Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

1. Schnurren

Vornean gleich laßt mir die,
wenn sie auch den Schalk nicht hehlen!
Gern verkehrt die Poesie
mit den unvergrämten Seelen.

Beim Einsiedler.

(1924.)

Franz Xaver Kandidus war ein Dichter. Wenigstens hielt er sich dafür. Er machte Verse; nur aus seinem Leben hatte er sich keinen Vers gemacht. Er schwankte hin und her, aber es war ihm noch kein Schwank gelungen. So war er auch eines Tages während seines gesegneten dreißigsten Lebensjahres in ein sehr gediegenes altes Bürgerhaus der schönen Havelstadt geschwankt, das als Erbbesitz der soliden Firma »Gebrüder Engerling« bekannt und geachtet war. »Gebrüder« gab es freilich schon lange nicht mehr, und das ehrbare Geschäft war mit Vorteil verkauft. »Der alte Engerling«, der noch gar nicht so alt, aber immerhin der Älteste seines Namens war, ruhte sich nun auf den Lorbeern seines Lebens, die zum Glück keine märkischen Kienäpfel waren, in der stillen »Mammonstraße« behaglich schmauchend aus. Mit seiner von der Wiege an als Muster würdiger Haltung angesehenen Gattin, einer geborenen Mudicke aus Moabit, und zwei Töchtern von achtzehn und acht Jahren, von denen weiter zu reden sein wird. Den Zwischenraum des Jahrzehntes zwischen achtzehn und acht füllten die traurigen Verluste zweier kleinen Söhne aus, deren mit sanfter Wehmut gedacht ward, ohne daß das bürgerliche Wohlbehagen in seinem festen Bestande darunter gelitten hätte. Diese sanfte Wehmut war wie ein Fleckchen Poesie in der breiten gemütlichen Prosa des Lebens und stand etwa mit dem Spinnrad im Winkel des Biedermeierzimmers und dem Pianino im »Salon«, welche beide nie ein Finger berührte, auf gleicher Stufe. Für solche Art Poesie im Nebenamte hatte Franz Xaver, der schwankende Forstassessor, der aus einer poetischen Gegend des deutschen Westens kam, ein gewisses gefühlvolles Verständnis. »Man muß seine höheren Gaben nicht mißbrauchen«, meinte er, »man muß sich zurückzuhalten wissen«; und so spielte er eine Zeitlang im Salon der Mutter Engerling mit der würdigen Haltung eine leidlich bescheidene und gütig geschätzte Rolle. Als Leontine, die älteste, aus der feinen Baden-Badener Pension heimkam – etwas plötzlich befördert, wie es einigen schien, zu denen unser unschuldsvoller Poet nicht gehörte –, da spann sich unter der Hand der Jungen und unter den Augen der Alten ein Verhältnis zwischen den dreißig und den achtzehn Jahren an, das bereits anfing, den Anschein eines »zarten« zu gewinnen. Aber Franz Xaver war schwankend, und Leontine bewegte sich auf leichten Füßen. Dazu erschien – doch damit muß ein neuer Absatz begonnen werden; denn nun fängt, sozusagen, die Geschichte an! – –

Auf Franz Xavers Bude, die er mit kindlichem Lächeln sein »Dichterstübchen« nannte, erschien nämlich sein alter Schulkamerad und Jugendfreund, auch aus dem Westen, ein fideler Rheinländer, aber weniger poetisch als praktisch begabt: Bruno Bolke. Den führte der harmlose Lyriker in Grün bei Engerlings ein, und in erstaunlich kurzer Frist wechselten Leontinens leichte Rehfüßlein von einem Jagen ins andere: Bruno Bolke, der Industrielle, schien ihr eine vertrauenswürdigere »Existenz«. Die alten Engerlinge waren geneigt, dem zuzustimmen und ihrem flinken Töchterchen einmal Recht zu geben, was nicht oft der Fall war. Denn wenn ihre – der Alten – bedächtige Ehrbarkeit eben gemeint hatte, Leontinens jugendliche Seelenregungen erfaßt zu haben, waren diese schon wieder in eine neue Schwingung geraten, die ein neues Erfassen herausforderte. Diesmal hatte sie sich zu Bruno Bolke geschwungen, und der trefflich ausgerüstete Praktiker hielt heiter stand, während der schwankende Franz Xaver in poetisch-elegischer Haltung »sein Lebensglück zertrümmert« sah. Die Trümmer waren mäßig, es ließ sich leicht darüber weg springen, und Franz Xaver sprang. Aber er nahm »den Stachel des verkannten Genies«, wie er sich mit kühnem Bilde ausdrückte, im empfindsamen Busen mit in den Wald.

In den Wald? Nun ja – als Forstassessor! Wohin sollte er sonst –? Ein Original war unser guter Franz Xaver nun einmal nicht. Seine Größe bestand in der kleinen Nachahmung. Davon zeugte jeder Vers, der seinem Dichtergemüt entquoll. Und jedenfalls hatte er kurz vorher Meister Raabes »alten Proteus« gelesen: das war so recht etwas nach seinem phantastisch hüpfenden Herzen. Als verschmähter Liebhaber also zog er sich in den Wald unter die strengen Kiefern am ernsten Havelsee zurück und ward ein »Einsiedel«, wie Constantius. Das heißt: er bezog eine nette leerstehende Forsthütte, die ihm, angenehm ausgestattet, alle mögliche und nützliche Bequemlichkeit zum gemütlichen Nachtrauern seines Lebensglückes darbot und nannte sich dort stilvoll: »Xaverius«. Bitte sehr: er nahm es ernst damit; daher ward er bald bei allen munteren Ausflüglern der kleinen und der großen Residenz zur komischen Person. Eine Zeitlang guckte alles, was in der nahen vielbesuchten Waldschänke als Familie Kaffee kochte oder unter Brüdern sein schäumendes Weißbier und seine biedere Werdersche trank, dem »Einsiedler Xaverius« in seine amüsante Klause. Dieser Ansturm der Welt würde seine nachmittägliche Andacht auf dem molligen Divan im Weihrauchduft der Zigarette wohl grausam genug gestört haben, wenn er nicht vielmehr dazu beigetragen hätte, seinen Seelenschmerz um das zertrümmerte Lebensglück in eine Reihe ganz gemeiner Ärgernisse aufzulösen. Als Einsiedel stand er natürlich darüber, und als Poet sammelte er allerlei lebende Bilder, die nur leider wieder einmal keine Verse werden wollten. Ehe er fruchtbar geworden war, verlor sich der Reiz der Neuheit, und die lästigen, lustigen Besucher blieben aus. Xaverius begann sich verlassen zu fühlen, was für einen Einsiedler ein besonders peinliches Gefühl sein muß, und dachte schon an einen Umzug in das vertrautere Dichterstübchen. Da geschah etwas, das gab der Sache eine andere Wendung. Röschen kam! –

Wer kam? Röschen? Röschen Engerling. Die Jüngste. Acht Jahre alt. Das Kind. Das Kind beim Einsiedler. Ja, hätte er doch nur daraus ein Gedicht machen können, der gute Franz Xaver! Aber das Kind kam zu ihm schon selber wie ein Gedicht. Er hatte nur zu sagen und zu fragen: »Wo kommst du her, Röschen? Was ist dir, Röschen? Was willst du vom Einsiedel Xaverius, Röschen?« Und diese Fragen waren wohl begründet. Denn wie kam das Kind? Wie ein Gedicht in seiner anmutigen Zierlichkeit, mit den wirren Krauslöckchen um die Stirn und den strahlenden Braunaugen. Aber, ein Gedicht in regellosen Rhythmen, Daktylen, Anapästen, Amphibrachen, Amphimazern, alles durcheinander! Nein, das sind Redensarten, die Xaverius der Poet machen durfte, nicht wir, die wir das liebe Röschen eben erst an warmer Hand in das Gesichtsfeld der Leser rücken. Bruno Bolke würde einfach gesagt haben: »Röschen war aus dem Häuschen«, und das war's auch im vollen Sinne des Wortes. Und das war auch das erste Wort, wie es Röschen in die Einsiedelklause hineintrillerte: »Ich bin durchgebrannt, Onkel Kandis!« lachte sie; aber dann traten ihr gleich Tränlein in die hübschen klaren Augen, und sie schluchzte: »Es war zu scheußlich!« – »zu Hause« setzte sie ganz leise hinzu und dann sich selber neben Xaverius auf seine mollige Marterbank. »Ja, was ist denn nur so scheußlich zu Hause – wenn ich auch gern glaube, daß es scheußlich ist, denn mir war's auch scheußlich genug!« – »Ja, Onkel Kandis, das glaub ich dir!« Damit blickte das Kind ihm ganz ernst und sinnig in's verdüsterte Gesicht. »Aber, weißt du: – Onkel Bolke ist's nicht besser gegangen, kein bißchen besser, nur – der ist anders. – Der schimpft.« Und sie lachte wieder hell auf, eine ganz kleine Weile, daß es aus der Klause in den Wald hinausscholl und der Specht zu klopfen einhielt. Eine kurze Stille war entstanden. Dann warf Xaverius eine Verlegenheit ab, die ihn gepackt hatte, er wußte nicht recht woher und warum, aber er spürte sie – und Röschen spürte sie auch. Ihr Plaudermäulchen wartete ein Weilchen, bis es eifrig herausstieß: »Onkel Kandis, – die Leontine ist nicht nett – wirklich –: ich war ihr sehr gut, solange sie in der Pension war, aber nun – so im Hause, – Onkel Kandis: es war fein ohne die Leontine, sag ich dir, – weißt du, – es war stiller – oh – wir hatten Frieden,« sagte das Kind mit einem tiefen Seufzer und einem wunderbaren, weitoffenen Blick in den grünen Wald hinaus. »Frieden« flüsterte es noch einmal, wie einen leisen Hauch; dann lächelte es wieder über das ganze liebliche Gesichtchen wie ein reiner Sonnenschein über dem Havelsee. »Wie sie gar nicht aufhörten zu zanken – oh, der Lärm! Onkel Kandis, den Lärm kannst du dir gar nicht vorstellen! – oder ja, du kannst ihn dir vorstellen, weil du ja doch ein Dichter bist, nicht wahr? Na also: der Lärm – die Leontine – der Onkel Bolke – und – und die ganze Pastete – hu! – das hab ich nicht ausgehalten und bin ihnen weggelaufen – her in den Wald!« Und nun lachte und prustete das kleine Ding vor Vergnügen, bis es Xaverius zuviel wurde: »Warum aber gerade in den Wald?!« frug er recht unpoetisch, etwas dümmlich, als wäre der Wald ein ganz fernliegendes Lokal für ein flüchtendes Menschenkind. »Warum nicht in den Wald?« frug das Kind, fast vorwurfsvoll: »Du bist doch auch in den Wald gerannt, Onkel Kandis, vonwegen der Leontine –« Da errötete es plötzlich, das unschuldige Röschen, und das Zünglein stand gleich still.

