Emile Zola
Germinal
Emile Zola

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Sechstes Kapitel

Es war vier Uhr morgens; die Kühle der Aprilnacht milderte sich bei dem Herannahen des Tages. Die Sterne flimmerten am klaren Himmel, während eine helle Morgenröte den östlichen Horizont purpurn färbte. Ein Frösteln durchzog die schlafende schwarze Landschaft; es war jenes unbestimmte, verschwommene Geräusch, das dem Erwachen vorausgeht.

Etienne folgte, wacker ausschreitend, der nach Vandame führenden Straße. Er hatte sechs Wochen im Krankenhause zu Montsou zugebracht. Obgleich noch gelb und sehr mager, hatte er sich, doch stark genug gefühlt aufzubrechen, und er brach auf. Die Gesellschaft, die noch immer für Ihre Gruben zitterte und nach und nach gewisse Leute entließ, hatte ihn verständigt, daß sie ihn nicht länger in ihren Diensten behalten könne. Sie bot ihm übrigens eine Unterstützung von hundert Franken an mit dem väterlichen Rate, die Grubenarbeit aufzugeben, weil sie künftig für ihn zu schwer sei. Doch er hatte die hundert Franken zurückgewiesen. Pluchart rief ihn nach Paris in einem Briefe, dem auch das nötige Reisegeld beigelegt war. Er sah endlich seinen alten Traum sich verwirklichen. Am vorhergegangenen Tage hatte er das Spital verlassen und bei der »Gemütlichkeit«, in der Schenke der Witwe Désir übernachtet. Er war früh aufgestanden; er hatte nur noch einen Wunsch: seinen Kameraden Lebewohl zu sagen, ehe er in Marchiennes den Acht-Uhr-Zug bestieg.

Auf der Straße, über welche die Morgenröte ihre Helle ausbreitete, war Etienne einen Augenblick stehen geblieben. Es tat so wohl, die frische Luft des Frühjahrs einzuatmen. Ein herrlicher Morgen kündigte sich an, es ward allmählich heller, und mit der Sonne stieg auch das Leben der Erde empor. Er nahm seinen Weg wieder auf, schlug mit seinem Stabe fest auf den Boden und schaute nach der Ferne, wo die Ebene allmählich aus den nächtlichen Dünsten zum Vorschein kam. Er hatte niemanden wiedergesehen. Frau Maheu hatte ihn ein einziges Mal im Krankenhause besucht; sie hatte gewiß nicht wiederkommen können. Allein er wußte, daß jetzt das ganze Dorf der Zweihundertvierzig in der Jean-Bart-Grube anfuhr, und daß sie selbst die Arbeit wiederaufgenommen hatte.

Allmählich bevölkerten sich die Wege. Unablässig zogen Gruppen von Bergleuten bleich und still an Etienne vorüber. Man sagte, die Gesellschaft treibe Mißbrauch mit ihrem Sieg. Nach einem zweiundeinhalb Monate währenden Arbeitsausstande waren die Bergleute durch den Hunger überwunden, wieder zu den Gruben zurückgekehrt und hätten sich da dem Verzimmerungstarife fügen müssen, dieser versteckten Lohn Verminderung, die jetzt, weil vom Blute der Kameraden befleckt, noch verhaßter war als früher. Man stahl ihnen eine Stunde Arbeit. Man zwang sie, ihren Eid, sich nicht zu unterwerfen, zu brechen, und dieser ihnen aufgezwungene Meineid saß ihnen in der Kehle wie eine Gallenblase. Die Arbeit wurde überall wiederaufgenommen, in Mirou, Magdalene, Crèvecoeur, auf dem Siegesschacht. Nach allen Richtungen zog die Herde der Arbeiter auf den noch halb dunkeln Wegen dahin; lange Züge von Männern mit zu Boden gesenkten Häuptern gleich dem Vieh, das zur Schlachtbank geführt wird. Sie fröstelten in ihren Leinwandkitteln; sie kreuzten die Arme und krümmten den Rücken, auf welchem der zwischen Hemd und Jacke untergebrachte »Ziegel« einen Höcker bildete. Und diesen Massen, die stumm und düster ohne ein Lachen, ohne einen Seitenblick zur Arbeit zurückkehrten, merkte man es an, daß sie im verhaltenen Zorn die Zähne aufeinander preßten, daß ihr Herz von Haß geschwellt war und sie nur den Geboten des Magens sich unterworfen hatten.

