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4. Stille vor dem Sturm

Voll neuer und erneuter Anschauung einer Reihe der schönsten Städtebilder Europas kehrten wir am Abend des 25. Juni 1912 nach Dresden zurück. Als wir im noch kühlen Abendlicht über die Elbbrücke fuhren, die den Neustädter Bahnhof am rechten Ufer mit dem Hauptbahnhof am linken Ufer verbindet, und erwartungsvoll links zu den Fenstern des Zuges hinausblickten, entfuhr uns ein Ruf freudiger Überraschung. Wie prächtig, zu reich gegliederter Gesamtgruppe geschlossen, spiegeln die Kuppeln und Türme Dresdens sich, von hier aus gesehen, in dem Strome. Hatte irgendeine andere Stadt, die wir besucht, uns mit einem so schönen Städtebild willkommen geheißen? So schön hatte es uns kaum in der Erinnerung gestanden. Es ist wirklich einzig in seiner Art.

Über hundertmal waren wir schon in dieser Richtung über diese Brücke gefahren. War der Anblick nicht immer schöner, immer reicher, immer üppiger geworden? Jetzt tauchten in meiner Erinnerung plötzlich die Umrisse des Bildes auf, dem wir schon vor 30 Jahren bei unserem Umzug nach Dresden entgegengefahren waren. Sie waren allerdings schlichter, ruhiger gewesen. Die Glaskuppel des neuen Ausstellungsgebäudes, die sich der großen Steinkuppel der Frauenkirche in ähnlicher Gestaltung bescheiden unterordnet, der flachgekuppelte Turm von Wallots Landtagsgebäude, der offenbar bestrebt ist, sich nicht allzusehr aufzuspielen, aus der inneren Stadt herüberragend der mächtige, barockgekuppelte junge Rathausturm, der dem Bilde allerdings ein neues Schwergewicht gibt, vorn rechts der Essenturm des Fernheizwerkes, der nicht so übel mit emporstreben würde, wenn sein Haupt nicht so kleinzügig entstellt wäre: ja das war freilich ein neues, ein reicheres Bild; ob aber ein schöneres? Darüber ließ sich mindestens streiten.

Jetzt, nachdem ich zum ersten Mal nahezu ein Jahr von Dresden abwesend gewesen war, drängte sich mir in der Tat die Frage auf, was unter den Händen der Baumeister in den 30 Jahren, seit wir schönheitsgläubig in Dresden gelandet waren, aus der feinen alten Stadt geworden war, in der wir unsere Heimat gefunden hatten.

Ja, auch Dresden, vielleicht gerade Dresden war in diesem Menschenalter wirklich zu einer neuen Stadt geworden. Unter der umsichtigen Leitung seiner Oberbürgermeister Stübel und Beutler hatte es sich jetzt erst zu einer Großstadt entwickelt, die, von neuen Prachtstraßen durchschnitten, durch neue Stadtteile geschlossener und offener Bauart erweitert, um stattliche Kirchen und weltliche Neubauten bereichert, nach allen Seiten um sich griff und doch den Reiz ihrer stromdurchflossenen und höhenumkränzten landschaftlichen Lage nicht preisgegeben hatte. Ich hatte einige Mühe, mir zu vergegenwärtigen, wie es noch vor einem Vierteljahrhundert am »Böhmischen Bahnhof« ausgesehen hatte, an dessen Stelle sich jetzt Giese und Weidners mächtiger Hauptbahnhof mit dem Hochrenaissance-Antlitz und dem weit gewölbten Eisenrippen-Glasleib erhob, – wie der Altmarkt in seiner einheitlichen saalartigen Abgeschlossenheit dagelegen, ehe höher hinausstrebende Neubauten, wie am Jungfernstieg in Hamburg, seine ruhige Einheitlichkeit zerstört hatten, – wie man sich durch die engen Gassen vom Altmarkt zum Pirnaischen Platze gedrängt, ehe die neue, breite, lange König-Johann-Straße sie niedergelegt, – und wie jene feine alte Stadt zu beiden Seiten der Elbe sich hingedehnt hatte, ehe eine Reihe von Neubauten ihre alten vornehmen Silhouetten zerrissen, die breite Carolabrücke sich zu den anderen über ihren Rücken gelegt und die alte malerisch und baulich gleich köstliche steile und engbogige Augustusbrücke, ohne die Dresden »kein Bild in der Seele machte«, das Meisterwerk desselben Westfalen Daniel Pöppelmann, der seinem Festbau des Zwingers ein so festliches Ansehen gab, der neuen, zeitgemäß weitbogigen Friedrich-August-Brücke Platz gemacht hatte, die sich in ihren edlen, von Wilhelm Kreis groß und vornehm gestalteten Verhältnissen dem neuen Großstadtzuschnitt Altdresdens glücklicherweise angemessen einfügt. Aber wie undurchsichtig am rechten Elbufer die beiden massigen Ministerialgebäude, die, im stumpfen Winkel zueinander gestellt, der Krümmung des Stromes geradlinig widersprechen! Wie massig am linken Ufer zunächst Meister Lipsius' viel, aber nicht ganz gerecht getadelte Neubauten, als deren Sockel die Brühlsche Terrasse gedacht ist! Stattlich genug wirken sie doch, die breitgelagerte Kunstakademie und das prächtige Ausstellungsgebäude mit seiner altrömisch-korinthischen Säulengiebelvorhalle und jener schlanken Glaskuppel, die, von der majestätischen alten Steinkuppel der hinter ihr aufragenden Frauenkirche überragt, sich dem Gesamtbilde nach meinem Gefühl nicht so unglücklich einfügt, wie es manchen Kunstfreunden scheint. Dann Wallots vornehm ruhiges Landtagsgebäude, dessen nüchterner Turm absichtlich neben dem Prachtturm Chiaveris kaum auffällt, in dem Gesamtbild aber doch fast einer zu viel ist; zwischen ihm und der katholischen Kirche, zurückliegend, Frölich und Dungers neue Giebelstirnseite des Schlosses, die der beste Teil seines Umbaus im deutschen Spätrenaissancestil ist; weiter unten aber jener schlanke, den Schornstein des Fernheizwerkes umhüllende Turm, und ganz unten die als unechte Kuppel-Moschee gestaltete große Zigarettenfabrik, die das Bild hier theatralisch abschließt. Wahrlich, überall des Neuaufgepfropften genug. Daß das Gesamtbild durch alle diese Bereicherungen veredelt sei, wird niemand behaupten, aber reicher, bunter, großstädtischer ist es geworden; und unverwüstlich bleibt es doch, wie der breite, fünfmal überbrückte Strom seine raschen gelben Wellen in schöner Schlangenlinie durch die großstädtisch bebauten Ufer hindurchwälzt.

