Theodor Wolff
Der Marsch durch zwei Jahrzehnte
Theodor Wolff

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Das tragische Haus

Wer hätte nicht schon erfahren, daß die Nase eine wichtige Helferin und – um einen Lieblingsvergleich des technischen Zeitalters auch hier anzuwenden – ein starker Motor des Gedächtnisses ist? Sie rüttelt es plötzlich aus seinem trägen Schlummer, sie lenkt die Erinnerung mit einem scharfen und jähen Ruck zu entschwundenen Bildern hin, sie führt sie zu längst Vergangenem zurück. Der Duft irgend eines Blütenstrauches weht unerwartet über eine Gartenmauer, und der Spaziergänger sieht ein einstmals geliebtes Mädchen vor sich, gerade dieses eine von den vielen, die er geliebt hat, und er sieht es, wie er es an einem bestimmten Tage gesehen hatte, auf einem Parkwege, auf einer freundlich kupplerischen Bank. In einem Ballsaal streicht, vom Haar und den Schultern einer Tänzerin sich lösend, der Hauch eines Parfüms vorüber, ein scheinbar isolierter Hauch in der von so viel Düften erfüllten Atmosphäre, und eine andere Frau steht plötzlich da, eine andere, seit Jahren und Jahrzehnten vergessene Situation, und ganz deutlich ist das alles wieder sichtbar und hörbar, das Lächeln oder die heftige Geste, der stolze Hals und die Kaminuhr mit dem vorwärtsrückenden Zeiger, das Wort, das dem ersten Kuß folgte, oder das Wort, mit dem man für immer Abschied nahm. Aus einem Hofwinkel kommt ein beißender Chlorgeruch, und sofort, gänzlich unvermittelt, ist man wieder in der Schule, es ist Pause, und die Gymnasiasten drängen sich johlend und mit aufrührerischen Witzen in den zu engen und unsauberen Raum der kleinen Bedürfnisse, und draußen schreit der Lehrer mit schrill überschnappender Stimme, er verbitte sich diesen Lärm. Der Geruchssinn wird berührt vom Atem irgendeines 141 Gebildes, irgendeiner Umgebung, vom charakteristischen Atem des Sichtbaren oder des Unsichtbaren, und man wandert wieder auf Sylt zwischen lilarötlichem Heidekraut nach Keitum, man ißt das Schneehuhn in einem Blockhaus auf den beschneiten Hügeln Norwegens, man diskutiert höflich und endlos mit den Kaufleuten im Bazar von Tunis, man tritt in eine Hütte zwischen den Gletschern von Zermatt, man blickt auf ein Meer blutroter Mohnblumen an den Abhängen von Korinth oder ruht in Cadiz vor einem der offenen Caféflure im breiten Lehnsessel, während, mit einer roten Nelke hinter dem Ohr, Carmen vorübergeht. Für Marcel Proust stieg aus dem Aroma einer Tasse Tee das ganze Gemälde einer Jugendzeit, einer vertrauten Provinzstadt, eines patriarchalischen Familienhauses, einer Bevölkerung, wie aus dem vom Zauberspruch entlösten wallenden Nebel die Gestalt Helenas sich formt. Ihm schien es, daß nach dem Tode der Menschen und nach der Zerstörung der Dinge allein der Geruch und der Geschmack des Gewesenen noch lange zurückbleiben, und man bedauert nur manchmal, daß er nicht nur den Duft des Tropfens Rosenöl ahnen läßt, sondern gleichsam auch die hunderttausend Rosenblätter dazuliefert, denen, wie versichert wird, unter dem grausamen Druck des Merkantilismus diese eine Träne entquoll.

Immer, wenn ich in den Laden eines Antiquitätenhändlers trat, der nicht zu den Großen dieses Geschäftszweiges gehörte, war sofort auf dem Geruchswege die Verbindung zu einem anderen Gebäude und anderen Räumlichkeiten hergestellt. Es durfte nur eben nicht eine jener fürstlichen Firmen auf dem Markte der alten Kunst sein, und nicht eines jener palastartig eingerichteten oder in Palästen untergebrachten Geschäfte, wo jeder Gegenstand eine seltene Kostbarkeit ist und mit dem Raffinement präsentiert wird, mit dem ein Modemaler im Antlitz einer gleichfalls antiken Millionärin die honorarwürdigen Reize entdeckt. Nein, das Phänomen ereignete sich nur in den halbdunkeln und schlechtgelüfteten Rumpelkammern, in denen bescheidene Exemplare von berlinischem Biedermeier und 142 deutscher Renaissance, verschlissene Überreste von groben Tapisserien, Aschenbecher mit Perlenstickerei, invalide Meißner Figuren, Bilder unbekannter, begreiflicherweise unbekannter Meister, Dosen und gemalte Pfeifenköpfe aufgestapelt sind. Hier, wo es nach Staub und Motten und mürbem Holz und niemals ausgeklopften Teppichen riecht, wurde der Gedanke unfehlbar zu einem Hause von hoher historischer Bedeutung, zu dem Palais der deutschen Reichskanzler, hingeleitet, und die Salons öffneten sich, in denen man zu warten pflegte, bis der Herr Reichskanzler bitten ließ. Als das Ehepaar Bülow in diesem Hause residierte, mögen die lebensvolle Grazie der Fürstin und ihr Wunsch nach behaglicher Intimität, ihre Vorliebe für die Plauderecken, in denen man mit Adolf von Harnack, mit dem medizinischen Hausprofessor Renvers, mit salonfähigen Gelehrten, Künstlern und Diplomaten um ernste Fragen herumstreichen und gelegentlich dem Kaiser ein amüsiertes Ja ablisten konnte, bis in die Außenräume, die amtlichen Empfangssäle hinein fühlbar gewesen sein. Genau weiß ich darüber nicht Bescheid. Auch in den Tagen Bethmanns hatte man wohl noch den Eindruck, daß von Zeit zu Zeit eine Hausfrau durch diese Gemächer schritt. Dann aber, als die Bewohner schnell wechselten und im Reichskanzlerpalais wie in einer Bahnhofshalle oder einem Hotel mit jedem Zuge neue Gäste ankamen, verschwanden die letzten Spuren persönlichen Lebens und Waltens, man sah nur noch die Spuren von Degradation und befand sich auch nicht mehr in einem gut gehaltenen Hotel, sondern in einem etwas verwahrlosten Boardinghouse, in einer maison meublée, deren Besitzer bessere Zeiten gesehen hatten, oder, wie man in Deutschland sagte, in einem »Chambre garnie«. Schließlich wurde ja neben dem Kanzlerpalast der neue Amtsbau fertig, in dem zuerst der asketische Franziskaner Brüning Bittsteller und Ratgeber empfing. Dieses nüchterne, kahle, traditionslose Bürohaus, an dessen glattpolierten Wänden die Phantasie nicht haften kann – Verwaltungsgebäude einer Bank oder einer Schiffahrtsgesellschaft, so sparsam ausgestattet, als habe man dem 143 Gerichtsvollzieher, der mit Sicherheit erwartet wurde, möglichst wenig Pfandobjekte lassen wollen. Vor der feierlichen Eröffnung dieses gradlinigen Regierungskastens aber, der jedenfalls einen hygienischen Fortschritt darstellt, bewegte man sich, wenn man nebenan im Kanzlerpalais zum allerheiligsten Arbeitszimmer schritt, zwischen einem aus allen Dachkammern und Speichern zusammengeholten Möbelkram, dem wahllos gruppierten Ausschuß aus sechs verschiedenen Stilepochen, nachgemachtem Louis Quinze, wackligem Rokoko, deutschem Empire. Die Gemälde, »heroische Landschaften«, Biblisches »aus der Schule des Palma Vecchio«, neuzeitliche Akademieprodukte neben Rubenskopien, waren vermutlich von einem zynischen Museumsdirektor fröhlich hergeliehen. Die Misere dieser von keiner ordnenden Hand, keinem kundigen Auge und keinem ästhetischen Gefühl überwachten Palastzimmer, in denen alles ungepflegt, ungelüftet, vernachlässigt, gleichgültigen Bedienten ausgeliefert war, roch wahrhaftig wie die kleinen Verkaufslokale mit dem Schild »Antiquitäten«, die Totenhallen, zu denen die Armut die letzten Zierden ihres Lebens trägt. Bereits wenn ich das Schild sehe, ja, noch vor dem Eintritt in den Laden, atmen die Sinne die eigentümliche, schwer definierbare Luft jener Vergangenheit, und ich höre wieder den Diener mit der stumpfen Amtsmiene sagen, daß »der Herr Reichskanzler bitten läßt«.

Anderswo und in einem anderen Zusammenhang habe ich über Besuche berichtet, die ich während des Krieges Herrn von Bethmann-Hollweg in diesem Hause der Wilhelmstraße abstattete, und über die Gespräche, deren Inhalt und Ton sich natürlich wandelten, als die Entwickelung der Lage sich nicht ganz nach den Erwartungen und Anordnungen der Politiker und Militärs vollzog. Nicht als ob Herr von Bethmann-Hollweg beim Kriegsbeginn sich nun in einem überschwänglichen Siegesjubel geäußert hätte, den er dann hinterher hätte dämpfen müssen, – wenn er im Reichstag oder in anderen öffentlichen Reden ein paar Fanfaren hinausschmetterte, die auch nicht immer ganz echt klangen, so blieb davon wenig in der privaten 144 Konversation. Obgleich er sich immer, und bis ans Ende seines Lebens, gegen jeden Vorwurf und jede Andeutung, daß er im unseligen Juli 1914 furchtbare Fehler gemacht, einer waghalsigen Politik ohne Voraussicht zugestimmt habe und vergeblich zappelnd in dem Gewebe hängen geblieben sei, mit starrer Energie wehrte und auch mir gegenüber, dessen Ansicht er kannte, oft den Beweis der Unfehlbarkeit zu führen versuchte, hockte doch ganz gewiß in den geheimen Hinterzimmern seiner Seele der Zweifel, und in dumpfen Nächten schlich durch sein halbwaches Sinnen das Gespenst mit der Frage: »Hast Du wirklich nichts zu bereuen?« So war es zu erklären, daß der offizielle Ethiker der konservativen Staatsmoral zu einer wärmeren Moral gelangte, der Philosoph der »gottgewollten Abhängigkeiten« sich mit erwachtem Liebebedürfnis dem Volke nähern wollte, sich in unserer ersten Unterhaltung nach dem Kriegsausbruch eine tröstliche, reinigende Zukunft, mit dem Dank an die opferbereiten Volksmassen, ausmalte und sagte: »Wir haben in einer Lüge gelebt.« Es ist nichts von diesen Träumen, mit denen er sich besänftigte, in Erfüllung gegangen, zuletzt habe ich ihn als einen gebrochenen, verzweifelten Mann gesehen, an dem Tage, an dem die gegnerischen Regierungen ihre famose Kriegsverbrecherliste erscheinen ließen, und die Lüge, in der wir gelebt haben, oder die als herrschendes Prinzip über uns gelebt hat, lebt unter anderem Namen fort. Die »führenden Kreise«, die Stützen der Gesellschaft aber, für deren Interessen er früher lange die philosophische Begründung und den ethischen Vorwand gefunden hatte, erkannten, daß er sich ihnen entfremdete, und diese Erkenntnis zusammen mit der Enttäuschung über den Verlauf des Krieges und mit der Ungeduld, die keine Mahnung zu kluger Überlegung ertrug, veranlaßte sie, die Patrioten gegen ihn aufzurufen und die wilde Agitation zu entfesseln, der er schließlich erlag. Am 13. Juli 1917 war es soweit. Die Oberste Heeresleitung, Hindenburg und Ludendorff forderten dringend seine Entlassung, und während in Frankreich, dem klassischen Lande der Generalspolitik, jetzt 145 die Unterordnung des Militärs unter die Zivilregierung streng gewahrt wurde, verjagten in Deutschland die Generale den Reichskanzler, mit kräftigen Säbelhieben auf den Tisch. Der Schicklichkeit halber, um die Form zu wahren, ließ man noch durch den Kronprinzen die Vorsitzenden der Reichtagsfraktionen befragen, und da nicht nur die Nationalliberalen Prinz Schönaich-Carolath und Stresemann, dieser zu Gunsten einer aussichtslosen Kandidatur Bülows, sich für die Entlassung aussprachen, sondern auch der betriebsame Erzberger, strahlender Unglücksengel mit roten Bäckchen, dem Votum sich anschloß, wurde Herr von Bethmann aufgefordert, sein Demissionsgesuch einzureichen, und aus der zum Regierungsinstrument und Staatssymbol erhobenen Lotterietrommel zog man eine neue Nummer, die Michaelis hieß. Einige Stunden nach der Verabschiedung Bethmanns begegnete ich in der Tiergartenstraße dem vertrautesten Mitarbeiter des Gestürzten, und dieser treue Geheimrat rief mir im Vorüberschreiten mit dem Enthusiasmus, den eine gute Sache noch im Mißerfolge verleiht, die Worte zu: »Ein Löwe, von den Mäusen zur Strecke gebracht!« Herr von Bethmann-Hollweg war kein Löwe, eher war er, wenn man den Vergleich aus dem Tierreich nehmen will, ein anständiger großer Schutzhund, ein Bernhardiner oder Leonberger, der leider in einer Unglücksstunde das Kind nicht davor behütet hatte, ins Wasser zu fallen.

