Richard Wagner
Oper und Drama
Richard Wagner

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Die Notwendigkeit einer dem Orte der Handlung entsprechenden Darstellung der Szene konnte nun mit der Zeit nicht ungefühlt bleiben; die mittelalterliche Bühne mußte verschwinden und der modernen Platz machen. In Deutschland wurde sie durch den Charakter der Volksschauspielkunst bestimmt, die ihre dramatische Grundlage, seit dem Ersterben der Passions- und Mysterienspiele, ebenfalls der Historie und dem Romane entnahm. Zur Zeit des Aufschwunges der deutschen Schauspielkunst – um die Mitte des vorigen Jahrhunderts – bildete diese Grundlage der, dem damaligen Volksgeiste entsprechende, bürgerliche Roman. Er war unendlich gefügiger und namentlich bei weitem weniger reich an Stoff als der historische oder sagenhafte Roman, der Shakespeare vorlag: eine ihm entsprechende Darstellung der lokalen Szene konnte somit auch mit viel wenigerem Aufwande hergestellt werden, als es für die Shakespearesche Dramatisierung des Romanes erforderlich gewesen wäre. Die von diesen Schauspielern aufgenommenen Shakespeareschen Stücke mußten sich nach jeder Seite hin, um von ihnen darstellbar zu werden, die beschränkendste Umarbeitung gefallen lassen. Ich übergehe hier alle für diese Umarbeitung maßgebenden Gründe und hebe nur den einen, den des rein szenischen Erfordernisses, heraus, weil er für den Zweck meiner Untersuchung für jetzt der wichtigste ist. Jene Schauspieler, die ersten Übersiedler des Shakespeare auf das deutsche Theater, verfuhren so redlich im Geiste ihrer Kunst, daß es ihnen nicht einfiel, seine Stücke etwa dadurch aufführbar zu machen, daß sie entweder den häufigen Szenenwechsel in ihnen durch bunte Verwandlung ihrer theatralischen Szene selbst begleitet, oder gar ihm zuliebe der wirklichen Darstellung der Szene überhaupt entsagt hätten und zu der szenenlosen mittelalterlichen Bühne zurückgekehrt wären, sondern sie behielten den einmal eingenommenen Standpunkt ihrer Kunst bei und ordneten ihm die Shakespearesche Vielszenigkeit insoweit unter, als sie unwichtig dünkende Szenen geradesweges ausließen, wichtigere Szenen aber zusammenfügten. Erst vom Standpunkte der Literatur aus gewahrte man, was bei diesem Verfahren vom Shakespeareschen Kunstwerke verlorenging, und drang auf Wiederherstellung der ursprünglichen Gestaltung der Stücke auch für die Darstellung, für welche man zwei entgegengesetzte Vorschläge machte. Der eine, nicht ausgeführte Vorschlag, ist der Tiecksche: Tieck, das Wesen des Shakespeareschen Dramas vollkommen erkennend, verlangte die Wiederherstellung der Shakespeareschen Bühne mit dem Appell an die Phantasie für die Szene. Dieses Verlangen war durchaus folgerichtig und ging auf den Geist des Shakespeareschen Dramas hin. Ist ein halber Restaurationsversuch in der Geschichte aber stets unfruchtbar geblieben, so hat sich ein radikaler dagegen von je als unmöglich erwiesen. Tieck war ein radikaler Restaurator, als solcher ehrenwert, aber ohne Einfluß. – Der zweite Vorschlag ging dahin, den ungeheuren Apparat der Opernszene zur Darstellung des Shakespeareschen Dramas auch durch getreue Herstellung der von ihm ursprünglich nur angedeuteten, häufig wechselnden Szene abzurichten. Auf der neueren englischen Bühne übersetzte man die Shakespearesche Szene in allerrealste Wirklichkeit: die Mechanik erfand Wunder für die schnelle Verwandlung der umständlichst ausgeführtesten Bühnendekorationen: Truppenmärsche und Schlachten wurden mit überraschendster Genauigkeit dargestellt. Auf großen deutschen Theatern ward dies Verfahren nachgeahmt.

