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V.

»Eine Depesche,« sagte der Überbringer, als er Tante Ritter herausgeklingelt hatte. »Ein Telegramm an den Herrn Professor.«

»Ein Telegramm!« rief Fridolin, der es durch die offene Tür von seinem Zimmer aus hörte. »Schon ein Telegramm! – Ich sagt' es immer: neben dem Leuchtgas – mit dem man nun endlich seine Zimmer einigermaßen hell machen kann, Ferdinand – ist der Telegraph die größte Erfindung des Jahrhunderts und ein Beweis für die Güte Gottes. Hier, Mann der Elektrizität! haben Sie die Bescheinigung. Sie wünschen eine Zigarre? Nehmen Sie sich eine Zigarre aus jener Kiste. Wenn ich glücklich bin, sollten Sie unglücklich sein? Nein. Guten Morgen. – Lesen wir jetzt das Telegramm!«

»Von wem?« fragte Ferdinand.

»Nicht von meinem Bruder, wie ich dachte; von deinem Onkel, mein Sohn. ›Meine Nichte Ottilie nicht hier. Wissen nichts von ihr. Durch Ihr Telegramm lebhaft beunruhigt.‹ – So! Das ist nun das Resultat, daß wir diesen würdigen Mann auch noch beunruhigt haben; völlig nutzloserweise. Es ist kein Segen beim Telegraphieren, mein Sohn!«

»Man klingelt,« sagte Tante Ritter (die inzwischen ihren Neffen, den Sohn ihres studierten Bruders, mit strahlendem Stolz von der Seite betrachtet hatte) und lief hinaus.

»Eine Depesche,« murmelte jemand draußen an der Tür. »Eine Depesche an den Herrn Professor.«

»Dieser Morgen ist nicht der stillste in meinem Leben!« sagte Fridolin. »Bitte, geben Sie her. Wie Ferdinand mich mit den erwartungsvollen braunen Augen anglänzt. Noch nicht wie ein Philosoph! – Aber wohlgekämmt, wohlgereinigt; ein edler Anblick. Hier, mein Herr! Die Bescheinigung. Sollte ich ungerecht sein? Nehmen auch Sie sich eine Zigarre; dort aus jener Kiste. Er lächelt dankbar. Guten Morgen! Lesen wir jetzt das Telegramm!«

»Von deinem Bruder?« fragte Ferdinand.

»Ja. ›Bin hier.‹ Der Schurke! Der Verräter! ›Weiß von Ottilien nichts. Verstehe nichts. In grenzenloser Unruhe.‹ – Da haben wir's! Der auch! Fluch auf die Telegramme!«

Ferdinand sah ihm über die Schulter. »Da steht ja noch ›Bitte dringend Aufklärung‹,« sagte er.

»Aufklärung! Also ein neues Telegramm! – Was wissen wir mehr, als er? – Ferdinand, das Chaos beginnt!«

»Es scheint wenigstens,« sagte Ferdinand lächelnd, »die Philosophie hört auf.«

»Bist du schon so weit, mein Sohn, mit mir deinen Spott zu treiben? (Wie wunderbar ihm das steht!) Gut, ich werde mich fassen; – ich werd' ihm telegraphieren. Aber was? – Warum ist er nicht hier, statt in Neustadt? Was hat dieser geistliche Verräter jetzt in Neustadt zu tun? – Ich werd' ihm telegraphieren – – bitte, mein teurer Ferdinand, setz dich hin und schreib.«

»Ich schreibe.«

»›Aufklärung mündlich; anders nicht. Europa erwartet, daß du noch heute hierher zurückkehrst. Drahtantwort bezahlt.‹ Dies zwingt ihn, Ferdinand. Er muß. Es liegt ein Segen auf der Telegraphie!«

Es klingelte.

»Eine Depesche für den Herrn Professor,« sagte der Mann, dem Frau Ritter draußen öffnete.

»Meine Zigarrenkiste für Dienstmänner wird heut noch leer!« rief Fridolin aus. »Von wem kommt denn das? – – Hier, mein Herr; Bescheinigung und Zigarre. Lesen wir. Wie? Von Rudolf, aus Potsdam? Schon? – Wunderbarste aller Erfindungen! – ›Frau Altschwager sogleich gefunden. Sie weiß nichts. Ist nun sehr in Sorgen. Komme mit nächstem Zug. Rudolf.‹ – Muß dieser Hansnarr das telegraphieren? Ist das eine Depesche? – In Sorgen! – Wir wissen nichts! – Wir wissen nun wenigstens dreifach, mein teurer Ferdinand, daß wir nichts wissen.«

»Dieses ewige Reißen an die olle Klingel!« brummte Tante Ritter und lief wieder hinaus.

Fridolin horchte auf das vierte »Eine Depesche für den Herrn Professor«. Aber es blieb aus. Die Stimmen der Leibschwaben ließen sich durcheinander vernehmen. Franz, Risotto und der Waldknabe traten geräuschvoll ein.

