmal ergriff sie seine beiden Hände und preßte sie einen Augenblick in den ihren. Von den 72 Franken aber war nie mehr die Rede.

Ein immer steigendes Verlangen nach Freiheit und Vergnügen machte sich bei ihr geltend; ein Verlangen nach allem, was sie sich in ihrer Mädchenzeit von der Ehe versprochen hatte, nach allem, was ihre Mutter sie von dem Manne fordern gelehrt hatte. Sie brachte gleichsam einen Rückstand von unbefriedigtem Hunger mit in die Ehe. Sie rächte sich für die an Entbehrungen so reiche Jugend, die sie bei den Eltern verbracht hatte: für das ohne Fett zubereitete schlechte Fleisch, mit dem man sich begnügte, damit man sich Schuhe kaufen könne; für die immer wieder mühselig zusammengestoppelten Toiletten; für den erlogenen Reichtum, dessen Schein nur durch geheimes Elend, durch geheimen Schmutz aufrechterhalten werden konnte. Vor allem aber entschädigte sie sich für die drei Winter, die sie, mit ihren Ballschuhen im Straßenschmutze von Paris watend, auf der Suche nach einem Mann zugebracht hatte: tödlich langweilige Abende, an denen sie mit leerem Magen Sirup schlürfte und den Frondienst eines züchtig lächelnden Betragens in Gesellschaft schwachsinniger junger Männer ertragen mußte; die geheime Wut darüber, daß sie tun müsse, als wisse sie nichts, während sie doch alles wußte. Dann die Heimwege bei Regenwetter zu Fuße; dann das Frösteln in dem eisig kalten Bette, die mütterlichen Maulschellen, die ihr die Wangen glühen machten. Noch mit 22 Jahren verzweifelte sie daran, ans Ziel zu gelangen; gedemütigt wie eine Bucklige betrachtete sie sich jeden Abend, wenn sie entkleidet war, ob ihr auch nichts fehle.

Endlich hatte sie einen Mann; und gleichwie der Jäger mit einem wütenden Faustschlag dem Hasen den Garaus macht, dessen Verfolgung ihm den Atem geraubt, war auch sie ohne Milde gegen August: sie behandelte ihn einfach als Besiegten.

So wuchs allmählich der Unfriede zwischen ihnen trotz der Anstrengungen des Gatten, der die Ruhe seines Lebens nicht gestört sehen wollte. Er verteidigte verzweifelt seinen schläfrig ruhigen Winkel, drückte die Augen zu über die leichten Fehler, ließ sich sogar schwere gefallen in der ewigen Furcht, eine Scheußlichkeit zu entdecken, die ihn außer sich bringen würde. Die Lügen Bertas, die eine Menge kleiner Gegenstände, deren Anschaffung sie sonst nicht hätte erklären können, als Geschenke ihrer Mutter und ihrer Schwester bezeichnete, fanden bei ihm Glauben und Nachsicht; er ließ sich allgemach sogar ihre abendlichen Ausgänge gefallen, wodurch es Octave zweimal gelang, sie in Gesellschaft ihrer Mutter und ihrer Schwester ins Theater zu führen. Es waren dies reizende Partien, nach denen die Damen stets einstimmig erklärten, daß der junge Mann zu leben wisse.