»Herzenskind« – der strenge Einsiedler ward mit einemmal warm und menschlich –: »dann bist du mir am Ende gar nachgerannt in den Wald? Wie? Bist du mir nachgerannt, mein liebes Röschen?« – Sie schwieg und besann sich. War sie ihm nachgerannt? Sie war nur gerannt. So viel ist sicher, Xaverius erwartete mehr von ihr. »Bist du mir nachgerannt« – darauf bestand er! – »weil du fühltest, daß – nun ja, du weißt schon, so jung wie du bist, du bist ein kluges Kind, Röschen, du weißt, warum ich weggerannt bin, in den Wald – da hast du dir gewiß gedacht: der Onkel Kandis, wie du so süß dich ausdrückst, der weiß Bescheid, der hat's selber erlebt und erlitten, der wird mir raten, mich trösten, mir Mut machen können, nicht wahr? Das hast du dir gedacht und bist deinem guten Onkel Kandis nachgerannt in seine Waldklause, mein liebes, kluges Röschen!« – Das liebe kluge Röschen sah ihn etwas von der Seite an, zweifelnd, etwas schelmisch – und schüttelte leise den Kopf – es war, als ob die losen Krauslöckchen dazu lächeln wollten. »Aber, Röschen, ich bin doch der Einsiedler im Wald, und zu mir kommen die Leute von weit her – ich verdiene doch wohl dein kleines Vertrauen, Röschen. Bist du nicht in den Wald gekommen, weil du zu mir so viel Vertrauen gehabt hast, he? sag doch, sprich doch, –« Jetzt erwartete er von dem Kinde neben ihm ganz bestimmt ein großes Wort. Es sagte aber nur einfach: »Du hast mir leid getan, Onkel Kandis.« Nun errötete der fromme Mann, – halb Ärger, halb Scham, und er rückte ein wenig weg von dem Kinde auf seiner Marterbank: »Leid getan? Ich dir leid getan?« Unfaßlich! Er – leid getan einem Kinde, einem Dummerchen! Er hätte beinahe Mitleid mit dem ausgerissenen Haustöchterchen gehabt, beinahe! Und nun – nun hatte das Wurm richtig Mitleid mit ihm, dem ausgerissenen Liebhaber! Das war doch eigentlich – das war doch – das war peinlich. Ja, das Röschen da neben ihm auf dem Diwan des Eremiten, das war ihm peinlich. Warum ging es denn gar nicht weg? Was wollte es noch bei ihm? Er wollte allein sein, nichts mehr vom Hause Engerling sehen und wissen: Allein! Einsiedel! –

»Onkel Bolke!« rief das Kind, sprang auf, lief an die Tür und flog einem untersetzten Herrn im besten Mannesalter und patentem grauen Sommeranzug um den Hals. Der hob es lustig in die Höhe und küßte es unverblümt auf den kleinen Rosenmund. Xaverius, der Einsiedler, saß noch in seinem weichen Kissen und starrte die liebliche Gruppe auf seiner Klausenschwelle recht erstaunt an. »Ja, da bin ich!« rief Bruno Bolke: »Und da bist du!« Noch ein Küßchen. »Teufel auch – Gott sei Dank, daß du da bist! Was fällt dir ein, du Lümpche, du Lüderche, du Leichtfüßche! Uns wegzulaufen, als wenn du gewußt hättest, was das Klügste in dem kritischen Moment war! Ja, Xaverius, Waldbruder, Jammermann, höre, staune und tröste dich! Es war wieder mal ein kritischer Moment in der Mammonstraße. Du bist hinausgerannt, und ich bin dir nachgerannt, und das Mädel da ist mitgerannt, obwohl es noch nicht im verlobungsfähigen Mannesalter sich befindet –« hier hemmte Röschen die stürmische Rede durch einen ersten Einwurf: »Sie sind wohl recht böse auf mich, die zu Hause, Onkel Bolke?« »Die? – Die haben noch gar nichts gemerkt, Kind. Die sind noch viel zu sehr mit sich beschäftigt, und werden es nach meinem Verschwinden noch mehr sein. Du hast den richtigen Moment erwischt, um zu entwischen, du hochintelligentes Närrche, du! Nach dir die Sündflut. Na, wir sind hier alle drei sicher in deiner Arche Noä, alter Eremite!«

Wunderbar, wie ruhig, wie gesammelt, wie verständnisvoll der alte Eremite unter diesem etwas unklaren Erguß seines alten Freundes aus der Welt geworden war. Er erhob sich gemächlich aus seinem Kissen und warf ein kühles Wort in die aufgeregten Wogen: »Du hast dich auch entlobt, lieber Bruno? Ich gratuliere!« – »Ich akzeptiere!« erwiderte lachend Leontinens Bräutigam von gestern. Aber wie das Röschen hell ausrief: »Das ist mal fein!« da überkam sie alle ein plötzliches Verstummen. Der Geist der Mammonstraße schritt durch die Waldklause. Sie hatten alle etwas erlebt, und das Erlebnis war nicht nur humoristisch zu fassen, es hatte einen bitteren Beigeschmack. Und auch das lustige Kind spürte ihn mit einemmal auf der Zunge und schwieg. Die andern aber sahen auf das Kind, sahen besorgt auf das Kind, es tat ihnen leid und sie schwiegen. Es war nicht so einfach, eine Leontine zur Braut zu haben, zweifach gehabt zu haben – aber war es am Ende nicht ein noch ernsteres Schicksal, wenn man eine Leontine zur Schwester hatte – und war ein Kind und ein Röschen?! – –

Bruno Bolke rückte sich zuerst wieder zusammen zum munter überlegenen Herrn der Sachlage; aus seinen kleinen scharfen Äuglein listig schmunzelnd sprach er das erlösende Wort: »Na, Kinder, dann wollen wir mal hübsch ruhig und sinnig nach Hause gehen. Hier haben wir doch nichts weiter zu suchen: das Kind haben wir gefunden, und die Einsiedelei hat fürderhin keinen Sinn. Xaverche, du bist kein Original mehr; ich bin der augenblickliche Hauptnarr, aber ich mache mir nichts daraus. Man muß seinen Verstand immer noch über seinem Zylinder tragen, auch wenn man ihn als Hochzeitbitter aufgesetzt hat. Immer oben auf! Und nun vorwärts, Röschen! Du gehst als Ehrenjungfrau dem Festzug voran. Wir haben einen Poeten unter uns; da muß man der Sache schon einen Schuß von Erhabenheit geben.« Röschen lachte, und Franz Xaver ärgerte sich, aber der Zug setzte sich wirklich in Bewegung, durch die goldig erglühten Kiefern der Stadt zu, während die frühe Abenddämmerung des Herbsttages auf die stillen Havelufer herabsank.