Je mehr er sich der Grube näherte, desto mehr sah Etienne ihre Zahl anwachsen. Fast alle gingen einzeln; die in Gruppen ankamen, lösten sich in eine Kette auf, erschöpft, überdrüssig der anderen und überdrüssig ihrer selbst. Er sah einen ganz alten Mann, dessen Augen wie glühende Kohlen unter der bleichen Stirne leuchteten. Ein anderer noch junger Arbeiter ließ ein ununterbrochenes, heftiges Schnaufen hören. Viele trugen ihre Holzschuhe in der Hand, und man hörte kaum den weichen Schritt ihrer mit dicken wollenen Strümpfen bekleideten Füße. Es war ein endloser Menschenstrom; eine Niederlage, der gezwungene Marsch einer geschlagenen Armee, die gesenkten Hauptes dahinzieht, von dem geheimen Verlangen beseelt, den Kampf wiederaufzunehmen und sich zu rächen.

Als Etienne in Jean-Bart ankam, tauchte das Werk im Dämmerlichte des Morgens auf; die an den Gerüsten hängenden Laternen brannten noch. Über den dunklen Gebäuden stieg ein leichter Rauch empor, einem weißen, zartrot gefärbten Federbusche gleichend. Er nahm seinen Weg über die Treppe des Sichtungswerkes, um sich nach dein Aufnahmesaale zu begeben.

Die Anfahrt begann eben, die Arbeiter kamen von der Baracke herab, um zum Einfahrtsschachte zu schreiten. In diesem Getümmel und in dem Lärm blieb er einen Augenblick unbeweglich stehen. Rollende Hunde erschütterten den aus Eisenplatten gelegten Fußboden, die Räder drehten sich und rollten die Kabel auf und ab inmitten des Getöses der Schallrohre, der Signalglocken und der auf den Signalblock niederfallenden Hämmer. Er fand das Ungeheuer wieder, das seine Ration von Menschenfleisch verschlingt, die auf und nieder steigenden Schalen, die unablässig ihre Last hinabführen mit dem leichten Schlucken eines gefräßigen Riesen. Seit seinem Unglücksfall hatte er eine nervöse Abscheu gegen die Grube. Bei dem Anblick dieser versinkenden Schalen drehte sich ihm das Innere um; er mußte den Kopf wegwenden, der Schacht erbitterte ihn.

In dem noch dunkeln Aufnahmesaale, in dem die ausgebrannten Laternen nur ein fahles Zwielicht verbreiteten, bemerkte er kein befreundetes Antlitz. Die Bergleute, die hier mit nackten Füßen, mit Lampen in der Hand warteten, betrachteten ihn mit großen, unruhigen Augen, dann neigten sie das Haupt und wichen beschämt vor ihm zurück. Ohne Zweifel kannten sie ihn und hatten keinen Groll mehr gegen ihn. Sie schienen im Gegenteil ihn zu fürchten und erröteten bei dem Gedanken, daß er ihnen Feigheit vorwerfen könne. Diese ihre Haltung schwellte sein Herz mit Stolz; er vergaß, daß diese Elenden ihn gesteinigt hatten; er gab sich wieder seinem Traum hin, diese Leute in Helden zu verwandeln und das Volk zu leiten, diese Naturkraft, die sich selbst verzehrte.

Wieder versank eine Schale mit ihrer Last, und als eben eine neue Gruppe heranrückte, erblickte er einen Arbeiter, der sein Gehilfe im Streik gewesen, einen Wackern, der geschworen hatte, lieber zu sterben, als sich zu ergeben.

»Du auch«, murmelte er betrübt.

Der andere erbleichte; seine Lippen zitterten: dann sagte er mit einer Gebärde der Entschuldigung:

»Was willst du? Ich habe ein Weib.«

In der neuen Schar, die aus der Baracke herankam, erkannte er jetzt alle.