Wie verändert aber auch alles an der Seite des Großen Gartens! Das großartige städtische Ausstellungsgebäude, das den Aufschwung des Dresdner Ausstellungswesens erst ermöglichte! Daneben der stille Stübelplatz, der mächtige lange gerade Straßenzug der Stübelallee, die am Großen Garten entlang, mit Riesenvillen besetzt, bis Gruna herausführt, und der ganze, sich hier anschließende Stadtteil mit der Canaletto- und der Comeniusstraße, der im Osten von der stattlichen Fürstenstraße begrenzt wird, aber auch über sie hinaus nach Striesen und Blasewitz hinübergreift! Alles das war, als wir in Dresden einzogen, so gut wie das »Münchner Viertel«, in das die Villenstraße, in der mein Haus steht, hinüberleitet, noch freies Feld, auf dem Weizen und Hafer reifte! Welche Stilwandlung aber auch, die wir in diesen 30 Jahren erlebt haben!

 

Die meisten Neubauten, die wir in Dresden entstehen gesehen, gehörten noch der alten, die geschichtlichen Stile ohne besondere persönliche Färbung wiederholenden Baurichtung an. Aber gerade um diese Zeit hatte sich die Baukunst, indem sie sich auf ihre eigene Natur und Gesetzmäßigkeit besann, auf sich selbst zu stellen versucht; und die Dresdner Baukunst war in den neuzeitlichen Bestrebungen so wenig rückständig, wie die Dresdner Malerei. Der Staat und die Stadt hatten sich nach 1900 redlich bemüht, Baumeister der neueren Richtungen nach Dresden zu ziehen, aber sie hatten nicht genug große Aufgaben zu vergeben, um sie hier festzuhalten. Auf Paul Wallot, den genialen Baumeister des Berliner Reichstagsgebäudes, den von starkem Eigenempfinden beflügelten Vertreter eines halb barocken Klassizismus, dessen Ständehaus in Dresden durch den unglückseligen ihm angewiesenen Platz von vornherein ein volles Gelingen versagt war, folgte, schon freier von stilgeschichtlichen Absichten, sein bester Schüler, Wilhelm Kreis, der auf den Höhen beider Elbufer einen seiner massiven, formenstarken Bismarckfeuertürme aufpflanzte, die im ganzen Reiche – leider zunächst vergebens – den vaterländischen Gedanken verewigen sollten. Nach kurzer amtlicher Tätigkeit in Dresden, das ihm seine schöne neue Brücke niemals vergessen wird, folgte Kreis einer Berufung nach Düsseldorf. Sein Nachfolger German Bestelmeyer, der jetzt Akademiedirektor in München ist, aber nahm, wie später Hans Poelzig, der Freieste der Freien, zunächst einen Ruf nach Berlin an.

Kaum länger blieb Fritz Schumacher, ehe er Stadtbaumeister Hamburgs wurde, in Dresden, hinterließ hier aber eine seiner frühesten und selbständigsten Schöpfungen, die Einäscherungshalle zu Tolkewitz, einen von allen geschichtlichen Erinnerungen losgelösten, zugleich aus seinem Zweck und der Einbildungskraft des Künstlers geborenen kleinen Edelbau, der sich seiner ernsten landschaftlichen Umgebung wunderbar überzeugend anpaßt. Schumachers Nachfolger, Hans Erlwein, der 1905 als Stadtbaumeister nach Dresden kam, aber schon 1914, im ersten Kriegsjahr, durch einen Kraftwagenunfall in Frankreich sein Leben verlor, war ein geschickter Vertreter jener Richtung, zu der sich auch Kreis mir gegenüber einmal bekannte, die den Faden der Stilentwicklung da wieder anknüpfte, wo er im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts von der nachahmenden Richtung durchrissen worden war. In Dresden gab Erlwein dem Theaterplatz durch die Verlegung und den Neubau des »Italienischen Dörfchens« in Verbindung mit Kreis' neuer Brücke ein neues monumentales Ansehen, errichtete er das neue König-Georgs-Gymnasium in übereinstimmender Klarheit des Grundrisses und Aufbaus bei groß empfundener Massengliederung und feineren Einzelformen, gab er aber auch dem städtischen Ausstellungspalast den neuen Anbau mit der vornehmen jung-ionischen Säulenhalle. In Dresden blieb Martin Dülfer, der, obgleich ihm in Dresden keine Gelegenheit gegeben wurde, sich auf seinem eigensten Gebiete, dem Theaterbau, zu betätigen, dem seine stilvoll stilfreien Schauspielhäuser in Dortmund, in Lübeck, in Duisburg und in Sophia entstammen, sein selbständiges Stilgefühl in Dresden doch in verschiedenen Backsteinbauten der Neuen Technischen Hochschule zur Geltung brachte.

Neben allen diesen, von draußen herbeigerufenen Baumeistern hatten die Dresdner Rudolf Schilling, ein Sohn des berühmten Bildhauers, und Julius Gräbner, die gemeinsam arbeiteten, am meisten dazu beigetragen, den neuen, geschichtsfreien Stilarten in Dresden zum Durchbruch zu verhelfen. Im Anschluß an den Hamburger Otto Eckmann, der in Berlin tätig war, bildete Julius Gräbner, dessen Stärke die Verzierungskunst war, den »Jugendstil«, der sich als Buch- und auch als Goldschmiedstil sehen lassen konnte, für die Großbaukunst zu einem besonderen »Baumstil« aus, der ganze Bäume mit ihrem verzweigten Wurzelwerk und ihren großblättrigen Kronen als Ziermotive verwandte. In keiner Stadt ist, wenn ich richtig sehe, dieser für die Großkunst mindestens fragliche Stil so oft zur Geltung gebracht worden, wie in Dresden. Als Schilling und Gräbner nach dem Brande der Kreuzkirche im Jahre 1897 deren Herstellung übertragen wurde, wandten sie 1901 im Deckenschmuck der Kirche diesen neuen, nach einigen Jahren wieder vergessenen »Baumstil« etwas spielerisch, aber voll entwickelt an. Wurzel, Stamm und Zweigverästelungen bilden die Jugendstil-Liniengewinde, denen das Baumlaub Ruhe und Halt verleiht. Unter den Kirchenbauten Schillings und Gräbners aber ist ihre 1906 entstandene Christuskirche in Strehlen mit ihren ausgebauchten, fein gegliederten Seitenwänden, ihren kleinen, mit überringelten Kegelhauben bedeckten Vordertürmen, ihrem hohen, schlanken, ebenso überkuppelten Hauptturmpaar und ihrem vornehm neuartig durchgebildeten Innern eine überlieferungsfreie und doch anheimelnde kirchliche Neuschöpfung, die in ihrer Art einzig ist.