»Wir trafen nämlich den Waldknaben auf der Straße!« sagte Risotto, indem er nach Atem rang. »Und haben ihn begleitet –«

»Und haben Frivolins noch kleineren Bruder gefunden,« fiel Franz ebenso atemlos ein. »Zu Hause. Und er hat richtig –«

»Von Frivolin einen Brief,« setzte der Waldknabe in aller Eile hinzu.

»Hat er einen Brief?« rief der Professor mit seiner ganzen Stimme. »Ihr habt ihn mitgebracht? – Königliche Briefpost, Segen der Kultur! – Lese jemand ihn vor.«

»Ich also!« sagte der Waldknabe, der ihn in der Hand hielt. »Mein teurer Rotkopf! Ich sitze hier in Leipzig im ›Nürnberger Hof‹, habe mein Geld auf eine sehr interessante Weise durchgebracht, und kann nun nicht fort; sintemal mir sowohl das große als das kleine Geld fehlt. Bitte, schicke mir! Sagen wir, fünfzig Taler, – wenn Du sie hast. In bekannter brüderlicher Liebe Dein Frivolin.‹«

»Das ist alles?« fragte Ferdinand.

»Ja.«

»So mißbraucht man die Post?« rief Fridolin entrüstet. »Dies ist ein Telegramm, und kein Brief! Was steht darin? Nichts, als: ›schicke Geld‹. Also auch der nun ohne Geld! – Und Ottilie? Wo ist sie?«

»Es steht auch seine Adresse in dem Brief,« sagte Ferdinand, den die Aufregung wieder rötete. »Wenn meine Schwester – – wenn sie in demselben Hotel wäre – –« stammelte er verlegen. »Jedenfalls – kann er uns sagen, wo er sie gelassen hat; wo sie ist. Ich fahre hin. Ich such' ihn auf. Leipzig, im Nürnberger Hof!«

»Du, mein Sohn, wolltest hin?«

»Ja, ich. Bin ich nicht der Bruder?«

»Sehr wahr! Du bist der Bruder,« erwiderte Fridolin. »O, du hast recht! – Ich begleite dich – – Kann ich dich begleiten?« – Er warf einen Blick auf das neue Telegramm an Philipp, das noch auf dem Tisch lag. »Ja so! Philipp. Mein Bruder. Mein hilfloser, unkluger – – Darf ich fort? Nein. Ich muß seine Antwort erwarten, – und ihn selbst. Meine Freunde, was ist das für ein Tag! – – Aber du hast recht. Sie ist deine Schwester. Reise voran, mein guter Ferdinand; mein Ottilius; ich folg' dir nach. Ja, ich folg' dir nach!«

»Wann?« fragte der Jüngling, indem er ihm mit treuherziger Liebe in die Augen sah.

 

»Wann? – Wenn meine Sehnsucht und die Möglichkeit sich wie kongruente Dreiecke decken; wenn das Schicksal mir wieder hold ist. Jeder von uns hat seine Pflicht; du die Schwester, ich den Bruder; tun wir, was wir müssen. Geh, mein Sohn; – neun Uhr; – ich werd' hier unterdessen die Eifersucht dieser Jünglinge wecken, indem ich ihnen erzähle, was für ein Mensch du bist, Ottilius! – Wünschest du den nächsten Zug zu versäumen? Nein. Wozu? Also nimm deinen Überrock und deinen Hut, sag schön ›adieu‹ und leb wohl!«

»Adieu!« sagte Ferdinand lächelnd, mit naiver Anmut, und drückte Fridolins Hand. Dann stülpte er sich seinen grauen, weichen Hut auf das braune Haar, das nun wie auf der Flucht vor diesem Überfall in Ringeln hervorquoll. Er warf sich den Überrock, statt ihn anzuziehen, auf die Schultern, mit einer jugendlich unternehmenden Bewegung. Fridolin sah das alles; er sah schweigend zu, er verschlang dieses ganze jugendschöne Bild mit künstlerischer Freude. Er stand still. Erst als Ferdinand ihm und den andern einen letzten Wink mit der Hand zugeworfen hatte und zur Tür hinausging, rührte er sich auch.

An der obersten Treppenstufe holte er den Jüngling ein; »Ottilius!« rief er ihn an. »Steh noch einen Augenblick still! – Wie du davonstürmst. Ich zittre! du verschwindest mir am Ende wieder, wie du gekommen bist; du warst vielleicht nur eine Erscheinung – nur ein Gedanke – – Lach über mich, aber steh noch still. Dein Halstuch sitzt schief! Erlaube, daß ich dir's umbinde, wie es sich gehört, Ottilius! Kind! Es muß etwas Edles, Gutes aus dir werden; das erwart' ich von dir. Ich werde dir nach Leipzig telegraphieren, was ich von dir erwarte. Ich hab' jetzt wieder einen Zweck auf der Welt; – du bist dieser Zweck! Und nun laß mich dir noch den allzuschiefen Hut etwas grader setzen; und geh, und sieh dich nicht um, wenn ich dir übers Geländer nachsehe.«


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