Ein paar Tage nach der Entscheidung machte ich Herrn von Bethmann-Hollweg einen Besuch. Man glaubt ja immer – wobei man ein wenig sich selbst streichelt – eine Anstandspflicht zu erfüllen, wenn man einen gestürzten Mann, den man in seinen Glanzzeiten bekämpft hat, in dem Augenblick, wo ihn seine Freunde und Kostgänger verlassen, mit besonderer Hochachtung grüßt. Jetzt wirkte der Mottengeruch nicht als das Hauptmerkmal des Ortes, man ging gewissermaßen gleichgültiger und unempfindlicher durch ihn hindurch. Jetzt war die Luft voll von der tragischen Ungewißheit, die draußen über dem ganzen Lande lag, aber hier, im Zentrum, am Ausgangspunkt und Endpunkt 146 der Handlung, auf der Kapitänsbrücke, wo alles klar sein und seinen bestimmten Kurs haben sollte, das Hirn umklammerte und das Fühlen und Denken gefangen nahm. Es war jetzt auch sehr uninteressant, daß die Stühle wackelten und irgendein Tisch bereit schien, aus dem Leim zu gehen. Was stand denn noch fest? In diesen Empfangssalons, die nicht zur Kanzlerwohnung gehörten, brauchte nicht eingepackt zu werden, hier konnte alles so bleiben, wie es war. Aber man glaubte bis hierher eine Auflösung zu spüren, die soviel mehr bedeutete als die Auflösung eines Haushaltes, und begann nicht bereits, während in den Wohnräumen die Koffer und Kisten sich türmten, ein anderer Auszug, wurden nicht schon die Möbel einer ganzen Epoche eingepackt?

Als ich an diesem 19. Juli, gegen zehn Uhr vormittags, das Arbeitszimmer betrat, wanderte Herr von Bethmann-Hollweg offenbar, die soundsovielte Zigarette rauchend, schon seit einer Weile hin und her. Es sah nicht so aus, als habe er sich gerade erst von dem Platz am Schreibtisch erhoben, wo er acht Jahre lang das Schicksal Deutschlands überdacht hatte, zuerst mit dem Selbstvertrauen der olympischen Götter oder der Magister, und dann immer näher umringt von den grauen Weibern der Sorge und der Not. Er kam mir entgegen: »Ich freue mich, daß Sie mich noch aufsuchen, ich bin schon in der Abreise, morgen verlasse ich Berlin.« Und indem er lächelnd hinzufügte: »Wir wollen eine Friedenspfeife rauchen«, reichte er mir statt einer Pfeife, die ihm und mir etwas ungewohnt gewesen wäre, die übliche Zigarettenschachtel hin. Ich hatte ihn in den letzten Wochen nicht gesehen, wenigstens nicht in der Nähe, und fand ihn verändert, das Gesicht magerer, runzliger, grauer, nicht so gerötet wie sonst. Die große Gestalt mit dem schon seit längerer Zeit gerundeten Rücken und den massig gewordenen Schultern, die den schweren Oberkörper nach vorn zu biegen schienen, hatte im Laufe der Jahre ihre grade Linie – die Linie der nicht schattenspendenden Tanne – verloren, etwas Unharmonisches bekommen und wirkte jetzt, durch eine ungleiche 147 Gewichtsverteilung, noch schlenkernder in der für solche Figuren immer unkleidsamen Felduniform. Dann nahm er, da er das Gespräch höflicherweise nicht nach der Art der athenischen Peripatetiker fortsetzen konnte, noch einmal den Sitz an dem schon abgeräumten Schreibtisch ein. Wie auf diesem Schreibtisch Herr von Bethmann sein Demissionsgesuch hatte unterzeichnen müssen, so wurden nacheinander alle Schreibtische in dem Palais der Wilhelmstraße für solche Akte der Selbstguillotinierung benutzt und schon wegen der Häufigkeit des Vorganges konnten sie nicht zu historischen Sehenswürdigkeiten werden und nicht den Museumswert des Tisches im Schlosse von Fontainebleau erreichen, auf dem Napoleon seinen Namen unter die Abdankungsurkunde schrieb.

Er fragte: »Nun, was denken Sie von dem heutigen Tage?« und wartete, wie jemand, der gefragt hat: »Wie geht es Ihnen?« oder: »Sind Sie auch hier?« die Antwort nicht erst ab. Auf dem Programm des Tages, von dem ich mir etwas denken sollte, stand die Antrittsrede des neuen Reichskanzlers Michaelis, der man, da sie sich zu der von der Reichstagsmehrheit beschlossenen Friedensresolution äußern mußte, mit einer gewissen Neugierde entgegensah. »Ich hoffe«, setzte er sogleich hinzu, »die Friedensformel wird nicht ganz ohne Einfluß sein.« Auch das war nur eine Redensart, wie sie den Händedruck im Krankenzimmer zu begleiten pflegt, und es war klar, daß er von der Formel sehr wenig hielt. Auch ich hatte nichts von ihr gehalten und die Auffassung der Linken, die diese von dem unvermeidlichen Erzberger betriebene Friedensaktion gut und nützlich fand, nicht geteilt. Die feinen Listigkeiten der veralteten Geheimdiplomatie, die gerade im Auswärtigen Amt während der Wochen vor dem Kriege in affektierter Weise, sozusagen nach der Devise »l'art pour l'art«, schmunzelnd geübt worden war, hatten unheilvoll gewirkt, aber eine öffentliche Kundgebung, wie sie vom Reichstag unternommen wurde, hätte zum mindesten der diplomatischen Vorbereitung bedurft und konnte, wenn sie sich auf keine vorherigen Verhandlungen stützte, nur 148 zusammenbrechen und dann ein neues Hindernis vor dem erstrebten Ziele sein. Übrigens brauchte niemand im Auslande die Reichstagsmehrheit bereits für allmächtig und ihre Erklärungen für bindend zu halten, es gab ja die noch nicht parlamentarisch abhängige Regierung, die Oberste Heeresleitung, die nach Annexionen verlangende Schwerindustrie und die ganze nationale Bewegung, deren Lärm soeben genügt hatte, um den Reichskanzler zu Fall zu bringen. Ich erwiderte also Herrn von Bethmann skeptisch, der Nutzen der Friedensresolution erscheine mir sehr zweifelhaft, Herr Michaelis werde sich ja wahrscheinlich irgend einen Rückzugsweg ins Annexionslager offen halten, man werde jenseits der Schützengräben sagen, die Resolution sei das platonische Vergnügen dreier Parteien und werde, wenn die deutschen Armeen siegen sollten, bald so vergessen sein wie die Liebesschwüre des Don Juan und die Gelübde eines seekranken Geizigen auf dem schaukelnden Schiff. »Das ist natürlich richtig«, entgegnete Herr von Bethmann-Hollweg, »aber ich nehme an, die Stellungnahme der Regierung wird nicht gerade ablehnend sein. Ich weiß ja freilich nicht, ich halte mich jetzt ganz zurück und frage auch nicht mehr. Allerdings, wenn man fordert, die Regierung solle sich in prägnanter Form zu der Resolution äußern, das ist für einen Staatsmann doch nicht leicht. Man hat mir ja auch vorgeworfen, daß ich nicht prägnant genug gesprochen, daß ich zum Beispiel von der Sicherung der deutschen Zukunft gesprochen habe, denn darunter könne man alles verstehen. Ja, ist ein Staatsmann denkbar, der nicht die Sicherung der deutschen Zukunft will?« Ich gab zu, daß ein solcher Staatsmann nicht denkbar sei, – aber zerstöre man nicht die Wirkung der allerschönsten Beteuerungen, helfe man nicht der feindlichen Polemik, wenn man beharrlich verschweige, welche Art der Sicherung man wolle und welche nicht?

Ein wenig überraschte es mich, daß er an ein nahes Ende des Krieges zu glauben schien. Wahrscheinlich, meinte er, werde es im Spätherbst zu Friedensverhandlungen kommen. Die Engländer würden nicht abwarten wollen, daß sie 149 durch Amerika aus der üblen Situation herausgerissen würden, – das sei gegen ihr Interesse und gegen ihr Nationalgefühl. Außerdem wirke doch auch der U-Bootkrieg. Als ich einwarf, England würde aber in der elsaß-lothringischen Frage doch die Franzosen nicht einfach im Stich lassen, es würde sonst seinen Einfluß auf Frankreich verlieren, stimmte er bei. Und als ich von der Möglichkeit sprach, Lothringen herzugeben und Kolonialbesitz einzutauschen, sagte er: »Ja, auf die rectification de frontières wird es auch schließlich herauskommen, anders wird es nicht gehen« . . .«Und dann«, bemerkte ich, »Abrüstung, nicht wahr?« – Diesmal antwortete er in sehr bestimmtem Tone: »Absolut, sie ist absolut unvermeidlich, woher sollen wir sonst das Geld nehmen?« – woraus immerhin zu erkennen war, daß er nicht ganz von der Wahrheit des Satzes »Der Feind zahlt alles« überzeugt war, der, wie die Inschrift über einem Triumphbogen, über jeder Einladung zur Zeichnung einer neuen Kriegsanleihe stand.

Wir sprachen von den letzten Vorfällen im Reichstag und in den Kommissionen, von der Haltung der Parteien. »Wenn Sie wüßten«, sagte er, »was ich in diesen vierzehn Tagen mit den Nationalliberalen erlebt habe, es übersteigt alle Begriffe, man kann sich kein Bild davon machen, wenn man sie nicht gesehen hat.« Er hielt – und das setzte er mir schon häufig auseinander – das parlamentarische System für nicht möglich, es sei nicht in Einklang zu bringen mit der Bundesverfassung, und die Parteien hätten keine Männer, seien arm an Persönlichkeiten und Regierungstalent. Hier regte sich, selbst noch auf den Trümmern der eigenen Herrlichkeit, das Selbstbewußtsein des hohen Beamten, der Kaste, die davon durchdrungen ist, daß alles durcheinandergeraten muß und nur noch Unfähigkeit übrig bleibt, wenn nicht mehr der Mandarin den Staat beherrscht. Von Erzberger, der im Hauptausschuß eine Sensationsrede gehalten hatte, meinte er, ihm sei »der Schecken durchgegangen«. Manches in der Rede sei ja ganz gut gewesen, und es schade nicht, daß die nationalistische Phrase durchleuchtet und die 150 Wahrheit gesagt werde, aber Erzberger wisse nicht Maß zu halten, erschüttere durch seine Äußerungen über den U-Bootkrieg das Vertrauen und zerschlage zu viel Porzellan. Von den Sozialdemokraten: »Ich glaube, daß sie und weitere Volkskreise während dieser Kriegsjahre für höhere Ideen gewonnen worden sind, und daß ich das vielleicht auch mir als ein Verdienst anrechnen darf.« Viel schlimmer als die Parteien sei die Presse – ein Urteil, dem ich ohne Zögern und in klarer Verletzung der Berufsehre und der Standesinteressen meine Zustimmung gab.

