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2.
Scheintod

Der Zustand kataleptischer Starrsucht, in den dieser Fremde verfallen war, dauerte eine noch nie dagewesene Zeit, und dann ging er langsam in den schlaffen Zustand über, in eine lose Haltung, die an tiefe Ruhe erinnerte. Da erst konnte man ihm die Augen schließen.

Aus dem Hotel wurde er in das Hospital von Boscastle geschafft, und aus dem Hospital einige Wochen darauf nach London. Aber noch widerstand er jedem Versuch der Wiederbelebung. Nach einiger Zeit wurden diese Versuche aus Gründen, die sich später zeigen werden, nicht mehr fortgesetzt. Lange lag er in jenem seltsamen Zustand, reglos und still – weder tot noch lebendig, sondern gleichsam in der Schwebe, aufgehängt zwischen dem Nichts und dem Dasein. Sein Dunkel war durch keinen Strahl des Gedankens oder der Empfindung gebrochen, es war eine traumlose Leere, ein ungeheurer Raum des Friedens. Der Tumult seines Geistes war zu einer unvermittelten Klimax des Schweigens geschwellt und gestiegen. Wo war der Mann? Wo ist der Mensch, wenn die Besinnungslosigkeit ihn faßt?

»Es ist, als sei es gestern gewesen,« sagte Isbister. »Ich weiß noch alles, wie wenn es gestern gewesen wäre – klarer vielleicht, als wenn es gestern gewesen wäre.«

Es war der Isbister des letzten Kapitels. Aber er war kein junger Mann mehr. Das Haar, das braun und ein wenig länger gewesen war, als die elegante Mode erforderte, war eisengrau und kurz geschoren, und das Gesicht, das rosa und weiß gewesen war, war lederbraun und rot. Er trug einen spitzen und graugesprenkelten Bart. Er sprach mit einem ältlichen Herrn, der einen Sommeranzug aus Drillich anhatte (der Sommer dieses Jahres war ungewöhnlich heiß). Das war Warming, ein Londoner Anwalt und der nächste Verwandte Grahams, des Fremden, der in den Starrkrampf gefallen war. Und die beiden Männer standen Seite an Seite in einem Hause in London und blickten auf seine liegende Gestalt.

Es war eine gelbe Gestalt, die lose auf einem Wasserbett lag und ein langes Hemd trug, eine Gestalt mit verrunzeltem Gesicht und langem Stoppelbart, mit hageren Gliedern und langen Nägeln, und ihn umgab ein Gehäuse aus dünnem Glas. Dieses Glas schien den Schläfer von der Realität des Lebens um ihn abzutrennen, er war ein Ding für sich, eine seltsame, isolierte Anormalität. Die beiden Männer standen nah am Glas und spähten hinein.

»Die Sache gab mir einen Stoß,« sagte Isbister. »Ich spüre noch jetzt ein sonderbares überraschtes Grauen, wenn ich an seine weißen Augen denke. Sie waren ganz weiß, wissen Sie, nach oben gedreht. Jetzt, da ich hier vor ihm stehe, kommt mir all das ins Gedächtnis zurück.«

»Haben Sie ihn seit der Zeit nie gesehen?« fragte Warming.

»Wollte oft kommen,« sagte Isbister; »aber das Geschäft ist heutzutage eine zu ernsthafte Sache, als daß es viel Ferien zu machen erlaubte. Ich bin die meiste Zeit in Amerika gewesen.«

»Wenn ich mich recht erinnere,« sagte Warming, »waren Sie Künstler.«

»War. Und dann wurde ich Ehemann. Ich sah sehr bald, daß es mit der Schwarz- und Weißkunst aus war – wenigstens für einen mittelmäßigen Künstler, und ging mit dem Fortschritt weiter. Die Plakate auf den Klippen bei Dover sind von meinen Leuten.«