Röschen ging nicht voran, sondern gab lieber dem Onkel Bolke ihr Händchen, und der Poet schlich etwas benaut hinter drein. Man hatte über sein Schicksal entschieden: er war emeritierter Eremit geworden. Und Röschen frug den Onkel an ihrer Seite: »Bist du mir nachgerannt?« gerade wie Xaverius sie gefragt hatte, aber in einem andern Tone, herzlich und heiter. »Ei gewiß, Kindche, ich war ja der einzige, der in der Aufregung um meine Absetzung vom Vergnügungsprogramm des Lebens den Kopf oben behielt und gleich bemerkte, daß kein Röschen mehr in dem verwüsteten Familiengarten blühte. Ich wollte dir – dir Röschen – doch noch gern Ade sagen, als ich mich selber aus dem reizenden Gartenfest hinausbeförderte – warum? – je nun – weil der »Dreizehnte« als ungebetener Gast über den Zaun gesprungen war – still davon! Ich hatte es eilig aus der Comédie humaine zur guten Mutter Natur. Da fiel mir mein Vordermann ein, der liebe Onkel Kandis, das Zuckerpüppchen. Ja, ja Xaverche, du hattest dein Schicksal flott unter den Arm genommen und warst mit ihm schnurstracks in den wilden Wald gewandelt – imposant, mein alter Kerl! Da ging mir ein Licht auf, obwohl ich sonst helle genug bin: Donnerwetter! – Verzeih, Röschen! Aber es lag wie Gewitter in der Luft! – Donnerwetter, sagt' ich mir: zu wem sollte das Röschen wohl laufen bei der Katastrophe als zu ihrem süßen Onkel Kandis, der schon draußen war – aus der Katastrophe, mein' ich. Und nun stand da an der nächsten Ecke noch gar eine providentielle Droschke; die frug ich wie eine alte Kartenschlägerin: »Beflüglerin des Schicksals, hast du kein Röschen gesehen?« Und die Seele des klapperigen Gespenstes, der dösende Rosselenker, erwachte und sprach also: »Een kleenet Frölen is keene halbe Stunde von de Mammonstraße herjekommen un imma flott mit de kleene Beenekens nach't Brandenburjer Dor zu; ick dachte noch in meenen Sinn: det Kindeken will woll noch de Wasser springen sehn in Zanksusi, da muß se sich man eklig sputen, um Uhrer sechse schließen se det seichte Verjnijen.« »Na, denn man zu!« sag' ich, spring' und schwinge mich in die Staatskarosse und lasse mich, zum Staunen des hohen Herrn vom Bock, in der möglichsten Galoppade des verstimmten Kleppers keineswegs nach Zanksusi zu den Wassern, sondern linker Hand herum bis an den Rand des Urwalds fahren. Da sattle ich um auf meine eigenen Zwillingsrappen, und so kam ich her, um schließlich doch noch die Wasser springen zu sehen.« – »Welche Wasser?« riefen Franz Xaver und Röschen, wie aus einem Traume von Katastrophen, Kartenspielerinnen und Kleppern erwachend, in einem Atem. »Die Wasser eurer holden Augenpaare, meine Geliebten! Denn dem Röschen ihre schienen mir befeuchtet von Rührung, und deine, Xaverche, von einem unterdrückten Gähnen. Ihr scheint euch gut unterhalten zu haben, Kinderchen. Na, dann ist ja jeder gute Zweck und – herrje! Da steht am Waldesrande, wahrhaftig, noch die dunkle Schicksalskutsche, Mensch und Tier in tiefem Schlaf. Auf, auf, ihr Kreaturen Gottes! Bitte einzusteigen meine Herrschaften. ›Mammonstraße‹!« – Und fort ging die ratternde, rasselnde, klappernde Fahrt, die jede weitere Unterhaltung selbst für den aufgezogenen, lustigen Rheinonkel unmöglich machte. Halt! Die Karosse stand, und da war er wieder: »Ei, da sind wir ja wieder beim König Mammon und können unser Kind auf der friedlichen Schwelle der Heimat absetzen. Addio, Signorina Rosalia! Empfehlen Sie stillschweigend Ihrer Demoiselle soeur die hinterbliebenen Liebenden – – hast recht, zartfühlender Poete, zupf' nur meine Durchgänger an der Leine. Du hast nichts gehört, Röschen, nicht wahr? – Oh, du bist schon weg! – Immer das Herz auf dem rechten Fleck. Schämen wir uns vor dem Kinde, Kollega, und du schmilz mir nicht erst noch in überflüssiger Wehmütigkeit vor der Mammonspforte, Zuckerkandismännche! Wir sind ja beide bereits verflossen. Feuchten wir uns wieder lieber etwas an, nach guter alter jungfräulicher Weise, da, um die Ecke herum, auf wohlbekanntem Pfade: Beim ›Einsiedler!‹ –«

Sie hatten noch nicht gar lange in der behaglich dämmerigen Weinstube des beliebten Stammlokals vor ihren heimatlichen Römern gesessen und vom blumigen Duft des rheinischen Goldes leicht benebelt wohlig miteinander geschwiegen – da stürmte ein Mensch mit rücksichtslosem Gepolter zur Tür herein – ein Mensch? Bitte: Distanz! Nur ein Mensch, das kann jeder sein, aber ein ganzer Mensch, mit einem gesunden hellblickenden roten Landgesicht, frisch vom Feld her, rustikus, aber mit einem Stich ins Offizierliche.

Das war gewesen: jetzt, in der blühenden Gegenwart, war er glücklicher Erbe eines beneidenswerten Grundbesitzes an der holländischen Grenze: Hans Henning Freiherr von Hellwege-Hockelum auf Hockelum. Er ließ sich den Herren nicht vorstellen, sein urgermanisch lautschallendes Gelächter aus hörbar völlig entlasteter Brusttiefe sagte ihnen genug. So lachte nur einer, nur Hans Henning von Hellwege, der Dritte im Bunde, der nur sehr vorübergehende, bald ganz ins Militärische abschwenkende, entzückende Kommilitone vom Gymnasio in Bonn am Rhein. Das war der Mensch, der nun zwischen die beiden festgetrunkenen Schweiger mit dröhnendem Halloh hineinfuhr. Freund Kandidus war überwältigt, Freund Bolke blieb gelassen: »Nun, darf man gratulieren, glücklicher Sieger vom Schlachtfeld in der Mammonstraße?« – »Nee, nicht im mindesten! Aus der Affäre, wie du, Bolkejung! Ahh! – Prosit! Frische Flasche, Einsiedlerwirt!« Mit einem befreienden Jubelseufzer pflanzte sich der junge Baron zwischen die Brüder aus dem Volke und schenkte aus der frischen Flasche zu klingendem Anstoß und dreifach tiefem Schlucke ein: »Ahh! Raus aus der Affäre!« Nochmals, lachend, unbeschreiblich glückselig. »Aber, Bolkejung, der Skandal nach deinem Abscheiden! Riesenhaft! Schauderhaft! Unglückliches Mädel, die Leontine! Und diese Philister! Diese Engerlinge! Dies Milieu! Staub – Staub – dick auf Kopp und coeur! Pereat, Mammon! Prosit Hockelum!« – »Bitte, keine Interjektionen, Barönchen, erzähle mal ruhig und besonnen, was nach meinem Abscheiden, wie du zartfühlend sagst, bei den Engerlingen weiter geschah?« »Nach deinem Abscheiden, Bruno?« stammelte – den halbgeleerten Römer zitternd hingesetzt – der entgeisterte Poet. »Ja – hast du denn den Hans Henning, den Baron, den Hellwege, – hast du den schon vorher gesehen – bei den Engerlingen – bei der Leontine?« »Na ob,« grinste Bolke und leerte sein Glas mit Seelenruhe. »Na ob!« echote der Baron: »Frische Flasche, Einsiedlerwirt!« – »Und mir gar nichts gesagt – warum nichts gesagt –? Ist das Freundschaft, Bruno?« Fast fiel eine Dichterträne in das goldene Naß. Aber er trank. Auch Bruno trank. Dann sprach er merkwürdig ernst und leise: »Denke doch an das Kind! Vor dem den ganzen Kram auspacken – unmöglich! – Prosit, Kandidus!« riß er sich heraus, und: »Prosit, Kommilitonen!« begann der Baron seinen Schlachtbericht.