Es hätte keinen Zweck, die ganze Unterhaltung zu wiederholen, denn die meisten Ereignisse, von denen gesprochen wurde, sind längst nur noch winzige Punkte in weiter Ferne, wie die dem Blick entschwindenden Schiffe am Horizont. Man hat seither immer mehr Weltgeschichte, immer mehr deutsche Geschichte vor uns ausgeschüttet, und die oben liegende, zuletzt abgeladene Masse bedeckt das, was darunter liegt. Vielleicht bildete ich mir nur ein, daß die Stimme des Herrn von Bethmann anders klang als früher, daß auch in ihr jetzt etwas Ermattetes, Farbloses, Geborstenes war. Unsere Beobachtungen sind ja oft abhängig von dem Umständen, von Zeit und Raum und von allem, was wir aus anderswie geschöpftem Wissen hinzutun, und dasselbe Bild beispielsweise wird gewiß auch von manchem Kenner anders in der Galerie eines reichen Mäzens als in der Wohnung eines Budikers bewertet, und wenn sie sich mit der Köchin gezankt hat, ist die Dame des Hauses überzeugt, daß die am besten zubereitete Speise verdorben ist. Indessen, früher hatte Herr von Bethmann-Hollweg Klagen über Militarismus und Nationalismus, über Parteigetriebe und unbequeme Personen sehr häufig mit einer scheinbaren Heiterkeit, mit einem Lachen, einem fröhlichen Achselzucken beendet, und diesmal waren diese Zeichen der Jugendfrische abgelegt, als hätten sie nur zu den Pflichten des Amtes gehört. Allerdings hatte das Lachen mitunter etwas unnatürlich geklungen, es hatte nur Überlegenheit, Stärke und Selbstsicherheit vortäuschen wollen, und vermutlich trug Herr von Bethmann in den Stunden 151 des Alleinseins, wenn er die Uniform mit der zwanglosen Hausjacke vertauschte, auch diese Miene schon längst nicht mehr.

Auf irgend einem Umweg oder durch irgend einen Seitensprung gelangte auch diesmal wieder das Gespräch zu einem Thema, zu dem ich Herrn von Bethmann bei früheren Gelegenheiten absichtlich und planvoll hingenähert hatte, und das ich jetzt ebenso gern vermieden hätte, da es bereits auf allen Seiten beklopft, betastet und belichtet war. Ich wußte aus Erfahrung genau, was mir Herr von Bethmann-Hollweg zu jeder Frage, die sich auf die Politik vor dem Kriegsausbruch, auf das österreichische Ultimatum an Serbien, auf das blind gegebene deutsche Ja, auf die ganze Linie und die einzelnen Stationen bezog, sagen würde, und kannte all die Argumente, die, in eine Form gegossen, unabänderlich und unbeweglich geworden waren, wie das »Mit Gott für König und Vaterland«. Es war Zeitverlust, da noch schöpfen zu wollen, und auch die Mission des Tiefseeforschers ist ja beendet, wenn das Netz immer nur noch die gleiche Beute enthält. Aber obgleich mein Erkundungsdrang sich so sehr abgeschwächt und ich eigentlich am wenigstens gewünscht hatte, diese Abschiedsaudienz noch mit historischer Kritik und dem gewohnten hundertfachen »Warum?« zu belasten, geriet bei einer Erwähnung des Namens Tirpitz das Gespräch ganz zufällig wieder auf das alte Terrain. Der ehemalige Großherr der Marine ließ nämlich gerade damals verbreiten, er habe das Ultimatum, das der Reichskanzler von Bethmann-Hollweg den Russen hingeschleudert hat, nicht gebilligt, – und diese Behauptung hat er später in seinen Memoiren sehr aggressiv wiederholt. Dazu bemerkte nun Herr von Bethmann-Hollweg: »Tirpitz und Falkenhayn haben ja, als es sich um die Absendung des Ultimatums an Rußland handelte, eine etwas unklare Haltung eingenommen. Aber es war doch nur eine Formalität. Wenn wir an Rußland die Forderung richteten, mit der Mobilmachung aufzuhören, der wir nicht länger untätig zusehen konnten, dann mußte sie doch auf den Krieg gestimmt sein, das verlangten die 152 maßgebenden militärischen Stellen. Tirpitz spricht jetzt so, und gerade er hat die ganze Zeit hindurch recht viel für die Vorbereitung der Kriegsatmosphäre getan. Nein, wir hatten keine andere Möglichkeit.«

Da wir nun einmal mitten in dieser Diskussion waren und ich ihm, wie bei anderen, besseren Gelegenheiten, bekennen mußte, das alles, die ganze damalige Politik, »gehe mir nicht ein«, fuhr er fort: »Seit Ende 1913, seit dem Besuch Kokowzows in Berlin, hatte ich die Befürchtung und mußte sie haben, daß der Krieg unvermeidlich geworden sei.« Ich antwortete: »Sie haben mir das damals gesagt, ich weiß es noch genau, Sie hatten diese Befürchtungen, aber gerade Kokowzow wollte doch nicht den Krieg?« – »Nein, er wollte ihn nicht, aber er kam mit schwerer Sorge aus Paris zu uns. Er hatte in Paris die große Millionenanleihe nur noch unter den bekannten Bedingungen bekommen können, und ich merkte ihm an, daß er selber fürchtete, man treibe dem Kriege zu.« Dann versicherte Herr von Bethmann-Hollweg noch einmal, daß der Krieg unvermeidlich gewesen sei und in irgendeinem Augenblick doch ausgebrochen wäre, und daß keine Menschenkraft und keine staatsmännische Klugheit ihn hätten verhindern können. Aber wozu brauchte man dann eigentlich Staatsmänner, und weshalb besoldete man ein diplomatisches Korps, wenn es so fest stand, daß die Dinge dieser Welt garnicht von ihnen gelenkt und bestimmt werden, sondern einzig und allein von der Fatalität?

»Ich weiß«, fuhr Herr von Bethmann-Hollweg fort, wie aus tiefem Nachdenken heraus, »ich habe Fehler gemacht, in der inneren und in der äußeren Politik. Aber es sieht oft leichter aus, als es ist, und wer hätte in solcher Zeit, und während eines dreijährigen Krieges, keine Fehler gemacht? Man hat mir gesagt, ich müsse gehen, denn ich sei ein Friedenshindernis. Ich habe mich ehrlich gefragt, ob ich das bin. Ich glaube nicht, daß ich die Frage bejahen muß. Bei unseren Bundesgenossen besaß ich wohl ein besonderes Vertrauen. Und sogar in England – neulich war ein Neutraler bei mir, der aus London kam und mit den britischen 153 Ministern gesprochen hat. Er hat mir berichtet, und ich habe mich aufrichtig darüber gefreut –: »Sie hätten zuhören können, man hat kein schlechtes Wort über Sie gesagt« . . . In der Tat, er war, trotz allem, was er zu den Geschehnissen beigetragen hatte, unter den Persönlichkeiten, die auf der Seite Deutschlands und Österreichs eine Rolle in der Tragödie spielten, so ziemlich der einzige, über den man auch in der Welt der Gegner mit einer relativen Milde sprach und schrieb. Als sich sein Schicksal vollendete, spendeten ihm auch verbohrte Hasser ein gewisses Mitgefühl. In der Befriedigung, die er über die Mitteilung empfand, daß englische Minister nicht schlecht von ihm gesprochen hätten, verriet sich ein Zug seines innersten Wesens – er sehnte sich, gerade weil er wahrscheinlich doch seine Fehler heimlich sich eingestand oder Zweifel hegte – nach Versöhnung mit der Menschheit, wie er gehofft hatte, daß es ihm vergönnt sein werde, das eigene Volk nach soviel Leiden an sein Herz zu ziehen. Wenn er im Reichstag die großen Kriegsreden hielt und besonders das perfide Albion darin anklagte, so war seine Rhetorik ebenso beeinflußt von dem Zorn des abgewiesenen Freiers und des unglücklichen, von der Konkurrenz geschlagenen Rechengenies, wie von der Notwendigkeit, den Kriegsgeist zu entflammen, aber es war ein Zorn, der bereit war, zu erlöschen, beim ersten Versöhnungswink. Im Mai 1916 hatte Herr von Bethmann-Hollweg nach einer Rückkehr aus dem besetzten Gebiet Nordfrankreichs mir erzählt, in einem Orte dort habe ein Schreibwarenhändler, mit dem er sich vorzüglich unterhalten habe, sehr vernünftige Ansichten über die künftigen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich gehabt. Und in dem französischen Schlosse, in dem für den deutschen Reichskanzler Quartier gemacht worden war, habe der Verwalter immer wieder geäußert: »Nach dem Kriege muß unser Herr Sie kennen lernen, Sie müssen uns dann wieder besuchen, unser Herr wird sehr erfreut sein, Sie zu sehen.« Herr von Bethmann erzählte das mit einer sympathischen naiven Genugtuung und Zuversicht. Er hätte es gern 154 gehabt, wenn es in diesem Weltkrieg so ritterlich zugegangen wäre, wie in einem Turnier, und es bestand nur leider ein Unterschied zwischen einem von Walter Scott beschriebenen Turnier und einem Kriege, in dem es einige Millionen Tote und Verwundete gab, ganz abgesehen von den anderen Millionen, die siech und elend aus diesem Anlaß umgekommen sind. Wie die sehr barbarische Wahrheit von Troja und ähnliche antike Tatsachen durch das hellenische Versmaß und den italienischen Marmor eine schöne glatte Form erhielten, so wollte Herr von Bethmann-Hollweg sich gern den Ausgang des Krieges vorstellen, sich gleichsam die Härten und Schroffheiten hinwegglätten, und deshalb war er dann an dem Tage, an dem ich ihn noch einmal wiedersah, an dem Tage der Kriegsverbrecherliste, wirklich zerschmettert, ins Herz getroffen, todgeweiht. Er hatte zwei Seelen, die Seele des Ethikers und die Seele eines an die Realitäten geketteten Regierungsleiters – die Seele mit der von ihm als Dogma verkündeten »gottgewollten Abhängigkeit«. In dieser gottgewollten Abhängigkeit von stärkeren Mächten hätte er, wäre er der Kanzler eines siegreichen Deutschland gewesen, wahrscheinlich allerlei der Versöhnungsidee Abträgliches mitgemacht. Aber der Ethiker – und in englischer Ausgabe war er unter dem Namen Sir Edward Grey vorhanden – hatte, wie die Frommen eine Marienfigur, auf dem Tisch neben dem Bett die Figur der Menschheitsverbrüderung aus Wachs.

Es waren Zigaretten in schwer bestimmbarer Anzahl geraucht worden, die Aschenbecher waren mit den Opferresten bis an den Rand gefüllt. »Das einzige«, sagte Herr von Bethmann, »was mich bekümmert, ist, daß ich nun nicht mitarbeiten kann, daß ich stillsitzen muß.« Er machte einen kleinen Versuch, zu lächeln, und ich entgegnete, indem ich mich erhob: »Ja, wenn wir ein Staatssystem wie in England hätten, würden Sie nicht ganz stillsitzen müssen, sondern säßen wie Asquith im Parlament.« Er lächelte wieder, unbestimmt, ausweichend, weder bejahend noch verneinend, und ich ging hinaus durch die öden Vorzimmer, in denen, als einziges lebendes Wesen, ein 155 ergrauter Diener offenbar darüber nachsann, ob ihm seine Pension in jedem Falle, auch bei Erdbeben und Wirbelsturm, gesichert sei.