»Gute Plakate,« gab der Anwalt zu, »obgleich es mir leid tat, sie da zu sehen.«

»Halten so lange wie die Klippen, wenn's sein muß,« rief Isbister mit Genugtuung aus. »Die Welt ändert sich. Als er vor zwanzig Jahren einschlief, saß ich da unten in Boscastle mit einem Kasten voll Wasserfarben und einem edlen, altmodischen Ehrgeiz. Ich erwartete nicht, daß meine Pigmente noch einmal die ganze englische Küste von Lands End herum bis wieder zum Lizard schmücken würden. Das Glück kommt oft zum Menschen, wenn er nicht daran denkt.«

Warming schien zu zweifeln, ob dies ein Glück war. »Ich verfehlte Sie nur gerade, wenn ich mich recht erinnere.«

»Sie kamen mit dem Wagen zurück, der mich zum Camelford-Bahnhof gebracht hatte. Es war kurz vor dem Jubiläum, Viktorias Jubiläum, denn ich erinnere mich der Tribünen und Fahnen in Westminster und des Streits mit dem Kutscher in Chelsea.«

»Das Diamantjubiläum war es,« sagte Warming; »das zweite.«

»Ah ja! bei dem eigentlichen Jubiläum – der Fünfzig Jahrs-Geschichte – war ich unten in Wookey – als Junge. All das hab' ich versäumt... Was für eine Aufregung wir mit ihm hatten! Meine Wirtin wollte ihn nicht haben – wollte ihn nicht bleiben lassen – er sah so wunderlich aus, als er starr war. Wir mußten ihn auf einem Stuhl ins Hotel hinauftragen. Und der Doktor in Boscastle – es war nicht der jetzige Bursch', sondern der vor ihm – war bis fast zwei Uhr an der Arbeit, und ich und der Wirt hielten ihm die Lampen und so weiter.«

»Es war erst eine kataleptische Starrsucht, nicht wahr?«

»Steif! – wie man ihn auch bog, so blieb er. Man hätte ihn auf den Kopf stellen können, und er wäre da geblieben. Solche Steifheit hab ich nie wiedergesehen. Natürlich ist dies« – er zeigte mit einer Bewegung des Kopfes auf die liegende Gestalt – »ganz anders. Und natürlich hatte der kleine Doktor – wie hieß er gleich?«

»Smithers?«

»Ganz recht, Smithers – nach allen Berichten vollständig unrecht, als er versuchte, ihn so schnell wie möglich zu wecken. Was er alles anfing! Noch jetzt fühl ich mich ganz – uh! Senf, Schnupftabak, Nadeln. Und eins von den scheußlichen kleinen Dingen – nicht Dynamos –«

»Induktionsapparaten.«

»Ja. Man konnte seine Muskeln zucken und springen sehen, und er wand sich umher. Wir hatten gerade zwei flackernde Kerzen, und all die Schatten zitterten, der kleine Doktor war nervös und aufgeregt, und er – wand sich auf die unnatürlichsten Arten, trotz seiner Starrheit. Ah, ich habe noch lange davon geträumt.«

Pause.

»Es ist ein unheimlicher Zustand,« sagte Warming.

»Es ist eine Art vollständiger Abwesenheit,« sagte Isbister. »Hier ist der Körper, leer. Tot keine Spur und doch nicht lebendig. Er ist wie ein leerer Stuhl, auf dem ›belegt‹ steht. Kein Gefühl, keine Verdauung, kein Herzschlag, keine Zuckung. Das gibt mir nicht das Gefühl, wie wenn ein Mensch anwesend wäre. In gewissem Sinn ist er vollständiger tot als der Tod selber, denn die Doktoren sagen mir, selbst das Haar habe zu wachsen aufgehört. Aber bei den richtigen Toten wächst das Haar weiter fort –«

»Ich weiß,« sagte Warming mit einem Blitz des Schmerzes in seinem Ausdruck.

Sie blickten wieder durch das Glas. Graham war freilich in einem seltsamen Zustand, er lag in der schlaffen Phase eines Starrkrampfs da, aber eines in der Geschichte der Medizin unerhörten Starrkrampfs. Starrkrämpfe hatten wohl schon bis zu einem Jahr gedauert – aber nach der Zeit war entweder das Erwachen oder der Tod eingetreten; bisweilen erst das eine und dann das andere. Isbister sah die Stellen, wo der Arzt die Nahrung injiziert hatte, denn um die Entkräftung hinauszuschieben, hatte man zu diesem Ausweg gegriffen; er zeigte sie Warming, der versucht hatte, sie nicht zu sehen.

