Louis Weinert-Wilton
Die Königin der Nacht
Louis Weinert-Wilton

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24

Oberst Terry verging vor fieberhafter Spannung und Ungeduld, aber er mußte bis zum übernächsten Morgen warten, bevor sich Boyd wieder bei ihm blicken ließ. Er sah noch strahlender und zufriedener aus als sonst und brachte zunächst ein Stück einer Glasscheibe zum Vorschein.

»Das habe ich schon vor einigen Tagen aus dem Hause Mortons mitgenommen«, erklärte er. »Es sind Fingerabdrücke darauf, aber ich weiß nicht, ob sie uns etwas nützen werden. Lassen Sie sie jedenfalls präparieren, dann werden wir ja sehen. Ich habe das Glas aus dem Fenster geschnitten, vor dem in der kritischen Nacht Jack Beery tot aufgefunden wurde.« Dann entnahm er seinem Notizbuch einen dicht beschriebenen Zettel und reichte ihn dem Oberst. »Hier haben Sie die Anordnungen für den heutigen Abend. Die Sache beginnt um acht Uhr und dürfte gegen zwölf oder vielleicht noch früher zu Ende sein. Sie werden am besten tun, wenn Sie wieder bei dem Haus mit den zwei Türmchen Aufstellung nehmen. Ich habe nämlich das Gefühl, daß dort die Entscheidung fallen wird. Natürlich kann ich mich auch irren.«

Terry überflog das Papier sehr aufmerksam und sah dann seinen Mitarbeiter erwartungsvoll an.

»Glauben Sie nicht, daß noch im letzten Augenblick etwas geschehen kann?«

»Das ist natürlich nicht ausgeschlossen«, gab der Detektiv mit einem gleichmütigen Achselzucken zu, »aber es kann unseren Erfolg kaum mehr in Frage stellen. Geben Sie daher jedenfalls noch an die Abendblätter eine Mitteilung aus, daß Scotland Yard in dem rätselhaften Cartwright-Morton-Fall bereits eine einwandfreie Spur gefunden hat und daß die Verhaftung der geheimnisvollen ›Königin der Nacht‹ unmittelbar bevorsteht. Das macht sich sehr gut und kann uns sehr viel nützen. Was das Haus in Hackney betrifft«, fügte er dann hinzu, »so kommt dasselbe erst morgen an die Reihe. Da möchte ich nämlich gerne selbst dabei sein. Aber den ›Professor‹ lassen Sie unbedingt heute festnehmen. Je früher, desto besser.«

»Und wo kann ich Sie erreichen, wenn ich Sie brauchen sollte?« fragte Terry.

»Ich werde mich schon selbst bei Ihnen melden«, erwiderte Boyd ausweichend. »Ich bin heute abend zu einer Gesellschaft geladen, in der ich mich ausgezeichnet zu unterhalten hoffe.«

Wenn Boyd nicht selbst an dieses wichtige Ereignis gedacht hätte, so wäre er von Mr. Fish daran erinnert worden, der ihn sofort, als er das Reporterzimmer des Cartwright-Hauses betrat, an einem Knopf erwischte. Mr. Fish war bereits seit dem frühen Morgen durch die Vorbereitungen für den Abend bei Mrs. Dyke in Anspruch genommen. Zunächst hatte er sich so sorgfältig rasiert, daß dabei einige Streifen seiner sommersprossigen Haut abgegangen waren, dann hatte es eine ziemlich heftige Auseinandersetzung mit seiner Plätterin gegeben, die damit endete, daß die Frau um einen Schilling acht Pence weniger erhielt, weil sie ihre Sache so schlampig gemacht hatte, daß ein Mr. Fish sich unmöglich darin zeigen konnte. Nichtsdestoweniger steckte dieser selbe Mr. Fish sofort die mächtigen Perlenknöpfe in die blütenweiße Hemdbrust und stäubte dann auf Weste, Frack und Beinkleider, ja sogar auf die Seidenstrümpfe mit den Ajours etwas von einer Flüssigkeit, die nach einigen Stunden angeblich einen diskreten und vornehmen Duft verbreitete. Auch die Lackschuhe hatten eine gründliche Auffrischung erfahren, und es war dem ›Fliegenpilz‹ höchst angenehm, daß er seinem Freunde Boyd, mit dem er am verflossenen Abend wieder sehr gut und ausgiebig gespeist hatte, die Sache mit dem Wagen nochmals gehörig einschärfen konnte.

»Fünf Schilling, daß Sie sich meine Adresse nicht gemerkt haben«, sagte er mißtrauisch und vorsichtig und begann in der Westentasche zu kramen, aber Boyd legte den Betrag bereitwilligst auf den Tisch. Dann dachte er angestrengt nach.

»Hoxton, High Street 19.«

»Siebzehn«, stellte Mr. Fish mit einem mißbilligenden Wiegen des Kopfes nachdrücklich richtig und ließ die fünf Schilling verschwinden. »Das habe ich mir doch gedacht. Also, merken Sie sich endlich: Nummer siebzehn. Pünktlich um Viertel nach sieben. Ich liebe es nicht, in Frack und Lackschuhen über die Straße zu gehen.«

Boyd hörte sehr höflich, aber doch nur mit halbem Ohr zu, weil er ziemliche Eile hatte und gerne noch mit Wellby einige Worte gewechselt hätte. Dieser saß, teilnahmslos und gelangweilt wie immer, hinter seinen Zeitungen, aber zur größten Verwunderung von Mr. Fish setzte er sofort eine verbindliche Miene auf, als Boyd neben ihm Platz nahm.

»Mr. Wellby«, begann dieser mit großer Förmlichkeit, »ich habe gehört, daß Miss Avery seit vorgestern nicht im Cartwright-Haus erschienen ist.«

Der Reporter stieß gelassen den Rauch seiner Zigarette zur Decke.