»Du auch! Du auch! Du auch! ...«

Alle erzitterten und stammelten mit erstickter Stimme:

»Ich habe eine Mutter, ich habe Kinder, ich muß Brot schaffen.«

Die Schale blieb jetzt länger unten. Sie warteten in düsterer Stimmung, in einem so tiefen Leid über ihre Niederlage, daß ihre Blicke es vermieden, den seinigen zu begegnen, und starr auf den Schacht gerichtet waren.

»Was ist mit Frau Maheu?« fragte Etienne.

Sie antworteten nicht. Einer machte ein Zeichen, daß sie bald komme; andere erhoben mitleidig die Arme und riefen:

»Ach, die arme Frau, welches Elend!«

Dann trat wieder Stillschweigen ein; als der Kamerad ihnen die Hand reichte, um ihnen Lebewohl zu sagen, drückten alle kräftig diese Hand und legten in den stummen Händedruck ihre Wut darüber, nachgegeben zu haben, und die fieberhafte Hoffnung auf Rache. Die Schale war wieder da, sie stiegen ein und versanken, von dem Abgrunde verschlungen.

Jetzt erschien Pierron mit der frei brennenden Lampe der Aufseher, die an seiner Ledermütze befestigt war. Seit acht Tagen war er Gruppenvorsteher, und die Arbeiter traten beiseite, denn die Ehrenbezeigungen machten ihn stolz. Der Anblick Etiennes war ihm mißliebig; er trat jedoch näher und beruhigte sich schließlich, als der junge Mann ihm seine Abreise ankündigte. Sie plauderten eine Weile. Pierron erzählte, sein Weib führe jetzt die Schankwirtschaft »zum Fortschritt«; sie habe es den Herren zu danken, die sich ihr alle freundlich erzeigten. Doch er unterbrach sich hier, um den Vater Mouque auszuschelten, den er beschuldigte, daß er den Pferdedünger nicht zur rechten Zeit heraufgeschafft habe. Der Alte hörte unterwürfig diesen Tadel an; ehe er dann hinabfuhr, drückte auch er Etienne lange und warm die Hand, und auch in seinem Händedruck lag der verhaltene Zorn und die Verheißung künftigen Aufruhrs; diese Greisenhand, die in der seinigen zitterte, dieser alte Mann, der ihm den Tod seiner Kinder verzieh: sie brachte in Etienne eine so tiefe Bewegung hervor, daß er den Alten verschwinden sah, ohne ein Wort hervorbringen zu können.

»Kommt denn Frau Maheu heute nicht?« fragte er nach einer Weile den Aufseher.

Anfänglich tat Pierron, als habe er nicht verstanden, denn er meinte, es genüge, vom Unglück zu reden, um davon angesteckt zu werden. Dann sagte er, sich entfernend, als wolle er seinen Leuten einen Auftrag geben:

»Was? Die Maheu? Da ist sie ja.«

In der Tat kam eben die Maheu aus der Baracke herunter, mit der Lampe ausgerüstet, bekleidet mit dem Kittel und der Hose der Bergleute, das Haupt in die Lederhaube gehüllt. Gerührt durch das Schicksal dieser unglücklichen, schwergeprüften Frau, hatte die Gesellschaft in außerordentlicher Gnade gestattet, daß sie, obgleich schon vierzig Jahre alt, die Arbeit aufnehmen dürfe. Da es schwierig gewesen wäre, sie bei der Abfuhr zu beschäftigen, verwendete man sie zur Handhabung eines kleinen Ventilators, den man in der Nordgalerie unterhalb des Tartaret, in den sogenannten Höllenregionen aufgestellt hatte, wo eine andere Lüftungsvorrichtung nicht möglich war. In der Tiefe dieses glühenden Schlundes trieb sie bei einer Hitze von vierzig Grad, die ihr die Haut gar sott, zehn Stunden hindurch das Rad dieses Ventilators, daß ihr schließlich die Glieder im Leibe wie gebrochen waren. Mit dieser Arbeit erwarb sie täglich dreißig Sous.