»Und während er hier gelegen hat,« sagte Isbister mit dem Wohlgefühl eines frei verbrachten Lebens, »habe ich meine Lebenspläne geändert, geheiratet, eine Familie gegründet, mein ältester Junge – damals hatte ich noch nicht angefangen, an Söhne zu denken – ist amerikanischer Bürger und soll demnächst Harvard verlassen. In meinem Haar ist eine Spur von Grau. Und dieser Mensch, keinen Tag älter oder klüger (tatsächlich), als ich in meinen Flaumtagen war. Es ist ein wunderlicher Gedanke.«

Warming drehte sich um. »Und ich bin auch alt geworden. Ich habe mit ihm Kricket gespielt, als ich ein Bursch war. Und er sieht trotzdem jung aus. Gelb vielleicht. Aber er ist trotzdem ein junger Mensch.«

»Und dann liegt der Krieg dazwischen,« sagte Isbister.

»Von Anfang bis zu Ende.«

»Und diese Leute vom Mars.«

»Ich habe gehört,« sagte Isbister nach einer Pause, »er hatte selber ein bescheidenes Vermögen?«

»Das ist richtig,« sagte Warming. Er hustete gezwungen. »Zufällig habe ich die Verwaltung.«

»Ah!« Isbister dachte nach, zögerte und sprach: »Ohne Zweifel – sein Unterhalt hier ist nicht sehr teuer – ohne Zweifel wird es sich aufbessern – sich vermehren?«

»Das tut es. Wenn er aufwacht – wenn er eben aufwacht – wird er sich viel besser stehen, als zur Zeit seines Einschlafens.«

»Als Geschäftsmann«, sagte Isbister, »hat mich der Gedanke natürlich beschäftigt. Ich habe sogar bisweilen gemeint, natürlich kommerziell gesprochen, dieser Schlaf könne für ihn eine sehr gute Sache sein. Er wird wissen, woran er ist, sozusagen, daß er so lange besinnungslos bleibt. Wenn er ruhig weiter gelebt hätte –«

»Ich zweifle, ob er sich das überlegt hätte,« sagte Warming. »Er war kein weitsichtiger Mann. Kurz –«

»Ja?«

»Wir waren da verschiedener Ansicht. Ich vertrat ihm gegenüber ein wenig die Stelle des Vormunds. Sie haben wahrscheinlich genug von der Welt gesehen, um anzuerkennen, daß gelegentlich eine gewisse Reibung – Aber selbst wenn das der Fall wäre, so ist es zweifelhaft, ob er je erwachen wird. Dieser Schlaf erschöpft langsam, aber er erschöpft. Offenbar gleitet er langsam, sehr langsam und lässig einen langen Hang hinunter, wenn Sie mich verstehen?«

»Es wäre schade, wenn man um seine Überraschung käme. In diesen zwanzig Jahren hat sich eine Menge verändert. Es wäre, als würde das Märchen von Rip Van Winkle zur Wirklichkeit.«

»Es wäre Bellamy,« sagte Warming. »Sicherlich hat sich eine Menge verändert. Und unter anderem habe ich mich verändert. Ich bin ein alter Mann.«

Isbister zögerte und spielte dann ein nachträgliches Erstaunen. »Das hätte ich nicht gedacht.«

»Ich war dreiundvierzig, als sein Bankier – Sie wissen, Sie telegraphierten an seinen Bankier – zu mir schickte.«

»Ich fand seine Adresse in dem Scheckbuch in seiner Tasche,« sagte Isbister.

»Nun, die Addition ist nicht schwierig,« sagte Warming.