»So? Vielleicht fühlt sie sich nicht wohl.«

»Das wäre nach dem Schrecken der vorgestrigen Nacht begreiflich, aber sehr schade. Ich rechne nämlich bestimmt damit, sie heute bei Mrs. Dyke zu treffen. Allerdings scheint sie auch gestern abend in Anspruch genommen gewesen zu sein, denn sie ist erst gegen zwei Uhr nachts in einem Auto heimgekommen. – Das Ganze war eine sehr prompte und geschickte Arbeit«, fügte Boyd anerkennend hinzu, »und meine Mahnung ist gerade noch zurechtgekommen.«

Der Reporter vermied es, auf diese unverständliche Anspielung irgendwie einzugehen.

»Glauben Sie, daß nun alle Gefahr vorüber ist?« fragte er.

»Ich nehme es an. Jedenfalls solange ich dabei bin. Ich möchte Sie aber schon jetzt darauf aufmerksam machen, daß wir wahrscheinlich eine sehr nervöse und gedrückte Stimmung vorfinden werden. Wenn Sie die Abendzeitungen lesen, die ja bald erscheinen, werden Sie wissen warum.« Er lächelte sehr zufrieden und blitzte Wellby mit seinen lebhaften grauen Augen schalkhaft an. Aber plötzlich fiel ihm etwas anderes ein. »Haben Sie je etwas von dem Reisetagebuch Sir Benjamins gehört?« fragte er gespannt.

»Ich besitze eine Abschrift davon«, erklärte der Reporter, und Boyd rieb sich befriedigt die Hände.

»Ausgezeichnet«, meinte er nicht sonderlich überrascht. »Ich darf mir diese wohl noch heute für einige Stunden ausbitten? – Kennen Sie übrigens das Karibische Meer und die Gegend um den Panamakanal?«

»Einigermaßen«, gab der andere etwas verwundert zurück.

»Und haben Sie vielleicht schon einmal etwas von Captain Mitchell Hedges gehört?«

Wellby nickte.

»Kämpfe mit Riesenfischen.«

Boyd war mit einem Male wie elektrisiert.

»Glauben Sie, daß das alles wirklich wahr ist? Und daß unsereiner auch so ein Petriheil haben könnte? Ich bin nämlich kein Neuling«, versicherte er lebhaft, »aber solch eine Fischerei ist natürlich etwas ganz anderes.«

»Wollen Sie sie versuchen?«

»Ich werde sie versuchen«, gab der weißhaarige Herr entschieden zurück. »Im Herbst. Vorläufig werde ich mich noch mit meinen Forellen begnügen, aber dann . . .« Er reckte sich und blinzelte Wellby herausfordernd an. »Und die Geschichte wird der Cartwright-Konzern bezahlen.«

»Wieso?« entfuhr es dem Reporter in lebhafter Überraschung.

»Weil ich das mit Mr. Hyman so ausgemacht habe«, erklärte Boyd leichthin. »Für die Erledigung des Falles der ›Königin der Nacht‹.«

»Mr. Hyman . . .« Wellby vermochte nicht zu verbergen, daß ihn diese Mitteilung außerordentlich überraschte, und es entschlüpfte ihm daher etwas mehr, als er wohl sonst gesagt hätte. »Ich dachte, daß der Mann sich in dieser Sache ganz passiv verhalten hätte. Und deshalb . . .«

Er brach mitten im Satz ab, aber Boyd war nicht begierig, mehr zu hören.

»Sie kennen Mr. Hyman nicht. Unverdaulich, aber ein Prachtmensch. – Ich nehme an, daß Sie Miss Avery nach dem heutigen Abend sicher nach Hause bringen werden«, sprang er dann plötzlich um und reichte dem Reporter die Hand. »Und hier haben Sie einige Zeilen, die Sie aber erst öffnen wollen, wenn Sie von mir Nachricht erhalten, daß alles in Ordnung ist. Machen Sie, bitte, alles so, wie ich es vorschlage, denn ich habe jede Einzelheit genau überlegt und glaube, daß es so am besten sein wird. Und vielleicht wird es auch sehr nett und gemütlich werden«, schloß er und blinzelte Wellby seltsam an.

 

Es war kurz vor sieben Uhr, als Mr. Fish den Kopf vorsichtig aus dem Tor des Hauses High Street 19 steckte und nach kurzer Umschau in den Flur des Hauses Nummer 17 hinüberwechselte. Er tänzelte behutsam auf den Zehenspitzen und staubte seine glänzenden Lackschuhe sorgfältig mit dem grellen seidenen Taschentuch ab, als er sein Ziel erreicht hatte.

»Sie sehen, ich bin bereits zur Stelle«, sagte er unverfroren zu Boyd, der pünktlich um Viertel nach sieben bei Nummer 17 vorfuhr. »Es ist mir peinlich, jemanden warten zu lassen, denn ich vertrage das auch nicht.« Dann betrachtete er kritisch den Wagen, aber er schien zufrieden zu sein, denn er nickte seinem Freund gnädig zu und bemühte sich, seinen Frack und die Lackschuhe mit möglichster Schonung unterzubringen. »Geben Sie acht, daß Sie sich nicht auf meine Schöße setzen«, ermahnte er seinen Begleiter ängstlich. »Ich habe sie etwas ausgebreitet, denn Mrs. Dyke hält sehr viel auf die äußere Erscheinung, und ich möchte mich daher entsprechend präsentieren.«

Er zog sein buntes Seidentuch, um einige Stäubchen von den Beinkleidern zu putzen, und Boyd fing eine Duftwolke auf, die eine Komposition von ausgerauchtem Lackspiritus und ranziger Pomade zu sein schien.

Evelyn Dyke hatte sich bereits nach dem Lunch nach Hause begeben, um die Vorbereitungen für den Abend zu treffen, aber sie war damit noch lange nicht zu Ende, als Selwood sie anrief und ihr aufgeregt die Sensationsmeldung der Abendzeitungen von der unmittelbar bevorstehenden Verhaftung der ›Königin der Nacht‹ mitteilte.

