Emile Zola
Fruchtbarkeit
Emile Zola

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Drittes Buch

1

»Ich sage dir, daß ich Joe nicht brauche, um ihn zu baden,« rief Mathieu, böse werdend. »Bleibe im Bett und ruh dich aus!«

»Aber,« versetzte Marianne, »das Mädchen muß doch die Wanne bereiten und warmes Wasser bringen.«

Sie lachte frühlich über diesen Streit, und er stimmte in das Lachen ein.

Seit vorgestern hatten sie wieder den Pavillon am Waldesrande bezogen, den sie von den Séguin gemietet hatten. Sie waren so begierig gewesen, wieder aufs Land zu kommen, daß Marianne, trotz des Widerspruchs des Arztes, sogar die Unvorsichtigkeit begangen hatte, sich vierzehn Tage nach ihrer Niederkunft dahin bringen zu lassen. Aber ein vorzeitiger Frühling erwärmte diesen März so wohltuend mit seiner Sonne, daß die Reise sie nur wenig ermattet hatte. Und heute nun, an einem Sonntag, der Mathieu zum Feste wurde, weil er ihn mit ihr verbringen konnte, wollte er haben, daß sie nicht vor Mittag das Bett verlasse.

»Ich kann mich doch ganz gut einmal mit dem Kinde beschäftigen, während du ruhig liegenbleibst,« wiederholte er. »Du hast ihn von früh bis abend genug auf den Armen. Und wenn du wüßtest, welches Vergnügen es mir bereitet, mit dir und mit diesem kleinen Engel wieder in diesem Zimmer zu sein!«

Er ging zu ihr hin, um sie zärtlich zu küssen, und sie gab ihm den Kuß herzlich zurück, indem sie abermals lachte. Tatsächlich waren sie beide im Paradies. War dies nicht das Zimmer, wo sie sich voriges Jahr geliebt hatten, wo sie die glückliche, die fruchtbare Nacht gehabt hatten? Der eilige Frühling übergoß es mit heiterem Goldglanz, erfüllte es mit angenehmer Wärme, und durch das Fenster grüßte die weite Landschaft herein, die wiedererwachende Erde, die von den sich regenden Keimen bebte. Wie schien es ihnen hell und fröhlich, noch voll Liebeserinnerungen, nun, da das Kind bereits neben ihnen blühte!

Marianne beugte sich über die Wiege, die dicht an ihrem Bette stand.

»Monsieur Gervais schläft tief und fest. Sieh ihn nur an! Du wirst nicht so herzlos sein, ihn aufzuwecken.«

Beide blieben in Betrachtung des schlafenden Kindes versunken. Sie hatte ihren Arm um seinen Hals geschlungen und lehnte sich gegen ihn; ihre Haare und ihr Atem vermengten sich, und sie sahen glücklich lächelnd auf diese Wiege, in welcher das schwache Geschöpf ruhte. Es war ein schönes Kind, schon weiß und rosa; aber man mußte der Vater und die Mutter sein, um sich so mit diesem Lallen, mit diesem kaum vollendeten Geschöpfe von unbestimmten Formen zu befassen. Nun öffnete er die Augen, noch ohne Blick, noch erfüllt von dem Mysterium, aus dem er hierher gekommen, und sie gerieten in freudige Bewegung.

»Weißt du, daß er mich angesehen hat?«

»Gewiß. Auch mich, er hat den Kopf nach mir gewendet.«

»Der süße Engel!«

Es war nur eine Täuschung. Aber dieses kleine, stumme, weiche Geschöpf sagte ihnen so viel, was niemand außer ihnen gehört hätte! Sie sahen sich in ihm in eins verschmolzen, sie entdeckten in ihm außerordentliche Ähnlichkeiten, welche sie veranlaßten, stunden-, tagelang die Frage zu erörtern, wem von ihnen er mehr ähnlich sehe. Jeder bestand übrigens eigensinnig darauf, daß er das Ebenbild des andern sei.

Natürlich stieß Monsieur Gervais, sobald er die Augen aufgeschlagen hatte, durchdringende Schreie aus. Aber Marianne war unerbittlich: zuerst das Bad, dann das Trinken. Zoe brachte einen Kübel warmes Wasser herauf und bereitete dann das Bad am Fenster in der Sonne. Mathieu tat es wirklich nicht anders, er badete das Kind, wusch es drei Minuten lang mit Hilfe eines feinen Schwammes, während Marianne von ihrem Bette aus die Operation leitete, indem sie über die ängstliche Sorgfalt lachte, mit der er den kleinen Körper handhabte, als ob es der eines neugeborenen, zarten, geheiligten Gottes wäre, den er mit seinen plumpen Männerfingern zu zerbrechen fürchtete. Im übrigen waren beide entzückt von der liebenswürdigen Szene. Wie reizend war er mit seiner rosigen Haut in dem in der Sonne funkelnden Wasser! Und wie brav war er auch, denn wunderbarerweise schwieg er augenblicklich und bekundete ein drolliges Wohlbehagen, sobald er die Berührung hes warmen Wassers fühlte. Nie hatten Vater oder Mutter einen solchen Schatz gehabt!

»Nun,« sagte Mathieu, nachdem er ihn unter Mithilfe Zoes mit seinem Linnen abgetrocknet hatte, »wird Monsieur Gervais gewogen.«

Dies war stets eine sehr komplizierte Operation, welche durch die tiefe Abneigung erschwert wurde, die das Kind gegen sie an den Tag legte. Er sträubte sich, er zappelte auf der Platte, so daß es unmöglich wurde, das Gewicht genau genug aufzunehmen, um die nur wenige Gramm betragenden Unterschiede von einer Woche zur andern festzustellen. Der Vater verlor gewöhnlich die Geduld. Die Mutter mußte sich der Sache annehmen.

»Stelle die Wage einmal hierher auf das Tischchen neben mein Bett und gib ihn mir samt dem Handtuch. Wir werden das Gewicht des Handtuches dann in Abzug bringen.«

Aber in diesem Augenblicke erfolgte, wie jeden Morgen, ein lärmender Einfall. Die vier Kinder, die nunmehr anfingen, sich allein anzukleiden, wobei die größeren den kleineren Beistand leisteten und wobei allerdings auch Zoe mithalf, stürmten wie losgelassene Füllen herein. Sie sprangen Papa an den Hals, warfen sich über Mamas Bett, um »Guten Morgen« zu sagen, und standen dann erstaunt vor der Wage, auf welcher der kleine Bruder lag.