Es folgte wieder eine Pause, und dann gab Isbister einer unvermeidlichen Neugier nach. »Er kann noch Jahre so liegen bleiben,« sagte er und zögerte einen Moment. »Das haben wir zu bedenken. Sie wissen, seine Angelegenheiten können eines Tages in die Hände von – von jemand anders fallen, wissen Sie.«

»Das, wenn Sie mir glauben wollen, Mr. Isbister, ist eins von den Problemen, die mir beständig vor Augen stehen. Wir sind – tatsächlich existieren keine sehr vertrauenswürdigen Verwandten von uns mehr. Es ist eine groteske und unerhörte Lage.«

»Das ist es,« sagte Isbister. »Es ist wirklich ein Fall für einen öffentlichen Betrauten, wenn wir nur einen solchen Beamten hätten.«

»Mir scheint, es ist ein Fall für eine öffentliche Körperschaft, für einen praktisch unsterblichen Verwalter. Wenn er wirklich weiterleben sollte – wie die Doktoren, einige von ihnen, glauben. Ich bin auch tatsächlich schon damit an ein oder zwei Leute der Öffentlichkeit herangetreten. Aber bislang ist nichts geschehen.«

»Es wäre kein schlechter Gedanke, ihn einer öffentlichen Körperschaft zu übergeben – der Verwaltung des Britischen Museums oder dem königlichen Ärztekollegium. Klingt natürlich etwas wunderlich, aber der ganze Fall ist wunderlich.«

»Die Schwierigkeit ist die, sie zu veranlassen, daß sie ihn nehmen.«

»Beamtenzopf, vermutlich?«

»Zum Teil.«

Pause. »Es ist auf jeden Fall eine sonderbare Geschichte,« sagte Isbister. »Und Zinseszinsen haben eine Art, in die Höhe zu laufen!«

»Ja,« sagte Warming. »Und jetzt, wo die Goldzufuhr ausgeht, ist die Tendenz steigend ... Preiserhöhung.«

»Das hab ich fühlen müssen,« sagte Isbister mit einer Grimasse. »Aber für ihn wird es dadurch nur besser.«

» Wenn er erwacht.«

»Wenn er erwacht,« echote Isbister. »Sehen Sie, wie eingekniffen seine Nase aussieht, und wie sonderbar seine Augenlider zugefallen sind?«

Warming blickte eine Zeitlang hin und sann. »Ich zweifle, ob er aufwachen wird,« sagte er schließlich.

»Ich habe nie recht verstanden,« sagte Isbister, »welche Ursache dies eigentlich herbeigeführt hat. Er sagte mir etwas von Überarbeitung. Ich habe mich oft gewundert.«

»Er war ein Mensch von bedeutenden Gaben, aber nervös, von Gefühlen abhängig. Er hatte schweren, häuslichen Kummer, ließ sich von seiner Frau scheiden, und ich glaube, um sich davon zu erholen, begann er Politik von der wildesten Art zu treiben. Er war ein fanatischer Radikaler – Sozialist – oder, wie sie sich zu nennen pflegten, ein typischer Liberaler von der Fortschrittsschule. Energisch – phantastisch – undiszipliniert. Überarbeitung in einer Streitsache hatte diese Folgen. Ich erinnere mich seiner Broschüre noch – eine merkwürdige Produktion. Wildes, wirbelndes Zeug. Ein oder zwei Prophezeiungen standen drin. Einiges davon ist schon explodiert, anderes ist anerkannte Tatsache. Aber meist, wenn man solche Sätze liest, fühlt man, wie voll die Welt von ungeahnten Dingen ist. Er wird viel zu lernen haben, wenn er erwacht, viel zu verlernen. Wenn ein Erwachen jemals kommt.«

»Ich würde alles darum geben, wenn ich dabei sein könnte,« sagte Isbister, »nur um zu hören, was er zu all dem sagen würde.«

»Ich auch,« sagte Warming. »Ah ja, ich auch,« mit der plötzlichen Wendung des alten Mannes zum Selbstmitleid. »Aber ich werde ihn nie erwachen sehen.«

Er stand da und blickte nachdenklich auf die wächserne Gestalt. »Er wird nie erwachen,« sagte er schließlich. Er seufzte. »Er wird nie wieder aufwachen.«


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