Ja, wenn ich versuchte, mich von dem Dresden von 1910 bis 1913 in das Dresden von 1882 bis 1885 zurückzuversetzen, trat mir der große wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands, der seine Bäume in den Himmel wachsen lassen zu wollen schien, aber auch der unbestrittene Anteil, den Deutschland an der selbständigen Weiterentwicklung gerade der Baukunst hatte, angesichts aller Neubauten, die mich jetzt hier umgaben, handgreiflich vor Augen.

 

Aber nicht nur in den Bauten, auch in den Menschen, die mich umgaben, hatte sich ach! wie vieles in dem letzten Vierteljahrhundert verändert. Wie viele der feingeistigen und warmherzigen Künstler- und Gelehrtenfamilien, die unsere nächste Umgebung gebildet hatten, waren bereits davongegangen: die Männer gestorben, die Frauen in ihre ältere Heimat zurückgekehrt! Wie viele der jungen Künstler, Musiker, Dichter, Maler und Bildhauer, die unserem Hause jugendfrisches Leben gespendet hatten, waren alt und langweilig geworden, hatten sich außerhalb unserer Kreise verheiratet oder waren in andere Städte gezogen, in denen sie eine ersprießlichere Tätigkeit gefunden hatten!

Wer seine Lebenserinnerungen aus einer Großstadt festzuhalten sucht und des Kreises befreundeter Familien gedenkt, der mit seiner ganzen geistigen Atmosphäre auch der seine gewesen, weiß natürlich selbst am besten, daß dieser nur ein Ausschnitt, vielleicht nur ein kleiner Ausschnitt aus dem gesellschaftlichen und dem geistigen Leben seines Wohnorts gewesen ist. Nicht um eine vollständige Geschichte des gesellschaftlichen und geistigen Lebens Dresdens in meiner Zeit kann es sich in diesen Blättern handeln, sondern nur um den Ausschnitt aus ihr, der sich in manchen Beziehungen wohl zufällig in meinem Leben wiederspiegelt. Aber freilich, die meisten der Männer, die ich nenne, gehören auch ohne mein Zutun der Kunst und Kulturgeschichte ihrer Zeit an.

Nicht ohne Wehmut erinnerten wir uns, daß von den Häusern, die sich uns vor 30 Jahren gastlich aufgetan, jetzt nur noch das des großen Archäologen Georg Treu und das des feinsinnigen Architekten Alfred Hauschild, der einen Hauptpreis bei dem Wettbewerb der Bebauung der Museums-Insel in Berlin erhalten hatte, offen standen. Aber zum alten Stamm unseres Hausverkehrs gehörten damals an der Seite trefflicher, an ihrem Schaffen regen Anteil nehmender und ihren Häusern ein feinfühliges Sondergepräge verleihender Gattinnen, außer dem Tondichter Jean Louis Nicodé, dessen Ruhm sich nach der Aufführung seines »Gloria« von seinem Langebrücker Idyll aus immer weiter verbreitete, und dem getreuen Oberstleutnant Hans von Tschammer, die als meine alten Duzbrüder sozusagen außer Wettbewerb waren, vor allem immer noch Woldemar von Seidlitz, der gerade sein Lebenswerk über Leonardo da Vinci veröffentlicht hatte, überall geistiges Leben zu fördern suchte, selbst in seinem Hause stets für mannigfaltige Anregung sorgte, aber auch an meinen wissenschaftlichen und poetischen Arbeiten stets den wärmsten Anteil nahm, Cornelius Gurlitt, der unermüdliche, überall mitarbeitend und anregend tätige Architekt und Kunstgelehrte, der mir in allen Lebenslagen freundlich gesinnt blieb; Max Lehrs, mein bedeutendster Kollege am Kupferstichkabinett, dessen gesellschaftliche Interessen sich wie die seiner Gattin jetzt immer mehr den Theaterkreisen zuwandten, Erich Ehlermann, der bekannte Dresdner Verleger, dessen zweite Gattin eine Tochter Berthold von Nasses, des Oberpräsidenten der Rheinprovinz, eine Verwandte von mir war, Alexander Anselm Rumpelt, der dichterisch fein begabte Ministerialdirektor im Ministerium des Innern, Erich Hänel, der vielseitig begabte Direktor des historischen Museums, und unser Hausnachbar Paul Vogel, der geistig ungemein bewegliche Vorsitzende der zweiten Kammer des Sächsischen Landtags und der nationalliberalen Partei Sachsens, dessen Anschauungen den meinen nahestanden.

Vor allem aber muß ich unserer nahen freundschaftlichen Beziehungen zu Walter Hempel, dem herrlichen Menschen und dem bedeutenden Charakter gedenken, der zu den Spitzen der Technischen Hochschule gehörte; seinem wohlbestellten Hause sahen wir an der Seite seiner vornehm gesinnten nordamerikanischen Gattin begabte Kinder aufwachsen, von denen namentlich seine Tochter Elisabeth uns ans Herz wuchs. Walter Hempel, der den Seinen, der Wissenschaft und uns auch zu früh während des Weltkrieges entrissen wurde, hat, wo es galt, uns und unseren Kindern soviel Freundschaftsdienste erwiesen wie kaum ein anderer unserer Freunde. Sein Sohn Eberhard aber, der an der kunstgeschichtlichen Anstalt der Grazer Universität tätig ist, gehört zu meinen hoffnungsvollen jüngeren Fachgenossen.

Von den Malern, die Professoren der Kunstakademie waren, gehörten hierher namentlich immer noch Hermann Prell, der vielbewunderte und vielgetadelte Wandmaler, dessen allverehrte liebenswürdige Gattin eine Schwester des späteren deutschen Botschafters Sthamer in London war, der berühmte Bildhauer Robert Diez, dessen Empfinden dem unseren besonders nahestand, Eugen Bracht, der erfolgreiche, zugleich äußerlich wirkungsvolle und doch innerlich empfangende Landschaftsmaler, Karl Bantzer, der erste Führer der Dresdner Sezession, der mich zweimal, einmal für die Hamburger Kunsthalle, einmal für meine Frau gemalt hat und mir von den Akademieprofessoren persönlich am nächsten stand, und Otto Gußmann, der treffliche Raumkünstler und gemütvolle Schwabe, dessen Wandgemälde im Rathaus und im neuen Ministerium des Innern im Gegensatze zu denen Prells die Saalwände nicht durchbrachen, sondern betonten. So lange sie in Dresden waren, gehörten aber auch die großen Baumeister Paul Wallot, German Bestelmeyer, Wilhelm Kreis und Fritz Schumacher zu den Freunden unseres Hauses; und ihnen schloß sich besonders freundschaftlich auch Martin Dülfer an, der zu unserer Freude Dresden erhalten blieb.

