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Vom bescheidenen Hähnchen

Frau Mutter, wir möchten uns ein wenig in der Welt umsehen,« sagte das jüngste Hähnchen zu der Henne.

»Ja, das möchten wir,« sagte auch das älteste.

»Was heutzutage die Kinder nicht alles wollen!« Die Henne schüttelte den Kopf. »So geht! Ihr werdet bald genug wieder da sein. Und was ich sagen wollte: Seid ja recht bescheiden und drängt euch nirgends vor. Das können die Erwachsenen nicht leiden.«

Die Hähnchen machten sich eilends davon und krähten heiser und vergnügt in die Welt hinaus. Die Henne sah ihnen nach.

»Um den Ältesten ist mir nicht bange,« sagte sie zum Hahn, »Aber der Jüngste.«

»Jugend hat keine Tugend,« bedeutete sie der Hahn.

Die Hähnchen zogen über das Feld, und das jüngste wurde hungrig.

»Hast du etwas zu essen?« fragte es seinen Bruder.

»Nein,« sagte der Älteste; »aber da kriecht eine fette Raupe.«

»Danke!« sagte das Jüngste, und fraß sie auf. Verblüfft sah der andere zu.

»Eigentlich hätte sie mir gehört. Ich habe sie zuerst gesehen.«

»Aber ich habe sie zuerst gefressen,« sagte ruhig das Hähnchen.

Sie liefen weiter und liefen manchen Tag, und die Welt hatte immer noch kein Ende. Es wurde ihnen fast unheimlich zumute.

»Ich wollte, ich wäre wieder daheim bei der Frau Mutter!« sagte das Älteste.

»Das glaube ich!« lachte der Fuchs, der plötzlich vor ihnen stand. »Welches von euch beiden möchte nun zuerst gefressen werden?«

»Bitte, Herr Fuchs, ich warte gerne,« sagte das jüngste Hähnchen bescheiden.

Da packte der Fuchs den Ältesten und zerriß ihn. Das Jüngste aber lief über das Feld heimwärts, so schnell es konnte. Es rannte und flog und krähte, bis es endlich bei seiner Mutter war.

»Frau Mutter,« schrie es schon von weitem, »oh, wie recht haben Sie gehabt. Bescheidenheit ist eine schöne Sache.«

»So,« sagte die Henne und sah ihren Jüngsten mißtrauisch an, »und wo hast du denn deinen Bruder?«

»Den hat der Fuchs gefressen, Frau Mutter. Und hätte ich nicht auf Sie gehört und mich unbescheiden vorgedrängt, so hätte die Sache schief ablaufen können.«

 


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