Bisher hatte Berta bei dem geringsten Wortwechsel ihrem Manne ihre Ehrbarkeit vorgehalten. Sie führe sich gut auf, er müsse sich daher glücklich schätzen. Für sie wie für ihre Mutter durfte der Gatte erst dann sich beklagen, wenn er die Frau mit einem fremden Mann ertappte. Inmitten der mannigfachen Vergnügungen, in denen sie ihre unbefriedigten Wünsche aus der Mädchenzeit stillte, kostete ihr diese Ehrbarkeit kein großes Opfer. Sie war von kühlem Wesen, von einer Selbstsucht, die sich gegen die Scherereien der Leidenschaft auflehnte, zog es vor, für sich allein die Freuden zu genießen – die Tugend aber hatte mit alldem nichts zu schaffen. Sie fühlte sich geschmeichelt durch die Liebeswerbung Octaves nach ihren Mißerfolgen als heiratslustiges Mädchen, das sich von den Männern verlassen glaubte und zog auch allerlei kleine Vorteile daraus, die sie in Ruhe genoß, nachdem sie in einem wütenden Verlangen nach Geld aufgewachsen war. Einmal ließ sie den Angestellten eine fünfstündige Droschkenfahrt für sich bezahlen; ein andermal entlieh sie im Begriffe auszugehen hinter dem Rücken ihres Gatten dreißig Franken von Octave, indem sie vorschützte, daß sie ihre Geldbörse zu Hause vergessen habe. Sie bezahlte solche Schulden niemals. Ein derartiges Verhältnis zu dem jungen Manne habe ja keine Folgen, meinte sie; sie dachte nicht viel darüber nach, sondern nützte ihn einfach aus. Dabei spielte sie die Rolle einer pflichttreuen, mißverstandenen Dulderin weiter.

An einem Sonnabend brach ein abscheulicher Streit zwischen den Ehegatten los wegen 20 Sous, um welche die Küchenrechnung Rachels nicht stimmte. Berta war hinaufgegangen, um die Rechnung in Ordnung zu bringen, als August ebenfalls hinzukam; er brachte das Wirtschaftsgeld für die folgende Woche.

Die Josserand sollten heute hier speisen, die Küche war voll Vorräte: ein Kaninchen, eine Hammelkeule, Blumenkohl und dergleichen. Neben dem Ausguß hockte Saturnin auf dem Steinpflaster der Küche, er war beschäftigt, die Schuhe seiner Schwester und die Stiefel seines Schwagers zu wichsen.

Es gab zuerst lange Erklärungen über den Verbleib der 20 Sous, und schließlich brach der Streit los. Wo war die Magd gewesen? Wie kann man 20 Sous verlieren? August wollte die Rechnung nochmals addieren. Inzwischen steckte Rachel den Braten an den Spieß immer ruhig, immer fügsam trotz ihrer harten Züge mit geschlossenem Munde, aber offenen Augen. Endlich übergab August seiner Frau die 50 Franken Küchengeld und schickte sich an, wieder hinabzugehen! Allein die 20 Sous ließen ihn nicht ruhen. Er kam zurück und sagte seiner Frau:

Das Geld muß sich ja doch finden. Vielleicht hast du die 20 Sous von Rachel entlehnt, und ihr habt es vergessen?

Berta schien sehr verletzt.

Sag' lieber rundheraus, daß ich mir Schwenzelpfennige mache rief sie. Bist du aber ein artiger Herr!

Der Streit war fertig; es fielen beiderseits sehr harte Worte; obgleich entschlossen, seinen Frieden teuer zu erkaufen, ward August beleidigend bei dem Anblick dieser vielen Vorräte, die durch seine Schwiegereltern an einem Tage verzehrt werden sollten. Er blätterte in dem Küchenbuch und hatte bei jedem Posten einen Ausruf des Erstaunens. Schließlich sagte er, es könne unmöglich mit rechten Dingen zugehen, und sie scheine mit der Magd im Einverständnis zu sein, um an dem Küchengelde Ersparungen zu machen.

Wer? ich? rief die junge Frau außer sich. Ich im Einverständnis mit der Magd? Im Gegenteil: du bezahlst sie, damit sie mir nachspähe! Ja, ich habe sie immer hinter mir her; ich kann keinen Schritt tun, ohne ihren Blicken zu begegnen. Sie kann meinethalben getrost durch das Schlüsselloch spähen, wenn ich mich einschließe, um die Leibwäsche zu wechseln. Ich tue nichts Schlimmes und lache nur über deine Aufpasserin. Aber treibe die Dreistigkeit nicht so weit, mich zu beschuldigen, daß ich mit meiner Köchin im Einverständnis bin!