»Ja, warum wird er denn schon wieder gewogen?« fragte Ambroise, der jüngere Knabe.

Die beiden älteren, die Zwillinge Blaise und Denis, antworteten gleichzeitig:

»Du hast doch gehört, daß es geschieht, um sich zu überzeugen, ob Mama nicht betrogen worden ist, ob sie volles Gewicht bekommen hat, wie sie ihn auf dem Markte gekauft hat.«

Rose, die noch immer nicht sicher auf ihren Beinen war, kletterte am Bett entlang und klammerte sich an die Wage, indem sie mit ihrem scharfen Stimmchen rief:

»Sehen will! Sehen will!«

Beinahe hätte sie alles herabgeworfen. Man mußte alle unverweilt vor die Tür setzen, denn nun streckten alle vier die Hände aus und wollten mithalten und mithelfen. »Kinder,« sagte der Vater, »tut mir den Gefallen und geht augenblicklich hinunter. Nehmt eure Hüte und spielt unter den Fenstern, damit wir euch hören.«

Endlich gelang es Marianne, eine genaue Wägung zu erzielen, trotz der Schreie und des Strampelns Gervais'. Und welche Freude, er hatte um sieben Gramm zugenommen! Nachdem er in der ersten Woche abgenommen hatte, wie alle Neugeborenen, war er bis jetzt fast stationär geblieben. Nun fing er also zu wachsen, größer zu werden an! Sie sahen ihn schon gehen, schön und stark geworden. Im Bette aufgerichtet, wickelte ihn die Mutter nun mit erfahrenen Händen in seine Tücher, indem sie auf jeden seiner Schreie antwortete:

»Ja, ja, ich weiß, wir haben Hunger, großen Hunger! Gleich, gleich kommt die Suppe, sie steht schon auf dem Feuer, gleich soll der junge Herr bedient werden.«

Sie hatte gleich nach dem Erwachen große Sonntagstoilette gemacht und ihre prachtvollen Haare in einem großen Knoten hoch hinausgesteckt, so daß sie ihren weißen Hals frei ließen. Sie trug eine hübsche weiße Flanellmorgenjacke mit Spitzen garniert, die nur die Unterarme frei ließ. Durch zwei Polster gestützt, immer noch lachend, öffnete sie die Jacke und reichte dem Kinde ihre weiße, feste, von Milch geschwellte Brust; der Kleine suchte blind mit Händen und Lippen, und als er endlich gefunden hatte, fing er gierig zu saugen an, als wollte er die Mutter ganz austrinken. Sie stieß mitten in ihrem Lachen einen leichten Schmerzensschrei aus:

»Ach, er ißt mich auf, der Wildfang, er hat den Hautriß wieder geöffnet.«

Mathieu wollte den Vorhang herablassen, als er sah, daß das blendende Sonnenlicht über ihnen lag, aber sie bat:

»Nein, nein, laß uns die Sonne! Sie ist uns gar nicht lästig, sie gießt uns den Frühling in die Adern,«

Er kam wieder zurück und stand in Entzücken verfunken vor diesem Schauspiel. Die Sonne entfaltete ihre Pracht, es war das Leben, das hier flammte, das hier in Gesundheit und Schönheit blühte. Kein heiligeres und glorreicheres Symbol der Lebensewigkeit tonnte es geben als dieses: das Kind an der Mutterbrust. Es war die Fortsetzung des Gebärens, die Mutter gab sich noch monatelang ganz hin, vollendete die Schaffung eines Menschen, öffnete die Lebensquelle, die aus ihrem Leibe durch die Welt floß. Sie hatte das nackte und schwache Kind aus ihrem Innern nur entlassen, um es an ihrer warmen Brust zu bergen, an diesem neuen Zufluchtsort der Liebe, wo es sich wärmte und sich nährte. Nichts schien einfacher, nichts notwendiger. Sie allein konnte, um ihrer beider Gesundheit, um ihrer beider Schönheit willen, natürlicherweise die Nahrungspendende sein, nachdem sie die Daseinspendende gewesen. Und so war die Fröhlichkeit, die Glückeszuversicht, die sie um sich verbreiteten, nichts andres als die natürliche Größe alles dessen, was gesund und ungekünstelt emporwächst, die Menschheitsernte vermehrend.

Zoë, die die Badewanne hinausgetragen und das Zimmer in Ordnung gebracht hatte, kam nun mit einem großen Strauß Fliederblüten in einem Topf zurück und meldete, daß Monsieur und Madame Angelin, von einem Morgenspaziergang zurückgekehrt, unten wären und nach Madames Befinden fragen ließen.

»Bitten Sie sie, heraufzukommen,« sagte Marianne heiter. »Ich kann empfangen.«

Die Angelin waren jene jungen verliebten Eheleute, die sich in einem Häuschen in Janville eingemietet hatten und mit solcher Vorliebe einsame Pfade durchwandelten, die das Kind auf später verschoben, um damit ihr ungebundenes Leben voll egoistischer Zärtlichkeit nicht zu belasten und zu stören. Sie war eine prächtige Frau, groß, schön gewachsen, mit dem beständigen Ausdruck der Freude und der Genußliebe im Gesichte. Er war ein hübscher Junge, blond, breitschulterig, mit aufgewirbeltem Schnurrbart und der zuversichtlichen Haltung eines Musketiers. Außer den zehntausend Franken Rente, die ihnen ein unabhängiges Leben gestatteten, erwarben sie noch einiges Geld durch das Malen hübscher Fächer, auf denen anmutige Frauengestalten, von Rosengewinden umgeben, in allerlei graziösen Stellungen lagerten. Ihr Dasein war daher auch bis heute nur ein einziges Liebesfest, ein fortwährendes Zwitschern und Schnäbeln gewesen. Gegen Ende des letzten Sommers waren sie, infolge täglicher Begegnungen, in engen Verkehr mit den Froment getreten.

»Kann man eintreten, ohne indiskret zu sein?« rief die kräftige Stimme Angelins vom Vorplatz.