»Hatte 'mal so kleine dumme Geschichte im Regiment. Ehrenhandel. Leichter Anschutz. Erholungsurlaub Baden-Baden. Reizendes Lokal. Feine Benehme für bessere Jungfrauen am Ort. Leontine Engerling. Nette kleine Bekanntschaft. Lichtenthaler Allee. Schloß Eberstein. Favorite – Süß! Na, wie's so geht. Mädel schien's ernst zu nehmen. Nahm ich's auch ernst. So weit. – Fatale Entdeckung. Mädel flog – ich –« »Nach?« stöhnte der lebhaft gefesselte Poet aus dem Glase heraus. »I bewahre! Konnte nicht. Selben Augenblick offiziell festgenagelt. Erbonkel Hockelum Schlagfluß. Im Handumdrehen erstklassiger Agrarier. Position! Freiheit! Großartig! Frische Flasche! Einsiedlerwirt!« Die Gläser klangen wieder aneinander, Bruno Bolke aber musterte den Agrarier in Position und Freiheit mit verwundert forschendem Blick: »Unter so bewandten Umständen, warum kamst du, überglücklicher Unglücksmensch, noch in die Mammonstraße und rührtest das getrübte Badener Süßwasser wieder auf?« – »Noblesse oblige, alter Bolkejung! Versteht ihr wohl nicht, ihr Zivilhelden? Eh – fühlte mich Mädel verpflichtet. Kompromittiert. Ehrenpunkt. Dazu: Hockelum, Gutsherrin empfehlenswert, Leontinchen – immerhin! Solider Hintergrund. Also: auf nach Anhalt – unter die Engerlinge! Platze da mitten hinein in Verlobungsjubel. Oha! Alte Freundschaft. Bolkejung engagiert. Höhere Pflicht: Zurücktreten meinerseits, seliges Dankgefühl deinerseits. Bolkejung, was?« – Unaussprechliche Grimasse hinter dem goldigen Römer und unendlich tiefer Zug aus dem heimischen Quell. »Hast du was gemerkt?« löst sich's von der feuchten Lippe. »Von deiner Seligkeit? Nee, im Gegenteil. Das wirkte umstimmend. Der Mann will sein Glück los sein? Schön! Soll er haben. Höhere Pflicht. Ringe wie ein Löwe um mein Unglück: die vielverlobte Leontine! Hörte dabei auch was von dir, Kandide! Waldeule! Na, Diskretion Ehrensache. Bolkejung verschwindet. Knalleffekt. Spektakel auf Höhepunkt. Die Alten sich in die Haare und an die Herzen. Sie, Mutterleben, ganz Mudicke, Moabiter Uradel: Töchterchen Frau Baronin – Hockelum – Nicht übel! Er, Vaterleben, biederer Staatsbürger, alter Fortschrittsmann, absolut Antiagrarier: Kind Landadel? Hochgesträubte Gesinnung! Nee – nie! – Leontinchen heult los, gottsjämmerlich, endlich Natur. Schreit hysterisch: Kommt ihr mir so dumm, nehm ich den Dümmsten! Will stante pede in den Wald –. – »Den Dümmsten? In den Wald?« Franz Xaver fährt jäh erblichen auf, wirft den Römer um, gegen die Flasche, klirrender Sturz, strömendes Naß – Volke beschwört den Greuel der Verwüstung mit einem gelassenen: »Und dann?« – »Frische Flasche!« ruft der Baron, und dann neigt er sich mit militärischem Gruß gegen den in den Abgründen seines Selbstgefühles erschütterten Poeten: »Pardon, Zitat! alter Junge. Kenne doch meine Pflicht. Lasse alten Freund nicht ungestraft beleidigen. Protestiere gegen Dummheit. Nutze günstigen Augenblick. Mache Kurzschluß. Drei Bräutigame passen mir nicht. Bräutchen paßt nicht mehr. Trampelt, heult weiter. Mutter wendet sich würdevoll. Vater umarmt letztvergangenen Schwiegersohn. Sein letztes Wort –« »Hört! hört!« ruft Bolke. »Sein letztes Wort: Leontine, morgen mit erstem Zug aus dem Haus – zur Tante Aurelie nach Königsberg in der Neumark! – Kennt ihr Tante Aurelie in Königsberg in der Neumark?« – »Kenne sie nicht, aber verehre sie,« bemerkt Bolke: »Wird wohl für den Vierten sorgen, der endlich standhält. Prosit, Dreizehnter! Danke dir, daß du als Dritter gekommen bist. Einer zuviel bedeutet manchmal Glück. Vivant wir Glücklichen!« Auch Franz Xaver stößt versöhnt, gerührt, weinselig mit an. Die frische Flasche war schnell geleert; er selber, der fromme Eremitus, bestellt die neue. »Und nun, Kinder, nun wird gedichtet!« –

»Gedichtet?« – »Ein Carmen!« – »Erbarmen!« – »Entlobungscarmen? Idee!« So schwirren die Stimmen durcheinander. »Morgenständchen!« trumpft Kandidus triumphierend auf. »Morgenständchen – zu Leontines Abzug? Genieblitz! Kandide, bist doch ein Original! Also los! – Dichter wir! Dichte du!« – Franz Xaver zog wichtig die Brieftafel aus der Busentasche, spitzte bedachtsam sein geistvolles Blei und begann – zu sinnen – zu sinnen – zu sinnen – sann lange – lange – lange – – es kam nichts. Es floß nicht. Bolke grinste stillvergnügt vor sich hin und leerte Glas auf Glas. Hans Henning der Edle half brüderlich ein: »Ein Einsiedel – sah – am Morgen früh –« »Ein Einsiedel saß am Morgen früh!« echote der befreite Poet: »früh – früh – früh –« Bolke schmählich flötend: »Das Dichten macht ihm viele Müh!« Franz Xaver hörte es zum Glück nicht –: »früh – früh – was reimt auf früh?« »Zum Teufel,« schnellt der Baron ungeduldig aus dem Glase auf: »Sag doch fruh.« »Göttlicher Gedanke! Volksliederton! Ich umarme dich, Hellwege! Du bist ein Poet!« jubelt der Erlöste und schreit und schreibt: »Ein Einsiedel saß am Morgen fruh« – »vor seiner Einsiedelei,« ergänzt der gute Bolke. »Da kam ein anderer flugs herzu,« floß es nun zauberschnell von den neubelebten Lippen des Urdichters. »Da waren's ihrer zwei,« ergänzt abermals der liebe Bolke. Und sie tranken alle drei in starken Schlücken. »Frische Flasche, Einsiedelwirt!« befiehlt der Gutsherr von Hockelum und fügt mit seinem breitesten Lachen hinzu: »Da kam ein Dritter noch herbei.« Franz Xaver himmelt in lyrischer Schwärmerei: »Wohl durch den grünen Tann.« – Schreibt eifrig am zweiten Vers und trinkt dazu. »Nun allons! Dritter« ermuntert Hans Henning die allzubefriedigte Gemütlichkeit. »Ein Einsiedel – ein Einsiedel –« stottert der Poet – und trinkt dazu – Dämmerung senkt sich über die heißen Stirnen der Musenbrüder, sie rücken dicht aneinander am triefenden Trunktisch, die Stirnen stoßen sich fast, die Locken fallen über, sie drucksen und mucksen über den dritten Vers – es kommt kein Gedanke mehr, kein Einfall, keine Inspiration, kein Vers, kein Reim. Totale Stockung ist eingetreten. Bacchus hat Apollon unter. Aber die Stimmen schwirren noch krampfhaft erhoben durcheinander – ein leerlaufender Lärm im schlafenden Haus – und – der Einsiedelwirt schiebt sich behutsam herein, ohne eine letzte Flasche, mit den tragisch gefärbten Worten: »Meine Herrschaften, ich muß Sie leider darauf aufmerksam machen: die Polizeistunde ist lange vorbei. Ich muß – ich muß mir erlauben –« »Verehrtester« lallt nun auch schon der trunkfeste Junker: »Auch für Hotelgäste?« und schwingt einen großen Schlüssel mit klapperndem Blechschild daran: »Bin hier abgestiegen. Nr. 24! Na? –« »Bitte sehr,« stammelt der Hausgewaltige – »aber diese beiden Herrn?« »Meine Gäste, nicht wahr, alter Freund, machen Sie keine Späße! Sehen Sie: Schläfer begehen keine Sünde! Ohne Sorge! Anstand wird streng gewahrt. Gehen Sie schlafen und drehen Sie das Licht aus! Angenehme Ruh!« »Angenehme – Ruh!« – haucht der Einsiedelwirt und verzieht sich lautlos – hinter ihm fällt das Dunkel der Nacht dumpf auf die sanft entschlummernde Dichterwerkstatt. – Des Poeten Strubbelkopf liegt schwer auf dem kostbaren Taschenbuch. Auch Bolkes gesitteteres Haupt ist im hilflosen Sinken begriffen. Nur der Edle von Hockelum hält sich noch aufrecht, mit etwas glasigen Augen, hinter denen ein poesiefremdes Hirn plötzlich in Wirbel geraten scheint: »Schwelle!« entringt sich's dem verstummten Munde: »Geht nicht!« murmelte Bolke aus erstem Schlummer – »Ist ja weiblich!« – »Um so besser,« meint der Junker. Aber aus der tiefsten Tiefe des Dichtertraums, dicht vor der Tischplatte herauf flüstert es geheimnisvoll – flüchtig – verschwebend: »Schwell'!« Das des Poeten letztes Wort, das Genie des Augenblicks fängt's auf, es zündet, es begeistert, der Wirbel ist im vollen Gang – es strömt! »Und wären die drei Einsiedell – dell nur einer – und – nicht – mehr –« Da sank auch des Improvisators blondes Haupt hintenüber gegen die Lehne des weichen Sessels – die Augen fielen ihm zu – nur noch ersterbend endet das Morgenständchen: »dann sänge hier vor deiner Schwell' – Schwell' – ein einziger Einsiedeleer –« und in einem langen Gähnen ertrinkt die ganze Poesie. – (Ja, ja, der Agrarier ist doch am Ende der größte Poet! –) – Tiefstes Nachtdunkel. Einzelne Schnarchlaute im öden Gemach – seliger Friede. – So schlummerten die drei rheinischen Jungen dem jungen märkischen Morgen entgegen. –