Die Nachricht traf Evelyn völlig unvorbereitet und machte sie so verstört, daß sie Charlie eine ganze Weile ohne Antwort ließ. Erst auf sein wiederholtes ungeduldiges Hallo stotterte sie endlich hervor, er möge unverzüglich kommen, und rannte dann, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, ziel- und planlos durch die Zimmer. Wenn diese furchtbare Überraschung einige Stunden früher gekommen wäre, hätte sie den Abend unbedingt abgesagt, denn sie fühlte sich in ihrer augenblicklichen Verfassung außerstande, die aufmerksame Hausfrau zu spielen, und außerdem würde die ganze Sache wahrscheinlich überhaupt keinen Zweck mehr haben. Sie wollte mit Noel Wellby und Clarisse Avery in Verbindung treten, um vielleicht auf diese Weise den Schleier etwas lüften zu können, der dieses ungleiche Paar offenbar umgab. Sie wollte die beiden mit ihrer gewandten Überlegenheit so in die Enge treiben, daß sie einen Blick in ihre Karten tun konnte. Es bestand für sie kein Zweifel, daß sowohl der angebliche Reporter wie das häßliche Mädchen in der Sache der ›Königin der Nacht‹ irgendeine Rolle spielten und je nachdem, welcher Art diese war, hatte sie ihre weiteren Schritte einrichten wollen. Ein Feind, den sie kannte, machte sie weniger ängstlich als ein schattenhafter Gegner im Hinterhalt, aber nun schien sich plötzlich von anderswoher eine weit größere Gefahr zu nahen. Wenn Scotland Yard tatsächlich in der Lage war, nach der geheimnisvollen ›Königin der Nacht‹ die Hand auszustrecken, mußte das Unheil auch über Selwood, Osborn und sie selbst in kürzester Zeit hereinbrechen, und es gab diesmal wohl keine Gelegenheit mehr, im letzten Augenblick noch einen verzweifelten Gegenzug zu tun.

Charlie, der sich schon nach kurzer Zeit einstellte, war viel mehr gefaßt als Evelyn, denn er hatte nach der rätselhaften Episode vor seinem Haus in der verflossenen Nacht eine derartige Entwicklung der Dinge geahnt und sich damit vertraut gemacht, bevor ihm noch der kurze Bericht in den Abendzeitungen seine Vermutung bestätigte. Er vermied es aber, von dieser Sache zu sprechen, um die völlig erschütterte Frau nicht noch mehr aufzuregen, und zum ersten Male in den langen Jahren, die sie sich kannten, tauschten sie ihre Rollen. Sie hing unter krampfhaftem Schluchzen an seinem Hals, und er versuchte sie zu trösten, so gut er es vermochte. »Den Kopf wird es nicht kosten, und das andere müssen wir auf uns nehmen«, sprach er ihr liebevoll zu. »Die Hauptsache ist, daß wir nicht voneinander lassen, was immer auch kommen mag.«

Sie schlang die Arme noch inniger und leidenschaftlicher um ihn, und ihre stürmischen Liebkosungen sagten ihm mehr als die beredtesten Beteuerungen.

Verabredungsgemäß kam auch Osborn etwas früher, und wenn Evelyn auch versucht hatte, die Spuren der letzten Stunde aus ihrem Gesicht zu tilgen, ihre müden Augen und der belegte Ton ihrer Stimme verrieten Helen sofort, was vorgegangen war. Die sonst so teilnahmslose, schläfrige Frau war heute wie ausgewechselt. Sie schien mit Lebendigkeit geladen, ihre Wangen glühten, und in ihren Blicken lag der Glanz spannungsvoller Erregung.

»Ihr wißt es also schon«, stieß sie hastig hervor und statt sich, wie sonst, schleunigst in einem behaglichen Eckchen einzurichten, begann sie mit ihrem King Charles unter dem Arm nervös auf und ab zu trippeln und in ihrer naiven, unbeholfenen Art weiterzuplappern. »William hat es mir aus der Zeitung vorgelesen. Aber ich glaube es nicht. Das ist wieder so eine erfundene Geschichte, damit die Leute der Polizei Ruhe geben sollen. Wenn etwas Wahres daran wäre, hätte man sicher nicht so viel Lärm gemacht. Wir werden ja sehen.«

Sie sprach mit solchem Eifer, daß sie in ihren unverfälschten Londoner Dialekt verfiel, aber keiner achtete auf sie, jeder war mit seinen eigenen ernsten Gedanken beschäftigt.