Als Etienne sie bemerkte, so bejammernswert in ihrer Männerkleidung, Brust und Bauch gleichsam von der Feuchtigkeit der Kohlenschläge aufgedunsen, ward er tief ergriffen und stammelte einige unverständliche Worte, um ihr zu erklären, daß er fortziehe und ihr Lebewohl habe sagen wollen.

Sie schaute Ihn an, ohne ihn zu hören, und sagte endlich, das Du beibehaltend:

»Du bist erstaunt, mich zu sehen. Allerdings hatte ich gedroht, den ersten der Meinigen, der anfahren werde, zu erwürgen, – und jetzt fahre ich selber an; ich müßte mich selber erdrosseln, nicht wahr? Ach, es wäre ja schon geschehen, wenn der Alte nicht da wäre und die Kleinen ...«

In langsamem, müdem Tone fuhr sie fort; sie entschuldigte sich nicht, sie erzählte bloß die Dinge: daß sie schier vor Hunger umgekommen seien, und daß sie sich endlich entschlossen habe, die Arbeit aufzunehmen, damit man sie nicht aus dem Dorfe vertreibe.

»Wie geht es dem Alten?« fragte Etienne.

»Er verhält sich immer still und anständig, aber mit seinem Verstand ist es aus ... Wegen seines Verbrechens hat man ihn nicht verurteilt. Es war davon die Rede, ihn in ein Irrenhaus zu stecken, aber ich wollte es nicht; man hätte ihn dort vergiftet. Seine Geschichte hat immerhin viel Verdruß verursacht. Er wird niemals seine Pension bekommen; einer der Herren sagte mir, es sei unmoralisch, wenn man ihm eine Pension gebe.«

»Arbeitet Johannes?«

»Ja; die Herren haben für ihn eine Tagesarbeit gefunden; er erwirbt dabei zwanzig Sous. Ich beklage mich nicht; die Herren haben sich gütig gezeigt, wie sie selbst es mir erklärten. Die zwanzig Sous meines Jungen und meine dreißig dazu geben fünfzig Sous. Wären wir nicht unser Sechs im Hause, würde man sich sattessen können. Estelle ißt jetzt auch schon, und das Schlimmste ist, daß man noch vier bis fünf Jahre warten muß, ehe Leonore und Heinrich stark genug sind, in die Grube hinabzusteigen.«

Etienne konnte eine schmerzliche Gebärde nicht unterdrücken.

»Auch sie!« rief er.

Eine helle Röte war in die fahlen Wangen der Frau Maheu aufgestiegen, während ihre Augen sich belebten.

Doch sie senkte die Schultern wieder, gleichsam erdrückt von der Last des Geschickes.

»Was willst du?« Sie nach den übrigen ... Alle haben die Glieder dabei gelassen. Jetzt sind sie an der Reihe.«

Sie schwieg. Es kamen Stößer mit vollen Karren vorüber und störten sie im Gespräche. Durch die großen, staubigen Fenster drang das Tageslicht ein und hüllte die Laternen in einen grauen Schein. Alle drei Minuten kam die Maschine wieder in Bewegung, die Kabel rollten sich ab, die Schalen fuhren fort, Menschen zu verschlingen.

»Vorwärts, Müßiggänger, beeilt euch!« rief Pierron. »Einsteigen, einsteigen! Wir werden heute nicht fertig.«

Die Maheu, die er besonders anschaute, rührte sich nicht. Sie hatte schon drei Schalen hinabsteigen lassen und sagte, gleichsam aus einem Traum erwachend und der ersten Worte Etiennes sich erinnernd:

»Also, du gehst?«

»Ja, heute morgen.«

»Du hast recht, besser anderswo sein, wenn man es kann .... Es freut mich, dich noch einmal gesehen zu haben; du weißt wenigstens, daß ich keinen Groll gegen dich hege. Nach dem Gemetzel war ich einen Augenblick in der Stimmung, dich zu erwürgen; doch man überlegt die Dinge, nicht wahr? Und man findet schließlich, daß niemand schuld daran ist. Nein, nein, es war nicht deine Schuld, es war die Schuld aller Welt.«