Dieser unerwartete Angriff verblüffte den Gatten einen Augenblick völlig. Rachel, noch immer mit der Hammelkeule beschäftigt, wandte sich um, legte die Hand aufs Herz und sagte:

Gnädige Frau, wie können Sie das glauben? Ich, die ich gnädige Frau so sehr verehre?

Sie ist verrückt, sagte August, die Achseln zuckend. Verteidigen Sie sich nicht, meine Liebe, sie ist verrückt!

Da vernahm er hinter seinem Rücken ein beunruhigendes Geräusch. Saturnin hatte einen zur Hälfte geputzten Stiefel hingeworfen um seiner Schwester zu Hilfe zu eilen. Mit schrecklich verzerrtem Gesichte und geballten Fäusten blökte er, daß er »dieses schmutzige Individuum« erdrosseln werde, wenn es noch einmal wagen solle, seine Schwester eine Verrückte zu schimpfen.

August hatte sich entsetzt hinter die Wasserleitung geflüchtet und schrie:

Es ist doch wirklich zu dumm, daß ich dir kein Wort sagen kann, ohne »diesen da« zwischen uns zu finden! ... Ich habe eingewilligt, ihn zu uns ins Haus zu nehmen, aber er soll mich in Ruhe lassen! ... Auch ein schönes Geschenk deiner Mutter! Sie fürchtet ihn wie die Hölle und hat ihn deshalb mir an den Hals geworfen. Es ist ihr lieber, daß ich an ihrer Stelle ermordet werde. Ich danke recht schön! ... Jetzt nimmt er gar ein Messer! Bringe ihn doch zur Ruhe!

Berta nahm ihrem Bruder das Messer aus der Hand, besänftigte ihn mit einem Blick, während August, der sehr bleich war, fortfuhr, halbverständliche Worte zu murmeln. Immer gleich das Messer in der Faust! Ein Stoß ist so bald geschehen! Und mit einem Narren ist nichts anzufangen, die Gerichte verschaffen einem nicht einmal Vergeltung!

Du bist ein taktloser Mensch! entgegnete Berta. Ein Mann von Bildung setzt sich mit seiner Frau nicht in der Küche auseinander.

Sie zog sich in ihr Zimmer zurück, die Türen heftig hinter sich zuschlagend. Rachel hatte sich wieder zu ihrer Bratpfanne gewandt und schien auf den Streit ihrer Herrenleute nicht weiter zu achten. August trippelte noch eine Weile in der Küche herum, dann folgte er seiner Frau ins Zimmer.

Verstehe mich recht, meine Liebste, sagte er; ich habe nicht deinetwegen gesprochen, sondern wegen dieser Magd, die uns vielleicht bestiehlt. Die 20 Sous müssen sich doch finden.

Die junge Frau machte eine Gebärde der Verzweiflung; bleich und entschlossen blickte sie ihm ins Gesicht und sagte:

Lasse mich endlich zufrieden mit deinen 20 Sous! Mit 20 Sous wäre mir wenig geholfen: 500 Franken brauche ich monatlich! Ja, 500 Franken für meine Toilette! Du sprichst von Geld vor der Magd in der Küche! Ich will auch davon sprechen! Lange genug habe ich geschwiegen! 500 Franken will ich haben.