Aus den literarischen Kreisen darf ich Heinrich Zschalig, den knorrig trefflichen, nicht vergessen, von den jüngeren Musikern Botho Siegwart nicht, der, eigentlich ein Graf Eulenburg, ein Sohn des unglücklichen Fürsten Philipp von Eulenburg, einer der trefflichsten Menschen und empfindungsvollsten Künstler war, die ich kennengelernt habe. Selten hat ein Musikstück einen solchen Eindruck auf mich gemacht, wie seine Vertonung des Schlusses der Ilias, die wir, mit Ludwig Wüllner als Vortragenden, zuerst im Gewandhaus in Leipzig gehört haben. Auch seine feinbegabte Gattin, die eine Schwester des Sängers Waldemar Staegemann war, wurde eine liebe Freundin unseres Hauses. Durch Dülfers lernten wir den geistvollen angehenden Architekten Hugo Zehder aus Riga kennen, der mit der vielseitig begabten, eigenartig schönen blonden Tochter Bianca des großen italienischen Malers Giovanni Segantini, verheiratet war. Schon durch ihre fesselnden Persönlichkeiten faßten beide rasch Fuß in der Dresdner Gesellschaft und traten in der Folge auch in besonders freundschaftliche Beziehungen zu unserem Hause. Auf der Bastei hatten wir die Bekanntschaft des trefflichen, allen Künsten und Wissenschaften ergebenen Pfarrers Emil Arthur Neuberg von der Striesener Gemeinde, des jetzigen Superintendenten von Meißen, und seiner verehrungswürdigen zweiten Gattin gemacht, die einer angesehenen Darmstädter Familie entstammt, auch sie brachten unserem Hause manche neue Anregung; und besonders freundschaftlich gestalteten sich unsere Beziehungen zu dem feurigen Bildhauer Edmund Möller, dessen künstlerisch fein empfindende Gattin untrennbar zu ihm gehörte. Edmund Möller, der Großes zu leisten berufen war, und Hugo Zehder, der später seine eigenen Wege suchte, zogen mich halb unvermerkt in die Kreise der jüngsten Kunst Deutschlands hinein, die wir als »expressionistisch« zu bezeichnen pflegen.

Es muß genügen, diese Namen genannt zu haben, um das künstlerische und geistige Leben, in dem wir atmeten, zu kennzeichnen.

Daß unser Kreis sich nur in einigen Persönlichkeiten mit dem der Dresdner Großkaufleute und Fabrikanten berührte, habe ich schon erwähnt. Das kunstreiche Haus unseres alten Freundes Julius Pilz, dem aus zweiter Ehe als Zweiundsiebzigjährigem noch ein liebliches Töchterchen erblühte, stand uns bei unserer Rückkehr immer noch freundschaftlich offen. Neu hinzugekommene waren die anregenden Häuser des Geheimen Kommerzienrates Georg Marwitz, dessen Bekanntschaft wir in Lugano gemacht hatten, des feingebildeten Konsuls Erich Harlan, eines Bruders des Dichters Walter Harlan, und Alexander Struves, dessen Vater schon zu den Patriziern Dresdens gehört hatte.

Von den Vertretern des Dresdner Wirtschaftslebens jener Tage kann ich aber nicht reden, ohne eines Mannes zu gedenken, dessen Name schwerlich ganz vergessen werden wird, eines Vertreters des Erzeugungsgewerbes, der es als solcher bis zum Wirklichen Geheimen Rat mit dem Titel Exzellenz gebracht hatte. Der Name Karl Lingners war damals in Dresden auf aller Lippen. Sein Stiefelknecht »Famos«, mit dem er angefangen hatte, war ein Ei des Columbus gewesen. Bald aber wurde die medizinisch-chemische Fabrik zum Kern der Lingner-Werke. Sein Mundwasser »Odol«, das die ganze Welt eroberte, legte den Grund zu dem großen Vermögen, das er erwarb. Seine Hygiene-Ausstellung »Der Mensch« aber, die 1911 die Vertreter der Gesundheitslehre ganz Europas nach Dresden führte, war in ihrer Gründlichkeit und Großzügigkeit eine Tat, die in der ganzen Welt als solche anerkannt wurde. Lingners Gegner, die ihm vorwarfen, seinen Erzeugnissen nur durch seine großartige Reklame, wie sie Deutschland vorher allerdings kaum gesehen hatte, ihren Markt gesichert zu haben, verstummten angesichts dieses Erfolges, dem sie nicht absprechen konnten, daß er wohl verdient sei.

Lingner war in der Tat ein außergewöhnlicher Mensch. Mittelgroß, blond, helläugig, mit regelmäßig geschnittenen, nicht eben ausdrucksvollen Zügen, blickte er ruhig prüfend um sich. Seinem innersten Wesen nach war er Musiker. Schon in dem neu angebauten, künstlerisch durchgebildeten Empfangssaale seines Hauses in der Leubnitzer Straße war die Orgel, mit deren Klängen er, klassisch geschult, seine Gäste eigenhändig bewirtete, das Hauptausstattungsstück. Als er dann das mittlere der drei Schlösser auf der Elbhöhe zwischen Dresden und Loschwitz erworben hatte, warf er im Gespräch mit mir einmal die Frage auf, mit den Büsten welcher drei Großen er seinen neuen Vorsaal schmücken solle. Er dachte zunächst an Bach, Händel und Beethoven, meinte dann aber, es sei doch wohl schicklicher, der Büste eines der drei großen Tonkünstler die Büsten zweier bedeutender Männer anderer Berufe zu gesellen. Er sprach von Beethoven und Goethe und fragte mich, wen ich als dritten nehmen würde. Ich antwortete darauf, an seiner Stelle würde ich zunächst an Justus von Liebig als dritten denken. Wozu er sich entschlossen, weiß ich nicht.

Zu unseren Hausfreunden gehörte Lingner, der unverheiratet blieb, nicht gerade, wenngleich wir Besuche ausgetauscht hatten und er sich, wie es schien, auch gern mit meiner Frau unterhielt. Ihr erzählte er einmal seine Lebensgeschichte. Seine Eltern seien wohlhabend gewesen, aber plötzlich verarmt, so daß er für sie und seine kleinen Geschwister, von denen sein Bruder Otto Lingner, ein Schüler Knilles und Thumanns an der Berliner Akademie, ein nicht ganz unbekannter Maler war, zu sorgen gehabt habe. Gezwungen, seiner Absicht, Musik zu studieren, zu entsagen, habe er sich nun vorgenommen, um jeden Preis auf redliche Weise Geld zu verdienen; aber der Kunst sei er nicht untreu geworden. Sein Hauptwunsch sei es jetzt, es so weit zu bringen, daß er sich selbst eine Hauskapelle halten könne.