Der Morgen dämmerte, ein unguter, düsterer Herbstnebelmorgen, gegen sieben! Bruno Bolke schreckt auf, es ist seine Stunde, er trägt den Wecker in sich, und er weckt die anderen. Schlaftrunken taumeln sie von den Stühlen, aus der Stube, aus dem Haus, auf die leere Straße, in den dichten Nebel. Sie fassen sich stützend unter die Arme, die drei kopfschweren Morgensänger, und schwanken langsam, stockend, tastend, ihrem »Ständchen« zu. Halt. Da platzt dicht vor ihnen ein hoher, dunkler Gegenstand aus dem Nebel in ihren Weg hinein: die Nachtdroschke! Und eben schlüpft eine weibliche Gestalt, wie ein Nebelbild selber, aus einer Haustür in das Gefährt. Matt klatscht die Peitsche des aufgestörten Lenkers in die Stille. Das müde Roß zieht an. Die drei Männer stoßen sich, räuspern sich, ein heiserer Ton – die Stimmen versagen. Sie starren aus trüben Augen auf das dunkle Haus; ein einziger Lichtblick: auf der Schwelle ist eine kleine, schlanke Kindergestalt erschienen. Ein Laternchen in der einen erhobenen Hand leuchtet in ein paar weitoffene, große, traurige Braunaugen, die blicken dem rollenden Wagen nach, und aus der anderen weht müde ein weißes Tüchlein ihm hinterdrein, der schon im Nebel verschwunden ist. Dann wendet das Kinderköpfchen sich um, hat die drei Gestalten vor dem Hause erfaßt – noch weiter werden die Augen, das Laternchen steigt höher: ein schreckhaftes Staunen löst sich in ein ganz leises Lächeln. Das Tüchlein weht ein wenig lebhafter – ob Gruß, ob Abwehr? Ein Augenblick. Das Laternchen verlischt. Die kleine Erscheinung ist vom Dunkel verschlungen, das schwer auf der leeren Schwelle liegt. Die trüben Augen der stummen Sänger glotzen nur noch auf die schwarze, geschlossene Haustüre. Dann ein Zusammenraffen, ein Umwenden, kurz, ungeschickt, und wieder die drei, taumelnd, Arm in Arm – kein Laut, kein Ton – nur unsichere Schritte verhallen an den schlafenden Häusern entlang, die öde Straße hinunter, in den Nebel hinein. – Horch! Aus unsichtbarer Höhe sieben metallene Schläge, vom Garnisonskirchturm her, und mit umschleierter Stimme singt das Glockenspiel sein Morgenlied: »Üb' immer Treu' und Redlichkeit!« – Ein allererster scheuer Sonnenstrahl huscht über das graue Meer, wie ein Lächeln Röschens. Drei schwerbeladene Fahrzeuge landen schwankend in ihrem Auslaufhafen: beim »Einsiedler«.

Das Merrettchen.

(1924.)

Maria Margarete war sie getauft worden. Merrettchen hatte sie sich selbst genannt, als sie sprechen lernte: und Merrettchen hatte die kleine stille Mutter in ihrem sonnigen Hinterstübchen, das nun Kinderstübchen geworden war, dem süßen Mäulchen zärtlich nachgesprochen. Merkwürdigerweise, in diesem Falle hatten die vier Tanten, des frühverstorbenen Vaters Schwestern, der kleinen stillen leidenden Mutter ohne Widerrede sich gefügt: Maria Margarete blieb im ganzen Hause das »Merrettchen«, nun schon bis in ihr achtzehntes Lebensjahr.

Da war es ein gar liebes, anmutiges, behendes Jungfräulein geworden, und ein reines Wunder, wie heiter und unverdorben sie geblieben war: denn alle hatten an ihr erzogen, jede anders, alle die vier Tanten: Justine, Alwine, Sabine, Rosine. Ohne das sonnige Hinterstübchen wäre das auch nicht gelungen: aber in glücklichen Augenblicken, wenn die Tanten gerade nicht erzogen, huschte das Kind immer wieder dort hinein zu der kleinen stillen Mutter. Da war es denn auch ganz still im Stübchen, als wäre keine lebende Seele darin, nur die liebe Sonne – die lachte hell hinein: denn sie sah ein lebendes Menschenkind dort aufblühen zum heiteren unverdorbenen Jungfräulein.

Das Leben mit den Tanten ging im übrigen seinen wohlgeregelten Gang, auch als es allen vieren unvermeidlich schien, das lieblich erwachsene Nichtchen in die Welt zu führen. Freilich, da teilten sich die Ansichten, besonders als gar Einladungen junger Leute beiderlei Geschlechts an die Reihe kamen. Merrettchen wurde mit allen fertig und regte sich nicht weiter auf, aber die Tanten hatten jede ihren Liebling, und Tante Rosine, die sich gern als die jüngste fühlte, war obendrein in jeden neu auftauchenden Jüngling regelrecht verliebt. Wie Merrettchen bei alledem so kühl blieb, wurden die treuen Lebenshüterinnen sogar ganz besorgt: »Himmel, wenn das Kind uns am Ende sitzenbleibt!«

Es kam aber anders.

Merrettchens beste Freundinnen waren die Töchter eines Obersten a. D., der seinen Spaß mit seinem »kleinen Strategen« hatte, wie er Merrettchen nannte. Warum? Weil es ein so helläugiges Geschöpfchen war, das immer, wenn die Meinungen und Urteile der jungen Gesellschaft wie irre Hühner auseinanderliefen, sofort den richtigen Punkt erfaßte, die unterschiedlichen Verwirrungen in eine klare Richtung zu lenken und jede Schwierigkeit mit einem treffenden Witz zu lösen wußte.

»Mein kleiner Stratege,« sagte der Oberst eines Tages wieder und klopfte Merrettchen väterlich auf die Schulter; »jetzt kommt's!«

»Was denn, Onkel Schnauz?«

»Das große Manöver kommt in diese Gegend, und,« setzte er schelmisch hinzu, »Merrettchen, Sie bekommen Einquartierung.«

Das Jungfräulein eilte spornstreichs nach Hause, überrannte alle vier Tanten und verkündete jubelnd: »Wir bekommen das große Manöver! Wir bekommen Einquartierung!«

»Da müssen Vorräte angeschafft werden, Militärs essen viel,« bemerkte die wirtschaftliche Tante Justine.

»Einquartierung! Wie entsetzlich! Militärs sind so anspruchsvoll!« quängelte die immer wehleidige Tante Alwine.

»Na, na!« machte die sarkastische Tante Sabine mit einem bedenklichen Seitenblick auf Merrettchen. »Militärs sind gefährlich.«

Tante Rosine seufzte nur tief mit einem seligen Lächeln gen Himmel. In ihrer Phantasie schienen alsbald entzückende Bilder, wie eine flotte Reiterschwadron, vorüberzuziehen.

Merrettchen aber verschwand im Hinterstübchen, und der laute Jubel glättete sich dort zu wohliger Stille.

Das große Manöver kam wirklich in die Gegend; man überblickte das ganze Feld vom Bodenfenster aus. Und auch die Einquartierung kam, ein junger Oberleutnant, so nett, wie Oberleutnants nur sein können.

Fortunatus Wildenberg hieß der Unglücksmensch. Fortunatus! Er nannte sich aber lieber mit seinem Nebennamen Peter. Denn Frau Fortuna findet sich nicht auf bloßes Taufkommando als freundwillige Begleitung auf dem Lebenswege ein. Man kann nie wissen, was an Stelle der lieben Dame kommt. Im Hause der vier Tanten aber war Peter Wildenberg jedenfalls ein Fortunatus. Alle vier waren vollkommen einig in ihrer Begeisterung für die Einquartierung; Tante Rosine war überhaupt »ganz weg«. So streng die Tanten einst ihr Nichtchen erzogen hatten, so sänftiglich und stürmisch zugleich verzogen sie ihren Peter. Es war alles mögliche, daß er doch noch immer Zeit übrigbehielt, um dem lachenden Merrettchen lächelnde Blicke zuzuwerfen, in denen mehr lag als das Lächeln der übrigen Tanten; und auch in Merrettchens Lachen lag mehr, lag ihre ganze junge, heitere, reine, warme Seele. Sie war jetzt oft im sonnigen Hinterstübchen, und es gelang ihr auch, die Einquartierung dort einzuführen. Das verzogene Peterchen aber fühlte sich da geradeso wohl, als wäre Fortuna in Person zu ihm gekommen und hätte ihm gesagt: »Peter, du darfst dich von nun an Fortunatus nennen!«

Da geschah ein Unglück: Fortunatus, das Glückskind, verstauchte sich den Fuß im Felde, und als der entscheidende große Manövertag anbrach, mußte er »zu Hause« bleiben! Oh, was waren die Tanten nun erst um den Leidenden besorgt und bewegt; das ganze Haus schien aus dem Häuschen zu sein.