Sie sprach jetzt ganz ruhig von ihren Toten, von ihrem Manne, von Zacharias, von Katharina; die Tränen erschienen in ihren Augen erst dann, als sie den Namen Alzire aussprach. Sie hatte die Ruhe einer verständigen Frau wiedergewonnen und urteilte sehr klug über alle Dinge. Es wird den Spießbürgern kein Glück bringen, so viele arme Leute getötet zu haben; auch sie werden eines Tages bestraft; denn alles wird schließlich vergolten. Man wird es gar nicht nötig haben, sich einzumengen, die Bude wird von selbst in die Luft fliegen; die Soldaten werden auf die Herren schießen, wie sie auf die Arbeiter geschossen haben. In ihrer hundertjährigen Ergebung, in der ererbten Disziplin, die sie von neuem in das Joch beugte, war sie zu diesen Erwägungen gelangt, zu der Gewißheit, daß die Ungerechtigkeit nicht länger andauern könne, und daß, wenn es keinen gerechten Gott gebe, ein anderer erstehen werde, um die Armen und Elenden zu rächen.

Sie sprach leise, mit mißtrauischen Blicken. Weil Pierron sich näherte, fügte sie laut hinzu:

»Wenn du abreisest, mußt du bei uns deine Sachen abholen ... Es sind noch zwei Hemden da, drei Taschentücher, eine alte Hose.«

Etienne lehnte es mit einer Handbewegung ab, diese geringen Habseligkeiten zurückzunehmen, die merkwürdigerweise dem Trödler entgangen waren.

»Nein, es lohnt nicht die Mühe; es soll für die Kinder zurückbleiben ... Ich werde mich in Paris mit dem Nötigen versorgen.«

Wieder waren zwei Schalen hinabgefahren, und Pierron entschloß sich, die Maheu direkt aufzufordern.

»Man erwartet euch; ist es bald genug geschwätzt?«

Doch sie wandte ihm den Rücken zu. Was hatte dieser Verräter den Eifrigen zu spielen? Die Anfahrt hatte ihn nicht zu kümmern. Seine Leute verabscheuten ihn schon genug. Sie blieb noch weiter, mit der Lampe in der Hand, fröstelnd in dem ewigen Luftzug, wenngleich das Wetter schon milde war.

Weder Etienne noch sie fand mehr ein Wort zu sagen. Sie standen einander gegenüber mit so schwerem Herzen, daß sie sich noch etwas hätten sagen mögen.

Endlich sprach sie, nur um etwas zu sprechen:

»Die Levaque ist schwanger. Levaque sitzt noch im Gefängnisse. Bouteloup ist inzwischen sein Stellvertreter.«

»Ach ja, Bouteloup.«

»Hör' einmal, habe ich dir schon erzählt? ... Philomene ist fort.«

»Wie, fort?«

»Ja, mit einem Grubenarbeiter aus dem Pas-de-Calais. Ich hatte Angst, daß sie mir die zwei Rangen vielleicht auf dem Halse lassen könne. Doch sie hat sie mitgenommen ... Ist das nicht drollig; ein Weib, das Blut speit und aussieht, als müsse es jeden Augenblick abfahren!«

Sie stand einen Augenblick nachdenklich da; dann fuhr sie langsam fort:

»Auch über mich wurde genug geredet! ... Erinnerst du dich? Man sagte, daß ich bei dir schlafe. Mein Gott! Nach dem Tode meines Mannes hätte es wohl geschehen können, wenn ich jünger gewesen wäre; nicht wahr? Aber heute ist mir lieber, daß es nicht geschehen ist; denn wir würden nur Reue darüber fühlen.«

»Ja, wir würden Reue darüber fühlen«, wiederholte Etienne.

Das war alles; sie sprachen nicht mehr. Eine Schale erwartete sie; man rief sie zornig an und drohte ihr mit einer Strafe. Da entschloß sie sich und reichte ihm die Hand. Sehr ergriffen schaute er sie noch immer an, wie sie so arg mitgenommen, so abgelebt war, mit ihrem fahlen Antlitze, ihrem unter der blauen Haube hervorquellenden, farblosen Haar, dem Körper eines braven, fruchtbaren Weibchens, ganz unförmlich in dem Beinkleid und dem Leinwandkittel. In diesem letzten Händedruck fand er jenen der Kameraden wieder, einen langen, stummen Händedruck, der ihm Stelldichein gab für den Tag, an dem man wieder anfangen werde. Er begriff vollkommen: in der Tiefe ihrer Augen lag ihre ruhige Zuversicht. Auf baldiges Wiedersehen! sagte der stumme Blick; dann aber soll der Hauptstreich geführt werden.