 

Vielleicht war in diesem Augenblick der Nachfolger, Herr Michaelis, gerade damit beschäftigt, in die Antrittsrede, die er vor dem Reichstag halten sollte, noch ein paar doppelsinnige Feinheiten einzufügen und ihrer Inhaltlosigkeit die letzte Glätte zu verleihen. Daß dieser Verwaltungsbeamte auf den Posten des Reichskanzlers gestellt worden war, hatte die sehr vielen verblüfft, die ihn nicht kannten, und noch mehr diejenigen, die schon einmal Gelegenheit gehabt hatten, ihn in der Nähe zu sehen. Eine Rede über die Ernährungsfragen, die er vor nicht langer Zeit gehalten hatte, war in den Zeitungen gelobt worden, und in der Verlegenheit hatten sich die Warwicks, die nun in Deutschland die Kanzler machten, wahrscheinlich gesagt: »Wie hieß doch der Mann, dessen Speach damals den Leuten gefallen hat? – den kann man ja holen, so gut wie ein anderer wird er auch noch regieren können!« Von Bülow, von Bernstorff und von anderen Kandidaten wußte man zu viel, und da man von Herrn Michaelis garnichts wußte, wurde er auserwählt. Dies war in einer Zeit, in der die deutsche Katastrophe drohte, eine Methode der Auslese, die selbst den abgebrühtesten und an alles gewöhnten Skeptikern eigenartig erschien. Weniger absonderlich war es, daß der Erkorene das Amt mit ruhiger Selbstverständlichkeit angenommen, es nicht mit dem Hinweis auf mangelhafte Vorbereitung abgelehnt hatte, denn sehr selten hatte in diesem Reiche ein Staatsdiener, dem ein höherer Posten, ein Ministerposten oder dergleichen, angeboten wurde, sich nicht stark genug gefühlt, und wenn man mit unzureichenden Mitteln die Beförderung annahm, so geschah das nur aus Treue und weil man gewohnt war, dem König zu gehorchen und dem Vaterlande Opfer zu bringen. Als Herr Michaelis dann aus der provinziellen Verborgenheit, in der er gewirkt hatte, mit dem immerhin noch schimmernden Reichskanzlertitel vor die kritisch gestimmten Zuschauer 156 trat, begann ein allgemeines Fragen, wer der Entdecker sei. Aber der Entdecker meldete sich nicht. Sieben Städte Griechenlands behaupteten, sie seien die Geburtsstätte Homers. Siebzig Personen in Amtstellen erklärten, die Geburt dieser Kanzlerschaft sei fern von ihnen geschehen.

Da der neue Reichskanzler mir mitteilen ließ, daß er mit mir zu sprechen wünsche, ging ich am Nachmittag des 27. Juli zu ihm, in das alte Haus zu dem neuen Herrn. Im Vorhof des Kanzlerpalais standen noch zwei Möbelwagen, und in der Eingangshalle wurde gerade mit starken Stemmeisen eine riesige Kiste aufgeknackt. Offenbar wurde im ganzen Palais sehr ernsthaft umgebaut. Daß sich die Ankömmlinge so für eine lange Dauer einrichteten, konnte Vertrauen erwecken und war jedenfalls ein Beweis für ihr eigenes Vertrauen. Herr Michaelis residierte nicht in dem Arbeitszimmer, in dem sein Vorgänger Bethmann und andere Kanzler des Reiches gesessen hatten, sondern erledigte die Regierungsgeschäfte vorläufig in einem etwas abgelegenen Raum, der übrigens keineswegs pomphaft war. Geschah es nur provisorisch oder aus Takt, Pietät, Bescheidenheit, oder sollte damit unterstrichen werden, daß nun wirklich eine neue Ära begann? Im Vorzimmer war noch ein Durcheinander von eben erst ausgeladenen oder aus anderen Salons herbeigeschleppten Möbeln – manches davon glaubte ich wiederzuerkennen. Hier wurde neu möbliert, aus den Überbleibseln der vorigen Mahlzeit wurde das neue Gulasch hergestellt. Als ich durch das Fenster hinausblickte, sah ich unten im Garten einen gedeckten Teetisch, an dem die Gattin des Reichskanzlers mit einigen Gästen, Damen und Herren, saß. Es schien ziemlich steif herzugehen, die Gäste waren anscheinend vom Respekt gelähmt, hielten sich so schnurgrade, als stiege ihnen das Fischbein bis zum Halse hinauf, und blieben, trotz der ermunternden Freundlichkeit der Wirtin, rettungslos zu Salzsäulen erstarrt.

Herr Michaelis streckte mir die Hand entgegen und begrüßte mich, als ob wir mindestens Schulkameraden gewesen seien. Er behauptete auch, wir seien uns schon begegnet, aber 157 das war ein Irrtum oder eines jener gewollten Mißverständnisse, mit denen geistreiche Salonlöwen sich in ein Gespräch mischen und fabelhafte Lebemänner auf der Straße galante Annäherungen beginnen. Auf den Bildern und den Zeichnungen sah er sehr brummig aus. Mir erschien er garnicht brummig, aber beamtenhaft, und am ehesten konnte er ein Fürsorgebeamter, der vortreffliche, musterhafte Verwalter eines Stiftes, eines Waisenhauses sein, eines frommen Stiftes, eines Waisenhauses, in dem man dem lieben Gott fleißig dankt. Er war kaum mittelgroß, und es konnte nichts schaden, daß er sich auch dadurch von seinem Vorgänger unterschied. Man muß dem Publikum Abwechselungen bieten, nur nicht immer dieselbe Szene, dieselbe Persönlichkeitssorte, dieselbe Erscheinung, dasselbe Gesicht. Wenn ich die Gesichtszüge des Reichskanzlers Michaelis noch heute genauer beschreiben sollte, so wäre ich allerdings in nicht geringer Verlegenheit. Die einzigen Details, die sich mir eingeprägt haben, sind die dunkle Haarfarbe und der freundliche Ausdruck, die Miene des guten Herbergsvaters, alles Übrige hat sich im Laufe der Zeit verwischt. Daraus darf natürlich nicht gefolgert werden, der Kopf sei uninteressant gewesen, die Physiognomie habe der charakteristischen Züge entbehrt und mir damals keinen Eindruck gemacht. Es ist ja eine Tatsache, daß wir uns an jedes Schnurrbarthaar eines völlig gleichgültigen Menschen erinnern können, während unsere Phantasie oftmals infolge eines tückischen Versagens ein geliebtes und tausendmal zärtlich betrachtetes Antlitz trotz angestrengtem Herumsuchen nicht nachzubilden vermag.

»Ich hätte mir, Sie dürfen es mir glauben«, sagte er, »nie angemaßt, dieses Amt zu übernehmen, wenn ich nicht so überzeugt gewesen wäre, daß doch schließlich die Tatsachen das Entscheidende sind. Die Entscheidung kann nur von den Tatsachen kommen« . . . »Immerhin, man kann sie dirigieren«, wandte ich schüchtern ein. »Gewiß«, nickte er, »man soll sie beobachten und soll dann zufassen, aber gewissermaßen hängt doch alles von ihnen ab.«

Sprach er so nur aus Bescheidenheit? Sicherlich nicht, und es 158 war dies die Theorie, mit der sich der Ehrgeiz als etwas Erlaubtes und, da ja doch alles von den Ereignissen abhing, beinahe Harmloses und Unschädliches entschuldigen ließ. Wir haben auch Staatslenker erlebt, die uns versicherten, sie hätten den hohen Posten, zu dem sie sich unserer Meinung nach durch die Schlüssellöcher hingeschlängelt hatten, nicht freiwillig an sich gerissen, ein göttlicher Befehl sei ihnen zugegangen, und es sei eine himmlische Mission. Wir wurden Zeugen davon, wie das Salböl des Gottesgnadentums, sonst nur Vorrecht der Kaiser und Könige, auf die Stirnen und in die Reden solcher Gralsritter floß. Herr Doktor Michaelis hielt sich von diesen Übertreibungen fern. Aber er war ein Zahnarzt, der dem Patienten mit der verbundenen Backe sagte, Zahnschmerzen müßten sich natürlich entwickeln und über ihre Dauer entscheide nicht die ärztliche Kunst, sondern der erkrankte Nerv.

Wir sprachen von der Lage und von dem Ruf nach inneren Reformen, und der neue Kanzler des Reichs meinte: »Es ist ein Denkfehler unserer Gegner, daß sie glauben, sie könnten den König von Preußen besiegen, indem sie zur Demokratisierung Deutschlands drängen.« Diesem Ausspruch zufolge befand sich Herr Michaelis also in dem seltsamen Wahn, daß nur das Ausland die Reformen wünschte, und ich hielt es für nötig, ihn aus diesem eigentümlichen Irrtum zu befreien. Er blieb hartnäckig, mit einer leichten Rückwärtsschwenkung: »Es ist ein Denkfehler unserer Gegner – aber ich gebe zu, daß man auch auf Denkfehler der Gegner eingehen soll, wenn das zum eigenen Nutzen nötig ist. Ich kann mir denken, daß ich mich so stellen könnte, als ob ich den Denkfehler nicht sähe, und daß ich darauf eingehen könnte – für die Galerie« . . . »Für die Galerie?« fragte ich, ein wenig verblüfft über die Bekenntnisse des so garnicht aus der Renaissance niedergestiegenen Macchiavell im Sonntagspredigerrock. – »Nicht für die Galerie bei uns, da werde ich niemals etwas für die Galerie tun, selbstverständlich nicht, und ich würde auch nie etwas tun, was meiner Ansicht nach unserem Lande schädlich sein könnte, auch nicht, um dadurch den 159 Frieden zu erlangen.« Ob er glaube, daß eine andere Verteilung der Macht und der Verantwortung dem Lande schädlich sein müßte, fragte ich ihn. Man müsse sich doch vorstellen, was nach diesem Kriege kommen werde, – eine enorme Unzufriedenheit werde zurückbleiben, man werde dann über alles, auch über die Politik, die dem Kriege vorausging, offen sprechen können, man werde Schuldige suchen, der Sturm werde sich gegen den Kaiser wenden, die Monarchie brauche eine Deckung, und die gebe es nicht ohne wirklichen Parlamentarismus, ohne Mitverantwortung einer Volksvertretung, und ganz gewiß nicht unter einem absolutistischen oder halbabsolutistischen persönlichen Regime. Er überlegte ein paar Sekunden lang, was er antworten sollte, und sagte schließlich: »Nehmen Sie an, Eduard VII. hätte einen Krieg erklärt, und England hätte den Krieg verloren, dann hätte man den König doch auch beschuldigt, nicht wahr? Trotz parlamentarischem System, ganz ebenso?« . . . »Nein«, mußte ich ihm erwidern, »denn er hätte ja garnicht den Krieg erklären können. In England kann der Krieg nur von der parlamentarischen Regierung und mit Erlaubnis des Parlamentes erklärt werden, und also ist der König gedeckt. Es ist schon eine hohe Staatsweisheit, die zur Entwicklung dieses Systems geführt hat und die modernen Völker veranlaßt, es jedem anderen Regime vorzuziehen.« . . . Er, mit einem leichten Kopfschütteln und in der Haltung eines Examenskandidaten, der seine Unsicherheit durch möglichst bestimmt klingendes Wiederholen der falschen Jahreszahl verbergen möchte: »Das kann man doch nicht sagen, auf Frankreich trifft es doch nicht zu.« . . . »Ja, auch auf Frankreich, denn das Kaiserreich hat schneller abgewirtschaftet als die parlamentarische Republik, die ein Ventil für alle Unzufriedenheiten geschaffen hat.« Ersichtlich fand er das Thema zu brenzlich, die Unterhaltung stockte, er suchte einen Notausgang und sagte: »Sie begreifen, ich muß mir jetzt erst einmal ein Gesamtbild machen, ich muß aus dem allen das rechte Bild herausarbeiten, erst die richtige Klarheit gewinnen. Ich bin ja durchaus der Meinung, daß die Volksvertretung 160 mehr herangezogen werden kann, zum Beispiel auch was die Vorbereitung der Gesetze betrifft. Ich glaube garnicht, daß nur der Beamte imstande ist, Tüchtiges zu leisten – ich kenne doch unsere Beamten, es sind vorzügliche Elemente, aber natürlich haben sie auch ihre Fehler, wie jedermann. Ich erwarte wirklich etwas von der Zusammenarbeit mit dem Parlament, ich freue mich sogar darauf, ich erwarte mir etwas Lebendiges, etwas Belebendes davon« . . . Auf einen nahen Frieden zu rechnen, wage er nicht. Allerdings sei ja besonders in Frankreich und in Italien die Kriegsmüdigkeit schon sehr groß. »Ja«, wandte ich ein, »wenn man es nicht zum Krieg mit Amerika hätte kommen lassen, aber nun bringen die ihre Armee übers Meer.« Es gab zu viel anstößige Themata, das Gespräch konnte sich zwischen all diesen Dornenhecken nicht weiterbewegen, liebenswürdige Abschiedsworte wurden gewechselt, und Herr Michaelis sagte mir, wir müßten miteinander Fühlung halten, die politischen Meinungsverschiedenheiten brauchten ja nicht die persönlichen Beziehungen zu berühren, und er hoffe, mich recht häufig zu sehen.