Osborn sah noch verstörter und verfallener aus als in den letzten Tagen, da sich alles gegen ihn verschworen zu haben schien. Seine Spielschulden hatten die Höhe eines netten kleinen Vermögens erreicht, und er mußte sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden regeln, wenn er nicht unmöglich werden und seine gesellschaftliche Stellung für immer einbüßen wollte. Seine letzte Rettung war Helen, aber seltsamerweise hielt ihn eine gewisse Scheu ab, von dieser dringenden Sache mit seiner Frau zu sprechen. Es war nicht nur die Höhe der Summe, die ihn zögern ließ, sondern auch ein anderes hemmendes Gefühl, über das er sich keine Rechenschaft zu geben vermochte. Er war sonst nicht gewohnt, mit Helen große Geschichten zu machen, aber diesmal fand er weder die Sammlung noch die Gelegenheit für den überrumpelnden brutalen Angriff. Er schob dies den Aufregungen der letzten Zeit zu, denen sich selbst seine robuste Natur nicht gewachsen erwies. Besonders das Erlebnis der verflossenen Nacht hatte ihn arg mitgenommen, da er sich die Zusammenhänge nicht zu erklären vermochte. Statt der längst erwarteten einen ›Königin der Nacht‹ hatte er plötzlich klar und deutlich zwei vor sich gesehen, und das Zusammentreffen war ganz anders verlaufen, als er sich vorgestellt hatte. Und daß just im entscheidenden Augenblick ein Fremder wie ein Schatten neben ihm aufgetaucht war und seinen Arm mit der sicheren Waffe abgelenkt hatte, wollte ihm am allerwenigsten gefallen. Er hatte über diesen höchst eigenartigen Zufall lange nachgedacht und dabei ein unbehagliches Gefühl gehabt. Es lag entschieden irgendeine Gefahr in der Luft, und die offenbar von Scotland Yard inspirierten Andeutungen in den Abendblättern hatten ihm dies bestätigt. Das waren zu viel Sorgen auf einmal, und sie gaben Osborn so sehr zu schaffen, daß ihn seine berechnende Kaltblütigkeit diesmal völlig verließ. Er wußte nicht, wo und wie er zunächst vorbeugen sollte, und diese verzweifelte Ratlosigkeit machte ihn unausstehlicher denn je. Auch er war der Ansicht, daß der Abend nun eigentlich keinen Zweck mehr hatte, und er war trotz seiner üblen Laune eigentlich nur gekommen, weil er die ersehnte Gelegenheit erhoffte, seiner Frau die Daumenschrauben anzulegen. Wenn Helen an ihre gesellschaftliche Unzulänglichkeit erinnert wurde, war sie seinen Anzapfungen stets am zugänglichsten, und er beobachtete mit Befriedigung, daß sie heute in einer Verfassung war, die unbedingt zu einer Entgleisung führen mußte.

Während die anderen zurückhaltend, verstimmt und wortkarg ihre Meinung über die kritische Lage austauschten, rannte sie nervös umher. Ihr King Charles war über das ungewohnte Verhalten seiner Herrin so ärgerlich, daß er zu winseln und mit allen vieren zu strampeln begann. Mrs. Helen mußte einen schlimmen Tag haben, da sie ihren Liebling mit einem derben Klaps bestrafte, und sie war auch so ganz anders als sonst, als sie plötzlich vor Selwood stehenblieb und ihn förmlich ins Verhör nahm.

»Haben Sie die ›Königin der Nacht‹ wiedergesehen?«

»Nein«, gab er leichthin zurück, aber der stechende Blick ihrer dunklen Augen brachte ihn in Verlegenheit.

Sie verzog den üppigen Mund und ließ ein krampfhaftes Kichern hören. »Wahrscheinlich haben Sie doch der Polizei gepetzt«, fuhr sie dann lauernd fort, und ihr Ton hatte etwas so Tückisches und Herausforderndes, daß alle überrascht und betreten aufhorchten. Sie war nicht wiederzuerkennen, und sogar Osborn hatte seine Frau noch nie in einer derartigen Erregung gesehen.

Selwood tat ihre anzügliche Bemerkung mit einem Achselzucken ab. Er war über den gestrigen Zwischenfall im Klub noch so empört, daß er es vermieden hatte, mit Osborn auch nur ein Wort zu wechseln, und er hatte keine Lust, sich vielleicht mit Helen in eine unerfreuliche Streiterei einzulassen.

Sein Vetter mochte das Verletzende dieses Schweigens fühlen, und er kam in die richtige Stimmung, seine völlig außer Rand und Band geratene Frau zu bearbeiten.

»Was sollen diese Albernheiten?« schrie er sie an. »Du wirst von Tag zu Tag unmöglicher. Verkrieche dich in einen Winkel und halte den Mund.«

Zum ersten Male knickte Helen nicht demütig und furchtsam zusammen, sondern warf trotzig den dunklen Kopf zurück und nahm ihren ruhelosen Marsch durch das Zimmer mit herausfordernder Absichtlichkeit wieder auf.

Es war eine mit Gereiztheit, Spannung und quälenden Befürchtungen geladene Atmosphäre, in die Mr. Fish und Boyd als erste Gäste gerieten, und der Empfang war kühl und zerstreut. Aber der sommersprossige Jüngling rettete die Situation einigermaßen, denn er war entschlossen, heute alle seine gesellschaftlichen Talente spielen zu lassen. Er hatte sich die selbstbewußte Pose und die großen Gesten eines Generalmusikdirektors beigelegt, der eine Filmkamera auf sich gerichtet weiß, und schwätzte unaufhörlich. Dabei drehte er die großen Perlen in seiner Hemdbrust, äugelte auf die Seidenstrümpfe mit den weißen Ajours und fächelte sich zuweilen mit dem bunten Seidentuch Kühlung zu.

»Sehr nett haben Sie es hier, Mrs. Dyke«, äußerte er rückhaltlos seine Anerkennung, nachdem er die Flucht der Räume mit kritischer Kennermiene in Augenschein genommen hatte. »Wirklich sehr nett und vornehm. Man findet leider in den besten Häusern nicht immer auch den besten Geschmack.«

Nach den Lobreden über ihr Heim machte er Mrs. Evelyn Komplimente über ihr wundervolles Aussehen.

Mrs. Dyke nahm die dicken Schmeicheleien mit einem etwas matten Lächeln entgegen, was ja bei der Anwesenheit Dritter nur zu verständlich war, und der junge Salonlöwe wußte sehr gut, daß er nun auch Mrs. Osborn einige Artigkeiten zu sagen hatte, um die Sache nicht allzu auffallend zu machen. Helen saß mit zusammengezogenen Brauen und verkniffenen Lippen so versunken da, daß die ersten Komplimente an ihrem Ohr vorüberglitten, aber dann beugte sich der galante Mr. Fish so nahe zu ihr und wurde so laut und eindringlich, daß sie endlich aufhorchte. Über ihr mürrisches Gesicht flog ein kokettes Lächeln, und indem sie sich eiligst an ihrer Puderdose zu schaffen machte, begann sie belustigt und erfreut zu kichern.