Nachdem Madame Angelin, lebhaft angeregt von dem Spaziergang in der Frühlingssonne, Marianne umarmt hatte, entschuldigte sie sich ob des frühen Besuches. »Denken Sie sich, meine Liebe, daß wir erst gestern abend erfahren haben, daß Sie seit dem Tage vorher wieder hier sind. Wir haben Sie erst in acht oder zehn Tagen erwartet. Und da wir an Ihrem Hause vorbeikamen, so haben wir dem Wunsche nicht widerstehen können, uns zu überzeugen, ob Sie wirklich da sind. Sie nehmen es uns nicht übel, nicht wahr?«

Und ohne die Antwort abzuwarten, rief sie übermütig:

»Da ist er also, der kleine Herr! Ein Junge, nicht wahr? Und alles gut abgelaufen, wie ich sehe. Oh, bei Ihnen geht immer alles gut! Du lieber Gott, wie klein und herzig er ist! Sieh doch nur, Robert, wie allerliebst er trinkt. Wie ein Püppchen. Nein, wie drollig, wie drollig! Er ist zu niedlich!«

Ihr Mann kam auf ihre lebhaften Ausrufe herbei und stimmte mit ein:

»Ja, der ist wirklich sehr hübsch. Ich habe so kleine Kinder gesehen, die abscheulich waren, mager, bläulich, gerupften Hühnern ähnlich. Aber wenn sie weiß und dick sind, dann bieten sie einen hübschen Anblick.«

»Aber,« rief Mathieu lachend aus, »wenn Ihr Herz Verlangen danach hat, so können Sie in kurzer Zeit einen ganz ähnlichen haben. Sie sind beide darnach angetan, um einen prächtigen Jungen zu bekommen.«

»Nein, nein, dessen kann man nie sicher sein. Und dann wissen Sie ja, daß Claire vor dreißig Jahren keinen haben will. Wir haben also noch fünf Jahre zu warten, fünf Jahre für uns allein. Wenn Claire dreißig ist, werden wir dazu sehen.«

Madame Angelin konnte sich jedoch von dem Anblick des Kindes nicht trennen und betrachtete es mit begehrlichen Augen, von Lust nach einem neuen Spielzeug ergriffen, sicherlich aber auch von einem plötzlichen Erwachen des Muttergefühls berührt. Sie hatte kein schlechtes Herz, war im Gegenteil unter ihrer verliebten Sorglosigkeit eine seelengute Frau.

»O Robert,« sagte sie leise, »wenn wir nun doch einen hätten!«

Er protestierte scherzend.

»Ich bin dir also nicht mehr genug? Und dann bedenke einmal, daß wir während der neun Monate der Schwangerschaft und der fünfzehn des Stillens uns nicht einmal umarmen könnten. Das macht zwei Jahre ohne die geringste Zärtlichkeit. Nicht wahr, lieber Freund, ein vernünftiger Gatte, der auf die Gesundheit der Mutter und des Kindes bedacht ist, berührt seine Frau während dieser ganzen Zeit nicht?«

Mathieu lachte gleich ihm. »Das ist allerdings ein wenig übertrieben. Aber es ist etwas Wahres daran. Das beste ist tatsächlich Enthaltsamkeit.«

»Enthaltsamkeit, hörst du, Claire? Ein abscheuliches Wort! Ist es nach deinem Geschmacke? Und wenn ich meinerseits nicht könnte, wenn ich mich anderwärts entschädigte?«

Die beiden jungen Frauen waren errötet, ließen aber die gewohnten Scherze über diesen delikaten Gegenstand über sich ergehen. Konnte man ihnen denn nicht diesen großen und zarten Beweis von Liebe geben, zu warten und treu zu bleiben? Sich anderwärts entschädigen, das sei abscheulich, der bloße Gedanke flöße einem Ekel ein!

»Lassen Sie ihn doch reden!« sagte Madame Angelin schließlich. »Er liebt mich zu sehr, er weiß nicht einmal, daß es andre Frauen gibt.«

Gleichwohl mochte eine eifersüchtige Furcht in ihr erwacht sein. Und worüber sie nicht zu sprechen wagte, während sie Marianne betrachtete, das war die Frage, ob eine Schwangerschaft sie nicht zugrunde richten, ihr ihren Mann nicht entfremden würde, wenn sie etwa sehr häßlich dadurch würde. Freilich, diese fröhliche und blühende Frau mit ihrem schönen Kinde an der Brust, in diesem schneeweißen Bette, das bot ein entzückendes Bild. Aber es gab Männer, die vor derlei einen Abscheu empfanden. Und der stumme Widerstreit in ihrem Innern wurde in den Worten laut: »Ich brauchte übrigens nicht selbst zu stillen. Wir könnten eine Amme nehmen.«

»Selbstverständlich,« sagte ihr Mann. »Ich würde dich nie stillen lassen. Das wäre ein Unsinn.«

Er bereute diesen derben Ausdruck sofort und entschuldigte sich Mariannen gegenüber. Er hielt ihr vor, daß keine Frau sich heute mehr die Last auferlege, selbst zu stillen, wenn sie einigermaßen wohlhabend sei.

»Oh, ich,« sagte Marianne mit ihrem ruhigen Lächeln, »wenn ich hunderttausend Franken Rente hätte, so würde ich alle meine Kinder selber stillen, und wenn ich ein Dutzend haben sollte. Vorerst einmal glaube ich, daß ich krank würde, wenn der Kleine mich nicht von der Milch befreien würde, die mich überschwemmt: meiner Gesundheit wegen trinkt er sie von mir fort. Und dann würde ich mir einbilden, daß ich ihn nicht ganz vollendet habe, ich würde mich für seine kleinsten Schmerzen verantwortlich glauben, würde mich für eine verbrecherische Mutter halten, eine Mutter, die nicht das Leben, die Gesundheit ihres Kindes will!«

Sie senkte ihre schönen, zärtlichen Augen auf das kleine Geschöpf und betrachtete den gierig Saugenden mit unendlicher Liebe, glücklich selbst darüber, daß er ihr manchmal weh tat, entzückt, wenn er zu stark sog. Dann fuhr sie träumerisch fort:

»Mein Kind einer andern überlassen – niemals, niemals! Ich wäre zu eifersüchtig, ich will, daß es nur von mir sein Leben habe, von mir vollendet werde, so wie es aus mir hervorgegangen. Es wäre nicht mehr mein Kind, wenn eine andre es vollendete. Und es handelt sich nicht bloß um seine physische Gesundheit, es handelt sich um sein ganzes Wesen, um den Verstand und das Gemüt, die es haben wird und die es von mir haben soll, und nur von mir allein. Wenn ich es später erleben müßte, daß es dumm oder bösartig würde, so würde ich glauben, daß die andre es vergiftet hat. – Mein liebes, süßes Kind! Wenn er so stark saugt, so fühle ich, daß ich ganz in ihn übergehe, und das ist mir eine Wonne.«

Sie erhob die Augen und sah Mathieu am Fußende des Bettes stehen und sie gerührt betrachten.