Diese Hoffnung, von deren Aufrichtigkeit ich überzeugt war, konnte sich nicht erfüllen. Herr Michaelis hatte auch nicht Zeit, sich erst einmal ein Gesamtbild zu machen, und die durchgreifenden Veränderungen der Kanzlerwohnung, die eifrig unternommene Neueinrichtung und die ganze Plage mit den Möbeltransporten und dem Auspacken hätte man sich ersparen können. Ungefähr einen Monat nach unserer fruchtbaren Aussprache gab es im Hauptausschuß des Reichstages einen erregten Zwischenfall. Der Reichskanzler Michaelis versuchte, von der Friedensresolution abzurücken, der er in seinen Besprechungen mit den Parteiführern ausdrücklich zugestimmt hatte, und er tat das so wenig geschickt und stolperte, als er dann hinterher auch diesen Widerruf widerrufen wollte, so unglücklich über seine eigenen Füße, daß ein Sturm losbrach und die Linksparteien und das Zentrum einen Augenblick lang entschlossen waren, sofort seinen Rücktritt zu verlangen. Nur der Demokrat Payer hielt die Empörten zurück. Während 161 das Opfer, das anonyme Gönner in dieses Leben hineingestoßen hatten, blaß und eingeschüchtert sich von solchem Aufruhr umtobt sah, saß neben ihm Herr Helfferich, der Reichsschatzsekretär, regungslos und mit einer Miene, die eine vollkommene eherne Gleichgültigkeit bewies. Seither war alles nur noch eine Agonie dieser Kanzlerschaft. Am 6. Oktober kam es, bei einer Debatte über die alldeutsche Agitation und ihre Begünstigung im Heere, im Reichstag zu scharfen Zusammenstößen zwischen dem Kriegsminister von Stein und der Linken, und alle Parteien waren wütend darüber, daß der Reichskanzler weder zu der einen noch zu der anderen Seite sich bekannte und nur die Schnecke zu beneiden schien, die sich vor der Gefahr in ihr Haus zurückziehen kann. Sein Schweigen galt als ein letzter Beweis seiner Unzulänglichkeit, und als er am nächsten Tage redete, war das nur ein allerletzter Beweis. Die Krise war unvermeidlich geworden, die Suche nach einem neuen Mann begann wieder, Herr von Payer und Konrad Haussmann, die Demokraten, begeisterten sich in den Reichstagshallen, in den Sitzungen der Parteivorstände, in den Zeitungsredaktionen und überall, wo sich die Propaganda zu lohnen schien, für den Prinzen Max von Baden, und dann wurde, als wollte man mit den frischen Reserven sparsam umgehen und erst die alten Reste verbrauchen, der Freiherr von Hertling, der hochbetagte Zentrumsführer, zum Reichskanzler geweiht.

Herr Michaelis ist eigentlich von niemandem verteidigt worden, man hat über ihn nur Unfreundliches gesagt, und natürlich konnte man den Reichskanzler nicht wegen seiner familiären und häuslichen Vorzüge loben, und wegen der Tugenden, die er als gewissenhafter Stiftsverwalter und pflichttreuer Beamter besaß. Zweifellos hat seine Ernennung sehr viel zu der Diskreditierung des Kaiserreiches beigetragen, unter dem sie, in solcher Situation, möglich war. Wie Napoleon nach der Flucht von Elba hat Herr Michaelis seine hundert Tage gehabt, oder doch nur wenige hinterhergeschleppte mehr. Aber es war kein hunderttägiges Epos, und wenn es ein Trauerspiel war, so 162 fehlte ihm nicht nur die historische Linie, sondern auch jeder verklärende Zug. Die Pfeile, die jetzt gegen die kleine Figur des Herrn Michaelis abgeschossen wurden, mußten eigentlich denjenigen gelten, die Herrn von Bethmann gestürzt hatten, um dem Volke diesen Ersatzmann hinzustellen. Aber da die Parteiführer selber an der Intrige beteiligt gewesen waren, wurde das Urteil nur an der Person des Entdeckten, nicht an den leichtfertigen Entdeckern vollstreckt. Herr Michaelis verschwand still und würdig in das Dunkel, aus dem er so plötzlich aufgetaucht war. Es ist anzuerkennen, daß er sich von den Pfeilen mit der ruhigen, milden Geduld des heiligen Sebastian durchbohren ließ. Er war auch keineswegs, wie damals viele behauptet haben, ein falscher Biedermann. In den Romanen von Dickens gibt es die wunderbar guten und die scheußlich bösartigen Waisenhausväter, aber im Leben gibt es unendlich mehr Variationen, wobei garnicht erst betont zu werden braucht, daß Herrn Michaelis nichts fremder war, als irgend eine teuflische Eigenschaft. Es ist richtig, daß er glaubte, es mit der Wahrheit oder doch mit der Wahrhaftigkeit nicht so genau nehmen zu sollen. Er hatte wahrscheinlich gehört, daß ein Staatsmann nicht sein Herz auf der Zunge tragen dürfe, und daß man über die Lüge des Feindes nicht mit lilienreiner Wahrheitsliebe triumphieren könne, und in vaterländischem Pflichtgefühl unterwarf er sich dieser traurigen Notwendigkeit. Auch da muß man einschalten, daß in der Menschenseele zwischen Wahrheit und Unwahrheit keine absolut feste Scheidewand besteht. Sie sind nicht so getrennt voneinander wie auf den Bildern des Fra Angelico die Beglückung des Jüngsten Gerichtes und die Verdammnis, und nicht so unfähig, sich miteinander zu vermischen, wie Wasser und Öl. Wie Herr Michaelis es mit der Aufrichtigkeit hielt, so hielten es mit ihr tatsächlich auch die meisten Staatslenker in anderen Ländern, sie alle balancierten zwischen der Wahrheit und der Lüge, benutzten die doppeldeutigen Phrasen und sahen in der reservatio mentalis eine unentbehrliche Zuflucht, ein erlaubtes Hilfsmittel der Politik. Trotzdem gab es niemanden, 163 der ihnen den Titel »Gentleman« bestritt. Leider hatte Herr Michaelis, wie schon in kurzer Unterhaltung sich zeigte, nicht die richtige Manier, seine Sprache war wie ein Flüßchen mit unablässigen Windungen, es gab in ihr zu viele und zu auffällige Vorbehalte und weithin sichtbare Verstecktheiten, und das mochte ein Naturfehler wie das Stottern sein. Wenn Herr Michaelis eine Sache nicht ganz klar sagen wollte, wurde seine Aufrichtigkeit so stotternd, daß »die Galerie«, die er bluffen zu können meinte, sofort die Absicht begriff und sich Heinrich Heines Bemerkung im Buch »Lutetia« bestätigte, die Unwahrheit verderbe den Stil. Die Galerie läßt sich im allgemeinen die kleinen Zweideutigkeiten gefallen, wenn sie von einem Staatsmann mit einem gewissen Charme, mit vornehmer Geste und Eleganz vorgebracht werden, ganz wie der Gast in irgendeinem Ritz oder Carlton die Gerichte eines berühmten Küchenchefs sich als Wunder der Kochkunst servieren läßt, obgleich er genau empfindet, daß es gar keine Wunder sind. Derselbe Gast entrüstet sich, wenn in einem Restaurant zweiten Ranges ein schlecht rasierter Kellner ein paar Zahlen auf der Rechnung doppelt addiert.

 

Als die Berufung des Herrn Michaelis erfolgte, hatte es eigentlich keine Opposition gegen sie gegeben und es hatte keine geben können, denn Herr Michaelis kam so plötzlich wie eine Sternschnuppe vom Himmel herab. Gegen die Ernennung des Freiherrn von Hertling waren so ziemlich alle Parteien und außerdem noch der gesunde Menschenverstand. Die führenden Parlamentarier der Mehrheit, der Linken, des Zentrums und der Nationalliberalen, erörterten in ihren Besprechungen sehr viele Kandidaturen, neben dem Prinzen Max wurden Kühlmann, jetzt Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Solf, Graf Bernstorff, Graf Brockdorff-Rantzau, Fürst Hatzfeld auf die Liste gesetzt. Die Linksparteien, besonders die Sozialdemokraten, wollten Herrn von Payer als Vizekanzler haben, und auch der Name des Berliner Oberbürgermeisters Wermuth wurde erwähnt. Sogar Erzberger agitierte gegen seinen Parteigenossen 164 Hertling, und man kann nicht sagen, der bekannte Machthunger des Zentrums habe diese Lösung der Kanzlerkrise erzwungen. Bis zuletzt wurde allgemein angenommen, daß Herr von Hertling durch die kühle Empfangstemperatur und außerdem durch seine der Pflege bedürftigen Altersbeschwerden veranlaßt werden würde, auf das Kanzleramt zu verzichten, aber auch diesmal wieder rechnete man nicht mit der Treue, die sich immer bewährte, wenn eine hervorragende Stellung zu besetzen war und der König rief. Was außer diesem Gefühl der Treue konnte den Freiherrn von Hertling bewegen, am Abschluß eines gesegneten Lebens zu all seinen früheren Titeln noch den des Reichskanzlers hinzuzufügen und zu gestatten, daß man im Orkan seinen Lehnstuhl auf die Kommandobrücke trug? Der Ehrgeiz, eine Idee, einen rettenden Plan auszuführen, konnte ihn nicht treiben, denn er hatte keine Idee und keinen Plan. Aber weshalb fiel, nach dem Erlebnis mit Herrn Michaelis, die Wahl auf ihn? An der Spitze Frankreichs stand Clémenceau, hoch in den Siebzig, und was ein alter Bordeaux tun kann, fand man vermutlich, kann ein alter Rheinwein ebenfalls tun. Wir wissen, was Cicero zum Ruhme des Alters geschrieben hat. Wir wissen auch und haben es oft gesehen, daß begnadete Menschen im hohen Alter eine neue Periode der Tatkraft, den schöpferischen Johannistrieb haben, und kennen genug Dichter und Staatsmänner, deren Produktivität so spät erst zur stärksten und reichsten Entfaltung kam. Der Freiherr von Hertling hatte in seinem langen Leben alles erreicht, was sich durch nützliche Talente, im Verein mit freiherrlichem Gesellschaftsrang, erreichen läßt – er war keine blendende Persönlichkeit, kein fesselnder Redner, kein bahnbrechender Denker, aber der Papst, der König von Bayern, der Kaiser von Deutschland, die Partei, die gelehrten Körperschaften hatten ihm ihre begehrtesten Auszeichnungen verliehen, und er war, wie ein Weihnachtsbaum mit bunten Ketten, mit Ehren behängt. Jetzt konnte man noch den höchsten Aufputz, die Kanzlerwürde, hinzufügen, aber neuen Saft treiben und grünen konnte der Baum nicht mehr.