Während der ›Fliegenpilz‹ so die Damen in Atem hielt, führten die drei Herren ein schleppendes Gespräch über allerlei alltägliche Dinge, aber außer dem liebenswürdigen Mr. Boyd, der ebenso nett zu plaudern wie zuzuhören verstand, war keiner von ihnen bei der Sache.

Pünktlich mit dem Schlag acht betrat Noel Wellby den kleinen Salon, und unter anderen Verhältnissen hätte sein Erscheinen wahrscheinlich eine Sensation hervorgerufen. Der unbedeutende Reporter der ›London Sensations‹ präsentierte sich in der sicheren Haltung eines Weltmannes, und alle Augen, die erwartungsvoll und prüfend auf ihn gerichtet waren, mußten feststellen, daß der schlanke vornehme Mann mit dem braunen Gesicht und den leicht angegrauten Schläfen eine fabelhafte Figur machte. Mr. Fish schrieb dies allerdings einzig und allein der wundervollen Orchidee im Knopfloch zu und war wütend, daß er nicht auch auf diesen Einfall gekommen war.

Mrs. Dyke fand für den neuen Gast unwillkürlich eine verbindlichere Begrüßung als für die beiden ersten, und auch Osborn und Selwood nahmen eine korrektere Haltung an als Evelyn sie mit diesem rätselhaften Mann bekannt machte. Nur der ›Fliegenpilz‹ blieb ostentativ sitzen und beschränkte sich darauf, Wellby herablassend zuzuwinken. Er ärgerte sich, daß man solches Wesen von dem aufgeblasenen Burschen machte, und Mrs. Dyke sollte sehen, daß er noch arroganter sein konnte, wenn er wollte. Mrs. Helen starrte den neuen Gast mit großen glänzenden Augen an, und die Lebhaftigkeit, mit der sie sich plötzlich zurechtrückte, verriet, daß er auch ihr Interesse erweckt hatte.

Als letzte kam Miss Avery, die in dem hochgeschlossenen unmodernen Seidenkleid und ohne Hut geradezu unmöglich aussah. Sie schien ihr Haar stark befeuchtet und krampfhaft zurechtgebürstet zu haben, denn es lag dicht und strähnig an, und es war unmöglich, dessen Farbe zu bestimmen. Von der kleinen Locke, die sonst unter dem Hut hervorgedreht war, war heute nicht das mindeste zu sehen, und um Wellbys Mund ging ein flüchtiges Zucken, als er bemerkte, wie sie sich hergerichtet hatte. Dazu kam noch, daß das häßliche Mal in dem hellen Lampenlicht des kleinen Raumes greller denn je hervorstach und daß sie noch linkischer als sonst einherstolperte. Sie bot ein solches Bild der Dürftigkeit, der Verlegenheit und Unbeholfenheit, daß der sommersprossige Fish nicht umhin konnte, diskret mit den Achseln zu zucken und Mrs. Dyke einen Blick zuzuwerfen, der sie daran erinnern sollte, was er gesagt hatte, als sie auf die Idee verfallen war, Clarisse Avery einzuladen.

Mrs. Evelyn übersah diesen Blick, denn sie war mit anderen Gedanken beschäftigt. Sie hatte nun die beiden Personen in ihrem Haus, die, wie sie vermutete, in der geheimnisvollen Geschichte der ›Königin der Nacht‹ eine bedeutsame Rolle spielten, und die Partie hätte beginnen können. Aber mittlerweile war die starke Hand von Scotland Yard bereits zum letzten entscheidenden Zug gekommen, und es hatte keinen Zweck mehr, sich mit den beiden Figuren abzugeben, so interessant sie auch sein mochten. Jeder Augenblick konnte den Zusammenbruch bringen, und es war völlig nutzlos, hier die Zeit zu verlieren.

Auf diese Erkenntnis Evelyns war das ganze Dinner eingestellt. Es wurde in Hast und Eile serviert, und Mr. Fish kam diesmal wirklich nicht dazu, das Besteck aus der Hand zu legen, wofür er nicht genug Worte der Anerkennung finden konnte. Wenn der ›Fliegenpilz‹ mit dem Essen zu tun hatte, was fast ununterbrochen der Fall war, herrschte ein peinliches, gedrücktes Schweigen, und nur einmal wurde ein Thema angeschlagen, das bei allen gespanntestes Interesse auslöste.

Die unruhige Mrs. Osborn hatte plötzlich in ihrem netten, weißhaarigen Tischnachbarn zur Rechten einen jener Herren wiedererkannt, die sie interviewt hatten, und sie begann wieder von der Sache zu sprechen, die sie sehr zu beschäftigen schien.

»Glauben Sie, daß das, was heute von der ›Königin der Nacht‹ in den Zeitungen stand, wahr ist?« fragte sie lebhaft.

Der höfliche Boyd legte Messer und Gabel beiseite, denn das Stichwort hatte er schon den ganzen Abend erwartet.

»Gewiß. Ich glaube es sogar nicht nur, sondern ich weiß es bestimmt. Die langgesuchte ›Königin der Nacht‹, die den Tod Cartwrights, Mortons, Bryans' und noch einiger anderer Personen auf dem Gewissen hat, wird sich in wenigen Stunden in den Händen der Polizei befinden.«

»Wer hat Ihnen das gesagt?« flüsterte sie und befeuchtete sich die Lippen.

»Ein hoher Beamter von Scotland Yard, mit dem ich gesprochen habe, bevor ich hierher kam. Es soll der Polizei in der verflossenen Nacht gelungen sein, die Identität der geheimnisvollen Persönlichkeit festzustellen. Für heute sind alle Vorbereitungen getroffen, sie zu verhaften. Ihr Haus ist umstellt, und sie steht schon seit dem Morgen unter einer so zuverlässigen Überwachung, daß ihr jeder Weg zur Flucht abgeschnitten ist.«

An der Tafel herrschte eisiges Schweigen, und aller Augen waren gespannt auf den weißhaarigen Herrn gerichtet, der so aufregende Dinge zu erzählen wußte. Nur Mr. Fish interessierten sie nicht, denn er war gerade bei einem Ragout, das ihm so ausgezeichnet mundete, daß er sich trotz seines schwachen Magens bereits die fünfte Muschel auf den Teller legte.