»Du bist auch mit dabei,« fügte sie heiter hinzu.

»Ja!« rief Mathieu, sich gegen die Liebenden wendend, »sie hat recht. Möchten doch alle Mütter sie hören, und möchten sie es doch zur Mode in Frankreich machen, selber ihre Kinder trinken zu lassen! Das würde genügen, damit dies zum Begriff der Schönheit werde. Und ist dies nicht die Schönheit, die höchste und herrlichste Schönheit?«

Die Angelin lachten liebenswürdig, schienen aber nicht überzeugt. Und was die Niederlage vollendete, das war ein kleiner Zwischenfall, die Folge menschlicher Unvollkommenheit. Als Monsieur Gervais zu trinken aufgehört, fand Marianne, daß er sich in seine Windel vergessen hatte. Sie lachte darüber nur noch mehr und machte sich sogleich daran, die Windel zu wechseln. Sie ließ sich den Schwamm reichen und wusch und reinigte das Kind. Diese kleine mütterliche Verrichtung in der hellen Sonne, dieses nackte, rosige Körperchen waren für sie nur eine Freude mehr. Aber die, denen das Kind nicht gehörte, hatten vielleicht doch andre Augen. Die Angelin erhoben sich, um Abschied zu nehmen.

»In neun Monaten also?« fragte Mathieu neckend.

»Sagen wir achtzehn,« erwiderte Angelin, »wenn wir die Bedenkzeit hinzurechnen.«

Unter dem Fenster erhob sich in diesem Augenblicke ein Lärmen, das durchdringende Geschrei losgelassener kleiner Wilden, weil Ambroises Ball sich in den Zweigen eines Baumes verfangen hatte und nun oben hing. Blaise und Denis warfen Steine danach, und Rose hüpfte schreiend in die Höhe, als ob sie hätte hoffen können, ihre Aermchen bis da hinauf zu verlängern. Die Angelin standen erstaunt und betäubt.

»Lieber Gott!« sagte Claire, »wie wird das sein, wenn Sie einmal zwölf haben!«

»Das Haus würde uns tot scheinen, wenn sie nicht lärmten,« sagte Marianne heiter. »Auf Wiedersehen, liebe Freundin, ich besuche Sie, sobald ich ausgehen kann.«

Der März und der April waren prächtig, und der erste Ausgang Mariannens verlief sehr glücklich. Das kleine, abgelegene, unter Bäumen versteckte Haus lebte in fortwährender Freude. Jeder Sonntag besonders, wenn der Vater nicht ins Bureau ging, wurde zum Feste. An den andern Tagen fuhr er des Morgens fort, um erst gegen sieben Uhr nach einem arbeitsvollen Tage zurückzukehren. Und wenn auch diese täglichen Fahrten seine frohe Laune nicht beeinträchtigten, so begann doch allmählich die Sorge um die Zukunft ihn zu beschäftigcn. Bis jetzt hatte die Knappheit seines Haushaltes ihn nicht beunruhigt. Er besaß keinerlei Ehrgeiz oder Verlangen nach Reichtum, und er wußte, daß seine Frau gleich ihm nach keinem andern Glücke verlangte, als hier in aller Einfachheit ein Leben der Gesundheit, des Friedens und der Liebe zu leben. Aber, wenn er auch nicht von der Macht einer hohen Stellung, von den Genüssen großen Reichtums träumte, so mußte er sich doch fragen, wie er, auch noch so bescheiden, sollte leben können, wenn sich seine Familie so unaufhaltsam vermehrte. Was sollte er tun, wenn er noch Kinder bekäme, wie sollte er auch nur das Notwendigste beschaffen, so oft ein neuer Zuwachs neue Bedürfnisse schuf? Wenn man so Kinder zeugt, so muß man, in dem Maße, als die kleinen Mäuler sich öffnen und nach Nahrung schreien, neue Quellen erschließen, Lebensmittel aus dem Boden zu ziehen, wenn man sich nicht verbrecherischen Leichtsinnes schuldig machen will. Man kann als ehrlicher Mann nicht unbekümmert Junge hervorbringen wie ein Vogel, und das Nest dem Zufall, der Sorgfalt andrer überlassen. Diese Gedanken lagen ihm um so mehr auf der Seele, als die Knappheit seit der Geburt Gervais' immer drückender wurde, so daß Marianne, trotz aller Wunder an Sparsamkeit, nicht wußte, wie bis zum Ende des Monats auskommen. Man mußte die kleinsten Ausgaben erwägen, die Butter an den Brötchen der Kinder sparen, sie ihre Blusen bis zum letzten Faden tragen lassen. Dabei wurden sie alle Jahre größer und brauchten also mehr. Sie hatten die drei Knaben in die Schule von Jauville gegeben, was noch nicht viel kostete. Aber würde es nicht notwendig sein, sie nächstes Jahr ins Lyzeum zu senden, und woher wollten sie das Geld dazu nehmen? Eine schwere Frage, eine stets gegenwärtige, sich steigernde Sorge, deren Schatten über den hellen Frühling fiel, unter dessen fröhlichem Einflusse die weite Landschaft erblühte.

Das schlimmste war, daß Mathieu das Bewußtsein hatte in seiner Stellung als Zeichner in der Beauchêneschen Fabrik von jeder wesentlichen Aussicht auf Besserung seiner Lage abgeschnitten zu sein. Angenommen selbst, daß sein Gehalt dort eines Tages auf das Doppelte steigen würde, so waren es doch nicht die sieben- oder achttausend Franken jährlich, die ihm gestatten würden, seinen Traum von einer zahlreichen Familie zu verwirklichen, die frei und kräftig emporwachsen sollte, wie ein glücklicher Wald, der seine Kraft, seine Gesundheit, seine Schönheit nur der gemeinschaftlichen Mutter, der Erde, dankt. Deshalb zog ihn, seit seiner Rückkehr nach Jauville, die Erde mächtig an, er erging sich in weiten Spaziergängen durch das Land, während er gestaltlose, immer mehr sich verbreiternde Gedanken in der Seele wälzte. Er verweilte lange vor einem Kornfelde, am Rande eines dichten Gehölzes, am Ufer eines Sumpfwassers, dessen Fläche im Sonnenlichte glänzte, zwischen dem Unkraut eines steinigen Feldes. Allerlei wirre Pläne stiegen in ihm auf, unbestimmte Träume, so seltsam und weitausschauend, daß er sie noch niemand mitgeteilt hatte, nicht einmal seiner Frau. Er fühlte, daß man ihn ausgelacht hätte, denn er befand sich noch in jenem Stadium bebender Schauer, da die Erfinder den Hauch der Entdeckung über sich hinwehen fühlen, ehe sie noch imstande sind, die deutlichen Linien des Gedankens vor Augen zu sehen. Warum sollte er nicht zur Erde, zu der ewigen Allernährerin, seine Zuflucht nehmen? Warum nicht versuchen, dieses ungeheure Gebiet urbar zu machen, diese Wälder, diese Sumpfflächen, diese Steinfelder dem Todesschlaf zu entreißen, in dem man sie ruhen ließ? Da es einem jeden Manne oblag, sich seine Lebensbedingungen zu schaffen, seine Existenz zu sichern, könnte er nicht mit jedem neuen Kind ein neues Stück fruchtbares Feld produzieren, das ihm Nahrung gäbe, ohne die Allgemeinheit zu verkürzen? Das war alles, seine Phantasien nahmen noch keine schärferen Umrisse an, der Gedanke an die Verwirklichung verlor sich in dem schönsten der Träume.