165 Der patriarchalische Nimbus, der manche Leute verleitet, in einer Todesanzeige zu sagen: »Im ehrenvollen Alter von 85 Jahren verstarb unser Vater, Großvater und Urgroßvater« – ganz, als ob es ehrenvoll wäre, so alt geworden zu sein – war trotz allem bei weitem nicht so groß wie der Nimbus des Zentrums und der katholischen Kirche, die leitend und alles überschauend hinter ihren kämpfenden Vortruppen stand. Es war eine unerschütterliche Meinung, daß die politische Klugheit sich in diesem Reservoir angesammelt habe, und in den Worten »katholische Kirche« lag der Klang einer grandiosen, gleichmäßig und gleichmütig durch die Jahrhunderte schreitenden Weisheit, tauchte die Festigkeit des Fels Petri auf. Nach der Periode jener Päpste, die, wie Sixtus IV. und Alexander VI., der Vater Cesare Borgias, ein so ungeheures Ärgernis gewesen waren, hatten auf dem Heiligen Stuhl, so schien es wenigstens, fast nur noch die weithinaus denkenden, im höchsten Sinne politischen Kirchenfürsten gethront. Und sogar den Borgiapapst Alexander VI. hat, ebenso wie seinen Sohn, der Geschichtsschreiber Rafael Sabatini von dem Pranger herunterholen wollen. Seit Windthorst, der Liebling aller Karikaturisten, die Fehde gegen Bismarck mit so viel Witz und fuchshafter Geschmeidigkeit geführt hatte, war auch von seinem Ruhm ein Abglanz dem Zentrum verblieben, und die Partei wurde für einen Fuchsbau, für ein Malepartus gehalten, in dem jeder Nachkomme dem Ahnherrn ähnlich sah. Aber auch in der Familie Reineke schwächten sich die Fähigkeiten ab.

Reichskanzler Graf Hertling

Reichskanzler Graf Hertling

In den elf Monaten der Regierung Hertling habe ich nur einmal Gelegenheit gehabt, mit dem Reichskanzler zu sprechen, und was in den wenigen Minuten gesagt wurde, war so unerheblich, daß die Worte »Unterredung« und »Gespräch« unpassend sein würden, wie in den Zeitungen über einer winzigen Begebenheit eine klobig fette Überschrift. Obgleich Kühlmann und in seinem Auftrage sein Mitarbeiter Herr von Hoesch mich dringlich ersucht hatten, für die Kandidatur Hertling einzutreten, hatte ich mich sehr kritisch geäußert und später hatte ich keine 166 Veranlassung, nun wieder das Reichskanzlerpalais aufzusuchen, in dem die Vorzimmer mehr als je den Geruch der Möbelkirchhöfe hatten, während mir die dahinter liegende geistige Luftschicht kühl und unbewegt wie die Atmosphäre einer Schloßkapelle erschien. Indessen, am 6. November, war bei Herrn von Hertling großer Empfang. Auf der Einladungskarte stand feierlich und zeremoniös die in der Kriegszeit sonst nicht gebräuchliche Anweisung: »Von neun bis zehn ein halb nach dem Abendessen, bitte Frack.« Die Zeitbemessung deutete an, daß der Hausherr es liebte, vor elf Uhr schlafen zu gehen. Als ich kam, stand er in einer plaudernden Gruppe, auf seinem Frack glänzte ein Ordensstern, und der zierliche, kleine Mann hatte die elegante, gepflegte Altersgrazie und die feine Routine eines an den Umgang mit Prinzessinnen gewöhnten Hofministers und eines päpstlichen Kammerherrn. Mit Rizoff, dem bulgarischen Gesandten, und mit Hakki Pascha, dem türkischen Botschafter, diskutierte ich das hochpolitische Problem, welcher Mensch der glücklichste sei. Rizoff, den eine Sehnsucht zu der schriftstellernden Gilde zog, behauptete, der Journalist sei glücklicher als ein König, und Hakki Pascha gab dem »gros millionaire« den Preis. Während Rizoff einwendete, daß der Millionär am Morgen nicht wisse, was er mit dem Tage anfangen solle, näherte sich Herr von Radowitz, Unterstaatssekretär der Reichskanzlei, und bat mich, zu Hertling zu kommen. Ganz wie der Doktor Michaelis, konstatierte auch der Freiherr von Hertling die in meinem Gedächtnis nicht vermerkte Tatsache, daß wir alte Bekannte seien, und sagte dann mit einer Stimme, deren Ton schon im Voraus beschwichtigte, nun würde man gewiß im Innern eine Zeit der Ruhe haben, und er habe sich ja, wie ich wohl wisse, auch für das gleiche Wahlrecht eingesetzt. »Hoffentlich entspricht das Resultat Ihren Bemühungen«, erwiderte ich . . . Er: »Ja, was daraus wird . . . !«

 

Was aus allem, und nicht nur aus der Wahlrechtsreform, einer nun nebensächlichen Angelegenheit, im Lauf der elf Monate wurde, in denen der Freiherr von Hertling 167 Reichskanzler war, steht mit tief eingemeißelten Lettern auf dem Trauerdenkmal der Zeit. Wie die Hofleute Marie Antoinettes, die Besenval und Vaudreuil, saß der Freiherr von Hertling auf dem Ufer und sah den unaufhaltsam anschwellenden Gebirgsstrom, der schon Felsblöcke mittrug und Brücken einriß, vorüberziehen. Er saß nicht da mit der geistreichen Nonchalance, der tändelnden Neugierde, der Ironie und der Selbstironie dieses sterbenden ancien régime, sondern mit korrekter Miene und gänzlich ohne Frivolität. Eine Möglichkeit, mit seinen aristokratischen zarten Händen in die Ereignisse entscheidend einzugreifen, sah er nicht, aber er wollte sich auch nicht übermäßig und nutzlos aufregen, seine Kräfte durften in dieser schweren Zeit nicht überanstrengt werden, und er war, wie gesagt, genötigt, vor elf Uhr schlafen zu gehen. Für das deutsche Volk war er gerade so vorhanden, als ob er ein Mondbewohner gewesen wäre oder der Gipsabguß einer ägyptischen Pharaonenfigur im hintersten Museumssaal. Das war um so bedenklicher, da man die Wahrheit über die Kriegslage nicht länger mit Siegesbulletins verdecken konnte, keine Zensur mehr imstande war, den Zusammenbruch der abermals mit ungeheuren Massenopfern bezahlten Westoffensive, die begonnene Räumung des vor vier Jahren eroberten Bodens, die Auflösung der österreichischen und bulgarischen Bundesheere und die Noten Wilsons, die immer deutlicher die Abdankung des Kaisers forderten, durch Schweigegebote fortzuzaubern, und das erschöpfte, verelendete Volk statt der ihm zu lange aufgedrängten Illusionen nun allzu jäh die grausame Wirklichkeit vor sich sah. Mancher hat sich damals und seither gefragt, ob nicht doch alles etwas anders gekommen und ob die deutsche Katastrophe so, in ihrer ganzen Furchtbarkeit, hereingebrochen wäre, wenn die Heerführer sich hätten bewegen lassen, die Westoffensive nur anzukündigen, ohne den Plan zur Ausführung zu bringen. Alle vorsichtigen Ratgeber waren der Ansicht, man müsse mit dieser Drohung die Gegner enervieren, weich machen für Verhandlungen, aber man dürfe nie und nimmer die letzte Karte ausspielen, 168 nicht dieses Vabanquespiel riskieren, dem unmittelbar der Sturz in den Abgrund folgen mußte, wenn es mißlang. Jetzt kam die Katastrophe heran wie eine unheimliche schwarze Wolkenwand, und das aufgeschreckte Volk suchte nach dem Lotsen, dem es sich anvertrauen könnte, und fand nur einen höflichen, ermüdeten fremden Greis. Auch Kühlmann, der einzige, der noch allenfalls in die Öffentlichkeit hinaus wirken konnte, war von Hindenburg und Ludendorff beseitigt worden, und seinen Platz nahm jetzt der ehemalige Admiral von Hintze ein, dem man viel diplomatische Gerissenheit zuschrieb, und der nur leider bei seinem Debut im Hauptausschuß weder durch diese Eigenschaft Eindruck machte noch überhaupt irgend einen Eindruck hinterließ. Ein neues Wort lief um, immer stärker hörbar: eine »Volksregierung« sollte kommen. Es war ein neuer Glaube in diesem neuen Wort. Durch Herrn Fehrenbach, seinen Parteifreund, im Auftrage aller über die Stimmung unterrichtet, trat Herr von Hertling zurück. Am 30. September wurde in einem kaiserlichen Erlaß die Teilnahme des Volkes an der Regierung proklamiert. Alles zu spät. Zu spät für den Kaiser und zu spät für das Volk, denn die in der Not herbeigerufene Demokratie konnte die militärischen Niederlagen nicht ungeschehen machen, sie mußte nun, während ihre schlimmsten Gegner spöttisch zusahen und ihr gern das Feld überließen, die undankbarsten Aufgaben übernehmen, und die Lorbeerbäume waren längst von anderen kahl gepflückt. Wenn die Karawane verdurstet, überläßt man es dem geduldigen, zähen und starken Tier, das den Scheich und sein Gepäck trägt, den Weg zur Oase und zur Quelle zu suchen, und dann wird es als »das stolze Schiff der Wüste« besungen. Hinterher ist es, wenigstens für viele Ungläubige, nur noch das Geschöpf, das dienen und das gelenkt werden muß, und das man mit seinem eigentlichen zoologischen Namen, ohne poetische Umschreibung nennt.

 

Ich war drei Wochen vorher von Passau auf der Donau nach Wien und Budapest gefahren und erst wenige Tage vor dem 169 Ausbruch der neuen Kanzlerkrise nach Berlin zurückgekehrt. In Wien hatte ich einen Hunger gesehen, der sogar den Witz in den Caféhäusern tötete, und auf dem Ring ein Spalier von Bettlern, wie Gestalten aus den Bildern Brueghels, aber schon auf dem Schiff zwischen Wien und Budapest gab es herrliches weißes Brot – und infolgedessen eine Überzahl österreichischer Passagiere –, und jenseits der ungarischen Grenze begann das Paradies. Schüsseln mit Kuchen auf jedem Tisch, vorzüglicher Kaffee mit Milch und Zucker, Berge von Butter, Speisekarten mit zwanzig Fleischgerichten, Zigeunermusik, fröhliche Sonntagspromenade mit schönen und eleganten Frauen auf dem Donauquai. Und von diesem Optimismus, der den Rhythmus der wundervollen Stadt bestimmte und der Sonnenluft ein noch helleres Funkeln gab, waren offenbar auch die ernstesten Menschen, Minister, Politiker, Bankdirektoren und Industrielle beherrscht. Ob ich den Ministerpräsidenten Wekerle besuchte, der wie ein großer französischer Notar und Anwalt reicher Familien, eine »gloire du Palais«, aussah, oder mit Andràssy sprach, oder mit dem Handelsminister Stérényi, oder mit Vàsonyi, dem Mann der Linken – Berlin und Wien wurden mit rauher Offenheit oder mit rücksichtsvoller Selbstbeherrschung kritisiert, aber irgendwie drang doch immer die Meinung durch, Ungarn werde den Bankrott am allerbesten, ohne Genickbruch überstehen. Ausgesprochen oder unausgesprochen, in den Worten oder hinter den Worten die gleiche Überzeugung: Deutschland wird den Kaiser fortschicken, Elsaß-Lothringen verlieren und eine Kriegsentschädigung zahlen, Österreich wird so kunstgerecht zerlegt werden, wie eine Rouenaiser Ente, aber Ungarn ist beliebt bei allen Nationen, und ihm wird nichts allzu Böses geschehen. Als ich auf der Rückreise wieder nach Wien gekommen war, hatte mich noch Graf Burian, der unglückliche Minister des Äußern, zu sich gebeten und mir bekümmert, ohne falsche Theatergeste, die Erklärung mitgegeben, daß Österreich nicht weiter Krieg führen könne und am Ende sei. Ich sollte das in Berlin berichten, aber es war keine Neuigkeit.