Die bösartige Krankheit, der auch der Kaiser Friedrich erlag, entriß ihn vorzeitig seiner Tätigkeit. Den größten Teil seines Vermögens hinterließ er zu gemeinnützigen Stiftungen. Seine Ausstellung »Der Mensch« lebt als Hygienemuseum in Dresden weiter. Sein Schloß auf der Elbhöhe sollte als Volkserholungs- und Vergnügungsheim ausgestaltet werden. Sein altes, neu hergerichtetes Schloß in Tharasp aber vermachte er dem König von Sachsen oder, wenn dieser es ausschlug, dem Großherzog von Hessen, dem es in der Tat zufiel. Ein außergewöhnlicher Mensch war er wirklich, dieser Karl Lingner!

Die unverheirateten Freunde, die unser Haus beinahe als das ihre ansehen durften, waren auch in dieser Zeit hauptsächlich Künstler und Kunstgelehrte.

Daß wir den Bildhauer Walter Sintenis nach der Rückkehr von unserer Reise nicht mehr am Leben fanden – war er doch nur 45 Jahre alt geworden – empfanden wir als schmerzliche Lücke. Daß die alten Beziehungen zu Hermann Hieber, der inzwischen fleißig für mich gearbeitet hatte, wieder aufgenommen wurden, versteht sich von selbst. Unverändert aus unserer ersten Dresdner Zeit ragte Paul Kießling, der Maler, immer geistvoll-gesprächig, immer formensicher, immer etwas vorurteilsvoll, aber auch immer voll Rücksicht und Liebenswürdigkeit, in unsere Gegenwart herein. Als Spiritus Rector schwebte der alte August Niemann, der Schriftsteller, noch immer über den Wassern unserer Geselligkeit, und auch sein Freund Kuno Graf Hardenberg blieb uns, bis er nach Darmstadt übersiedelte, was er uns gewesen. Mein Landsmann Ernst Zimmermann aber, dessen Großvater ein rechter Vetter meines Vaters gewesen, war, als er endlich die wohlverdiente Stelle des Direktors der Dresdner Porzellansammlung erhielt, deren ostasiatischem Bestand er mit feinstem Verständnis ein zuverlässiger Hüter und Deuter wurde, mein wirklicher Kollege geworden.

Besondere archäologische Beziehungen verbanden mich mit Paul Herrmann, dem Assistenten Treus an der Skulpturensammlung des Albertinums, dem ich für mannigfache Unterstützung meiner Studien für die zweite Auflage des ersten Bandes meiner Kunstgeschichte aufrichtigen Dank schulde. Natürlich gehörte auch er zu den Freunden unseres Hauses, dem er, als er Treus Nachfolger in der Leitung des Albertinums geworden war, auch seine vortreffliche Schwester zuführte, die ihm von nun an das Haus führte.

Von den jungen Bildhauern kamen an Sintenis' Stelle jetzt um so öfter Theodor Eichler, der begabte Diez-Schüler, der eine Anstellung an der Meißner Porzellanfabrik erhalten hatte, und Artur Lange, der Weiterstrebende, dem wir den Schmuck der Krumbügelschen Grabstätte in Düsseldorf mit der stilvoll zusammengehaltenen Gestalt eines großen knienden Engels übertragen hatten. Artur Lange, der schon im Übergang zu dem geschlosseneren Stilgefühl einer jüngeren Zeit stand, entwickelte sich nach diesem allmählich zu dem bedeutsamen Meister, als der er uns in seinen Denkmälern für die gefallenen Krieger auf dem Garnisonfriedhof und in der Vorhalle der Technischen Hochschule in Dresden so anziehend entgegentritt.

Aber auch jüngere Leute, die Freunde unseres Sohnes, die dieser uns zugeführt hatte, schlossen sich jetzt öfter uns an. Von den juristischen Studiengenossen unseres Sohnes war Peter Reinhold der bedeutendste: Schmächtig von Gestalt, durchgeistigt von Antlitz, hatte er von seinem Vater »des Lebens ernstes Führen«, von seiner Mutter »die Lust zu fabulieren« geerbt. Als er noch kaum das Reifezeugnis in der Tasche hatte, gab er ein Bändchen feinempfundener Gedichte heraus. Als junger Student richtete er, wie schon erzählt, in einer besonderen Broschüre scharfe Angriffe gegen die Verwaltung des damaligen Finanzministers von Rüger (S. 87). Kaum 33 Jahre alt, wurde er selbst zum erstenmal sächsischer Finanzminister.

Von den Künstlerfreunden unseres Sohnes aber gewann Reinhold Köppel rasch unsere Herzen. Als Maler hatte er seinen eigenen Weg eingeschlagen, der, etwa zwischen Kaspar David Friedrich und Wilhelm Steinhausen hindurchführend, nicht ungeschickt an einer mir sympathischen deutschen Sonderrichtung festhielt. Wie wenig ihm an dem Zusammenhang mit Schulrichtungen lag, zeigte er auch darin, daß er seine Werkstatt ganz abseits von dem künstlerischen Großstadttreiben in den »Waldhäusern« von Sankt Oswald auf den Höhen des Bayrischen Waldes aufschlug. Der Besuch, den wir ihm dort im Sommer 1913 machten, gehört zu meinen schönsten Erinnerungen an dieses Jahr.

Von meinen jüngeren Fachgenossen trat namentlich Max Lehrs' Assistent am Kupferstichkabinett, Max Loßnitzer, der ein gutes Buch über den alten deutschen Bildhauer Veit Stoß geschrieben hatte, in den engeren Kreis unserer Hausfreunde ein.

Den Tonkünstlern, die unsere Häuslichkeit mit Klängen aus höherer Welt verschönten, gesellte sich um diese Zeit mein Landsmann, der Geiger Wolfgang Bülau, der, ein Schüler Karl Fleschs, damals im Begriffe war, sich zu einem der ersten Geiger Deutschlands zu entwickeln. Wir hatten ihn auf einem der musikalischen Sonntag-Vormittage Bertrand Roths kennengelernt, und er schloß sich uns wie selbstverständlich an. Als er ein Konzert in München gab, begrüßte der erste dortige Musikkritiker ihn als den kommenden Meister. Bald darauf aber nahm eine plötzliche Lähmung ihm den Bogen aus der Hand, so daß ihm nur noch übrigblieb, sich als Tonsetzer zu versuchen oder als Dirigent und als Lehrer zu wirken. In unserem Hause hat er, ehe das schmerzliche Geschick ihn betroffen, viel dazu beigetragen, uns und unsere Gäste in schönere Welten zu entführen. Nie ist in unserem Hause so viel gute Musik gemacht worden wie in jenen Jahren. Jean Louis Nicodé und Bertrand Roth mit den Seinen bildeten den alten Stamm; Karl Fehling und Botho Sigwart traten hinzu. Heinrich Kaminski, der werdende Meister, wohnte bei uns, sooft er aus Berlin nach Dresden kam; und Hermann Hieber, wenn auch als Geiger nur Dilettant hoher Stufe, tat stets das seine dazu, das musikalische Empfinden unseres Hauses wach zu erhalten.