Die Familie befand sich so seit mehr als einem Monat auf dem Lande, als Marianne, nun vollständig erholt, eines Abends, das Wägelchen mit Gervais vor sich herschiebend, zu der kleinen Brücke über die Yeuse kam, um Mathieu zu erwarten, der zeitig heimkehren sollte. Tatsächlich kam er vor sechs Uhr; und da der Abend sehr schön war, schlug sie ihm vor, einen kleinen Umweg über die flußabwärts gelegene Mühle der Lepailleur zu machen, um dort Eier zu kaufen.

»Gerne,« sagte Mathieu. »Du weißt, daß ich von dieser alten, romantischen Mühle entzückt bin. Was nicht hindern würde, daß ich sie abtragen ließe, um sie neu aufzubauen und mit einem modernen Werk zu versehen, wenn sie mir gehörte,«

In dem von Efeu halbbedeckten Hofe des alten, märchenhaften Gebäudes, dessen moosüberzogenes Rad unter Seerosen schlief, fanden sie das Ehepaar, der Mann rothaarig, groß und hager, die Frau ebenso rot und ebenso hager wie er, beide jung und abgehärtet. Das Kind, Antonin, saß auf der Erde und grub ein Loch mit seinen kleinen Händen.

»Eier?« sagte die Frau. »Gerne, Madame. Es werden wohl welche da sein.«

Sie beeilte sich jedoch nicht und betrachtete Gervais, der in seinem Wagen schlief. »Ah, das ist Ihr Jüngster! Er ist stark und sehr hübsch. Sie haben Ihre Zeit nicht verloren.« Lepailleur konnte ein spöttisches Lächeln nicht zurückhalten und sagte mit der Vertraulichkeit des Bauern gegen Stadtleute, von denen er weiß, daß sie nicht viel Geld haben: »Damit sind es also ihrer fünf, Herr? Ja, wir armen Leute dürfen uns so was nicht erlauben.«

»Warum nicht?« fragte Mathieu ruhig. »Haben Sie nicht Ihre Mühle, haben Sie nicht Felder, welche die Arme brauchen könnten, die hinzukommen und ihren Ertrag verdoppeln und verdreifachen würden?«

Die einfachen Worte waren wie ein Peitschenhieb, unter dem Lepailleur sich bäumte. Wieder einmal gab er dem ganzen Groll Ausdruck, der ihn erfüllte. Das wäre das Rechte, daß er von diesem alten Gerümpel von einer Mühle erwartete, daß sie ihn reich mache, die weder seinen Großvater noch seinen Vater reich gemacht habe! Und was die Felder betreffe, so habe ihm seine Frau da eine hübsche Mitgift gebracht, Felder, auf denen nichts wachsen wolle, die man noch so sehr mit seinem Schweiße begießen möge, ohne imstande zu sein, die Kosten von Aussaat und Dünger hereinzukriegen!

»Vorerst einmal,« erwiderte Mathieu, »müßten Sie Ihre Mühle in besseren Stand setzen, sie mit einem neuen Werk versehen, oder noch besser, sie in eine Dampfmühle verwandeln.«

»Die Mühle instand setzen! Sie in eine Dampfmühle verwandeln! Das wäre ja der reine Wahnsinn! Wozu denn, da ich ja schon jetzt monatelang stillstehe, seitdem fast gar kein Korn mehr gebaut wird?«

»Sodann,« fuhr Mathieu fort, »wenn Ihre Felder schlechten Ertrag liefern, so kommt das davon, daß Sie sie schlecht bebauen, nach einer veralteten Methode, ohne Sorgfalt, ohne Maschinen, ohne Kraftdünger.«

»Bleiben Sie mir vom Leibe mit den Maschinen, mit dem Schwindelzeug, das die Welt ganz zugrunde richtet! Sie haben leicht so reden, aber ich möchte sehen, wie Sie die Erde zwingen wollen, herzugeben, was sie nicht hergeben will!«

Er geriet in förmliche Wut, wurde heftig und brutal, legte der Rabenmutter Erde alles zur Last, was seine Faulheit und sein Eigensinn verschuldeten. Er war gereist, er hatte in Afrika gekämpft, man konnte ihm nicht nachsagen, daß er all sein Lebtag zu Hause gehockt habe wie ein unwissender Lümmel. Aber als er von den Soldaten heimgekehrt sei, da habe ihn sofort der Widerwille erfaßt, als er sah, daß es mit dem Ackerbau zu Ende sei, und daß er für alle seine Plage nie mehr als trockenes Brot zum Essen haben werde. Die Erde mache Bankerott wie der liebe Gott, die Bauern glauben nicht mehr an sie, sie sei vertrocknet, ausgesogen, erschöpft. Und auch auf die Sonne sei kein Verlaß mehr, im Juli schneie es, im Dezember gäbe es Gewitter, die Jahreszeiten seien in ein Durcheinander geraten, das die Ernte von aller Anfang an zugrunde richte.

