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III
Der Reformator

Es ist unmöglich, die Bevölkerung afrikanischer Kolonien nach denselben Grundsätzen zu regieren wie europäische Länder. Bisher hat jeder Versuch gezeigt, daß die Gesetze der Weißen nicht ohne weiteres auf die Eingeborenen angewandt werden können.

Aber es gab einmal einen diensteifrigen hohen Kolonialbeamten, der mit einem besonderen Sinn für Ordnung begabt war. Er machte allerhand Entdeckungen und legte seine Meinung darüber auch schriftlich nieder. Eine Stelle aus seinem Bericht mag hier zitiert sein:

»Die Rechtsprechung in den Kolonien befindet sich in einem vollständig chaotischen Zustand. In manchen Gebieten haben die verantwortlichen Beamten die Gebräuche der Eingeborenen angenommen und sie als gültiges Recht anerkannt, in anderen Gebieten ist es zu einer Art Kompromiß zwischen den von der englischen Regierung erlassenen Gesetzen und den Gewohnheiten der Eingeborenen gekommen ...«

Mit großem Fleiß machte sich dieser Mann an die Arbeit, dem seiner Ansicht nach unwürdigen Zustand ein Ende zu bereiten, und so entstand der ›Kleine Tich-Code‹, über den noch heute viel geschimpft und gespottet wird, wenn sich alte, erfahrene Verwaltungsbeamte und Offiziere beim Frühschoppen treffen.

In dem Gebiet, das Amtmann Sanders verwaltete, gab es manche Gebräuche, die den Europäern auf den ersten Blick abstoßend und grausam erscheinen mochten. Wenn die Regierung ihm die nötigen Militärkräfte zur Verfügung gestellt und ihn ausreichend mit Maschinengewehren versehen hätte, würde er diese Sitten vielleicht nach jahrelangem, blutigem Kriegszustand ausgemerzt haben. Aber mit Sicherheit kann man das auch nicht sagen.

Sanders hatte jedoch seine eigenen praktischen Methoden, die Eingeborenen zu regieren, und die einheimische Bevölkerung hieß diese Methoden gut, obwohl sie manchmal von schweren Strafen getroffen wurde. Es gelang Sanders, das Zauberwesen und die Menschenopfer zu unterdrücken. Mit Strang und mit Eisen bekämpfte er die Geheimgesellschaften, und ebenso hart verfuhr er mit den Räubern. Wenn es sich aber um Gebräuche handelte, die zwar von europäischer Art abwichen, sonst jedoch auf gesundem Menschenverstand beruhten, war er sehr nachsichtig.

Eines Tages kam ein Brief zur Residenz, der an den geschäftsführenden Beamten adressiert war.

Leutnant Tibbetts war zur Zeit der einzige anwesende Beamte, denn Sanders befand sich auf einer Inspektionsreise und Hamilton auf einem dreitägigen Urlaub, um Leoparden zu jagen.

Bones öffnete den Brief, der an ihn persönlich gerichtet zu sein schien, und las:

»Sir,

ich schreibe diese Zeilen an Sie in der Hoffnung, in Ihnen einen Beamten zu finden, der wenigstens einigermaßen mit wissenschaftlichen Methoden vertraut ist. Es ist mir gleich, welchen Rang Sie einnehmen, wenn Sie nur auf die wissenschaftlichen Gründe meines Schreibens eingehen. Ich setze voraus, daß Sie von dem Zusammenbruch unserer Kultur überzeugt sind und nichts von den verweichlichenden Tendenzen unserer sogenannten Zivilisation halten ...«

Bones beantwortete den Brief sofort, und hieraus entwickelte sich eine Korrespondenz, die über ein halbes Jahr dauerte.

Niemand kümmerte sich um die geschäftige Tätigkeit des Leutnants Tibbetts. Sanders bemerkte allerdings, daß Bones von Zeit zu Zeit umfangreiche Bände auspackte, die er aus Europa erhielt, und Hamilton fiel es auf, daß sich der junge Mann zu Hause eifrig mit der Lektüre dieser Bücher beschäftigte.

»Nehmen Sie schon wieder brieflichen Unterricht?« fragte er.

»Nein«, erwiderte Bones ernst.

»Haben Sie wirklich nicht einen brieflichen Unterrichtskurs belegt ›Wie lerne ich das Saxophonspielen gründlich in drei Stunden‹?«

Bones lächelte nur verächtlich.