Dabei gerieten sie wieder einmal in die heftigste Uneinigkeit. Was war der Grund? Mein Himmel, der Oberleutnant war schließlich doch Militär; es drängte ihn, durch das Bodenfenster die Bewegungen der Truppen zu überschauen; aber der Fuß, der böse Fuß! Er durfte doch um Gottes willen nicht allein die steile Treppe hinauf – o bewahre! –, da mußte eine mitgehen – helfen – stützen – führen! Eine? Es waren vier. Jede eine wollte – wie die drei schwarzen Damen in der »Zauberflöte«. Peter Fortunatus benützte den günstigen Augenblick, um – Fuß hin, Fuß her! – aus dem ärgsten Kampf heraus allein die gefahrvolle Stiege zu erklimmen. Und Merrettchen – der feine Taktiker – auf ihren gesunden, behenden Füßchen sprang ihm unvermerkt hinterdrein. Natürlich! Man mußte ja helfen – stützen – führen! – Siehe da, das war nimmer nötig.

Er war schon oben, an der Luke, blickte durch sein scharfes Zeißglas gespannt aufmerksam hinaus, aufs Manöverfeld, merkte gar nichts – auf einmal neben ihm eine schlanke Gestalt, eine bekannte helle Stimme: »Ach bitte, Herr Oberleutnant, einen Augenblick Ihr Glas!« Das war der Augenblick! So ging das Schauen an, das Schauen zu zweien.

Drüben – drunten wogte die Schlacht. Die beiden jungen Sachkenner an der Luke wurden dabei immer lebhafter, immer gefesselter, immer erhitzter, fanden sich in ihren Beobachtungen, ereiferten sich in ihren Meinungen, waren ganz mit Augen und Herzen dabei – ein Tumult von Augen und Herzen, ein Herz und eine Seele. So standen sie beieinander, nah, immer näher, da wies ein Finger, da faßte eine Hand, so sahen sie hinaus in die blitzenden Nebel, hinein in die blitzenden Augen – es war ein schönes Manöver.

»Donnerwetter!« rief auf einmal der Oberleutnant.

»Was denn? Wo denn?« Das Merrettchen war ganz erschreckt.

»Da geht was schief! Sehen Sie! – Sehen Sie nicht? Merrettchen!!« (Der Oberleutnant vergaß sich.) »Die blaue Armee, meine Armee, sie avanciert rückwärts! Pfui Teufel, Merrettchen!« (Noch einmal!) »Das ist ein verdammtes Pech! Das Manöver wird abgeblasen!«

»Abgeblasen?«

»Ja, ja! Verflucht noch mal! Wenn jetzt nur mal ein Seitenangriff –«

»Die Faule Kule!« brach es von der Jungfrau zarten Lippen.

»Was? Faule Kule?«

»Da der Hohlweg rechterhand – sehen Sie – wenn da – da – sehen Sie nicht? Peter, Peter!« (Der Fortunatus war abwesend.) »Da eine Schwadron, ein Regiment durch – den Grünen in die Flanke – Hurra!« Merrettchen war außer sich und bekam den Oberleutnant zu fassen: »Marsch, marsch durch die Faule Kule!« Der Taktiker war auf der Höhe seiner Glorie.

Und wunderbar, Fortunatus ist leibhaftig wieder da und hält das Merrettchen in seinen Mannesarmen. Das Manöver wird abgeblasen.

»Merrettchen!«

»Peter!«

Was war das? Ein Echo? Mitten in den ersten Kuß hinein eine schrille Stimme, dicht von der Treppe her: »Merrettchen!«

Das Paar fährt auseinander. »Tante Rosine!«

»Marsch, marsch durch die Faule Kule!« Und der Oberleutnant, ganz Militär, ergreift mutig Merrettchen am Arm und zieht sie, ganz Liebhaber, an die Bodentreppe hinaus.

Ja, da stand die Tante Rosine. Oh, wie die da stand! Mit aufgerissenen Augen, aufgerissenem Mund, ganz aufgerissen, aus allen Fugen, aus allen Himmeln in ein einziges schaudervolles Erstaunen gestürzt. Aber sie faßte sich, groß, heldenhaft. Sie hebt die Arme auf: »Gott segne euch, meine Kinder!« und nimmt sie beide als mütterlicher Mittelpunkt bei den Händen und führt sie, während ihr die hellen Tränen über die Wangen rinnen, feierlich über die Treppe hinunter.

Da steht auf dem obersten Absatz die Tante Sabine, blickt auf die drei aus scharfen Augen, es zuckt um ihre schmalen Lippen, halb Entrüstung, halb Spott – aber sie sieht in Rosines feuchte Augen und lacht hell auf, hebt auch die Arme, mit pathetischer Geste: »Alle Heiligen mit euch – verrückte Kinder!« und schließt sich dem Zuge an.

Auf dem tieferen Absatz steht Tante Alwine. Steht? Nein: wankt, schwankt, lehnt sich fassungslos ans Geländer, hebt zitternd die Arme und wimmert: »Ich – ich – ich – ach – ach ihr armen Kinder!«

Unten an der Treppenstufe auf dem Flur steht Tante Justine, sieht die Prozession heranrücken, hebt die Arme –? Bewahre! Hat mit einem kühlen Blick die Geschichte weg und ruft nur energisch hausfraulich: »Gesegnete Mahlzeit! Wo bleibt ihr denn? Die Kerbelsuppe wird kalt!« und wendet sich als Älteste allen voran dem Speisezimmer zu.

Ja, wo ist das Pärchen? Mitten durch die hungrige Tantalidengruppe hindurch ist's in das sonnige Hinterstübchen verschwunden. Die Tanten horchen an der Tür: tiefe Stille, als ginge ein Engel durchs Zimmer; der stand gewiß auch still, eine ganze Weile, weil's ihm wohlgefiel, was er sah. Dann tat sich die Tür auf, und heraus traten, das kleine Mütterchen zwischen sich zart sorglich führend, beide Kinder, alle drei mit friedlich leuchtenden Gesichtern, und ehe die Tanten noch mit ihren stürmisch überfallenden Fragen: »Wie war das nur möglich? Daß es keiner merkte! Wie kam das nur so schnell?« fertig waren, saßen sie schon alle im Eßzimmer um den runden Tisch, die Kerbelsuppe dampfte noch. Und es ward ein heiteres und harmonisches kleines Verlobungsmahl.

Andern Tags ward das Manöver wieder angeblasen. Hocherfreulich, wie rasch der Fuß des Oberleutnants auf der Bodentreppe heil geworden war! Er stürmte hinaus, verriet seinem Obersten das taktische Geheimnis von der Bodenluke, dieser dem General, und durch einen schneidigen Vorstoß von des Oberleutnants Regiment durch die Faule Kule gewann die blaue Armee einen glänzenden Sieg. Bei der Kritik erhielt der General das höchste Lob, das gab er gnädig gedämpft an den Obersten weiter; der Oberleutnant ging leer aus. Dafür ward er »zu Hause« vom feierlichen Jubel der vier tantlichen Ehrenjungfrauen empfangen. Merrettchen heftete einen güldenen Kotillonorden auf die hochklopfende Heldenbrust: »Pour le mérite!« flüsterte die glückliche Braut.

»Pour le Merrettchen!« erwiderte der strahlende Bräutigam und heftete einen glühenden Kuß auf den schelmisch lächelnden Mädchenmund.

So zogen Fortunatus Peter und das Merrettchen durch die Faule Kule in ihr Lebensglück.

Das Märchen vom abgebauten Teufel.

(1926.)