Ein schrilles, albernes Auflachen von Mrs. Osborn und ein klägliches Geheul ihres Hündchens unterbrachen die unheimliche Stille, aber die Stimmung war noch düsterer als vordem, und es war erst wenige Minuten nach elf Uhr, als die Gäste sich verabschiedeten. In der kleinen Halle nahm Boyd den etwas verdrießlichen und enttäuschten Mr. Fish beiseite.

»Ich kann Sie leider nicht begleiten, da ich in einer anderen Richtung zu tun habe, aber mein Wagen steht Ihnen natürlich zur Verfügung, die ganze Nacht.«

Der ›Fliegenpilz‹ ließ sich das nicht zweimal sagen und stürzte eiligst davon, denn er hatte keine Lust, vielleicht auch noch diesen unausstehlichen Wellby und die unmögliche Miss Avery mitnehmen zu müssen. Der ganze Abend hatte ihn ohnehin schon genug verstimmt. Das Essen war zwar gut und reichlich gewesen, und auch zu trinken und zu rauchen hatte es in Hülle und Fülle gegeben – Mr. Fish fühlte, ob die Zigarren und Zigaretten in der Brusttasche seines Fracks auch wohl geborgen seien –, aber eigentlich hatte er mehr erwartet. Der Teufel mochte sich in den Frauen auskennen.

»Was ist nun mit Ihnen, Miss Avery?« fragte Boyd fürsorglich, als Mr. Fish verschwunden war. »Wie werden Sie nach Hause kommen?«

»Ich werde mir in der Nähe einen Wagen nehmen«, sagte sie nach einer Weile und wollte sich verabschieden. Aber der weißhaarige Herr blieb hartnäckig.

»Das wird Ihnen schwerfallen. Hier in der Nähe gibt es keinen Wagen.«

»Oh, vielleicht doch«, widersprach sie hastig. »Ich werde schon einen finden.«

Der Detektiv lächelte verschmitzt, ließ es sich aber nicht nehmen, sie mit Wellby auf die Straße zu begleiten.

»Geben Sie uns wenigstens zur Beruhigung ein Zeichen, wenn Sie ein Auto aufgetrieben haben«, rief er ihr nach, als sie mit einem hastigen »Gute Nacht« in die Dunkelheit stürmte.

Wirklich klang schon nach wenigen Minuten von irgendwo ganz in der Nähe ein Hupsignal, und gleich darauf rief eine helle, frische Mädchenstimme »Auf Wiedersehen!«

Boyd sah den Reporter, mit dem er allein geblieben war, mit einem höchst anzüglichen und vielsagenden Schmunzeln an.

»Um Sie habe ich keine Angst. Ihnen wird kaum etwas geschehen. Und es ist wohl überhaupt keine Gefahr mehr. Wahrscheinlich werde ich Ihnen noch in dieser Nacht mitteilen können, daß alles in Ordnung ist. Wo kann ich Sie erreichen?«

»Rufen Sie im Savoy-Hotel an«, erwiderte Wellby nach einiger Überlegung. »Appartement Nummer 7.«

Der weißhaarige Herr nickte.

»Schön. Und dann öffnen Sie meinen Brief. Er wird Ihnen alles erklären, was Sie wissen müssen, und das übrige erfahren Sie morgen. Ich bin um vier Uhr bei Ihnen. Die anderen laden Sie für fünf oder halb sechs.«

Sie schüttelten sich herzlich die Hände, und während Wellby zu einem wartenden Taxi schritt, schlug sich Boyd um die nächste Ecke, wo ihn das Auto mit der kleinen blauen Scheibe zwischen den Scheinwerfern erwartete, das ihn und Oberst Terry bereits in der verflossenen Nacht gefahren hatte.

Kaum zwanzig Minuten später schritt der Detektiv wieder durch den kleinen Park und bog in die Gasse ein, die zu der Allee und Villa mit den zwei Türmchen führte.

Der Oberst war auf dem Posten und begrüßte ihn mit großer Lebhaftigkeit und sichtlicher Erleichterung.

»Ist es soweit?« fragte er hastig.

»Wir werden uns wohl noch eine halbe oder auch eine ganze Stunde gedulden müssen. Aber darauf kommt es ja nicht mehr an. Die Hauptsache ist, daß Ihr Apparat wieder tadellos funktioniert. Besonders die Sache mit den Polizisten.«

Terry machte eine etwas ungeduldige Geste.

»Darauf können Sie sich verlassen. Sowie der Wagen in die Allee einbiegt, werden sich die Leute so aufstellen, daß sie unbedingt gesehen werden müssen. Ich habe zwanzig Mann aufgeboten, das wird wohl genügen. Ich tue ja alles, was Sie für gut halten, obwohl mich, offen gestanden, Ihre Geheimniskrämerei allmählich zur Verzweiflung bringt.«

»Dafür werden Sie noch in dieser Nacht die Genugtuung haben, einen der geheimnisvollsten und schwierigsten Kriminalfälle aufzuklären, der Scotland Yard je beschäftigte«, tröstete ihn Boyd gelassen, und diese Aussicht ließ die Verstimmung Terrys rasch wieder schwinden.

»Die Verhaftung wird Jeffney vornehmen«, erklärte er eifrig. »Es ist sein Rayon. Wer soll nun festgenommen werden?«

»Die Frau, die aus dem Wagen steigt. Ich werde das schon arrangieren, wenn es so weit kommen sollte.«

Der Oberst horchte überrascht und mißtrauisch auf.

»Hegen Sie noch irgendeine Befürchtung?«

»Nein, aber eine Hoffnung«, gab Boyd kurz zurück, und es war unmöglich, mehr aus ihm herauszubekommen.