»Oder machen Sie vielleicht einen juristischen Kurs mit ›Jedermann sein eigener Rechtsanwalt‹?«

Bones zuckte mitleidig die Schultern.

»Aber mein guter, alter Kamerad und Vorgesetzter, warum reden Sie so entsetzlich viel? Warum machen Sie sich über mich lustig? Das ist ein schlechtes Symptom – Ihre Medella scheint nicht mehr zu funktionieren!«

»Bones nimmt wahrscheinlich irgendeinen medizinischen Kursus«, meinte Sanders, als er mit Hamilton allein war. »Mit der letzten Post ist ein dicker Band über Eugenik gekommen.«

Hamilton wollte der Sache aber auf den Grund gehen, und bei der nächsten Gelegenheit sprach er Bones wieder daraufhin an.

»Mein lieber Ham«, erwiderte Bones freundlich. »Das verstehen Sie doch nicht. Eugenik handelt davon, wie der menschliche Körper gesünder, besser und schöner gemacht werden kann.«

»Wollen Sie dazu etwa Patentmedizinen gebrauchen?« fragte Hamilton argwöhnisch.

Bones lächelte überlegen.

Hamilton war sehr erstaunt, als er eine Woche später erfuhr, daß der Korrespondent von Bones kein anderer als Sir Septimus Neighbour war. Auch er hatte schon von diesem großen Gelehrten gehört, der in Harley Street seit vielen Jahren eine glänzende Praxis hatte. Sir Septimus hatte viele Werke über Eugenik geschrieben, er hatte auch die Bewegung »Zurück zur Natur« gegründet, war dabei jedoch mit der Polizei in Konflikt gekommen. An einem Sonntagmorgen hatte er nämlich eine Prozession halbnackter Anhänger in den Hyde-Park geleitet, um gegen den unhygienischen Charakter der modernen männlichen Kleidung zu protestieren. Er selbst setzte seine Theorien auch in die Praxis um und trug zu Hause nur ein Paar ganz kurzer Hosen und Sandalen. Daraufhin kündigten ihm seine sämtlichen Dienstboten. Es ist auch verständlich, daß korpulente Damen, die ihn wegen einer Abmagerungskur konsultierten, über seine Erscheinung entsetzt waren und ihn in Zukunft nicht mehr aufsuchten. Seine Praxis ging daher mehr und mehr zurück, und er wurde ein Opfer seiner mißgünstigen Berufskollegen, wie er sagte. Da er aber über ein großes Vermögen und über Zeit verfügte, ließ er sich in große Zeitungspolemiken ein und fand Befriedigung darin.

Unter dem Einfluß dieser Korrespondenz begann auch Bones seine Kleider zu ändern. Vor allem trug er keine Strümpfe und Gamaschen mehr, und eines Morgens erschien er mit nackten, haarigen Beinen am Frühstückstisch. Hamilton schauderte über die dünnen Gliedmaßen des jungen Mannes, sagte aber nichts. Ein paar Tage später kam Bones zum Mittagessen mit einem einfachen, ärmellosen Netzhemd und einer Badehose.

»Gehen Sie sofort in ihr Quartier zurück und ziehen Sie sich anständig an!« brummte Hamilton.

»Das ist Hygiene, mein alter Ham«, protestierte Bones.

Sanders sagte nichts.

Es ging sogar das Gerücht unter den Haussas, daß Bones diese letzten Kleidungsstücke fortließ und am Ufer nur mit einem Tropenhelm und einem Palmenfächer spazierenging. Er selbst stritt es auch nicht ab, als Hamilton ihm darüber Vorwürfe machte.

»Wir tragen zuviel Kleider, alter Kamerad. Zurück zur Natur – noch nie in meinem Leben habe ich mich so wohl und leicht gefühlt, als seitdem ich diesen unnötigen Panzer von Kleidern abgelegt habe. Die Leute sterben ja vor der Zeit und verkürzen ihr Leben, wenn sie in diesen dicken Jacken und Hosen herumlaufen! Glauben Sie es mir nur!«

Am Abend erschien er nicht zur Mahlzeit, und Hamilton ging in das Quartier, um einmal nach dem Rechten zu sehen. Er fand Leutnant Tibbetts, der sich von seinem Burschen den Rücken mit Creme einstreichen ließ.