»Ist das eine verdammte Müßiggängerin!« schimpfte Pierron.

Die Maheu wurde zur Schale gedrängt und stieg mit vier anderen ein. Man zog die Signalschnur, die Schale hakte sich los und versank in der Tiefe; man sah nur mehr den reißenden Lauf des Kabels.

Etienne verließ die Grube. Unter dem Sichtungsschuppen sah er ein Wesen mit ausgestreckten Beinen mitten in einer dichten Kohlenlage auf der Erde sitzen. Es war Johannes, der als »Reiniger« angestellt war. Er hielt einen Kohlenblock zwischen den Beinen und säuberte denselben mit Hammerschlägen von den Schieferbruchstücken; ein feiner Kohlenruß legte sich so dicht auf sein Gesicht, daß der junge Mann ihn niemals erkannt haben würde, hätte der Knabe nicht seine Affenfratze mit den weit abstehenden Ohren und den grünlichen Augen gehabt. Er lachte frech und zerschlug den Block mit einem letzten Streich, völlig eingehüllt von dem auffliegenden Kohlenstaube.

Als Etienne wieder draußen war, folgte er einen Augenblick nachdenklich der Straße. Eine Menge Gedanken aller Art jagte sich in ihm. Aber er hatte das Gefühl der frischen Luft, des freien Himmels und schöpfte tief Atem. Die Sonne stieg siegreich am Horizont empor; frohes Leben erwachte in der ganzen Landschaft. Eine Goldflut ergoß sich von Osten nach Westen über die unermeßliche Ebene. Diese Lebenswärme breitete sich immer weiter aus in einem Frösteln der Jugend, in dem die Seufzer der Erde, der Sang der Vögel, das Rauschen der Bäche und Wälder nachzitterten. Das Leben war schön; die alte Welt wollte noch einen Frühling durchleben.

Von dieser Hoffnung durchdrungen, verlangsamte Etienne seinen Gang, und seine Augen schweiften nach rechts und links, inmitten der Schönheit der neuen Jahreszeit. Er dachte an sich selbst; er fühlte sich stark, gereift durch die harten Erfahrungen in der Grube. Seine Erziehung war beendet; er zog gerüstet weiter als denkender Soldat der Revolution, welcher der Gesellschaft den Krieg erklärt hat, – der Gesellschaft, wie er sie sah, und wie er sie verdammte. In seiner Freude darüber, daß er sich an die Seite Plucharts begab und – gleich Pluchart – ein angehörter Führer werden solle, ordnete er sich die Worte seiner künftigen Reden. Er gedachte sein Programm zu erweitern; die bürgerliche Verfeinerung, die ihn über seine Klasse erhoben hatte, jagte ihn in einen noch größeren Haß gegen das Spießbürgertum. Er fühlte das Bedürfnis, die Arbeiter, deren Elendgeruch er jetzt nicht mehr vertragen konnte, auf eine Ruhmeshöhe zu stellen, sie als die einzig Großen, als die einzig Fehlerlosen zu zeigen, als den einzigen Adel und die einzige Kraft, in der die Menschheit sich verjüngen konnte. Schon sah er sich auf der Rednertribüne, mit dem Volke triumphierend, wenn das Volk ihn nicht verschlang.