170 Die Berufung des Prinzen Max von Baden zum Reichskanzler, die man sich im Hoflager diesmal abringen ließ, konnte für das Volk eine symbolische Bedeutung haben, und es waren sogar verschiedene Symbole in ihr vereint. Baden war das Land einer liberalen Weltanschauung, in seinen Lebensformen ein wohltuender Gegensatz zu der preußischen Schärfe, die Deutschland doch auch nicht gerettet hatte, und zu dem offenbar in mancher Hinsicht hinter der Weltentwickelung zurückgebliebenen »Potsdamer Geist«. Die Michaelis und Hertling und das ganze Personal der bisherigen Regierungen und Nebenregierungen kamen aus Regionen, von denen nur schmale Wege zu den breiten Volksmassen gingen. Der Thronfolger in Baden stieg aus noch höheren Regionen hinunter, und doch schien diese Höhe nicht so volksfremd wie die Zwischenstufen, und es war so, wie manchmal in den Bergen: von den Leuten, die ein paar hundert Meter über der Ebene wohnen, bis zu denen unten ist es weiter als vom Gipfel zum Tal. Die Annahme des Kanzleramtes durch den Prinzen Max bewies in dieser Stunde der Gefahr ein wohltuendes Gemeinschaftsgefühl. Es war etwas Besonderes, noch nicht Dagewesenes, und nur das Besondere, noch nicht Dagewesene, konnte auf die Phantasie wirken und noch einmal einen seelischen Aufschwung bringen. Der badische Thronfolger stellte sich an die Spitze der Bewegung, die das Gottesgnadentum und den Absolutismus hinwegräumte und dem Volke das Recht, über sein eigenes Schicksal mitzubestimmen, errang. Und er war nicht Philippe Egalité. Allerdings, in der Vorstellung des Kaisers war er dieser Abtrünnige, – er beging Verrat an der Hohenzollerndynastie, an allen dynastischen Ideen, an der geheiligten Tradition. Denn der Fürst soll »der erste Diener seines Volkes« sein, aber so, wie es ihm gefällt, und niemandem verantwortlich als dem urewigen Richter, den man durch fleißiges Kirchenbauen zu versöhnen hofft. Aus grundverschiedenem Stoff sind der »erste Diener«, den Gott eingesetzt hat, und der erste Dienstbote, den man anstellt und den man fortschicken kann, selbst wenn er Bismarck 171 heißt. Der Abstand zwischen dem Thron und der obersten Stufe zum Throne ist größer als der Abstand zwischen der Sonne und der Erde, der nach den Berechnungen der Astronomen ja nur etwas über 149 Millionen Kilometer beträgt. Als in Rom der Kardinal Ascanio Sforza den türkischen Prinzen Dschem fragte, wie ihm ein Turnier gefalle, das man ihm zu Ehren, einige Zeit vor seiner stillen Ermordung, veranstaltete, gab dieser Orientale eine Antwort, die Wilhelm II. gewiß gern unter den Vorschlag geschrieben hätte, den Prinzen Max zum Reichskanzler zu ernennen. In seiner Heimat, sagte der Sultanssprosse, lasse man solche Kämpfe durch Sklaven aufführen, um die es, wenn sie dabei umkämen, nicht schade sei.

Der süddeutsche Demokrat Konrad Haussmann war der ergebenste Paladin des Prinzen Max. Durch Gesinnung, Geist und Temperament gehörte er einem schon damals ziemlich ausgestorbenen, nur noch in einigen Ausläufern existierenden Geschlecht echt demokratischer Volksmänner, dem Geschlecht von 1848 an. Hitzig, streitbar, leidenschaftlich, gütig, der Überlebende von den drei Musketieren oder aus der Linie Cyranos von Bergerac, ein Gascogner Kadett, ohne die überschäumende Ruhmredigkeit. In seinen Gefühlen ganz deutsch, in seinem Wesen mit einem Zusatz von französischem Saft. Gern stritt er mit mir, besonders in der Zeit, wo er den Schwaben Kiderlen-Wächter mit landsmannschaftlicher Liebe verteidigte, und dabei hätte seine lose schwarze Künstlerkrawatte eigentlich im Winde wehen müssen, wie die Schärpe eines Ritters im Gedicht des Ariost. Unter solchen Umständen neigte ich auch zu einigem Skeptizismus, wenn er mir den Prinzen Max mit einem wahren Missionarseifer rühmte und sein frisches Gesicht – in dem der langhaarige schwarze Schnurrbart sowohl die künstlerische wie die kämpferische Note verstärkte – etwas von dem Gesicht eines verliebten Jünglings bekam. Damit ich mich davon überzeugen könnte, daß der Prinz nicht zu sehr gelobt worden sei, sollte ich ihn selber sehen. Es wurde für den 22. Oktober ein Besuch verabredet, und Konrad Haussmann holte mich ab 172 und begleitete mich, ungefähr wie ein Professor der Kunstgeschichte uns stolz einen neu erworbenen Museumsschatz oder ein Bild in der von ihm behüteten Kathedrale zeigen will, oder ein Ingenieur uns mit dem Lächeln des Fachmannes zu der letzten technischen Errungenschaft führt. Der Prinz Max war erst seit drei Wochen Reichskanzler, aber es war, und gerade vor diesem Besuchstage, schon ein Schatten über seinen Weg gehuscht. Ein Brief, den er einmal während des Krieges an den krank in der Schweiz lebenden, geistig hochstehenden Prinzen Alexander Hohenlohe geschrieben hatte, war aufgefunden und veröffentlicht worden, bereitete seinen Anhängern Verdruß und Sorge und wurde von den reaktionären Kreisen mit schadenfrohem Halloh ausgenutzt. Alexander Hohenlohe, ein Sohn des Fürsten, des dritten Reichskanzlers, und Geistesverwandter Romain Rollands, war Pazifist und trat für die deutsche Neugestaltung ein. Persönlichkeiten wie dieser früh Verstorbene sind verschwunden hinter der Schar derjenigen, die es verstanden, sich geräuschvoll in den Vordergrund zu drängen. Prinz Max von Baden hatte in seinem Brief an den Prinzen Alexander sich über den Pazifismus und den Parlamentarismus absprechend geäußert und manches Wort geschrieben, das nun, ans Licht gezogen, in der veränderten Situation peinlich war. Beinahe hätte ihn, nachdem er kaum das Reichskanzlerpalais betreten hatte, diese Enthüllung schon wieder hinausgebracht. Aber er konnte sagen, daß er seine Ansichten seither geändert habe, und wer habe niemals seinen Standpunkt gewechselt und ein altes Kleid mit einem neuen vertauscht? Viele wechseln sogar die Haut.

Es war nun der vierte Reichskanzler seit dem Kriegsbeginn. Niemand dachte mehr an Bethmann, nur der Diener, der unten Hut und Mantel an dem Garderobenständer aufhing, war noch aus jener verschollenen Epoche zurückgeblieben, wahrscheinlich hatte man ihn wegen eines Herzleidens oder wegen Krampfadern vom Kriegsdienst suspendiert. Als Konrad Haussmann und ich eintraten, ging gerade der Reichskanzler Prinz Max, im sogenannten Interimsrock, 173 ohne Säbel und Mütze, von einem Büro zum andern quer durch das Vestibül. Er trug eine Aktenmappe hinüber, ganz als wäre er ein hier diensttuender Ordonnanzoffizier. Weder Herrn von Bethmann noch den Freiherrn von Hertling noch den Doktor Michaelis hätte man so antreffen können. Die Beamtenschaft hat ihre Hausregeln, ungeschriebene Satzungen über das, was sich für einen jeden seinem Grade nach gehört. Man sah, der Prinz Max hatte sich mit einer frohen Entschlossenheit in die Arbeit gestürzt. Und wie städtische Salonmenschen, die gelegentlich den Snobismus abschütteln können, sich im Sommer, abseits von parfümiertem Saisonbetrieb, beglückt dem Naturleben hingeben und darin fast zuviel tun, genoß offenbar der Prinz, vom Hofzeremoniell befreit, die Veränderung der Umgebung, die immens erweiterte Tätigkeit, den wichtigeren Stundenplan und sogar die unvergleichlich größeren Schwierigkeiten, Sorgen und Mühen. Er reichte uns die Hand, bat uns, nur einen Moment zu warten, und fragte dann, als er wieder aus dem Büro heraustrat, ob es uns passe, mit ihm im Garten spazieren zu gehen. Er habe ein Bedürfnis danach, den ganzen Morgen über sei er noch nicht an die Luft gekommen. Natürlich bejahten wir, er zog den Militärmantel an, und dann gingen wir durch den Park, meistens um eine große Rasenfläche herum und ein paarmal bis zu der Stelle, bei der die Fürstin Bülow so niedlich zu schwärmen pflegte: »Kennen Sie meine Pergola?« Die Kronen der alten Bäume hatten das herbstliche Rotgelb, und lyrische Gemüter, die aus Zeitgeschichte und Natur ihr Lied spinnen, hätten es sehr stimmungsvoll finden können, daß in der kühlen Luft welkes Laub wirbelte und daß, eine unleugbare Tatsache, in den letzten Oktobertagen sich vieles zu entblättern begann.

Nach der üblichen Ouvertüre – der Prinz hatte durch Brockdorff-Rantzau viel über mich gehört und dergleichen – wurde über die Note gesprochen, die soeben als Antwort an Wilson hinausgegangen war. Ich hatte sie nicht loben können, denn wie die meisten dieser deutschen Noten vermied sie sowohl den stolzen Ton wie das klare 174 Zugeständnis und war also, von jedem Standpunkt aus betrachtet, ein Produkt der Halbheit und der bürokratischen Ängstlichkeit. Der Kanzlerprinz sagte, er müsse mir zustimmen, auch er finde die Note nicht gut. »Aber es haben eben zu viele daran mitgearbeitet, und da ist natürlich manches mißlungen. Ich hatte einen Entwurf gemacht, man fand ihn aber zu weich, und obgleich ich das eigentlich nicht zugeben konnte, zog ich ihn zurück. Dann ist die Note gemeinsam verfaßt worden, – wie es so geht. Wenn Sie in solchen Fällen einen Gedanken haben, von dem Sie meinen, er könnte nützlich sein, so schicken Sie mir Ihren Vorschlag, ich bitte Sie darum, ich wäre Ihnen sehr dankbar dafür.« Ich entgegnete, er habe in seinen Ämtern genug vorzügliche Stilisten, eine solche Note aber sollte immer nur einer aufsetzen, und wenn neben zehn anderen auch noch ein Elfter mit Ratschlägen käme, so würde das Werk dadurch gewiß nicht an Einheitlichkeit und Eindruckskraft gewinnen. Am Nachmittag wollte er im Reichstag sprechen und mit dem Redeentwurf schien er zufrieden zu sein, denn er äußerte, er halte die Rede für besser als die Note, sie sei auch besser in der Form. Es zeigte sich hinterher in der Tat, daß es eine sehr schöne Rede war, beseelt von einem reinen Idealismus, im Ton anständiger, nicht schnarrender und protzender Männlichkeit, nicht zu laut und nicht zu leise und geformt mit einem an den besten Vorbildern geübten Stilgefühl. Die Reden, die der Prinz Max von Baden hielt, entsprachen durchaus seiner Persönlichkeit, die zwar nicht in den Schloßgemächern und Gärten Weimars zuhause war, die man sich aber vorstellen konnte, wie sie in einer nachweimarischen Periode beim großherzoglichen Tee ihre Freude an Gesprächen über den Goethekreis und an klassischer Bildung fand. Ganz allein hat er freilich Reden ebensowenig wie Noten geschaffen, ein ungenannter Mitverfasser stand daneben, aber die programmatischen Reden seiner sämtlichen Vorgänger waren fast immer von den Geheimräten ausgestattet worden, ungefähr wie bei einer ökonomischen Hochzeit ein Onkel die silbernen Messer und Gabeln und ein anderer die Löffel schenkt, 175 und der Mitarbeiter des Prinzen Max von Baden hatte sich wenigstens so sehr in das geistige Wesen des Firmenchefs hineingelebt, daß keine Zutat fremd erschien und alles dem Bilde, das man sich von dem Redner machen mußte, harmonisch entsprach.