Es war genau ein Viertel nach Mitternacht, als der stellvertretende Chefinspektor und sein ehemaliger Oberinspektor wie auf Kommando gleichzeitig den Kopf herumwarfen und mit scharfen Augen gegen das obere Ende der langen Allee spähten, wo zwei winzige Lichtpunkte erschienen waren . . .

William Osborn war eben dabei, den Erpressungsversuch an seiner Frau in Szene zu setzen. Er wollte diese Angelegenheit noch während der Fahrt erledigen, denn da ging es vielleicht rascher und jedenfalls ohne die larmoyanten Szenen ab, die daheim zu befürchten waren. Wenn er Glück hatte und von Helen vorläufig wenigstens etwas Bargeld oder einen Scheck erhielt, konnte er sogar noch in den Klub fahren. Sonst mußte er den Rest des Abends daheim verbringen, und dieser Gedanke war für ihn so entsetzlich, daß er mit rücksichtsloser Brutalität zu Werke ging. Helen hatte ihre Unbildung und Einfalt, ihre Fehler und Schwächen noch nie so eindringlich und mit so derben Worten vorgehalten bekommen, wie in der letzten Viertelstunde, aber sie hatte alles mit überraschender Gelassenheit über sich ergehen lassen. Sie saß kerzengerade und reglos wie eine Statue neben ihrem Mann, der das Steuer führte, und nur ihre glänzenden schwarzen Augen wanderten unstet und scheu nach vorne und rechts und links durch die Scheiben.

Osborn brachte dieses unheimliche verstockte Schweigen in Wut, und er begann förmlich zu fauchen. Der Wagen bog bereits in die Allee ein, und er mußte die Sache kurz machen.

»Wenn ich schon dazu verdammt bin, mich mit einer so unmöglichen Frau herumzuschleppen, so will ich wenigstens etwas davon haben, verstehst du? Deshalb habe ich dich doch nur geheiratet. Es war ein ganz regelrechter, klarer Pakt, aber du scheinst dies vergessen zu haben. Hol's der Teufel, daß ich dich immer wieder daran erinnern muß. – Ich brauche fünfzehntausend Pfund. Noch diesen Abend oder spätestens morgen früh. Ohne Widerrede.«

Er schielte erwartungsvoll nach Helen, aber diese schien ihn überhaupt nicht gehört zu haben. Sie hatte das Gesicht dicht an die Scheibe gepreßt und starrte in die dunkle Allee.

Osborn sah im Vorbeirasen einen riesigen Schutzmann, dann noch einen zweiten und einen dritten, aber es fiel ihm weiter nicht auf. Er mußte seine Frau herumbekommen, bevor sie bei der Garage anlangten, und er stieß sie daher ziemlich unsanft mit dem Ellbogen an.

»Bist du etwa auch noch taub geworden?« brüllte er.

In diesem Augenblick hatte Helen mit starren Augen den siebenten Mann mit Helm in der stillen Allee gezählt, und sie fuhr blitzschnell herum. Osborn sah in ihr wachsbleiches verzerrtes Gesicht, aber er dachte nur an das eine, daß er unbedingt Geld haben mußte.

»Fünfzehntausend Pfund habe ich gesagt«, schrie er sie an. »Mach keine Geschichten, denn diesmal ist es Ernst.«

Sie beugte ihr Antlitz dicht zu dem seinen, und selbst der rohe William Osborn erschrak vor dem Übermaß von Wut, Haß und Hohn, das ihm entgegengrinste. Er hörte eine fremde heisere Stimme, die ihm kreischend »Verdammter Schurke« ins Ohr schrie, dann vernahm er ein schneidendes Lachen, und dann sah er noch, wie Helen blitzschnell den Arm hob . . .

Oberst Terry wollte mit einem Satz in die Allee springen, als das nahende Auto plötzlich seltsam zu schlingern begann, aber Boyd hielt ihn zurück.

»Auslaufen lassen«, sagte er ruhig. »Da ist nichts mehr zu machen.«

Der in voller Fahrt befindliche Wagen kippte einen der starken Alleebäume um, fuhr an den nächsten und zerschellte unter Krachen.

Bei der Menge der zusammengezogenen Polizeimannschaften ging die Hilfeleistung sehr rasch vonstatten, aber zu helfen war eigentlich nichts mehr. William Osborn und seine Frau wurden als Leichen unter den Trümmern hervorgezogen, aber sie wiesen seltsamerweise keine wesentlichen äußerlichen Verletzungen auf.

»Können Sie das verstehen?« fragte Terry verwundert.

»Gewiß«, gab Boyd zurück, indem er an der Unfallstelle eifrig herumsuchte. »Sie lagen eben bereits als lebloses Bündel im Wagen, als das Unglück geschah. Die ›Königin der Nacht‹ hat die letzte ihrer tückischen Kugeln verschossen.«

Er bückte sich plötzlich und hob ein kurzes Rohr mit einem Handgriff auf, mit dem er eine Weile behutsam manipulierte, worauf er es in die Tasche gleiten ließ.

»Ich hatte mir die Sache anders vorgestellt«, meinte der stellvertretende Chefinspektor verdrießlich, als sie sich auf dem Heimweg befanden.