Der Sang einer Lerche in großer Höhe ließ ihn emporblicken. Kleine rote Wölkchen, die letzten Dünste der Nacht, zerflossen in dem durchsichtigen Blau; und es tauchten die Gestalten der Suwarin und Rasseneur undeutlich vor ihm auf. Wenn jeder die Macht an sich zog, mußte alles mißlingen. Selbst die berühmte Internationale, welche die Welt hätte erneuern müssen, ging kläglich unter, nachdem ihre furchtbare Armee in inneren Kämpfen sich zersplittert hatte. Sollte Darwin recht haben, daß die Welt nichts sei als ein Kampf, in dem die Starken die Schwachen verschlingen, – nur um der Schönheit und Fortpflanzung der Gattung willen? Diese Frage verwirrte ihn, obgleich er als ein mit seinem Wissen zufriedener Mann darüber hinwegging. Ein Gedanke verscheuchte alle seine Zweifel und entzückte ihn: der Gedanke, das erstemal, wenn er reden werde, seine ehemalige Erklärung der Theorie wiederaufzunehmen. Wenn eine Klasse aufgezehrt werden mußte, werde sicherlich das lebenskräftige, noch junge Volk das von den Genüssen erschöpfte Bürgertum aufzehren. Neues Blut werde die neue Gesellschaft durchströmen. In dieser Erwartung einer Überflutung der Welt durch Barbaren, welche die alten, hinfälligen Nationen neu schaffen sollten, tauchte sein unerschütterlicher Glaube an eine nahe, an die wahre Revolution wieder auf, an die Revolution der Arbeiter, deren Brand die Neige des Jahrhunderts in den Purpur der Sonne tauchen werde, die er blutrot am Himmel heraufziehen, sah.

Träumerisch ging er weiter, mit seinem Stock auf die Kiesel des Weges schlagend; als er die Blicke umherschweifen ließ, erkannte er die verschiedenen Teile der Gegend. Bei der »Ochsengabel« erinnerte er sich, daß er da den Befehl über die Scharen übernommen an jenem Tage, als die Gruben verwüstet wurden. Heute begann wieder die tierische, tödliche, schlecht bezahlte Arbeit. Ihm war, als höre er unter der Erde in einer Tiefe von siebenhundert Metern dumpfe, regelmäßige, fortdauernde Schläge: es waren die Kameraden, die er vorhin hatte anfahren sehen, die schwarzen Kameraden, die in ihrer stummen Wut auf die Kohle losschlugen. Ohne Zweifel waren sie besiegt; sie hatten Geld und Tote auf der Wahlstatt gelassen; aber Paris wird die im Voreux gefallenen Schüsse nicht vergessen; durch diese unheilbare Wunde wird auch das Blut des Kaiserreiches entströmen. Wenn die Industriekrise zu Ende geht und Fabriken, eine nach der ändern, wieder eröffnet werden, wird nichtsdestoweniger der Krieg erklärt und künftig kein Friede möglich sein. Die Bergleute kannten ihre Zahl, hatten ihre Kraft erprobt, hatten mit ihrem Schrei nach Gerechtigkeit alle Arbeiter von ganz Frankreich aufgerüttelt. Ihre Niederlage beruhigte denn auch niemanden. In ihrem Siege von dem dumpfen Unbehagen erfaßt, das der Streik zurückgelassen, schauten die Bürger von Montsou hinter sich, ob nicht dennoch inmitten dieser tiefen Stille das Ende unvermeidlich gekommen sei. Sie begriffen, daß die Revolution sich unaufhörlich erneuern werde, vielleicht morgen schon; mit dem allgemeinen Streik, mit dem Zusammenhalt aller Arbeiter, die mit Hilfskassen ausgerüstet monatelang Widerstand leisten würden. Wieder einmal war der zerfallenden Gesellschaft ein Stoß versetzt; sie hatte unter ihren Tritten das Krachen gehört; sie fühlte, daß neue und immer neue Stöße kommen würden, bis der alte, erschütterte Bau zusammenstürzen und verschlungen werde wie der Voreuxschacht, der in dem Abgrunde versunken war.