»Nein, Herr, es ist nichts mehr zu machen, es ist aus. Die Erde und die Arbeit lohnen nicht mehr. Wir sind ruiniert, der Bauer, der sich zu Tode arbeitet, wird bald nicht einmal mehr das Wasser haben. Darum möchte ich mich lieber gleich in den Fluß werfen, als noch ein Kind haben; es ist unnütz, noch mehr Unglückliche in die Welt zu setzen, und so wird unser Antonin wenigstens später zu leben haben, wenn er allein ist. Und wie Sie ihn da sehen, meinen Antonin, so schwöre ich Ihnen, daß ich nicht gegen seinen Willen einen Bauer aus ihm machen werde. Wenn er Lust zum Studieren hat, wenn er nach Paris gehen will, in Gottesnamen, ich werde ihm sagen, daß er recht hat, daß es nur ein Paris gibt, wo ein kräftiger, unternehmender Bursche sein Glück machen kann. Er soll alles verkaufen, wenn er will, und dort auf dem Pflaster den Anbau versuchen. Dort wachsen die Taler, und mir tut nur eines leid, daß ich nicht selber mein Glück dort versucht habe, solange es Zeit war.«

Mathieu lachte. War es nicht seltsam, daß er, der Städter, der Gebildete, der Studierte, davon träumte, zur Erde zurückzukehren, zur gemeinsamen Mutter aller Arbeit und alles Besitzes, während dieser Bauer und Sohn eines Bauern die Erde schmähte und verwünschte und keinen höheren Wunsch hatte, als sie von seinem Sohne verleugnet zu sehen? Nie war ihm ein auffälligerer Gegensatz zum Bewußtsein gekommen, es war die unheilvolle Auswanderung des Landes gegen die Stadt, die sich von Jahr zu Jahr steigerte und die Nation entsaftete und zerstörte.

»Sie haben unrecht,« sagte er in heiterem Tone, um dem Gespräch die Schärfe zu nehmen. »Verleugnen Sie die Erde nicht, sie ist eine alte Geliebte, die sich rächen wird. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, so würde ich ihr durch verdoppelte Sorgfalt alles abgewinnen, was ich begehre. Sie bleibt heute wie am ersten Tage die große, fruchtbare Gattin, und sie gebärt immer noch hundertfach, wenn man sie liebend und kraftvoll umfaßt.«

Aber Lepailleur wollte nichts hören und rief mit erhobenen Fäusten: »Nein, nein, ich habe genug von ihr, von dieser Hexe!«

»Und wissen Sie,« fuhr Mathieu fort, »was mich wundert, das ist, daß sich noch kein kluger und unternehmender Kopf gefunden hat, der diesen riesigen, brachliegenden Besitz nutzbar macht, dieses Chantebled, aus welchem der alte Seguin einmal eine königliche Domäne machen wollte. Es gibt da weite unbebaute Flächen, Wälder, von denen man einen Teil schlagen könnte, dürren Boden, den man leicht urbar machen könnte. Welch eine schöne Aufgabe, welch ein Schöpfungswerk für einen Menschen!«

Lepailleur blieb einen Augenblick starr. Dann brach er los: »Aber, mein werter Herr, Sie sind nicht bei Sinnen, verzeihen Sie, daß ich Ihnen das sagen muß. Chantebled kultivieren, diese Steinfelder urbar machen, sich leibhaftig in diese Sümpfe versenken! Sie könnten Millionen da hineinstecken und würden keinen Scheffel Hafer einheimsen. Es ist ein verwünschter Fleck Erde, den der Vater meines Großvaters so gesehen hat, wie er ist, und den der Sohn meines Enkels noch immer in demselben Zustande sehen wird. Ah, ich bin nicht neugierig, aber den Dummkopf möchte ich kennen, der eine solche Verrücktheit unternehmen würde! Der würde sich in eine schöne Klemme bringen!«

»Lieber Gott, wer weiß?« erwiderte Mathieu gelassen. »Man muß nur lieben, um Wunder zu wirken.«

Die Lepailleur, die ein Dutzend Eier herbeigeholt hatte, stand bewundernd vor ihrem Mann, der dem Städter so gründlich heimleuchtete. Beide waren vollkommen einig in ihrer geizigen Wut darüber, daß sie nicht die Taler ohne große Mühe scheffelweise einheimsten, ebenso wie in ihrem Ehrgeiz, aus ihrem Sohne einen Herrn zu machen, da nur ein Herr sich bereichern könne. Als Marianne, nachdem sie die Eier unter ein Kissen in Gervais' Wagen versorgt hatte, Abschied nahm, deutete die Lepailleur wohlgefällig auf ihren kleinen Antonin, der, nachdem er sein Loch fertig gegraben, sich nun damit unterhielt, hineinzuspucken. »Oh, er ist sehr aufgeweckt, er kann schon lesen, und wir werden ihn bald in die Schule schicken. Wenn er seinem Vater nachgerät, so bin ich sicher, daß er kein Dummkopf wird.«

Etwa zehn Tage später, an einem Sonntag, als Mathieu mit Marianne und den Kindern sich auf einem Spaziergange befand, kam ihm plötzlich die letzte Offenbarung, die Erleuchtung, welche die Entscheidung über ihr ganzes Leben herbeiführen sollte. Sie hatten vor, den ganzen Nachmittag draußen zu bleiben, und wollten das Vesperbrot auf freiem Felde, im hohen Grase der Wiesen nehmen. Und nachdem sie die Waldpfade durchstreift, die Heiden durchquert hatten, waren sie zum Waldesrande zurückgekehrt und lagerten sich an dem Stamm einer Eiche. Von da sahen sie die weite Landschaft sich erstrecken, von dem Pavillon, den sie bewohnten, dem ehemaligen Jagdrendezvous, bis zu dem fernen Dorfe Janville; zu ihrer Rechten befand sich das große Sumpfplateau, von welchem sich dürre, unfruchtbare Hänge herabsenkten, deren Wellen sich dann zu ihrer Linken verliefen; während hinter ihnen die Masse der Wälder lag, die durchschnitten waren von Lichtungen, von Wiesenflächen, über die noch nie eine Sense hingemäht hatte. Und keine Seele ringsherum, nichts als diese im Urzustande gelassene Natur, die unter der hellen Sonne eines prächtigen Apriltages in erhabener Ruhe dalag. Alle die angesammelte Erdsäfte schienen den Boden zu schwellen, vereinigt in einem unterirdischen, unbekannten See, dessen lebenssatte Flut man in den mächtigen Bäumen emporsteigen fühlte, in dem üppigen Pflanzenwuchse, dem wuchernden Reichtum von Nesseln und Unkraut, der den Boden bedeckte. Ein Duft unbefriedigter Liebe, ein starker und herber Duft, stieg aus der Vegetation empor.