Es war einmal ein Land, welches infolge schlechter Geldwirtschaft unter das Staatsgesetz des »Abbau's« gestellt worden war. Das war ein großes Leiden für das Land und nicht nur für dieses. Als die Geldwirtschaft im Lande zum Teufel ging, wirkte das Übel auf die stark interessierte Hölle zurück, und so mußte der Meister Satan ein Staatsgesetz des Abbau's auch für die Hölle erlassen: die bewährtesten Teufel wurden abgebaut und mußten in Pension gehen. Man bedenke, was das heißen will, besonders, da nach altem gutem Höllenbrauch die Pensionen nicht gezahlt werden, wenn ein armer Teufel ins Ausland geht. Und ins Ausland mußten die abgebauten Teufel alle gehen; wo sollten sie denn bleiben? –

Wir wollen ihrer nur Einen ins Auge fassen, einen recht netten, gediegenen Teufel, den der Meister Satan, weil er seines Lieblingsteufels Lucifer Duzbruder war, im zärtlichen Scherze »Duciferkelchen« benamsete. Das abgebaute Duciferkelchen also begab sich in das Land, das einmal war, und suchte dort nach einer neuen Stellung. Er war im Grunde doch ein dummer Teufel; denn er hatte in der Hölle keine Zeitungen gelesen, also wußte er von gar nichts und meinte oberschlau zu sein, wenn er sich gleich an den König des Landes wandte. So zog er denn seinen Schwanz durch die Beine durch und knöpfte vorn seine Weste darüber zu (denn es durfte doch um Gotteswillen keiner merken, daß er ein Teufel war) und ging stracks auf das Königsschloß zu. »Sie! Was haben Sie hier zu suchen?« schnauzte ihn schon im ersten Portal ein grober Riesenkerl an. »Pardon, Herr Portier« – stotterte er – »ich suche bloß den Herrn Potentaten!« – »Was? Wollen Sie mich uzen?« grobste der Riesenkerl weiter: »Potentat? Pardon? Portier? Teufel auch! (»Weh mir,« dachte Duciferkelchen: »ich bin erkannt!«) »Ich bin der Türhüter des freien Staates, verstehen Sie? und der Potentat ist abgebaut!« Damit rasselte das eiserne Gitter vor des dummen Teufels Nase zu. Ja, da stand er und er sah noch dümmer aus, als er war. –

»Also auch abgebaut« war sein erster schlauer Gedanke, »aber es muß doch hier noch ein paar Staatsbeamte in hohen Stellungen geben; wenden wir uns an diese!« Als er vor dem stattlichen Hause des ersten Staatsbeamten in hoher Stellung anlangte, da sah er eine Schar Packträger eine Menge von Möbelstücken herausschleppen, und hinter ihnen drein schlich ein betagter Herr, der hielt sich das Taschentuch vors Gesicht und weinte heftig. »Entschuldigen Exzellenz« sprach Duciferkelchen ihn höllisch höflich an: »ich bin ein armer abgebauter Pensionär ohne Pension und suche eine Stellung, aber ich sehe: Exzellenz sind im Umzug, ich will nicht stören –« »Umzug? – Auszug!« schluchzte der Greis: »Ich bin – abgebaut!« und wankte vorüber.

Duciferkelchen blieb niedergeschlagen zurück; aber er raffte sich mit Teufelsgewalt auf und ging seines Bettelweges weiter zu anderen Staatsbeamten in hoher Stellung –: »Abgebaut!« – Er stieg hinunter zu niedereren Stellungen –: »Abgebaut!« – Zu den niedrigsten –: »Abgebaut!« – Da entschloß er sich in seiner Verzweiflung: »Nun geh ich zu den geistigen Arbeitern.« Und tat also.

Die geistigen Arbeiter saßen miteinander in der erbärmlichen Kneipe einer abgelegenen Gasse, tranken Zuckerwasser ohne Zucker und bildeten sich ein, es sei Münchener Salvator. Sie waren stark in der Einbildung; dafür waren sie geistige Arbeiter. Duciferkelchen setzte sich zu einem jungen geistigen Arbeiter, der einen vertrauenerweckenden Eindruck machte; denn er schlief einen Wasserrausch ohne Zucker aus. Es war ihm gar nicht recht, daß er geweckt wurde, aber nun er einmal wach war, machte sich sein Ärger Luft in einer ganz gottsjämmerlichen Schilderung seiner Lage, die einen Teufel erbarmen konnte. »Es ist ein Elend« schloß er. »Und was das Schlimmste ist: bei dem allgemeinen Wechsel der Verhältnisse bekommen unsere jungen Studenten selber keinen Wechsel mehr; unser geistiger Nachwuchs stirbt aus, es ist der reine Rassenmord! Kurz: man ist ganz von Gott verlassen und möchte geradeswegs des Teufels werden!«

»Des Teufels!« rief der Teufel und war gleich Feuer und Flamme; dann aber besann er sich und sagte bitter: »Ach, lieber junger Mann, auch bei den Teufeln ist nichts mehr zu holen, auch da wird man abgebaut –« »Ei was!« unterbrach ihn der junge geistige Arbeiter: »Sie nehmen den Teufel ernst? Das war doch nur so eine altgewohnte dumme Redensart, die Wissenschaft« – dabei reckte er sich stolz auf und blickte sein Gegenüber scharf an: »die Wissenschaft lehrt uns geistige Arbeiter: es gibt keinen Teufel!« »Was?« fauchte nun aber auch das aufgeregte Duciferkelchen los: »Es soll keinen Teufel geben? Erlauben Sie mal – was ist denn dieses?« Damit nestelte er seine Schwanzquaste aus der Weste hervor und hielt sie dem jungen geistigen Arbeiter vor die Nase. »Wissenschaftlich gesprochen« sagte der: »das ist ein Schwanz.« »So? Ein Schwanz! Aber was für einer? He? Ein richtiggehender Teufelsschwanz! Eccolo!« Und weil man sich in diesem Lokal nicht zu genieren brauchte, so brachte der gereizte Höllensohn nun auf eine Weise, die wir nicht näher erörtern wollen, seinen ganzen richtiggehenden Teufelsschwanz ans Licht. »Glauben Sie jetzt, daß es einen Teufel gibt, junger Herr?« – Der junge geistige Arbeiter starrte eine Weile auf den höllischen Gegenstand; dann sagte er mit feierlichem Ernst: »Die Wissenschaft beschwört nur, was sie mit Augen sieht. Ich sehe den Teufelsschwanz. Herr, ich schwöre: Sie sind ein Teufel!« Und mit einem Male sprang er wie besessen auf und umarmte Duciferkelchen mit heftigem Enthusiasmus: »Sie sind ein Teufel?! Dann sind Sie ja das glücklichste Menschenkind unter Gottes Sonne! Dann kann's Ihnen an gar nichts fehlen!« – »Aber ich bin ja ein abgebauter Pensionär ohne Pension und finde keine Stellung.« – »Oho! Keine Stellung? Jede Stellung, die Sie wollen! Teufel noch mal: warum haben Sie's nicht eher gesagt, daß Sie ein Teufel sind? Wenn die Leute hören, daß Sie der Teufel sind, dann werden Sie überall mit offenen Armen aufgenommen. Der Teufel – glauben Sie mir! – der ist der Retter des Vaterlandes!« – –

Da faßte Duciferkelchen neuen Mut, ging wieder unter die Leute und brauchte keine Stellung mehr zu suchen; sobald er sich vorgestellt hatte: »Ich bin der Teufel!« so wurde er mit offenen Armen aufgenommen und erhielt jede Stellung, die er wollte. Und so stieg er mit wahrhaft teufelmäßiger Schnelle von Stufe zu Stufe bis zur höchsten Spitze des Staates – denn eine höchste Spitze muß jeder Staat haben, wenn's auch eine stumpfe ist! – Ja, Duciferkelchen zog schließlich in das abgebaute Königsschloß ein und nannte sich fürderhin schlechtweg: »Duce«. Die erste Staatshandlung des Duce aber war: er baute den groben Türhüter des freien Staates ab. – Unter der gesegneten Regierung des Duce ward das Land, das einmal war, »die Solle auf Erden«, die Geldwirtschaft kam wieder fabelhaft in die Höhe, es war mit einem Worte: ein glänzendes Geschäft. – –

In der wirklichen Hölle war Meister Satan sehr verdrießlicher Laune und hatte auch alle Ursache dazu; denn seit die Hölle auf Erden war, brauchte er seine Teufel gar nicht mehr abzubauen: sie liefen ihm von selber davon, um in dem glänzenden Geschäft des Duce angebaut zu werden. Das paßte dem Meister Satan nun wieder ganz und gar nicht und kurz entschlossen befahl er dem Lucifer, seinen Duzbruder flugs wieder in die Hölle zu holen, als Beispiel für alle. Ja, da half denn nichts. Wenn Meister Satan befiehlt – der große Duce wurde wieder das kleine Duciferkelchen und folgte seinem Duzbruder geknickt in die alte liebe Hölle. Dort kam ihm liebenswürdigerweise gleich des Teufels Großmutter entgegen; die hatte sich inzwischen einen Bubikopf schneiden lassen. Das war ein Teufelsschrecken! »Himmel, wie hat sich's in der Hölle verändert!« – »Tja« machte des Teufels Großmutter, ganz im modernen Ton: »Was kann da sein? Man muß mit der Zeit gehen.« – Und auch der Meister Satan war mit der Zeit gegangen: weil es mit dem Abbau nichts mehr war, hatte er allertiefst selbst eine »Revolution« gemacht, und weil doch die ganze Hölle von oben bis unten nichts als das Allerunterste ist, so konnte natürlich nicht das Unterste zu oberst gekehrt werden; aber so weit als möglich kehrte Meister Satan bei sich am Hof das Oberste zu unterst. Beim Lucifer ging das nicht gut; denn der liebte im Stillen seit der aschgrauen Ewigkeit des Teufels Großmutter und war bei ihr in fester Stellung als Hoffriseur: nun hieß er Oberbelzebubikopfschneider. Aber das arme Duciferkelchen wurde kopfüber umgekehrt vom obersten Duce zum untersten Kaminkehrer der Hölle! –

Was? Ihr glaubt nicht, daß die Hölle Kamine hat? und ihr wißt nicht, daß die Kamine der Hölle alle nach unten gehen? Für die Wissenschaft sei es gesagt, daß sie die Höllenkamine jederzeit mit Augen sehen kann: in den bösesten Vulkanen der Antipoden, gegen welche unser lieblicher Vesuv und unser reizvoller Ätna nur behagliche Rauchabteile im deutschen Zuge nach dem Süden sind. Doch das ist ein anderes Kapitel, das vom deutschen Welschteufel, und ist rein historisch. –

Ovids Metamorphosen.