Etienne wandte sich links und schlug den Weg nach Joiselle ein. Er erinnerte sich; er hatte daselbst die Scharen verhindert, sich auf Gaston-Marie zu stürzen. In der Ferne sah er im hellen Sonnenlichte die Schachttürme mehrerer Gruben, den von Mirou rechts, den der Magdalenengrube und Crèvecoeur nahe beieinander. Überall summte und brummte die Arbeit; die Schläge der Spitzhacken, die er unter der Erde zu hören glaubte, fielen jetzt von einem Ende der Ebene bis zum anderen. Ein Schlag und noch ein Schlag und immerfort Schläge unter den Feldern, unter den Straßen, unter den Dörfern, die im Sonnenlichte lachten: die ganze finstere Arbeit dieses unterirdischen Gefängnisses, dermaßen erdrückt unter der ungeheuren Masse der Felsen, daß man wissen mußte, daß es da unten sei, um den tiefen, schmerzlichen Seufzer zu vernehmen. Er dachte jetzt, daß die Anwendung von Gewalt die Dinge vielleicht nicht beschleunigen werde. Durchschnittene Kabel, losgerissene Schienen, zerschlagene Lampen: welche unnütze Arbeit! Wahrhaftig, es lohnt die Mühe, daß eine Schar von dreitausend Menschen verheerend durch das Land zieht! Er ahnte, daß die Gesetzlichkeit – eines Tages erreicht – viel furchtbarer werden konnte. Sein Verstand reifte; er hatte sich der unreifen Rachegelüste seiner Flegeljahre entledigt. Jawohl, die Maheu mit ihrem gesunden Sinn hatte das Richtige getroffen: Man wird den Hauptstreich führen; man wird sich ruhig zu einem Heere vereinigen, wenn die Gesetze es gestatten; an dem Tage, wenn man sich stark genug fühlt und sieht, daß Millionen von Arbeitern einigen Tausenden von Nichtstuern gegenüber stehen, reißt man die Macht an sich und gebietet. Welches Erwachen der Wahrheit und Gerechtigkeit! Zur selbigen Stunde wird es aus sein mit dem gemästeten ungeheuerlichen Götzen, der in der Tiefe seines Heiligtums verborgen hockt, in jener unbekannten Ferne, wo die Armen und Elenden ihn mit ihrem Fleische nährten.

Doch Etienne verließ jetzt den nach Vandame führenden Weg und erreichte die Heerstraße. Rechts lag in weiter Ferne Montsou, kaum mehr sichtbar. Vor sich hatte er die Ruinen des Voreux, das verdammte Loch, an dessen Auspumpen drei Maschinen unablässig arbeiteten. Dann folgten am Horizonte die anderen Gruben: die Siegesgrube, Sankt-Thomas, Fentry-Cantel; während im Norden die Türme der Hochöfen und die Batterien der Koksöfen ihren Rauch in die klare Morgenluft entsandten. Wenn er den Acht-Uhr-Zug nicht versäumen wollte, mußte er sich sputen, denn er hatte noch sechs Kilometer zurückzulegen.

Unter seinen Füßen dauerten die dumpfen Schläge der Spitzhacken unaufhörlich an. Die Kameraden waren sämtlich da; er fühlte, wie sie ihm auf Schritt und Tritt folgten. War das nicht die Maheu unter diesem Rübenfelde, mit gekrümmtem Rücken, mit dem heiseren Schnaufen, begleitet von dem Schnarren des Ventilators? Rechts und links und weiterhin schien er noch andere zu erkennen unter den Getreidefeldern, unter den Hecken, unter den mit jungem Laub bedeckten Bäumen. Die Aprilsonne stand jetzt schon hoch am Himmel, strahlte in ihrem vollen Glanze und erwärmte die fruchtbare Erde. Aus ihren nährenden Lenden sproß das Leben hervor; die platzenden Knospen entfalteten sich zu grünen Blättern; die Felder erzitterten unter dem üppigen Gedeihen der Gräser. Allenthalben füllten sich und wuchsen die Körner und sprengten die Erde in ihrem mächtigen Bedürfnis nach Licht und Wärme. Ein Überströmen der Säfte floß in Flüsterstimmen dahin; das Geräusch der Keime verbreitete sich in einem unermeßlichen Kusse. Die Kameraden hieben noch immer darauf los, immer vernehmlicher, als hätten sie sich dem Erdboden genähert. Mit diesem Geräusche war die Landschaft schwanger, die im Sonnenglanze dieses Frühlingsmorgens dalag. Es erstanden Menschen, eine schwarze Rächerarmee, die langsam in den Furchen keimte, für die Ernten des künftigen Jahrhunderts emporwachsend, deren Keimen alsbald die Erde durchbrechen sollte.


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