Vor diesem Schauspiel stand nun prüfend und verwirrt der moderne Dichter. Das Shakespearesche Drama hatte als Literaturstück auf ihn den erhebenden Eindruck der vollendetsten dichterischen Einheit gemacht; solange es nur an seine Phantasie sich gewendet hatte, war diese vermögend gewesen, aus ihm ein harmonisch abgeschlossenes Bild sich zu entnehmen, das er nun, bei Erfüllung des wiederum notwendig erwachten Verlangens, dieses Bild durch vollständige Darstellung an die Sinne verwirklicht zu sehen, plötzlich vor seinen Augen gänzlich sich verwischen sah. Das verwirklichte Bild der Phantasie hatte ihm nur eine unübersehbare Masse von Realitäten und Aktionen gezeigt, aus denen das verwirrte Auge das Gemälde der Einbildungskraft durchaus nicht wieder zurückzukonstruieren vermochte. Zwei Hauptwirkungen äußerte diese Erscheinung auf ihn, die sich beide in der Enttäuschung über die Shakespearesche Tragödie kundgaben. Der Dichter entsagte von nun an entweder dem Wunsche, seine Dramen auf der Bühne dargestellt zu sehen, um das dem Shakespeareschen Drama entnommene Phantasiebild ungestört nach seiner geistigen Absicht wiederum nachzubilden, d. h., er schrieb Literaturdramen für die stumme Lektüre – oder er wandte sich, um auf der Bühne sein Phantasiebild praktisch zu verwirklichen, mehr oder weniger unwillkürlich der reflektierten Gestaltung des Dramas zu, dessen modernen Ursprung wir in dem nach den Aristotelischen Einheitsregeln konstruierten, antiquisierenden Drama zu erkennen hatten.

Beide Wirkungen und Richtungen sind die gestaltenden Motive in den Werken der zwei bedeutendsten dramatischen Dichter der neueren Zeit, Goethes und Schillers, deren ich, soweit es für den Zweck meiner Untersuchung erforderlich ist, hier näher gedenken muß.

 

Goethes Laufbahn als dramatischer Dichter begann mit der Dramatisierung eines vollblutig germanischen Ritterromanes, des »Götz von Berlichingen«. Das Shakespearesche Verfahren war hier ganz getreu befolgt, der Roman mit allen seinen ausführlichen Zügen so weit für die Bühne übersetzt, als die Verengung derselben und die Zusammendrängung der Zeitdauer der dramatischen Aufführung es gestatteten. Goethe traf aber bereits auf die Bühne, auf der das Lokal der Handlung nach den Erfordernissen derselben, wenn auch roh und dürftig, dennoch mit bestimmter Absicht zur Darstellung gebracht wurde. Dieser Umstand veranlaßte den Dichter, sein mehr vom literarisch-, als szenisch-dramatischen Standpunkte aus verfaßtes Gedicht nachträglich für die wirkliche Darstellung auf der Bühne umzuarbeiten: durch die letzte Gestalt, die ihm aus Rücksicht auf die Erfordernisse der Szene gegeben wurde, hat das Gedicht die Frische des Romanes verloren, ohne dafür die volle Kraft des Dramas zu gewinnen.

Goethe wählte nun für seine Dramen zunächst bürgerliche Romanstoffe. Das Charakteristische des bürgerlichen Romanes besteht darin, daß die ihm zugrundeliegende Handlung von einem umfassenderen Zusammenhange historischer Handlungen und Beziehungen sich vollständig lostrennt, nur den sozialen Niederschlag dieser geschichtlichen Ereignisse als bedingende Umgebung festhält, und innerhalb dieser Umgebung, die im Grunde doch nur die zur Farblosigkeit herabgedämpfte Rückwirkung jener historischen Begebenheiten ist, mehr nach gebieterisch von dieser Umgebung auferlegten Stimmungen als nach inneren, zu vollkommen gestaltender Äußerung befähigten Beweggründen sich entwickelt. Diese Handlung ist ebenso beschränkt und arm als die Stimmungen, durch die sie hervorgerufen wird, ohne Freiheit und selbständige Innerlichkeit sind. Ihre Dramatisierung entsprach aber sowohl dem geistigen Gesichtspunkte des Publikums als namentlich auch der äußeren Möglichkeit der szenischen Darstellung, und zwar dies insoweit, als aus dieser ärmlichen Handlung nirgends Notwendigkeiten für die praktische Szenierung hervorgingen, denen diese nicht von vornherein zu entsprechen vermocht hätte. Was ein Geist, wie Goethe, unter solchen Beschränkungen dichtete, müssen wir fast nur aus der von ihm gefühlten Notwendigkeit der Unterordnung unter gewisse beschränkende Maximen zur Ermöglichung des Dramas überhaupt, gewiß aber weniger als aus einer freiwilligen Unterordnung unter den beschränkten Geist der Handlung des bürgerlichen Romanes und die Stimmung des Publikums, die ihn begünstigte, selbst hervorgegangen ansehen. Aus dieser Beschränkung erlöste sich Goethe aber zu fessellosester Freiheit durch gänzliches Aufgeben des wirklichen Bühnendramas. Bei seinem Entwurfe des »Faust« hielt er nur die Vorteile einer dramatischen Darlegung für das Literaturgedicht fest, die Möglichkeit einer szenischen Aufführung mit Absicht gänzlich außer acht lassend. In diesem Gedicht schlug Goethe zum ersten Male mit vollem Bewußtsein den Grundton des eigentlichen poetischen Elementes der Gegenwart an, das Drängen des Gedankens in die Wirklichkeit, den er künstlerisch aber noch nicht in die Wirklichkeit des Dramas erlösen konnte. Hier ist der Scheidepunkt des mittelalterlichen, bis zur Seichtigkeit des bürgerlichen verflachten Romanes und des wirklich dramatischen Stoffes der Zukunft. Wir müssen es uns vorbehalten, auf die Charakteristik dieses Scheidepunktes näher einzugehen: für jetzt gelte uns die Erfahrung für wichtig, daß Goethe, auf diesem Scheidepunkte angelangt, weder einen wirklichen Roman noch ein wirkliches Drama zu geben vermochte, sondern eben nur ein Gedicht, das der Vorteile beider Gattungen nach abstrahiertem künstlerischem Maße genoß.