»Lauft nicht zu weit weg!« rief Marianne den Kindern zu. »Wir rasten unter dieser Eiche, und wir werden sogleich vespern.«

Blaise und Denis waren schon davongerannt, von Ambroise gefolgt, mit dem sie ein Wettlaufen veranstalteten, während Rose ihnen schreiend und erbost folgte und sie zurückrief, damit sie Blumenpflücken spielen sollten. Sie waren trunken von der freien Luft, sie waren von Blumen und Gräsern bis in die Haare bedeckt, wie in den Büschen losgelassene junge Faune. Sie kehrten zurück und banden Sträuße; dann galoppierten sie wieder von dannen, die großen Brüder mit der kleinen Schwester auf dem Rücken, in toller Jagd.

Während ihres ganzen Spazierganges, der schon eine Weile gedauert hatte, war Mathieu zerstreut geblieben und hatte träumerisch um sich geblickt. Manchmal hörte er gar nicht, wenn Marianne ihm etwas sagte, in Gedanken versunken vor einem mit Buschwerk überwucherten Stück Wald, einem unbebauten Felde, einer Quelle, die über den Boden rieselte und sich in einem Sumpf verlor. Und dennoch fühlte sie, daß sie in seinem Herzen nichts Gleichgültiges oder Trauriges sei; denn sobald er zu ihr zurücklehrte, lachte er wieder mit seinem frohen und liebevollen Lachen. Sie selbst sandte ihn häufig so hinaus ins Freie, auch allein; und wenn sie erraten hatte, daß sich eine bedeutungsvolle Wendung bei ihm vorbereitete, so sagte sie doch kein Wort und wartete vertrauend, daß er selbst spreche.

Als er nun wieder in seine Träumerei verfiel, den Blick in die Ferne verloren, das weite Gebiet dieser Ländereien umfassend, rief sie plötzlich: »Oh, sieh nur, sieh nur!«

Sie hatte den Wagen mit Gervais unter die große Eiche gerollt, wo seine Räder in den Gräsern des Bodens verschwanden; und während sie die Milch für die Vesper in einem kleinen Silberbecher bereitete, bemerkte sie, daß der Kleine den Kopf erhoben hatte und ihrer Hand folgte, in welcher das Silber in der Sonne funkelte. Sie machte die Probe noch einmal, und abermals folgten die Augen des Kindes dem hellen Stern, der zum ersten Male in der wirren Dämmerung seiner Seele aufleuchtete.

»Oh, man soll mir nicht sagen, daß ich mich täusche, daß ich mir etwas einbilde. Er sieht schon, es ist gar kein Zweifel! Mein Engel, mein süßer Schatz!«

Sie warf sich über das Kind und küßte es leidenschaftlich in der Freude über diesen ersten Blick.

»Und da, da!« rief Mathieu, der mit dem gleichen Entzücken sich über den Wagen gebeugt hatte, »jetzt lächelt er dich sogar an. Wahrhaftig! Sobald diese kleinen Dinger zu sehen anfangen, fangen sie auch zu lächeln an.«

Auch sie lachte freudig auf: »Du hast recht, er lacht, er lacht! Ach, wie süß er ist, und wie glücklich bin ich!«

Und Vater und Mutter lachten gemeinsam und glückselig über dieses kaum sichtbare, flüchtige Kinderlacheln, das über sein Gesicht geglitten war wie ein Kräuseln über den klaren Spiegel einer Quelle.

Dann rief Marianne fröhlich die andern, die rings um sie im jungen Grase tollten.

»Kommt, Rose, Ambroise, Blaise, Denis, kommt! Es ist Zeit zum Essen.«

Sie liefen alle herbei, und die Tafel wurde auf dem Grase gedeckt. Mathieu hatte den Korb abgeknüpft, der vorn an dem kleinen Wagen befestigt war, und die Mutter entnahm ihm die Butterbrote und begann sie zu verteilen. Ein tiefes Schweigen folgte, währenddessen die kleinen Mäuler nur damit beschäftigt waren, zu kauen und mit einem gesunden Appetit zu essen, den zu sehen ein Vergnügen war. Aber laute Schreie ertönten, Monsieur Gervais wurde ungnädig, weil er nicht als erster bedient worden war.

»Ah ja, freilich, ich vergesse dich,« sagte Marianne heiter. »Gleich sollst du dein Teil bekommen. Mach dein Schnäbelchen auf mein Engel.«

Mit einfacher und ruhiger Bewegung öffnete sie ihr Kleid und enthüllte ihre weiße Brust, deren rosige Spitze von Milch geschwellt war, wie eine Knospe, aus der die Lebensblume sich entfalten sollte. Sie tat dies unter der Sonne, die sie mit Goldglanz übergoß, angesichts der weiten Landschaft, die sie sah, ohne jede Scham oder auch nur Unruhe, nackt zu sein, denn die Erde war nackt, die Bäume und die Pflanzen waren nackt und quollen über von Lebenssaft. Sie setzte sich ins hohe Gras, sie verschwand beinahe in dieser Fülle, in diesem überreichen Wachstum der Aprilkeime; während das Kind an ihrer offenen Brust in langen Zügen die warme Milch trank, ebenso wie die unzähligen Pflanzen ringsherum den Saft der Erde tranken.

»Was für ein Hunger!« rief sie. »Willst du wohl nicht so stark beißen, du kleiner Vielfraß!«

Mathieu war stehen geblieben, entzückt über das erste Lächeln des Kindes, glücklich über diesen großen Hunger, über diese Milch, die durch die Welt floß, über die Butterbrote, die die andern verschlangen. Wieder überkam ihn sein Schöpfertraum, und in seinem Hochgefühle entschlüpfte ihm die erste Andeutung über die Idee, die ihn erfüllte und über die er bisher noch zu niemand gesprochen hatte.