»So einfach ist das nicht, alter Ham. Man muß sich erst an diese Nacktkultur gewöhnen. Im Moment bin ich außer Gefecht gesetzt – ultrarote Strahlen, Ham ... autsch! Du verdammtes Schwein!« rief er seinem Burschen auf arabisch zu. »Willst du mich wohl vorsichtig mit deinen dicken Pfoten massieren?«

Bones erzählte bei dieser Gelegenheit auch, daß Sir Septimus ihm Briefe über Eugenik schrieb.

»Er kommt übrigens hierher«, erklärte er wichtig.

»Was – zu uns?« fragte Hamilton ungläubig.

»Ganz bestimmt – ich habe ihn selbst eingeladen.«

»Da hört doch alles auf! Hat er sich denn wenigstens vorher die Einreiseerlaubnis besorgt?« fragte Hamilton eisig. »Sie wissen doch, daß er sonst nicht hier landen darf.«

»Alles in bester Ordnung, mein lieber, alter Vorgesetzter und Kamerad. Lieber, alter Ham, lassen Sie es sich nur sagen – Sie belasten Ihr Herz viel zu sehr durch diese ungesunde, dicke Kleidung.«

Bones trug ein Netzhemd, das auf dem Rücken einen leichten Buckel zeigte. Dort saß der Wattebausch, mit dem er die wunden Stellen seines Rückens bedeckt hatte.

»Der gute, alte Sir Sep sagt, daß die einzig vernünftigen Leute die Eingeborenen am Großen Strom sind. Er will hierherkommen und einmal ein Jahr lang mit ihnen zusammenleben.«

»Wie will er sich denn mit ihnen verständigen – spricht er etwa ihre Sprache?« fragte Sanders.

Zum größten Erstaunen des Amtmanns nickte Bones.

Wer Sir Septimus genauer kannte, wunderte sich nicht darüber. Er war außerordentlich sprachenbegabt und hatte in sechs Monaten mehr von der Bomongosprache gelernt als der Missionar, der ihn auf seinem Urlaub darin unterrichtete.

Sanders strich nachdenklich über sein Kinn. Er liebte derartige Experimente in seinem Gebiet nicht, besonders wenn sie von Leuten ausgeführt wurden, die nicht mit dem Land vertraut waren.

Mit der nächsten Post erhielt er einen Brief des Kolonialamts, in dem Sir Septimus Neighbour unter Aufzählung all seiner Titel ganz besonders seinem Schutz empfohlen wurde. Und mit dem nächsten Postdampfer kam der Gelehrte selbst an.

Es war ein kleiner, schmächtiger Mann mit einem kahlen Kopf. Ohne den großen, graumelierten Bart hätte er wenig vorteilhaft ausgesehen. Eine Hornbrille machte sein Gestellt etwas intelligenter.

Sein Gepäck bestand aus einem Handkoffer, einem Schmetterlingskäscher und einem Paar Gummistiefeln, die er außen an seine Handtasche gebunden hatte. Seine Hosen waren so kurz, wie sie Sanders noch nie gesehen hatte. Vom Gürtel aufwärts trug er nichts als einen leichten Leinenrock, der seinen eckigen, knochigen Oberkörper verhüllte. Aber auch dafür entschuldigte er sich noch.

»Ich hatte Unannehmlichkeiten auf dem Schiff«, sagte er mit einer hohen, schrillen Stimme und gestikulierte mit den Händen. »Es ist entsetzlich, wie prüde die Menschen sind. Diese Europäerinnen sind einfach schrecklich.«

Sanders sah zu Bones hinüber, der den Gelehrten am Ufer abgeholt hatte. Der junge Mann war ebenso gekleidet wie Sir Septimus, nur seine Rocktasche war ungewöhnlich dick. Sanders vermutete, daß Bones im letzten Moment vor der Begrüßung am Ufer sein Hemd ausgezogen und es eingesteckt hatte.

»Meine vorgesetzte Behörde hat mir geschrieben, daß ich Sie zu einem der primitivsten Stämme ins Land schicken soll«, meinte Sanders. »Ich habe deshalb den Eingeborenen von Lulanga den Auftrag gegeben, eine neue Hütte für Sie zu bauen. Sie sind die einfachsten Leute, die hier im Territorium leben, und selbst die N'gombi halten die Art, wie sie gehen, für etwas anstößig.«

Sir Septimus hörte den leicht ironischen Ton des Amtmanns nicht und nickte ernst.

»Das entspricht vollkommen meinen Wünschen. Mit der Hütte bin ich allerdings nicht einverstanden. Ich brauche weder Hütten noch Häuser, ich wohne unter dem freien Himmelszelt und schlafe auf dem Boden der Mutter Erde. Ich will genau so leben wie die Eingeborenen selbst.«

»Die wohnen aber in Hütten!« erklärte Sanders.