»Ich nicht«, gab der weißhaarige Herr offen zu. »Ich muß sogar gestehen, daß ich ein wenig mit dazu beigetragen habe, damit die Sache diesen Ausgang nimmt. Wenn es um eine Frau geht, werde ich immer ein bißchen sentimental, und es widerstrebt mir, sie der sogenannten irdischen Gerechtigkeit zu überliefern, die in einem Strick besteht. Diese Helen Osborn war ja gewiß eine äußerst skrupellose und verschlagene Verbrechernatur, aber man muß da auch die besonderen Umstände und die Motive mitsprechen lassen. Eigentlich hat sie alles nur für ihren Mann getan, der der weitaus größere Verbrecher war. Sie hat die Rolle der ›Königin der Nacht‹ zunächst übernommen, um alle jene zu beseitigen, die die alte böse Geschichte vom Brunnen der sieben Palmen aufzurühren drohten, aber sie hat sie dann auch bei anderen Gelegenheiten gespielt, um das Geld für die kostspieligen Leidenschaften Osborns herbeizuschaffen. Tatsächlich hat nämlich der alte Robbins seiner Tochter nicht einen Penny hinterlassen. Er muß etwa ein Jahr vor seinem Tod, am 8. Februar, irgendeine gefährliche Dummheit begangen haben und einer Erpresserbande in die Hände gefallen sein, die das Geschäft noch besser verstand als er, denn von seinem ansehnlichen erwucherten Vermögen ist nichts übriggeblieben. Ich glaube, darüber wird uns der ›Professor‹ nähere Auskunft geben können. Haben Sie ihn?«

»Jawohl«, gab der Oberst kurz angebunden zurück, da er sich mit diesem Ausgang des sensationellen Falles noch immer nicht recht abfinden konnte. »Er wurde um sieben Uhr auf der Charing-Cross-Station festgenommen.

Boyd ließ einen leisen Pfiff hören.

»Da haben Sie Glück gehabt, denn ich glaube, der schlaue Fuchs war im Begriff, auszukneifen. Die kurze Notiz in den Abendzeitungen dürfte ihm nicht gefallen haben. Aber er ist diesmal doch ein bißchen zu langsam gewesen, und wenn wir zusammen den Bericht abfassen, werden Sie erst sehen, welch ein guter Fang Ihnen da gelungen ist. Das muß Sie für das andere entschädigen. Man kann nicht alles so haben, wie man es sich wünscht, und ich glaube, Sie werden auch so genug Anerkennung und Ehren einheimsen.«

Oberst Terry hörte das gern, und seine Stimmung besserte sich sofort.

»Und Sie, lieber Boyd?« fragte er herzlich. »Sie müssen doch auch etwas davon haben.«

»Werde ich auch«, nickte der weißhaarige Herr und lächelte traumverloren vor sich hin. »So eine Hochzeitsreise ins Karibische Meer mit Haifischfang ist eine Sache, die sich nicht jeder leisten kann.«

Der Oberst wußte zwar nicht, was er aus dieser seltsamen Antwort machen sollte, aber er war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um sich näher dafür zu interessieren. Eine Viertelstunde später saß er mit rotem Kopf in seinem Büro in Scotland Yard und notierte sich, was Boyd ihm diktierte, und je weiter der Bericht fortschritt, desto gespannter und befriedigter wurden seine Mienen. Das war wirklich ein Fall, der die Tätigkeit von Scotland Yard im glänzendsten Licht zeigte, und es fehlte auch nicht ein Glied in der Beweisführung.

Es war bereits drei Uhr morgens, als Clive Boyd das Büro Oberst Terrys verließ, aber er suchte trotzdem noch das Telefonzimmer auf, um das Savoy-Hotel anzurufen. Er erhielt sofort Verbindung, und auch das Appartement 7 meldete sich so rasch, daß der Betreffende unmittelbar am Apparat gewartet haben mußte.

»Sind Sie es, Mr. Wellby?« fragte der Detektiv, und als er eine hastige Bejahung erhielt, berichtete er kurz über den Autounfall, dem William Osborn und seine Frau zum Opfer gefallen waren.

»Es ist also alles in Ordnung«, fügte er nachdrücklich hinzu, »und Sie können die Sache so arrangieren, wie ich Ihnen geschrieben habe.«

Vom anderen Ende des Drahtes kam eine Flut von erregten Fragen, aber das rosige Gesicht des weißhaarigen Herrn wurde etwas mißmutig.

»Lieber Mr. Wellby«, sagte er höflich, aber bestimmt, »es ist drei Uhr früh, und ich fühle das Bedürfnis nach Ruhe. Morgen stehe ich Ihnen stundenlang zur Verfügung, wenn Sie es wünschen.«

Es kam aber doch noch eine Erwiderung.

»Nur noch eine kurze Frage?« wiederholte Boyd. »Bitte sehr.«

Es mußte eine sehr komische Frage sein, denn der Detektiv begann plötzlich zu schmunzeln und hörte trotz seines Ruhebedürfnisses eine ziemliche Weile geduldig zu.

»Darüber eine Meinung zu äußern, getraue ich mich wirklich nicht«, sagte er bedächtig, als der andere geendet hatte. »Die Verantwortung wäre zu groß. Wenn ich mich irrte, würden Sie sich Ihr ganzes Leben mit einer Frau mit einem häßlichen Feuermal herumschleppen müssen. Gute Nacht, Mr. Wellby.«

Er hängte mit einem höchst belustigten Lächeln in den großen grauen Augen den Hörer auf, machte sich aber sofort wieder mit dem Apparat zu schaffen und schien mit einem Entschluß zu ringen.

Er war schon im Begriff, den Automaten neuerlich in Tätigkeit zu setzen, als seine Hand jäh wieder herabsank. Es war ihm eben noch in letzter Minute eingefallen, daß drei Uhr morgens doch nicht die schickliche Zeit sei, einer Frau einen Heiratsantrag zu machen und eine Hochzeitsreise in das Karibische Meer vorzuschlagen. Außerdem wußte er nicht, wie weit Mrs. Emerson in der Geographie bewandert war und wie sie über den Angelsport im allgemeinen und den Fang von Haifischen im besonderen dachte, und die Auseinandersetzung hierüber hätte vielleicht die ganze Nacht in Anspruch nehmen können.

Der weißhaarige Herr mit dem jungen rosigen Gesicht beschloß daher, diese Sache doch lieber auf den kommenden Tag zu verschieben, obwohl er für diesen schon genug andere Arbeit vorhatte.


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