Diese Forderung machte ihn sprachlos vor Erstaunen. Sie aber begann den heftigen Streit, den ihre Mutter seit 20 Jahren alle vierzehn Tage mit ihrem Vater hatte. Ob er sie vielleicht barfuß wolle herumlaufen lassen? Und wenn man sich eine Frau nehme, müsse man sich wohl auch entschließen, sie wenigstens anständig zu kleiden und zu ernähren. Lieber wolle sie sterben, als ein solches Bettlerleben führen! Sei es denn ihre Schuld, wenn er sich im Geschäfte als unfähig erweise? Ja, unfähig, ohne Gedanken, ohne Tatkraft, nichts weiter verstehend, als jeden Heller in vier Teile zu zerschneiden. Ein Mann, der seinen Ruhm habe darein setzen müssen, rasch sein Glück zu machen, seine Frau wie eine Königin zu schmücken, um die Besitzer des Ladens »Zum Paradies der Damen« vor Wut bersten zu machen! Aber nein! Mit einem so beschränkten Kopf sei der Bankerott unvermeidlich! Aus dieser Flut von Worten trat die wütende Gier nach dem Gelde hervor, diese Anbetung des Geldes, die sie im Elternhause gelernt hatte, wo sie die Scheußlichkeiten gesehen, in die man verfällt, um sich auch nur den Schein zu geben, als ob man es habe.

500 Franken! sagte er endlich. Lieber sperre ich den Laden.

Sie blickte ihn kalt an und sagte:

Du weigerst dich? Gut denn: so werde ich Schulden machen.

Wieder Schulden! Du Unglückliche!

In einer Bewegung plötzlicher Heftigkeit hatte er sie am Arme ergriffen und stieß sie gegen die Mauer. Ohne zu schreien, vor Wut erstickend, lief sie zum Fenster, wie um sich auf die Straße zu stürzen; doch kam sie wieder zurück, stieß ihn zur Türe und warf ihn hinaus, indem sie stammelte:

Gehe, sonst geschieht ein Unglück!

Dann schob sie geräuschvoll den Riegel vor. Er blieb einen Augenblick zögernd stehen und lauschte. Dann ging er rasch in den Laden hinunter, entsetzt durch die im Schatten funkelnden Augen Saturnins, den das Geräusch des kurzen Kampfes aus der Küche gelockt hatte.

Octave, der eben einer alten Frau Taschentücher verkaufte, sah sofort seine verstörten Züge. Er sah ihn nervös vor dem Pulte auf und ab trippeln. Als die Kunde fort war, brach er los.

Mein Lieber, sie wird verrückt, sagte er, ohne seine Frau zu nennen. Sie hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Tun sie mir den Gefallen und gehen Sie hinauf, um mit ihr zu reden. Ich fürchte ein Unglück!

Der junge Mann tat, als ob er zögere. Die Sache sei heikel, meinte er; doch entschloß er sich endlich aus Ergebenheit für das Haus. Vor der Türe Bertas traf er Saturnin aufgepflanzt. Der Verrückte hatte ein drohendes Grunzen vernehmen lassen, als er die herannahenden Schritte hörte, doch zeigte er ein freundliches Grinsen, als er Octave erkannte.

Ach, du? sagte er. Du, das ist gut... Sie soll nicht weinen. Erfinde etwas für sie; sei artig mit ihr... Und bleibe da; fürchte nichts; ich bin hier; wenn die Magd nachschauen will, schlage ich zu.

Er setzte sich auf die Erde und bewachte die Türe. Da er noch immer einen Stiefel seines Schwagers in den Händen hielt, fuhr er fort zu wichsen, um sich die Zeit zu vertreiben.

Octave entschloß sich anzuklopfen. Kein Geräusch, keine Antwort. Da nannte er seinen Namen. Sogleich ward der Riegel zurückgeschoben. Berta öffnete zur Hälfte und ließ ihn eintreten. Dann schob sie mit erregter Hand den Riegel wieder vor und sagte:

Sie ja; er nicht!

Und sie ging, zornig erregt, im Zimmer auf und nieder, vom Bett bis zum Fenster, das offen geblieben war. Dabei ließ sie allerlei unzusammenhängende Worte fallen. Er könne allein mit ihren Eltern speisen, wenn er wolle; und er könne ihnen auch ihre Abwesenheit erklären! denn sie werde nicht zu Tisch kommen – lieber sterben! Sie ziehe vor, sich ins Bett zu legen.

Sie zog mit fieberhafter Hast die Bettdecke ab, machte die Kissen zurecht, schlug die Bettücher zurück – und machte – die Anwesenheit Octaves vergessend – sogar Miene, ihr Kleid aufzunesteln. Dann ging sie plötzlich zu etwas anderem über.