»Dann werde ich sie lehren, daß es viel besser ist, im Freien zu schlafen. Ich sehe schon, daß ich hier eine große Mission zu erfüllen habe«, sagte Sir Septimus mit viel Würde. »Ich werde sie ebenso unterrichten wie meinen Schüler hier.« Er zeigte auf Bones, der bis über die Ohren rot wurde. »Er hat mir auch geschrieben, daß er auf dem nackten Boden schläft, morgens ein paar Beeren genießt und einige rohe Früchte zu Mittag –«

»Ja, das habe ich oft getan«, erwiderte Bones unnötig laut. »Ganz bestimmt habe ich so gelebt. Ham, alter Kriegskamerad, Sie können es ja bestätigen, ich habe immer nach der Natur gelebt.«

»Als Sie das letztemal den Fluß hinauffuhren«, entgegnete Hamilton langsam, »haben Sie sich schwer darüber beklagt, daß es in der Wohnkabine auf der ›Wiggle‹ zieht. Außerdem wollten Sie die Matratze neu aufgepolstert haben. Und ich weiß noch ganz genau, was für einen Spektakel Sie gemacht haben, als Ihr Schlafsack verloren ging –«

Aber Bones hörte das nicht mehr. Er hatte Sir Septimus am Arm genommen und ihn auf die Veranda hinausgeführt.

Am nächsten Sonntagmorgen verließ Sir Septimus die Residenz in einem Kanu, das ihn nach Lulanga bringen sollte. Sobald man ihn von der Abfahrtsstelle aus nicht mehr sehen konnte, zog er seinen Rock aus, dieses einzige Zugeständnis, das er der verhaßten Zivilisation gemacht hatte.

Das Gebiet von Lulanga liegt am schmalsten Teil des Oporiflusses, der sich in vielen Windungen durch die Wälder zieht, bis er französisches Gebiet berührt.

Seit altersher waren die Leute von Lulanga wegen ihrer Lebensweisheit und ihrer Einfachheit berühmt. Am Großen Strom wußte man überall, daß die Einwohner von Lulanga klug waren und primitive Gewohnheiten hatten. Sie gehörten eigentlich zu dem Stamm der Isisi, aber sie zahlten dem König dieses Volkes keine Abgaben und leisteten ihm auch nicht Heeresfolge. Sie wurden N'gombi genannt, das heißt »Bewohner des Waldes«, aber sie waren ein ausgesprochenes Wasservolk und schwammen und fischten seit ihrer frühesten Kindheit.

Bosambo, der sich wenig um Traditionen kümmerte, erklärte sie als Ochori und schickte seine Leute zu ihnen, um Tribut von ihnen einzusammeln. Sie zahlten auch ohne Widerspruch, aber bei dem nächsten großen Palaver der Häuptlinge, das unter dem Vorsitz Sanders' geführt wurde, ging es Bosambo schlecht. Er mußte alles zurückzahlen und sich entschuldigen.

Die Weisheit der Lulanga-Leute bestand vor allem darin, daß sie in die Zukunft sahen und wußten, daß auch andere Tage kommen konnten. Sie hielten fest an alten Gebräuchen und trugen keine Kleider.

Auf der ganzen Welt gibt es nur drei Völker, die vollständig nackt gehen, und die Lulanga gehören zu diesen. Sie hielten an dieser Sitte fest, obwohl sie von allen deshalb verurteilt und über die Schulter angesehen wurden. In früheren Zeiten wurden sogar Kriege deshalb geführt. Ihre kannibalischen Nachbarn wollten sie zwingen, wenigstens einen Lendenschurz zu tragen. Darauf halten sogar die wildesten Stämme, denn die Eingeborenen sind von Natur aus schamhaft. Aber durch besondere Klugheit und Tapferkeit gelang es den Lulanga, alle Angriffe der Feinde abzuschlagen und an ihren ererbten Traditionen festzuhalten.