 

Im Jahre 1913 lag schon eine schwüle Vorahnung des Weltkrieges in der Luft. Nicht alle teilten sie. Daß sie mir bereits im Blute lag, beweisen die Worte, mit denen ich meine üblichen Tagesaufzeichnungen am 1. Januar dieses Jahres eröffnete: »Wird es uns Krieg oder Frieden bringen, das neue Jahr? Rings um uns türmen sich die Gewitterwolken. Möge ein frischer Wind sie zerteilen. Wir taumeln unbesinnlich ins Ungewisse hinein.« Ich hatte die Humanistgewohnheit, den Aufzeichnungen jedes Jahres ein lateinisches Motto vorauszuschicken; und bezeichnend genug lautete mein Motto für 1913 »Discite moniti«. Die »Einkreisung« unseres Vaterlandes und ihre notwendigen Folgen kamen uns allmählich doch immer deutlicher zum Bewußtsein. Trotz des Dreibundes wurde es einsam um uns. Nach Möglichkeit aber suchten wir uns noch einzureden, daß wir die Folgen unserer Vereinsamung überwinden würden.

 

Stilles Schaffen am Schreibtisch ließ mich nur selten zum Grübeln kommen. Die Arbeit am ersten Bande der neuen Auflage der Kunstgeschichte nahm trotz Hiebers Anteilnahme den größten Teil meiner Kräfte in Anspruch. Im Frühling 1914 aber verließ mich Hieber, eigenen Arbeiten zuliebe. Für die Fortsetzung seiner 1913 in München erschienenen Schrift über frühmittelalterliche Miniaturen mußte er Studien in den Bilderhandschriften des British Museum in London machen, wohin er abreiste. In London wurde er beim Ausbruch des Weltkriegs festgehalten und von einem der Gefangenenlager ins andere übergeführt. Erst nach dem Frieden kehrte er nach mehr als vierjähriger Abwesenheit nach Deutschland zurück. Als er sich 1914 von uns verabschiedete, hatte ich das Gefühl, aus dem letzten Jugendtraum zu erwachen. Doch war es mir ein Trost, daß Max Loßnitzer, der ausgezeichnete junge Assistent unseres Kupferstichkabinetts, sich bereit erklärte, mir behilflich zu sein.

Schon seit 1910 aber drängte es mich auch, das Ergebnis meines Lebensschaffens auf dem Gebiete der Dichtkunst, so gering es sein mochte, noch einmal zusammenzufassen. Daß ich als Lyriker so gut wie in Vergessenheit geraten war, ist, da ich seit der 2. Auflage meiner Sammlung »Deutsche Herzen« von 1896, also seit 14 Jahren, so gut wie nichts auf diesem Gebiet veröffentlicht hatte, eigentlich erklärlich genug. Wenn ich auch nur Selbstempfundenes gestaltet hatte, so war dies doch in epigonenhafter Ausdrucksweise geschehen; und die jungen Lyriker hatten andere Saiten angeschlagen als wir alten.

Daß ich vergessen war, wurde mir deutlich genug zu Gemüte geführt, als die deutschen Schriftsteller Paul Heyse zu seinem 80. Geburtstag ein Gedächtnisbuch mit Beiträgen ihrer Hand widmeten. In ähnlichen Fällen war ich jahrelang stets aufgefordert worden, mich zu beteiligen. Daß man mich dieses Mal überging, wunderte mich, da ich dachte, meine Beziehungen zu Heyse seien bekannt. Doch ließ ich mich dadurch nicht abhalten, meinem Herzen folgend, den teuren Achtzigjährigen in längeren wohlgefügten Oktavstanzen, wie er sie liebte, zu feiern. Mein Gedicht erschien in den »Grenzboten«. Heyse antwortete mir überaus liebevoll. Es war der letzte Brief seiner Hand, den ich erhielt.

Um nun nicht völlig vergessen zu werden, stellte ich eine Auswahl aus allen meinen früher erschienenen Bänden und meinen in Zeitschriften gedruckten und noch ungedruckten Gedichten zusammen, die unter dem Titel » Erlebtes und Erschautes« 1913 im Verlage von Louis Ehlermann in Dresden erschienen. Einen buchhändlerischen Erfolg hatte auch diese Sammlung nicht, aber sie trug mir doch eine Reihe tröstlicher und ermutigender Besprechungen ein. Übrigens enthielt die Sammlung, da sie nicht zu umfangreich werden durfte, nur etwa ein Drittel meines Schaffens auf diesem Gebiete; und da ich damals weicher und zahmer gestimmt war als früher und später, ließ ich, wenn ich mich nicht täusche, einige meiner kräftigsten Gedichte aus. Zum Eingang schrieb ich:

»Anders haben wir gesungen,
Schlicht und frisch, wie wir gemußt,
Anders singen heut' die Jungen,
Neuer Art sich froh bewußt.

Wieder anders sehn und singen
Wird ein kommendes Geschlecht.
Durch die Zeiten weiterklingen
Wird, was eigen war und echt.

Und ich wag's, auch ich, zu buchen,
Was ich sang mein Leben lang,
Weil zum Singen und zum Suchen
Stets mich zwang ein Herzensdrang.«

Im Mai 1913 fuhr ich zum letzten Male zur Sitzung des Verwaltungsrates der Schillerstiftung nach Weimar, in dem mich im vorigen Jahre Oskar Walzel, der geistvolle Nachfolger Sterns an unserer Technischen Hochschule, vertreten hatte. Gleichzeitig tagte dort, wie immer, die Goethe-Gesellschaft, die einen ansehnlichen Teil der deutschen Geistes- und Geldaristokratie in der stillen großherzoglich-sächsischen Residenzstadt vereinigte, die immer noch so etwas wie die geistige Hauptstadt Deutschlands zu sein meinte. Die Festlichkeiten nahmen dieses Mal, da des 100. Todesjahres Wielands gedacht wurde, einen etwas anderen Verlauf als sonst. In der großen Sitzung der Goethe-Gesellschaft hielt dieses Mal Professor Seuffert aus Graz einen guten, aber etwas zu gelehrten Vortrag über Wieland. Nachmittags wurde ein gemeinsamer Ausflug nach Oßmannstedt, dem lauschig gelegenen Landgut Wielands, unternommen. Am Grabe des Dichters im schönen Gutspark hielt mein gefeierter Landsmann, Professor Albert Köster aus Leipzig, eine schwung- und einsichtsvolle Weiherede. Abends wurde die Theatervorstellung mit einer Vorlesung aus Wielands Dichtung »Geron der Adlige« eröffnet, die trotz Milans, des großen Sprechers, glänzendem Vortrage keine besondere Wirkung erzielte. Dann folgte eine mittelmäßige Vorstellung von Goethes »Clavigo«, der, leicht zu spielen, immer wieder ergreifend wirkt.