Werden Sie es glauben? – er hat mich geschlagen. Ja, geschlagen, geschlagen! ... Und weshalb? Weil ich mich der Lumpen schämend, in denen er mich gehen läßt, 500 Franken verlangt habe!

Octave stand mitten im Zimmer und suchte nach versöhnenden Worten. Sie habe unrecht, sich so sehr zu kränken; alles werde wieder ins Geleise kommen. Endlich wagte er es, ihr ein Anerbieten zu machen.

Wenn Sie wegen einer Zahlung in Verlegenheit sind, warum wenden Sie sich nicht an Ihre Freunde? ... Ich würde mich glücklich preisen ... Ach, es handelt sich ja nur um ein Darlehen. Sie würden alles wieder bezahlen.

Sie blickte ihn an und sagte nach einer Weile:

Niemals! Das ist verletzend ... Was würde man denken, Herr Octave?

Ihre Weigerung war so entschieden, daß vom Gelde keine Rede mehr war. Doch schien ihr Zorn sich gelegt zu haben. Er sann darüber nach, ob es nicht das beste sei, sie in seine Arme zu schließen; allein, die Furcht, wieder einmal abgewiesen zu werden, lähmte seine Entschlossenheit. Sie betrachtete ihn noch immer stumm, mit entschlossener Miene, die Stirne leicht gerunzelt.

Sie müssen sich in Geduld fassen, sagte er endlich. Ihr Gemahl ist kein schlechter Mensch. Wenn Sie ihn zu behandeln wissen, werden Sie von ihm alles erhalten, was Sie wollen ...

Doch hinter der Leere ihrer Worte fühlten beide, wie der nämliche Gedanke sie gefangennahm. Sie waren allein, frei, geschützt vor jeder Überraschung, da der Riegel vorgeschoben war. Dieses Gefühl der Sicherheit, die eingeschlossene, behagliche Wärme des Zimmers bemächtigte sich ihres ganzen Wesens. Allein ihm fehlte der Mut; der weibliche Sinn in ihm trat in diesem Augenblicke der Leidenschaft so sehr hervor, daß in der gegenseitigen Annäherung er die Rolle des Weibes spielte. Da ließ sie, der genossenen Lehren eingedenk, ihr Taschentuch fallen.

Verzeihung! sagte sie dem jungen Manne, der sich bückte, um es aufzuheben.

Ihre Finger streiften sich, und durch diese flüchtige Berührung wurden sie einander näher gebracht. Sie lächelte zärtlich; ihre Taille war biegsam und geschmeidig, denn sie erinnerte sich, daß die Männer die steifen Bretter verabscheuen. Man dürfe sich nicht albern benehmen, man müsse unschuldige Kindereien gestatten, ohne es merken zu lassen, wenn man einen Mann kapern wolle.

Die Nacht bricht herein, sagte sie, indem sie zum Fenster ging, um die Flügel vollends zu öffnen.

Er folgte ihr und da, im Schatten der Vorhänge, überließ sie ihm ihre Hand. Sie lachte und betäubte ihn mit ihrem perlenden Gelächter, mit ihren lieblichen Gebärden; und da er endlich mutiger ward, lehnte sie den Kopf zurück und zeigte so ihren jugendlichen, zarten, von der Heiterkeit geschwellten Hals. Er konnte nicht länger an sich halten und küßte sie unter dem Kinn.

Oh, Herr Octave, sagte sie, indem sie tat, als wolle sie sich artig von ihm losmachen.

Doch er drängte sie zum Bett, das sie vorhin geöffnet hatte; und in seinem befriedigten Verlangen trat seine ganze Rücksichtslosigkeit wieder hervor, die wilde Verachtung für das Weib, die sich bei ihm unter der einschmeichelnden Verehrung barg. Sie ließ ihn still gewähren, ohne ein Vergnügen dabei zu finden.