Auch Sanders hatte mit ihnen darüber verhandelt, er hatte ihnen sogar gedroht, aber alles hatte keinen Erfolg gehabt. Dagegen hatte er einen anderen alten Brauch erfolgreich bekämpfen können. Die Lulanga waren der letzte Stamm am Großen Fluß, der die Ermordung der Alten, Schwachen und Wahnsinnigen nicht aufgeben wollte. Wenn Männer oder Frauen krank wurden oder einen Unglücksfall hatten, der sie dauernd verstümmelte, oder wenn sie in Wahnsinn verfielen, dann nahm man S'boro zu Hilfe. Nun ist Wahnsinn in diesen Gegenden weit verbreitet, wo die Schlafkrankheit fast ebenso häufig vorkommt wie in Europa der Schnupfen. S'boro war ein geheimnisvoller Teufel, der nur dann seinen Zauber und seine Macht entfaltete, wenn man drei verschiedene Blumengifte mit Maniok zusammenkochte, bis ein dünner, roter Brei entstand. Diese Paste wurde auf die Lippen der Alten, Kranken und Verrückten gestrichen, während sie schliefen, und am nächsten Morgen waren sie tot und konnten beerdigt werden.

Der Verfasser des »Kleinen Tich-Codes« hatte diesen Gebrauch merkwürdigerweise für richtig und gut befunden und in europäischen Zeitschriften einen Artikel darüber geschrieben, der ihn seine Stellung kostete. Auch Sanders war wütend über ihn, denn es war ihm erst nach vierjähriger mühevoller Arbeit geglückt, diese entsetzliche Sitte auszurotten. Verschiedene Leute hatte er deswegen hängen müssen. Es tat ihm persönlich leid, wenn er diese einfachen und klugen Leute so schwer strafen mußte, aber nur die äußersten und schärfsten Maßnahmen brachten hier Erfolg. S'boro wurde den Schlafenden jetzt nicht mehr auf die Lippen gestrichen, und im Lulanga-Lande gab es nun eine Anzahl alter, verrückter und verkrüppelter Leute, über die sich die Bevölkerung ärgerte. Im geheimen waren die Bewohner unzufrieden mit Sanders, aber er wußte nichts davon.

Am neunten Tag der Reise erreichte Sir Septimus sein Ziel. Der weise Häuptling M'bongo fuhr mit seinen acht Ratgebern den engen Fluß herunter, um ihn zu dem Dorf zu bringen. Am Abend kamen sie dort an, und im Schein großer Feuer tanzten die Mädchen des Stammes vor ihm. Sie hatten Gestalten gleich einer Venus, aber ihre Gesichter glichen einer Gorgo. Der Häuptling gab ihm Rohkost als Zeichen seiner besonderen Zuneigung und führte ihn zu der Hütte, die sie für ihn gebaut hatten. Aber Sir Septimus lehnte dieses Obdach mit einer abweisenden Handbewegung ab.

»O Häuptling«, erklärte er, »ich schlafe auf der bloßen Erde, denn so fordert es meine Lehre.«

Der Häuptling erwiderte ihm aber unzweideutig, daß das unmöglich sei, und erzählte ihm, wie es den Leuten erginge, die auf der bloßen Erde schliefen. Daraufhin änderte Sir Septimus entschieden seine Meinung.

In der Nacht saß er mit untergeschlagenen Knien bei dem Häuptling und hielt ein Palaver mit ihm ab. Vor ihnen brannte ein Feuer, und er fühlte sich in der Hitze wenig behaglich.

»Wir lieben Sandi, weil er uns strafen würde, wenn wir ihn nicht liebten«, sagte M'bongo mit rührender Naivität. »Aber er hat viele unserer alten Gebräuche verboten. Er befahl auch, daß wir Kleider tragen sollten wie die gewöhnlichen Isisi, aber wir wollten das nicht, weil auch unsere Väter und Vorväter ihre Körper nicht bedeckten und dadurch stark und schön blieben. Sandi hat auch gesagt, daß die Kranken, Alten und Wahnsinnigen nicht mehr einschlafen sollen durch S'boro, weil das gegen das Gesetz der weißen Leute ist. Und, o Herr, da du ein Freund von Sandi bist und weiser als alle Leute auf der Welt, so weißt du bestimmt, wie schlimm es für ein Volk ist, wenn die Alten, Unfähigen und Krüppel, die nicht länger arbeiten können, so wie wir weiterleben. Es ist auch schlimm, daß die Wahnsinnigen am Leben bleiben, denn sie bringen wieder Kinder zur Welt, die auch wahnsinnig sind. Unter den Isisi und N'gombi, und selbst unter den Ochori, die Sklaven sind, ja auch bei den Akasava war dies am Großen Strom allgemeine Sitte, bis Sandi hierherkam.«

Sir Septimus nickte.

»Das ist ein gutes Palaver«, sagte er begeistert.