(1926.)

Es ist einer der härtesten Schicksalsschläge, wenn Einer heutzutage mit dem Talent des Bildhauers zur Welt kommt. Dies war das traurige Los des Otto Witt, dem die gute Mutter Natur, die Urmeisterin aller plastischen Kunst, schon bei der Geburt eine lange Nase gedreht hatte, weshalb seine Kunstgenossen im Atelier ihm den Spitznamen: »Ovidius Naso« gaben. O. Witt oder »Ovid« mit der langen Nase war so elendig arm, daß er sich keine lebenden Modelle leisten konnte; und – da kam doch wieder einmal die menschliche Herzensgute recht zutage: seine alte brave Zimmerwirtin, die vielleicht in einem früheren Leben eine Venus gewesen sein mochte, bot sich ihm in seiner Not als »Modell« an! Der junge Künstler, der nach dem Höchsten strebte, hatte sich aber in den Kopf gesetzt, als sein Meisterstück ausgerechnet die »drei Grazien« in Lehm zu kneten; und so mußte denn die alte Wirtin ihm zu allen drei Grazien zugleich Modell stehen, und war auch dreifach so stolz darauf. Als nun Ovidius seinem lustigen Kollegen, mit dem Spitznamen »Sallustius«, diese göttliche Gruppe zeigte, war der zunächst ganz starr, bis er, um doch etwas Freundliches zu sagen, die überraschenden Worte sprach: »Alles was recht ist: die drei Parzen sind dir gelungen, – nur etwas weniger schiech dürften die alten Weibsen schon ausschauen. Am günstigsten präsentiert sich die von hinten, wohl die Atropos.« – Jetzt stand Ovidius starr, aber er sagte nichts. Die Atropos war ja seine Euphrosyne! Dann überlegte er: »Ja, warum nicht die drei Parzen?« und suchte sie als solche bei einem Ausstellungslokal anzubringen. Aber da fand man keinen Geschmack an den Lehmparzen und wies sie stillschweigend ab. Nur der witzige Kassier eines der Lokale äußerte sich ironisch: »Schade um die von hinten Gesehene; die würde sich ganz gut als Einzelfigur ausnehmen, etwa als des Teufels Großmutter.« – Was? Die Großmutter? Die mit dem Bubikopf? – Auch Euphrosyne-Atropos trug einen solchen. Jugendstil! Scherenschnitt! Das stimmt! – Es war ein harter Bissen für unseren Ovid, doch was schluckt man in der Hungersnot nicht hinunter! Er ging noch tagelang um das »Dreigetüm« herum, und endlich nahm er sich ein Herz und parzellierte seine Parzen: die isolierte Atropos war nun des Teufels Großmutter – aber wo kann man heutzutage des Teufels Großmutter aus- oder gar an einem öffentlichen Platze aufstellen? »Es ist ein religiöser Gegenstand« meinte Sallustius, »versuch's bei einer Kirchenbehörde!« Das schien selbst dem Idealisten Ovid zu himmelstürmend kühn und er folgte lieber dem praktischen Rate seiner guten alten Zimmerwirtin, die ihm anempfahl, die »Statü!«, an der sie als ihrem Abbild, wenn auch nur noch zum Drittel, ein persönliches Interesse hatte, einem Versorgungsheim für alte Frauen zu stiften und schlichtweg » das Alter« zu benennen. »Das Alter«, der ehrwürdige Titel leuchtete dem jungen Künstler ein, und bald war auch durch Vermittlung einer uralten Base der Wirtin das Altersheim gefunden; die Weiberchen dort fühlten sich geschmeichelt, aber der Heimvater hatte wenig Kunstverstand und wollte dem »Alter« nur einen Platz im Winkel des Hofes einräumen. Das ging Ovidio denn doch wider die Ehre; nicht im Winkel mochte er seinen jungen Ruhm anpflanzen, und er begrüßte daher mit Enthusiasmus die Stimme aus dem Volke, welche sich dem zahnlosen Munde einer greisen Wittib entrang, die in besseren Tagen mit ihrem Seligen zu ihrem Unglück in Amerika gewesen war, und der nun durch eine merkwürdige Ideenassoziation die Freiheit-Statue am New-Yorker Hafen einfiel: »Hoch – hoch – hoch muß die Puppe gestellt werden und » Freiheit« soll sie heißen!« – »Ja: hoch! hoch! hoch!« schrie die ganze alte Weiblichkeit umher, und selbst Ovids liebe Kollegen stimmten bei, daß die Figur des Alters »gar nicht hoch genug« gestellt werden könne, um den rechten Effekt zu machen und daß sie dann vorzüglich dafür passen würde, die »Freiheit« zu symbolisieren. Eine andere Alte im Heim, deren Mann überzeugter Sozialist gewesen war, machte ihre politischen Beziehungen geltend, und es kam so weit, daß der Verein »Rote Grütze«, welcher einen Schrebergarten vor der Stadt besaß, dort die »Freiheit« auf einem hohen Gerüst aufstellen und am 1. Mai feierlichst einweihen wollte. Man schoß sogar mit bekannter Opferwilligkeit das Geld zusammen, daß unser beglückter Künstler sein Lehmmodell in marmoriertem Gips ausführen konnte, und am 30. April fand der Transport der Figur nach dem Parke der »Roten Grütze« statt. Als nun die ungeübten Arbeiter das kostbare Werk aus das wackelige Gerüst heben wollten, entglitt es ihren derben Fäusten und stürzte kopfüber hinunter auf den harten Erdboden, wo es in zahllose Stücke staubenden Gipses jämmerlich zerbrach! – –

War dies das Ende der drei Grazien des Ovid? Nein! Das Schicksal hatte es anders beschlossen. Von allen Stücken war nur eine Hand der Euphrosyne, Atropos, Teufelsgroßmutter, des Alters, der Freiheit unverletzt geblieben, und die hatte ein sinniger Arbeiter mit nach Hause genommen, zum Geschenk für sein Frauchen. Als die sich daran ausgefreut hatte, gab sie die Hand weiter an eine befreundete Familie, und so wanderte sie sozusagen von Hand zu Hand, bis sie an einen findigen Althändler geriet. Der erste Arbeiter hatte seinem Frauchen liebevoll vorgeredet, es sei die Hand der Rosa Luxemburg; der Althändler fand es vorteilhafter, sie als die Hand des Generalfeldmarschalls von Hindenburg anzubieten. Dagegen war von staatswegen Einspruch erhoben worden: Hindenburg habe seine Hand nie zu »so was« hergegeben. So ward denn die Hand der Grazie wieder weiblich und kam unter dem Namen der zur Zeit berühmtesten Filmdiva » Meta Morphy« in den Handel. Das war ihre letzte Metamorphose. Als sie einmal in einem hochkapitalen Hause gelandet war, wurde sie sogar berühmt, und man suchte nach ihrem »Meister«. Nach unsäglichen Mühen kam man über Freiheit, Alter, Großmutter, Parze zum inzwischen schier verhungerten Mieter des Modells der drei Grazien. Nun wurden bei ihm von allen Seiten Abgüsse schöner Hände bestellt und auch gut bezahlt, das Handabgießen wurde Mode und drang aus den Kapitalkreisen in die breite Bürgerschaft, und endlich bestellte sich ein wohlhabender Kolonialhändler namens Schulze in der Neuen Grünstraße die Hand seiner hübschen Tochten Lieschen in Gips bei dem berühmten Meister O. Witt. Die Folge war, daß nicht nur der Papa, sondern auch der Meister die Hand Lieschens bekam, aber nicht nur in Gips. Und als eines schönen Tages der glückliche Bräutigam der lieben Braut von seiner traurigen Jugend erzählte und dabei die alte Papierskizze der drei Grazien vorwies, da war Papa Schulze so begeistert, daß er den genialen Schwiegersohn dringend bat, die Gruppe für das Schaufenster seines Kolonialwarenladens in buntem Tone nochmals auszuführen. Mit berechtigtem Stolze erklärte er: sie solle dort die drei Erdteile vorstellen, woher seine Kolonialwaren stammten. So geschah es, und unter dem neuen Dreigetüm war dann ein Vers zu lesen, den Lieschen in der Morgenstern-Weise gedichtet; denn sie wollte als Meisterfrau doch auch etwas Künstlerisches leisten:

»Alle Ware Prima A – A – A –
aus Asien, Afri- und Amerika.«

Aber das war keine Metamorphose mehr, sondern eine Neugeburt, zu deutsch: »Renaissance«. –


 << zurück weiter >>