Von diesem Gedichte, das wie eine immer lebendig rieselnde Quellader sich durch das ganze Künstlerleben des Dichters mit gestaltender Anregung dahinzieht, sehen wir hier ab und verfolgen Goethes Kunstschaffen immer wieder da, wo er mit erneueten Versuchen sich dem szenischen Drama zuwandte.

Von dem dramatisierten bürgerlichen Romane, den er im »Egmont« durch Ausdehnung der Umgebung bis zum Zusammenhange weitverzweigter historischer Momente von innen heraus zu seiner höchsten Höhe zu steigern versuchte, war Goethe mit dem Entwurfe zum »Faust« entschieden abgegangen: reizte ihn nun noch das Drama als vollendetste Gattung der Dichtkunst, so geschah dies namentlich durch Betrachtung desselben in seiner vollendetsten künstlerischen Form. Diese Form, die den Italienern und Franzosen, dem Grade ihrer Kenntnis des Antiken gemäß, nur als äußere zwingende Norm verständlich war, ging dem geläuterteren Blicke deutscher Forscher als ein wesentliches Moment der Äußerung griechischen Lebens auf: die Wärme jener Form vermochte sie zu begeistern, als sie die Wärme dieses Lebens aus seinen Monumenten selbst herausgefühlt hatten. Der deutsche Dichter begriff, daß die einheitliche Form der griechischen Tragödie dem Drama nicht von außen aufgelegt, sondern durch den einheitlichen Inhalt von innen heraus neu belebt werden müsse. Der Inhalt des modernen Lebens, der sich immer nur noch im Romane verständlich zu äußern vermochte, war unmöglich zu so plastischer Einheit zusammenzudrängen, daß er bei verständlicher dramatischer Behandlung sich in der Form des griechischen Dramas hätte aussprechen, diese Form aus sich rechtfertigen oder gar notwendig erzeugen können. Der Dichter, dem es hier um absolute künstlerische Gestaltung zu tun war, konnte auch jetzt immer nur noch zu dem Verfahren der Franzosen – wenigstens äußerlich – zurückkehren; er mußte, um die Form des griechischen Dramas für sein Kunstwerk zu rechtfertigen, auch den fertigen Stoff des griechischen Mythos dazu verwenden. Wenn Goethe zu dem fertigen Stoffe der »Iphigenia in Tauris« griff, verfuhr er aber ähnlich wie Beethoven in seinen wichtigsten symphonischen Sätzen: wie Beethoven sich der fertigen absoluten Melodie bemächtigte, sie gewissermaßen auflöste, zerbrach und ihre Glieder durch neue organische Belebung zusammenfügte, um den Organismus der Musik selbst zum Gebären der Melodie fähig zu machen – so ergriff Goethe den fertigen Stoff der »Iphigenia«, zersetzte ihn in seine Bestandteile und fügte diese durch organisch belebende dichterische Gestaltung von neuem zusammen, um so den Organismus des Dramas selbst zur Zeugung der vollendeten dramatischen Kunstform zu befähigen. Aber nur mit diesem, im voraus bereits fertigen Stoffe konnte Goethe dies Verfahren gelingen: an keinem dem modernen Leben oder dem Romane entnommenen durfte der Dichter zu gleichem Erfolge gelangen; bereits im »Tasso« verkühlte sich dieser Stoff merklich unter seinen einheitlich gestaltenden Händen – in der »Eugenie« erstarrte er endlich zu Eis. Wir werden auf den Grund dieser Erscheinung zurückkommen: für jetzt genügt es, aus dem Überblicke des Goetheschen Kunstschaffens zu bestätigen, daß der Dichter auch von diesem Versuche des Dramas sich wieder abwandte, sobald es ihm nicht um absolutes Kunstschaffen, sondern um die Darstellung des Lebens selbst zu tun war. Dieses Leben in seiner vielgliederigen Verzweigung und von nah und fern willenlos beeinflußten äußeren Gestaltung konnte auch Goethe nur im Romane zu verständlicher Darlegung bewältigen. Die eigentliche Blüte seiner modernen Weltanschauung konnte der Dichter nur in der Schilderung, im Appell an die Phantasie, nicht in der unmittelbaren dramatischen Darstellung uns mitteilen – so daß Goethes einflußreichstes Kunstschaffen sich wieder in den Roman verlieren mußte, aus dem er im Beginn seiner dichterischen Laufbahn mit Shakespeareschem Drange sich zum Drama gewendet hatte. –