M'bongo starrte ihn erstaunt an. Eine leise Hoffnung stieg in ihm auf.

»O Herr, du hast herrlich gesprochen«, erwiderte er. »Mein Volk wird sehr glücklich sein.«

Sir Septimus war nun bei seinem Lieblingsthema angelangt und hielt dem Häuptling einen großen Vortrag, den er schon oft in London gehalten hatte.

»Mein lieber Freund, welchen Zweck hat es denn, die Alten und Kranken weiter zu füttern? Wenn man das tut, geht es nur mit der Allgemeinheit bergab. Ist es nicht viel besser, sie ruhig und ohne Schmerzen einschlafen zu lassen? Wenn sie am Leben bleiben, sind sie nur eine Last für sich selbst und für ihre Mitmenschen. Es ist unmenschlich, unhygienisch und gegen alle Gesetze der Natur ...«

In der kräftigeren Bomongosprache sagte er nun dasselbe mit noch drastischeren Ausdrücken, und der weise Häuptling M'bongo und seine Ratgeber lauschten eifrig.

Etwa einen Monat später kam ein Spion von Sanders unauffällig in das Land der Lulanga und blieb einige Tage dort. Er stellte seine Beobachtungen an und schrieb dann einen Bericht. Am fünften Abend fuhr er in einem schnellen Boot den kleinen Fluß hinunter zu dem obersten Späher dieser Gegend und erzählte ihm die Neuigkeiten.

Eine Taubenbotschaft erreichte Sanders, der gerade nach dem Abendessen eine Zigarre rauchte. Als er die Nachricht gelesen hatte, machte er ein ernstes Gesicht.

»Der Freund von Bones treibt unangenehme Propaganda für seine Ideen«, sagte er. »Es scheint kaum möglich, aber es sieht doch so aus, als ob er alles zunichte macht, was ich mühsam aufgebaut habe. Und nicht nur bei den Lulanga, sondern am ganzen Strom. Wenn die Leute wieder anfangen, den Teufel S'boro zu beschwören, dann wird sich diese Gewohnheit nicht auf Lulanga beschränken, sondern auf das ganze Gebiet übergreifen.«

»Um was handelt es sich denn?« fragte Hamilton, der plötzlich auffuhr, weil er eingeschlafen war.

»Zunächst hat sich dieser alte verrückte Kerl als Mitglied des Lulanga-Stammes aufnehmen lassen und besteht nun darauf, wie ein gewöhnlicher Eingeborener behandelt zu werden. Er geht auch mit den Leuten hinaus und arbeitet auf dem Felde. Das schadet ihm natürlich nichts. Aber er kann für sich und für uns alle großes Unheil anrichten, wenn er den Leuten dort oben seine eugenischen Lehren beibringen will.«

Er erzählte Hamilton von den Theorien des Gelehrten noch etwas ausführlicher.

Bones hatte sich von der Bewegung »Zurück zur Natur« inzwischen abgewandt. Er war dieser Sache überdrüssig. An diesem Abend war er früh zu Bett gegangen und war nicht wenig erstaunt, als er eine Stunde später von seinem Vorgesetzten geweckt wurde.

»Sanders wünscht, daß Sie mit der ›Wiggle‹ nach Lulanga fahren und den alten Sir Septimus dort abholen und wieder hierher bringen.«

Bones setzte sich in seinem Bett aufrecht und blinzelte Hamilton verständnislos an. Der Captain mußte seine Mitteilung viermal mit immer lauterer Stimme wiederholen, bevor der Sinn Bones einigermaßen klar wurde.

»Was, der nette, alte Sep?« sagte er dann gähnend. »Der verrückte alte Esel? Allerdings, mein lieber, guter Ham, man kann auch viel für Septimus ins Feld führen. Der alte Patron hat mit seiner Theorie vollkommen recht. Die Auswahl der Tüchtigsten –«

»Widersprechen Sie nicht«, rief Hamilton scharf. »Machen Sie, daß Sie Ihre Leute zusammentrommeln. Morgen früh bei Tagesanbruch müssen Sie abfahren.«

Bones erhob sich müde von seinem Lager und suchte Yoka, den Steuermann, B'fuli, den Techniker, und die sechs Leute zusammen, die gewöhnlich die Besatzung der ›Wiggle‹ bildeten. Außerdem gab er noch sechs Soldaten den Befehl, ihn auf der Reise zu begleiten. Um fünf Uhr morgens trank er mit Sanders und Hamilton auf der Veranda Kaffee, aber er war in sehr schlechter Laune.