»Nun, es ist höchste Zeit, daß ich mich ans Werk mache, daß ich ein Königreich gründe, wenn ich will, daß diese Kinder genug zu essen haben, um zu wachsen. Und man muß auch an die denken, die morgen kommen, die den Tisch verlängern werden, von Jahr zu Jahr ... Willst du hören, soll ich es dir sagen?«

Sie hatte die Augen erhoben und sah ihn lächelnd und gespannt an. »Ja, sage mir dein Geheimnis, wenn die Zeit da ist. Oh, ich fühlte wohl, daß du irgendeine große Hoffnung mit dir herumtrugst. Aber ich wollte dich nicht fragen, ich wartete.«

Er antwortete nicht direkt, da eine Erinnerung ihn mit Empörung erfüllte. »Dieser Lepailleur, weißt du, ist ein Taugenichts und ein Dummkopf, trotz seines klugen Gehabens. Gibt es eine dümmere Blasphemie, als sich einzubilden, daß die Erde ihre Fruchtbarkeit verloren habe, daß sie im Begriffe sei, Bankerott zu machen, sie, die ewige Mutter, die ewige Lebenspenderin! Sie ist eine Rabenmutter nur für die schlechten Söhne, die Faulen, die Eigensinnigen, die Beschränkten, die sie nicht zu lieben und nicht zu behandeln verstehen. Aber es komme ein verständiger Sohn, der sie mit einem Kultus umgibt, der sich ihr ganz widmet, der sie mit allen Mitteln neuer Wissenschaft und alter Erfahrung bebaut, und man wird sehen, wie sie erbebt, wie sie Kinder hervorbringt, sich mit unermeßlicher Ernte bedeckt. – Es heißt in dieser Gegend, daß die Besitzung Chantebled niemals etwas andres hervorgebracht habe und hervorbringen werde als Disteln. Nun denn! Der Mann wird kommen, der sie verwandeln wird, der aus ihr eine neue Erde voll Segen und Ueberfluß machen wird!«

Er wendete sich und bezeichnete mit ausgestrecktem Arm der Reihe nach die Punkte, von denen er sprach.

»Dort hinten liegen mehr als zweihundert Hektar Jungholz, die sich bis zu den Bauernhöfen von Mareuil und Lillebonne erstrecken. Sie sind von Lichtungen vorzüglichen Bodens unterbrochen, die durch breite Durchlässe miteinander verbunden sind; aus diesen könnte man mit Leichtigkeit ausgezeichneten Weidegrund machen, denn es gibt da Quellen in Ueberfluß. Diese Quellen treten auf dem Plateau da rechts in solcher Menge auf, daß sie es zu einem Sumpfland verwandelt haben, in welchem sich zahlreiche stagnierende Wässer befinden, die mit Schilf und Binsen bewachsen sind. Wenn nun ein unternehmender Kopf käme, ein Kultivator, ein Pionier, der dieses Terrain entwässerte, ihm seinen Ueberfluß an Feuchtigkeit durch leicht anzulegende Kanäle entzöge, so wäre mit einem Schlage ein gewaltiges Gebiet der Kultur gewonnen, wo die Frucht mit außerordentlicher Ueppigkeit aufschießen müßte. Das ist aber noch nicht alles. Da vor uns haben wir noch die sanften Hänge von Janville bis Vieux-Bourg, abermals mehr als zweihundert Hektar, die infolge der Trockenheit und Steinigkeit des Bodens brach liegen. Man hätte nun einfach nichts andres zu tun, als die Quellen da oben, die ohne Abfluß Sümpfe bilden, hierher zu leiten, sie über diese unfruchtbaren Hänge rieseln zu lassen, die dann den reichsten Ertrag geben müßten. Ich habe mir das alles angesehen, habe alles studiert. Ich sehe da vor mir, gering gesagt, fünfhundert Hektar Land, aus denen ein unternehmender Bebauer den fruchtbarsten Besitz machen könnte. Es ist ein ganzes Königreich an Erntefeldern, eine ganze neue Welt, die durch Arbeit, mit Hilfe der wohltätigen Wasser und unsrer Allmutter Sonne aus dem Nichts zu schaffen wäre.«

Marianne betrachtete ihn bewundernd, während er vor den Bildern erbebte, die seine Phantasie ihm vorzauberte. Aber zugleich erschrak sie vor der Größe dieser fernen Hoffnung, und sie konnte den Einwurf des Zweifels und der Klugheit nicht zurückhalten: »Nein, nein, es ist zu viel, du willst das Unmögliche. Wie kannst du glauben, daß wir jemals das alles besitzen werden, daß dieses ganze Land einmal unsern Reichtum bilden würde! Und woher das Kapital, woher die Arbeitskraft für eine solche Eroberung nehmen?«

Er blieb einen Augenblick stumm, zur Wirklichkeit zurückgeschleudert, erschüttert von dem Stoße. Dann lachte er in seiner leisen und klugen Weise.

»Du hast recht, ich träume, ich rede Unsinn. Mein Ehrgeiz reicht vorläufig nicht so weit, König von Chantebled werden zu wollen. Aber was ich dir gesagt habe, ist darum nicht minder wahr, und was schadet es, sich mit großen Plänen zu tragen, um sich Mut und Zuversicht einzuflößen? – Vorläufig bin ich entschlossen, einen Versuch zu machen – oh, nur einen ganz bescheidenen Versuch mit einigen Hektaren, welche mir Séguin samt dem Pavillon, den wir bewohnen, wohl zu billigem Preise überlassen wird. Ich weiß, daß der Besitz, der durch die Verpachtung der Jagd immobilisiert ist, ihm zur Last ist. Und später werden wir ja sehen, ob die Erde uns lieben und uns entgegenkommen will, wie wir ihr entgegenkommen. – Nur zu, geliebtes Weib, gib diesem kleinen Vielfraß zu trinken, und ihr, kleines Volk, eßt, trinkt, gedeiht, die Erde gehört denen, die gesund und zahlreich sind!«

Blaise und Denis beantworteten dies damit, daß sie noch Butterbrote nahmen, während Rose den Becher mit Wein gemischten Wassers austrank, den Ambroise ihr gereicht hatte. Aber vor allem war Marianne das Symbol blühender Fruchtbarkeit, die Quelle der Kraft und des Gedeihens, mit ihrer nährenden Brust, an der Gervais nach Herzenslust trank. Er sog so stark, daß er ein glucksendes Geräusch hervorbrachte, wie das einer entspringenden Quelle – der feinen Milchquelle, die anschwellen und zum Strome werden sollte. Rings um sich fühlte die Mutter diese Quelle überall emporsprudeln und sich ergießen. Nicht sie allein nährte, die Frühlingssäfte schwellten die Ackerfurchen, machten die Bäume erbeben, drängten die Gräser empor, in deren Mitte sie saß. Unter sich, in dieser ewig zeugenden Erde, fühlte sie diese Säfteflut, fühlte sie auf sich übergehen, sie erfüllen, ihr die Milch wiedergeben, die ihrer Brust entfloß. Es war die Milchflut, die über die ganze Welt sich ergoß, die ewige Lebensflut, die ewig neue Saat emporsprießen läßt. Und unter diesem hellen Frühlingstage war die ganze leuchtende, duftende, singende Landschaft darin gebadet, triumphierend über dieses schöne Bild der Mutter, die, die Brust der Sonne, der weiten Landschaft enthüllt, ihr Kind trinken ließ.


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