Als sie sich mit müden Gliedern und verdrossen erhob, war die Geringschätzung gegen den Mann in ihr wieder erwacht und drückte sich in dem finsteren Blicke aus, den sie ihm zuwarf. Es herrschte tiefe Stille, nur unterbrochen durch die regelmäßigen Bürstenstriche des Verrückten vor der Türe draußen.

In dem Taumel seines Triumphes dachte Octave an Valerie und an Frau Hédouin. Endlich war er etwas anderes als der Liebhaber der kleinen Pichon. Er war gleichsam in den eigenen Augen wieder der alte. Dann empfand er angesichts einer trübseligen Gebärde Bertas eine gewisse Scham und küßte sie zärtlich. Sie sammelte sich allmählich; ihr Gesicht nahm wieder den Ausdruck der gewöhnlichen Sorglosigkeit an. Sie machte eine Gebärde, die besagen wollte: »Um so schlimmer für ihn; es ist nun geschehen!« Dann fühlte sie das Bedürfnis, einem trüben Gedanken Ausdruck zu geben.

Ach, hätten Sie mich doch geheiratet! murmelte sie.

Er stand überrascht, fast beunruhigt da, was ihn nicht hinderte zu antworten, während er sie von neuem küßte:

Ach ja, es wäre so gut!

Das Essen am Abend in Gesellschaft der Josserand verlief herrlich. Berta war noch niemals so sanft und liebenswürdig. Sie sagte ihren Eltern kein Wort von dem Streite, den sie mit ihrem Gatten gehabt und empfing August mit unterwürfiger Miene.

August war entzückt und nahm Octave beiseite, um ihm zu danken. Er tat es mit solcher Wärme, drückte ihm dabei mit so lebhafter Erkenntlichkeit die Hand, daß der junge Mann verwirrt ward. Übrigens ward er von allen mit Aufmerksamkeiten überhäuft. Saturnin, der sich jetzt bei Tische sehr anständig benahm, sah ihn mit sanften Blicken an, als ob er die Wonne des begangenen Fehltrittes mitgenießen wolle. Hortense geruhte ihm zuzuhören, während Frau Josserand voll mütterlicher Aufmunterung ihm das Glas füllte.

Mein Gott, ja! sagte Berta beim Nachtisch; ich will jetzt die Malerei wieder aufnehmen. Seit langer Zeit schon will ich für August eine Tasse malen.

Dieser zärtliche Gedanke der Ehegattin rührte August sehr. Octave hatte schon, seitdem die Suppe aufgetragen worden, unter dem Tische seinen Fuß auf jenen der jungen Frau gesetzt; damit nahm er gleichsam Besitz von ihr bei diesem kleinen, spießbürgerlichen Festmahl. Indes war Berta nicht ganz unbesorgt wegen Rachels, deren spähenden Blick sie fortwährend auf sich ruhen fühlte. Sah man ihr denn an, was geschehen war? Dieses Mädchen mußte entlassen oder bestochen werden – das war klar.

Herr Josserand, der neben seiner Tochter saß, stimmte diese vollends zärtlich, indem er ihr 19 Franken, in ein Papier eingewickelt, unter das Tischtuch schob. Er neigte sich vor und flüsterte ihr zu:

Das kommt von meinen kleinen Arbeiten, du weißt ja ... Wenn du Schulden hast, bezahle sie.

Zwischen dem Vater sitzend, der sie liebevoll ans Knie stieß, und dem Liebhaber, der seinen Fuß an den ihrigen rieb, fühlte sie sich außerordentlich wohl. Das Leben ließ sich herrlich an. Alle Anwesenden gaben sich dem stillen Behagen eines im Familienkreise friedlich verbrachten Abends hin. Nur August zuckte mit den Augen; eine Migräne war im Anzuge; nach so großen Aufregungen war es auch nicht zu verwundern. Gegen neun Uhr mußte er sich zu Bett begeben.


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