»Es ist überhaupt nicht zu verantworten, mein lieber, alter Ham«, erklärte er, »daß man ohne die geringste Vorbereitung auf die Reise geschickt wird. Die gräßliche Matratze ist immer noch nicht ausgebessert –«

»Wenn Sie müde werden«, entgegnete Hamilton kühl, »dann legen Sie am Ufer an, essen ein paar Beeren und schlafen in der nächsten Bodensenkung – zurück zur Natur, Bones!«

Eine Stunde vor Sonnenaufgang war die ›Wiggle‹ so weit instand, daß sie ihre Reise antreten konnte. Kurz vor der Abfahrt kam eine weitere Taubenbotschaft in der Residenz an, und Sanders verdoppelte daraufhin die Anzahl der Soldaten.

Der Teufel S'boro trieb sein Unwesen nicht nur im Land Lulanga, es wurden auch verschiedene Fälle aus den angrenzenden Dörfern der Isisi gemeldet. Alte Männer und Frauen waren verschwunden, und ein Holzfäller, der durch einen umstürzenden Baum verletzt wurde, starb plötzlich. Die Trauerbotschaft enthielt noch einen kleinen Nachsatz:

»Auch der nackte Herr in Lulanga ist krank, denn er hat gewisse Früchte gegessen, die Leibschmerzen verursachen.«

Bones Reise war nicht sehr glücklich. Am Nachmittag des ersten Tages fuhr er auf eine Sandbank auf und mußte bis zum folgenden Morgen in der Mitte des Stromes liegen bleiben. Erst dann konnte er genügend Eingeborene zusammentrommeln, um die ›Wiggle‹ wieder in tiefes Wasser ziehen zu lassen. Am zweiten Tag stieß er gegen einen Baumstumpf unter Wasser, und der Dampfer erhielt ein Leck am Bug, so daß das Vorderteil voll Wasser lief. Schleunigst mußte er ihn an Land setzen, und erst nach einiger Zeit gelang es, das Leck mit Zement zu dichten. Aber kaum war die ›Wiggle‹ wieder eine Stunde in Fahrt, als sie auf eine andere Sandbank auffuhr, und als sie wieder flottgemacht war, stellte sich heraus, daß der Zement nicht hielt. Die ›Wiggle‹ mußte wieder ans Ufer gebracht werden.

Bones schwitzte und fluchte, aber der letzte Aufenthalt hatte auch sein Gutes. Während er darauf wartete, daß die Schmiede der Isisi das Schiff wieder instand setzten, erfuhr er von einem Fall von S'boro, der sich zwanzig Meilen vom Ufer entfernt im Walde zugetragen hatte. Mit seinen zwölf Soldaten marschierte er sofort ins Innere und erreichte das Dorf gerade noch rechtzeitig, um die Beerdigung der beiden alten Leute zu verhindern, die am Abend vorher gestorben waren.

Die Isisi sind nicht so klug wie die Lulanga und haben auch nicht ihre guten Methoden, die alten Leute zu töten. Der Augenschein bewies, daß die Beiden eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Bones handelte unverzüglich. Er ließ die Mörder hängen und nahm den Häuptling des Dorfes in Ketten mit sich.

»O Herr«, sagte dieser vorwurfsvoll, »ich habe doch nichts Böses getan. Am ganzen Strom auf und ab ist es bekannt, daß Sandi S'boro liebt und einen alten, weisen Mann zu den Lulanga geschickt hat, damit er sie darin unterrichtet, wie man nutzlose Leute beiseiteschafft. Woran sollen wir einfachen Leute uns denn noch halten, Tibbetti? Sage mir das doch!«

Bones fuhr ihn hart an.

»O Mann«, erwiderte er mit einem bösen Lächeln, »hast du nicht die beiden Gehängten gesehen, und weißt du jetzt noch nicht, was mein Herr Sandi will? Sind die Isisi so dumm, daß sie das nicht verstehen können?«

Zwei weitere Tage vergingen, bevor er nach Lulanga kam. M'bongo, der weise Häuptling, wartete mit all seinen Ratgebern am Ufer auf ihn. Bones ließ ihm aber keine Zeit, ihn in der üblichen Weise zu begrüßen.