In der Verwaltungsratssitzung der Schillerstiftung, gegen die seit einigen Jahren unter dem Vortritt Hans Kysers, des damals viel genannten geistvollen jungen Dichters, ähnliche Angriffe gerichtet worden waren wie gegen die Pröll-Heuer-Stiftung in Dresden, ging es dieses Mal lebhaft her. Albert Köster, der selbst der Leipziger Zweigstiftung angehörte, hatte eine Eingabe zur Umstellung der Gepflogenheiten des Verwaltungsrates eingereicht, die von 60 angesehenen deutschen Schriftstellern unterzeichnet war. Ohne Änderung der Satzungen der Stiftung ließen die gewünschten Neuerungen sich freilich nicht durchführen. Ich selbst sprach zu ihren Gunsten. Die Mehrheit war ihnen nicht besonders geneigt. Doch verlief die Aussprache, wie dies bei der vornehmen Art Kösters nicht anders zu erwarten war, glatt und friedlich, ohne dieses Mal schon zu einem greifbaren Ergebnis zu führen.

Die Angriffe drehten sich hier wie in bezug auf die Dresdner Pröll-Heuer-Stiftung darum, daß die Mittel der Stiftung durch die Berücksichtigung vieler unbedeutenden Kräfte zersplittert würden. Hier wie dort aber trugen die Satzungen einen großen Teil der Schuld an den nicht wegzuleugnenden Übelständen bei der Vergebung der Stiftungsmittel. Hätte der erste Paragraph der Satzungen der Deutschen Schillerstiftung es bei der Vorschrift bewenden lassen, daß nur Dichter, die sich um die deutsche Nationalliteratur verdient gemacht oder deren Hinterlassene, und auch nur solche Bewerber bedacht werden sollten, die sich in schweren Lebenssorgen befanden, so wären Meinungsverschiedenheiten in jedem Einzelfalle zwar nicht ausgeschlossen, aber in der Regel doch überbrückbar gewesen. Der Zusatz aber, daß der Verwaltungsrat, falls die Mittel der Stiftung es erlaubten, auch solche Bewerber berücksichtigen durfte, auf die jene Merkmale nicht sämtlich zutrafen, öffnete der Willkür und damit der feindseligen Kritik alle Pforten.

Wenn es mich nun auch lockte, an einer Neugestaltung der Schillerstiftung teilzunehmen, so konnte ich mich doch der Einsicht nicht verschließen, daß der junge, tüchtige Professor der neueren Literaturgeschichte an der Dresdner Hochschule, der schon berufsmäßig Fühlung mit dem Nachwuchs unter den deutschen Dichtern suchen mußte, geeigneter sei, die Zwecke der Stiftung zu fördern, als der ehemalige Galeriedirektor, der seinen Ruhestand zunächst in den Dienst einer großen kunstgeschichtlichen Aufgabe gestellt hatte. In der nächsten Sitzung der Dresdner Zweigstiftung legte ich daher mein Ehrenamt als ihr Vertreter in Weimar nieder und schlug Oskar Walzel als meinen Nachfolger vor; und ich glaube, daß dieser sich, bis seine Berufung nach Bonn ihn Dresden entführte, als unser Vertreter im Weimarer Verwaltungsrat bewährt hat. Rechtzeitig jüngeren Kräften Platz zu machen, ist mir immer als Vorrecht des Alters erschienen.

 

Wenn Goethe meint, was man in der Jugend begehrt, das habe man im Alter in Fülle, so läßt sich das freilich nicht verallgemeinern. Man muß, um das zu erleben, wie Goethe, nicht nur zu den Berufenen, sondern auch zu den Auserwählten gehören. Daß ich Anspruch darauf haben könnte, jenen Satz im allgemeinen auf mich anzuwenden, kam mir natürlich nicht in den Sinn; und etwas später erlebte jeder von uns ganz andere Dinge, als er in der Jugend begehrt hatte; aber eine Reihe von Freuden, die nur das Alter erleben kann, wurde auch mir noch vor dem Ausbruch des Weltkriegs zuteil.

Erfrischenderes als das Wiedersehen mit lieben Jugendfreunden gibt es nicht. Hatte ich meine Heidelberger und Düsseldorfer Jugendfreunde, so viele ihrer noch am Leben waren, noch auf unserer letzten großen Reise in den Rheingegenden aufgesucht, so fehlte es uns in Dresden gerade in diesen Jahren nicht an Gegenbesuchen. Aus London kam mein Vetter, der berühmte Arzt Sir Hermann Weber, mit den Seinen, jetzt, da er sich zur Ruhe gesetzt, öfter als sonst: ein Mann von seltenem Wissen und noch seltenerer Herzensgüte. Eine besondere Freude war es jedesmal, wenn meine Düsseldorfer Rudersportfreunde, die mir weit mehr als dieses waren, Ernst von Pfeffer, der staatlicher Würdenträger in Wiesbaden war, und Walter von Diest, der hoher Offizier in Schlesien war, sich zusammentaten, in Dresden bei uns einzukehren. Auch im Frühling 1914 verlebten wir schöne Tage mit ihnen in Dresden. Etwas Seltenes aber war es, daß der Landschaftsmaler Georges Oeder, mit dem meine liebsten Düsseldorfer Erinnerungen aufs engste verknüpft waren, sich eines Tages mit seiner vortrefflichen Gattin, die, wie er selbst, dem reichen Kreise des Rheinlandes angehörte, in ihrem Kraftwagen aufmachten, einige Wochen in Dresden zuzubringen. Wenn ihr Besuch auch zunächst nicht uns, sondern dem Wunderdoktor Gössel galt, wegen dessen, wie ich berichtet habe, auch Graf Schack wiederholt in Dresden gewesen war, so kam er uns doch in vollstem Maße zugute.