Ziemlich unvermittelt sprach der Prinz dann von seinem Brief an Alexander Hohenlohe, und gerade weil er so ohne Übergang zu diesem Thema gelangte, konnte man bemerken, daß die Angelegenheit ihm schwer auf der Seele lag. Er sagte: »Es war ein unglückseliger Brief.« Er habe den Prinzen Alexander Hohenlohe sehr gern und gerade während des Krieges habe er ihn seiner Ehrlichkeit wegen noch lieber gewonnen, aber Alexander Hohenlohe habe ihn durch die scharfe Zuspitzung seiner Ideen gereizt. So sei er in seinem Briefe weitergegangen, als es eigentlich seine Absicht gewesen sei. »Manches in meinem Brief finde ich auch heute noch richtig, anderes hat mich, als ich es jetzt wieder gelesen habe, geradezu erschreckt. Aber wenn ich von der Ausnutzung des Krieges gesprochen habe, so habe ich dabei nicht an Annexionen, sondern nur an wirtschaftliche Ausnutzung gedacht.« Die Wendungen gegen den Parlamentarismus gab er preis. Er sehe die Dinge jetzt anders an . . . Das Gespräch sprang zu den Beschuldigungen über, die sich auf deutsche Plünderungen, auf die Fortschleppung von Maschinen, auf die militärische Herrschaft in den besetzten Gebieten bezogen und die auf der Gegnerseite nun mit so verstärkter Vehemenz wiederholt wurden, daß die Absicht, sie als Material auf den Verhandlungstisch zu schleudern, sich garnicht verkennen ließ. Ich fragte, ob man nicht wenigstens feststellen könnte, wohin die Maschinen gebracht worden seien und in wessen Besitz sie sich befänden, aber der Prinz wußte darüber nichts. Das Benehmen der Truppen auf dem Kriegsschauplatz, sagte er, habe ihm eigentlich immer einen sehr günstigen Eindruck gemacht. Und auch die Berichte neutraler Beobachter, die ihm zugegangen seien, hätten dieses gute Benehmen anerkannt.

Er ging sehr elastisch, mit ziemlich schnellen Schritten 176 zwischen uns beiden, und es war eine Art hygienischer Dauermarsch. Vermutlich war es sein gewöhnlicher Spazierschritt auf den Parkwegen badischer Schlösser, vielleicht fand er auch die Herbstluft etwas zu frisch, und es mag auch sein, daß das Tempo der Arbeit, gerade weil ihm ungewohnt, vorwärtsdrängend in ihm wirksam blieb. So frei und ungezwungen, offen und herzlich seine Sprache und seine Umgangsweise waren – man empfand, daß das alles sich ganz von selbst änderte, wenn die Ansprüche der Repräsentation es bedingten oder der höfische Einfluß die Gesten regulierte, die Worte dämpfte, die Haltung einer abzirkelnden Kontrolle unterwarf. Hier in Berlin waren die Politiker, mit denen er nun verkehrte, ungefähr eine gleichberechtigte oder doch gleich mächtige Welt, und wenn er in ihnen Helfer, Freunde und Gleichgesinnte sah oder zu sehen meinte, fühlte er sich gern als einer in der Reihe, und an den Titel »Seine Hoheit« erinnerte dann nur ein sichtbar bleibender Rest. Dieses Sichtbare, die äußere Erscheinung, das Resultat der Züchtungsmethode, ließ allerdings für jedes Auge »den Prinzen« erkennen. Schlank und wohlgebildet, hatte er den Familienzug, der die Abkömmlinge vieler Fürstengeschlechter einander so zum Verwechseln ähnlich sein läßt, wie es die spanischen Edelleute in den Bildnissen des Greco sind, und zu diesem gemeinsamen Zuge kam dann noch der seltenere einer gewiß nicht himmelstürmenden, aber geschulten und regsamen Intelligenz. Andere haben ihn weit besser als ich gekannt und vielleicht in verschlossene Tiefen geblickt. Ich für mein Teil empfing nicht den Eindruck, daß er unbekannte Tiefen und ein verborgenes zweites Leben haben könnte, das den meisten schöpferischen Naturen eine notwendige Kraftquelle ist.

Konrad Haussmann, der auf der anderen Seite des Prinzen schritt, schien mir schon seit einer Weile etwas zappelig und ungeduldig zu sein. Die Unterhaltung befriedigte ihn nicht, sie kam nicht zu dem Punkt, zu dem er sie gern hinsteuern wollte, und manchmal machte er mir heimlich ein Zeichen, und ich begriff sehr wohl, daß er für das einzige 177 lohnende Gesprächsthema die Abdankung des Kaisers hielt. Endlich platzte er los mit der Frage, ob wir die Artikel der bayerischen Presse gelesen hätten, in denen mit beispielloser Schärfe die Abdankung verlangt werde, – und das sei nicht etwa nur in Bayern so. Indem er sich, an der prinzlichen Figur vorbei, zu mir hinwandte, forderte er mich auf, zu bestätigen, daß das deutsche Volk mit sehr wenigen Ausnahmen von der Notwendigkeit der Abdankung überzeugt sei – »die Konservativen denken darüber genau so wie wir«. Der Prinz sah mich an und fragte, übrigens in sehr ruhigem Ton, wie jemand, den die Gesprächswendung nicht gerade überrascht: »Ist das wirklich der Fall?« Ich antwortete, daß wohl niemand zu sehen vermöchte, wie nach der Niederlage Wilhelm II. Kaiser bleiben könnte – für jedes Stück Land, das abgetreten werden müsse, werde man ihn verantwortlich machen, jede Million, die man bezahlen müsse, werde man sozusagen von ihm zurückfordern, und immer werde es heißen, wenn er gegangen wäre, so hätte Deutschland einen anderen Frieden erlangt. Prinz Max: »Und wer soll Kaiser werden? . . . der Kronprinz ist doch auch nicht beliebt, und die Entente würde ihm gewiß nicht bessere Bedingungen machen wollen« . . . Ich: »Nun, dann ein Enkel oder einer der Bundesfürsten, wenn es nicht anders geht« . . . Der Prinz: »Ein Enkel? – dann also mit einem Regenten, aber wer soll das sein?« . . . Ich deutete mit einer Handbewegung auf ihn hin, er machte eine verneinende Bewegung und sagte: »Ich bin mit dem Kaiser verwandt, für mich ist das alles schwerer als für jeden anderen, Sie werden das verstehen« . . . »Es wird nur«, erwiderte ich, »gut sein, sich darüber schlüssig zu werden, was geschehen soll, denn sonst verliert man den Zügel aus den Händen und die Ereignisse brechen wieder über ein unvorbereitetes Volk herein, und so, daß man sie nicht mehr dirigieren kann.« Er schritt schweigsam weiter, aber aus seinem Schweigen war die Antwort herauszuhören, daß er das alles wisse und sehe, und daß er nur gehemmt sei durch die Verwandtschaftsbande und die Solidarität der Dynastien. 178 Achtzehn Tage später mußte er, nach vergeblicher Telephonverbindung mit dem Hauptquartier, in das sich Wilhelm II. zurückgezogen hatte, verkünden, der Kaiser habe abgedankt. Er mußte die familiären Gefühle und Rücksichten beiseite schieben, es blieb ihm keine Zeit, die Taktfrage bis in die letzten Feinheiten hinein zu prüfen, unten auf den Straßen marschierte die Revolution, die Soldaten warfen die Gewehre fort, und immer noch wurde im Hauptquartier kein Entschluß gefaßt. Die Getreuen des kaiserlichen Regimes, deren Treue in diesen Entscheidungsstunden nicht sehr aktiv war und je nach dem Wetter wie das Barometer steigt und fällt, behaupten, er habe durch die Verkündung eines noch nicht ausgesprochenen Thronverzichtes einen Frevel an seinem höchsten Herrn verübt. Aber Prinz Max, dessen Bild in der langen Porträtgalerie der europäischen Fürstenhöfe so manchen Zwilling hatte, war nicht im entferntesten jenen Mitgliedern ehemaliger regierender Häuser ähnlich, die in Shakespeares Königsdramen fortwährend damit beschäftigt sind, gekrönte Brüder und Vettern meuchlerisch umzubringen. Durch den Verzicht des Kaisers sollte das monarchische Prinzip gerettet werden, und vielleicht wäre, wenn sich die Hauptperson nicht so starrsinnig gewehrt hätte, einige Tage früher noch möglich gewesen, was jetzt unmöglich geworden war. Jetzt versanken Schiffer und Kahn.

Der Prinz Max von Baden verabschiedete sich von uns und ging, ein wenig langsamer und wohl ermüdet, in das Haus zurück. Die feuchte Herbstluft konnte ein leichtes Frösteln bewirken, und er war kein lederhäutiger Sportsmann, nicht unempfindlich gegen Wetter und Wind. Der letzte in der Reihe – nun fand man, wenn man drei Wochen später hierher kam, keinen kaiserlichen Reichskanzler mehr. Nur der Diener, der im Vestibül die Mäntel auf die Haken hing, konnte wohl weiter sein Amt versehen. Ich weiß nicht, weshalb mir die Erscheinung des Prinzen Max immer die Schillerschen Verse »Wie schön, o Mensch mit Deinem Palmenzweige – stehst Du an des Jahrhunderts Neige« ins Gedächtnis rief. Dieser liberale Idealismus, diese von 179 den besten Lehrern und Hofmeistern begünstigte Freude an Kultur und Bildung, diese Hoffnung, das Volk retten, emporheben, erziehen und beglücken zu können, und dieser Glaube, der vom Salon seinen Regenbogen zum Fabriksaal spannte – das alles, samt den inneren Zweifeln, die heimlich daran nagten, stimmte so mit einem edlen Versmaß überein. Der Prinz Max war von den bürgerlichen Demokraten und von allen Reformfreunden fast so erwartungsvoll begrüßt worden, wie einst ein weit Größerer, Turgot, von Voltaire und den Enzyklopädisten begrüßt worden war. Er konnte nicht heilen und retten, er mußte dem sterbenden Regime die Augen zudrücken, das war die Aufgabe, zu deren Erfüllung das Schicksal ihn zwang. Er war kein Prinz aus Genieland, er hätte gewiß nicht die Gegensätze zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, zwischen der eigenen Herkunft und den treibenden Volkskräften überwinden können, und die angeblich verschwundenen Neigungen und Abneigungen, die er in seinem »unglückseligen Brief« ausgesprochen hatte, konnten sich wieder melden, aber er war den meisten derjenigen voraus, die im Almanach de Gotha stehen. Und er hatte die Vornehmheit eines Mannes, auf den die Zuschauer einander respektvoll aufmerksam machen, wenn er an der Spitze des Trauergefolges hinter dem Sarge geht. 180

 


 


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