»Häuptling«, sagte er, sobald sein Fuß das Land berührte, »in deinem Lande sind wieder Fälle von S'boro vorgekommen, und mein Herr Sandi hat mich hergeschickt, um die Mörder zu bestrafen. Einige alte und verrückte Leute in diesem Dorfe sind eines unnatürlichen Todes gestorben.« Er nannte die Opfer bei Namen.

Das Gesicht des Häuptlings wurde lang, und er schwieg einige Zeit, bevor er antwortete.

»B'rolu hat uns das gelehrt.«

»B'rolu« war der Name, den Sir Septimus erhalten hatte.

»Dieser große, weise Mann gehört zu unserem Stamm«, erklärte M'bongo stolz. »Er lebt genau wie ein gewöhnlicher Mann unseres Volkes und trägt keine Kleider. Er arbeitet mit uns auf den Feldern und macht Strohmatten.«

»Wo ist er denn?«

Der Häuptling sah plötzlich furchtsam aus.

»Mein Herr Tibbetti, ich glaube, er ist ein wenig krank im Kopf. Augenblicklich ist er in seiner Hütte und will nicht herauskommen. Wenn wir zu ihm gehen wollen, können wir nicht hinein, weil er den Eingang mit allen möglichen Ästen und Zweigen versperrt hat.«

Der Häuptling führte Bones zu der neuen Hütte, die am äußersten Rande des Dorfes errichtet war, und Bones sah schon von weitem, daß der Zugang mit Zweigen und Holzklötzen verbarrikadiert war.

»O B'rolu!« rief der Häuptling.

Aus dem Innern der Hütte antwortete eine schrille erregte Stimme in Englisch.

»Mach, daß du fortkommst, du gemeiner Hund! Wage es nicht, hier hereinzugehen! Und schicke sofort zu Mr. Sanders! Bei Gott, ich werde dafür sorgen, daß du in Ketten gelegt wirst!«

»Sind Sie es, Sir Septimus?« fragte Bones ängstlich.

»Wer ist denn da?«

Bones konnte durch die Lücken der Barrikade das furchtsame Gesicht des Mannes sehen.

»Ach, Sie sind es, Sie junger Springinsfeld. Was haben Sie sich eigentlich gedacht, als Sie mich hierherbrachten? Haben Sie Soldaten dabei? Ich verlange, daß dieser Kerl sofort gehängt wird! Dieser blutdürstige Schuft ...«

Erst nach einiger Zeit gelang es Bones, Sir Septimus zu beruhigen und die Barrikade abzubrechen. Als der Gelehrte ins Freie trat, zitterte er am ganzen Körper vor Aufregung. Um seine Schultern hing ein Fell.

»Gott sei Dank, daß Sie gekommen sind! Ich habe eine entsetzliche Woche hier zugebracht. Ich wurde krank, und dann kam einer von diesen gräßlichen Kerlen in meine Hütte und wollte mir etwas auf die Lippen schmieren. Nur mit größter Mühe gelang es mir, ihn hinauszuschmeißen, diesen gemeinen Lumpen!«

»Mein Herr Tibbetti«, sagte M'bongo mit bittender Stimme, als Bones ihm alles übersetzt hatte, »dieser große Mann hat uns gebeten, ihn so zu behandeln, als ob er einer der Unseren wäre. Es ist wahr, daß einer meiner jüngeren Leute zu ihm kam und ihm S'boro brachte. Wir glaubten, daß er sehr krank war, und wollten ihm helfen. Er hat uns das doch selbst gelehrt!«

*

Bones ging zur Küste, um Sir Septimus zu verabschieden. Er sollte dafür sorgen, daß er mit einem Boot durch die Brandung zu dem Postdampfer gebracht wurde, der in der Bucht vor Anker lag. Bei dieser Gelegenheit trug er mehr Kleidungsstücke als gewöhnlich.

»Es tut mir sehr leid, daß Sie eine so unangenehme Zeit in Lulanga verbrachten«, sagte er förmlich. »Aber Sie sahen ja selbst, daß Ihre Lehre ›Zurück zur Natur‹ nicht überall paßt, besonders nicht in den Tropen. Das müssen Sie doch zugeben.«

Sir Septimus sah ihn übelgelaunt an.

»Das ganze Land ist verseucht und verkommen«, erwiderte er wütend. »Alles ist entsetzlich unhygienisch. Aber ich werde den Leuten im Kolonialministerium die Augen über die Zustände hier schon öffnen, verlassen Sie sich darauf! Was tragen Sie denn da eigentlich, Sie unglückseliger junger Mann?«

»Einen wollenen Pullover«, entgegnete Bones.


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