Während der Anwesenheit Oeders wurde mir dann aber noch eine andere, besondere Freude zuteil, die in der Tat zu denen gehörte, die ich in der Jugend wohl begehrt hatte und jetzt im Alter dankbar hinnahm. Paul Wiecke, unser großer Schauspieler, der uns gleich, als er von Weimar nach Dresden übersiedelte, besuchte, von seiner Eigenschaft als Freund unseres Hauses aber, durch Berufspflichten gerade abends in Anspruch genommen, zu unserer Betrübnis, da wir ihn nicht nur als Künstler, sondern auch als Menschen herzlich verehrten, viel zu selten Gebrauch gemacht hatte, besuchte uns eines Nachmittags im Mai zum Tee, um mit uns einen Abend zu verabreden, an dem er in einem Freundeskreise unseres Hauses Gedichte von mir vortragen wollte. Wie beglückt ich über dieses ganz aus freien Stücken erfolgte Anerbieten war, brauche ich nicht zu sagen. Der Abend, es war der 21. Mai 1914 – zu dem auch Oeders erschienen –, ist mir unvergeßlich. Unser Freund Graf Eulenburg, der Tondichter Botho Siegwart, dessen »Tod Hektors« aus der Ilias, der uns, von Ludwig Wüllner vorgetragen, vor kurzem in Leipzig in höchstes Entzücken versetzt hatte, trug nicht minder zur festlichen Gestaltung des Abends bei. Er hatte einige Lieder von mir komponiert, die seine Gattin herrlich vortrug; und daß sie mir hier im häuslichen Kreise noch wärmer zum Herzen klangen als in der Öffentlichkeit, in der wir sie später wieder hörten, brauche ich nicht zu sagen. Botho Siegwart war, wie jeder empfand, der seinen »Tod Hektors« gehört, zu Großem berufen. Daß der Weltkrieg ihn gleich im ersten Jahre dahinraffte, war auch uns ein großer Schmerz. Durch jenen Abend bei uns ist sein Name in unserer Erinnerung mit dem Paul Wieckes, der uns geblieben, aufs innigste verknüpft.

Dann aber, am 4. Juli, folgte das Fest, das keiner erlebt, der nicht das biblische Alter erreicht hat: mein siebzigster Geburtstag, der sich, mehr den Wünschen meiner Angehörigen in Hamburg und Dresden als meinen eigenen entsprechend, zu einer festlichen Veranstaltung in meinem Hause ausbildete, wie wir sie noch nicht erlebt hatten und, da der Weltkrieg alle Grundlagen zu ihrer Wiederholung, wenn uns an einer solchen gelegen wäre, zerstörte, niemals wieder erleben werden! Das Fest zeigte unser äußeres Leben auf der Höhe seines Glanzes vor dem jähen Absturz.

Von dem Ideal eines bürgerlichen siebzigsten Geburtstages, wie unser alter Johann Heinrich Voß es in dem Gedicht geschildert, das wir als Knaben alle auswendig lernten, war mein siebzigster Geburtstag weit entfernt. »Auf die Postille gebückt, zur Seite des wärmenden Ofens«, hätte ich ihn nicht verbracht, auch wenn er nicht in den heißen Sommer fiele. Vielleicht wäre es aber klüger gewesen, ihn wenigstens in ähnlichem Geiste zu feiern.

Meine Geschwister aus Hamburg und Heidelberg waren fast vollzählig erschienen. Einen besonderen Zug erhielt das Fest dadurch, daß von den Kindern meines Schweizer Jugendfreundes Gustav Reimann, der vor kurzem einen schönen plötzlichen Tod infolge Strauchelns auf der Jagd erlitten hatte, mein Pate Gustav und dessen schöne Schwester Paula gekommen waren, die als Schauspielerin erst im Königlichen Schauspielhaus, dann im Deutschen Theater zu Berlin im Begriff gewesen war, sich zu einer Künstlerin ersten Ranges emporzuarbeiten, als ihr Landsmann, der Fabrikdirektor Oskar Schultheß, sie heimführte. Natürlich war auch dieser zugegen. Paula Reimann hatte sich im Einvernehmen mit meiner Frau der geplanten Aufführungen angenommen, und ihren Mitspielern, meiner Tochter und einigen jungen Freunden unseres Hauses, ihre Rollen einstudiert. Ich sollte völlig überrascht werden und mußte mir die letzten Tage gefallen lassen, überall fortgeschickt zu werden.

Die von auswärts gekommenen Gäste nahmen am 4. Juli schon das Morgenfrühstück bei uns ein, während Militärmusik im Garten spielte. Die Abordnungen von Sammlungen, Behörden und Vereinen und viele Einzelfreunde, die, immer wechselnd, zwischen 11 und 3 Uhr erschienen, wurden stehend und an kleinen Tischen bewirtet. Das feierliche Essen, zu dem für 54 Personen gedeckt war, fand um 6 Uhr abends statt. Auf das Essen folgten die Aufführungen im festlich erleuchteten Garten, in dem ein kleines Naturtheater errichtet war. Man spielte Goethes »Laune der Verliebten« und eine Jugendsünde von mir, die meine Frau heimlich an den Tag gezogen hatte, das kleine Lustspiel »Vorurteile«, das ich als 18jähriger Jüngling geschrieben hatte. Zum Schluß wurden im Hause lebende Bilder aus meiner Erdenpilgerfahrt dargestellt. Den verbindenden Text und den Nachspruch, die mein Sohn geschrieben hatte, sprach Paula Schultheß-Reimann. Alles verlief glänzend, festlich und fröhlich, vom Geiste herzlicher Liebe und Freundschaft getragen.

Als großartigste Geburtstagsgabe hatten meine Hamburger Geschwister mir einen wesentlichen Zuschuß zu einer Reise nach Ägypten zu dreien gespendet, die wir im September antreten wollten. Wenn ich auch in frühen Jünglingsjahren die Pyramiden und die Sphinx von Giseh gesehen hatte, so war es mir bisher doch nicht vergönnt gewesen, die Wunder Mittel- und Oberägyptens, ohne die man Ägypten nicht gesehen hat, kennenzulernen. Fieberhaft hatte die Sehnsucht danach schon lange in mir gebrannt. Ich hoffte, nicht nötig zu haben, den ersten Band der neuen Auflage meiner Kunstgeschichte zu veröffentlichen, ohne meine Fingerspitzen in die heiligen Fluten des Nils getaucht zu haben. Wie dankbar war ich meinen Geschwistern in Hamburg, daß sie mir den Traum verwirklichen helfen wollten! Aber es sollte nicht sein. Der Ausbruch des Krieges zerschlug noch wichtigere Dinge als unsere Reise, und wir sahen es schließlich als ein Glück an, daß er ausbrach, ehe wir abgereist waren: wir wären sonst wahrscheinlich jahrelang englische Kriegsgefangene geblieben.

Auch aus der deutschen Öffentlichkeit drangen aus Anlaß meines 70. Geburtstages freundliche Worte zu mir herüber, als hätte ich wirklich nicht ganz umsonst gelebt. Das sind Klänge, die verhallen wie Träume, die verwehen; wenn sie uns selbst das Leben einen Augenblick lebenswerter erscheinen lassen, so haben sie ihre Schuldigkeit getan.

Wie friedlich war unser Leben bisher verlaufen! »At nunc horrentia Martis!«


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