Schiller begann, wie Goethe, mit dem dramatisierten Romane unter dem Einflusse des Shakespeareschen Dramas. Der bürgerliche und politische Roman beschäftigte seinen dramatischen Gestaltungstrieb so lange, bis er an den modernen Quell dieses Romanes, die nackte Geschichte selbst, gelangte und aus dieser das Drama unmittelbar zu konstruieren sich bemühte. Hier zeigte sich die Sprödigkeit des geschichtlichen Stoffes und seine Unfähigkeit zur Darstellung in dramatischer Form. – Shakespeare übersetzte die trockene, aber redliche historische Chronik in die lebenvolle Sprache des Dramas; diese Chronik zeichnete mit genauer Treue und Schritt für Schritt den Gang der historischen Ereignisse und die Taten der in ihnen handelnden Personen auf: sie verfuhr ohne Kritik und individuelle Anschauung, und gab somit das Daguerreotyp der geschichtlichen Tatsachen. Shakespeare hatte dieses Daguerreotyp nur zum farbigen Ölgemälde zu beleben; er hatte den Tatsachen die notwendig aus ihrem Zusammenhange erratenen Motive zu entnehmen und diese dem Blut und Fleische der handelnden Personen einzuprägen. Im übrigen blieb das Gerüst der Geschichte von ihm völlig unangetastet: seine Bühne erlaubte ihm das, wie wir sahen. – Der modernen Szene gegenüber erkannte der Dichter aber bald die Unmöglichkeit, die Geschichte mit der chronistischen Treue Shakespeares für das Schauspiel herzurichten: er begriff, daß nur dem – für seine Länge oder Kürze ganz unbesorgten – Romane es möglich gewesen war, die Chronik mit lebendiger Schilderung der Charaktere auszustatten, und daß nur die Bühne Shakespeares wiederum es erlaubt hatte, diesen Roman zu dem Drama zusammenzudrängen. Suchte er nun den Stoff zum Drama in der Geschichte selbst, so geschah dies mit dem Wunsche und dem Streben, den historischen Gegenstand durch unmittelbar dichterische Auffassung von vornherein so zu bewältigen, daß er in der nur in möglichster Einheit verständlich sich kundgebenden Form des Dramas vorgeführt werden konnte. Gerade in diesem Wunsche und Streben liegt aber der Grund der Nichtigkeit unseres historischen Dramas. Geschichte ist nur dadurch Geschichte, daß sich in ihr mit unbedingtester Wahrhaftigkeit die nackten Handlungen der Menschen uns darstellen: sie gibt uns nicht die inneren Gesinnungen der Menschen, sondern läßt uns aus ihren Handlungen erst auf diese Gesinnungen schließen. Glauben wir nun diese Gesinnungen richtig erkannt zu haben, und wollen wir die Geschichte nun als aus diesen Gesinnungen gerechtfertigt darstellen, so vermögen wir dies eben nur in der reinen Geschichtsschreibung, oder – mit erreichbarster künstlerischer Wärme – im historischen Romane, d. h. in einer Kunstform, in der wir durch keinen äußerlichen Zwang genötigt sind, den Tatbestand der nackten Geschichte durch willkürliche Sichtung oder Zusammendrängung zu entstellen. Wir können die aus ihren Handlungen erkannten Gesinnungen geschichtlicher Personen auf keine Weise entsprechend uns verständlichen als durch getreue Darstellung derselben Handlungen, aus denen wir jene Gesinnungen erkannt haben. Wollen wir aber, um die inneren Beweggründe zu Handlungen uns zu verdeutlichen, die Handlungen, die aus ihnen hervorgingen, dem Zwecke ihrer Darstellung zulieb, in irgend etwas verändern oder entstehen, so kann dies notwendig wieder nur durch die Entstellung der Gesinnungen, sonach mit der gänzlichen Verneinung der Geschichte selbst geschehen. Der Dichter, der es versuchte, mit Umgehung der chronistischen Genauigkeit geschichtliche Stoffe für die dramatische Szene zu verarbeiten, und zu diesem Zwecke über den Tatbestand der Geschichte nach willkürlichem, künstlerisch-formellem Ermessen verfügte, konnte weder Geschichte noch aber auch ein Drama zustande bringen.

Halten wir, zur Verdeutlichung des Gesagten, Shakespeares historische Dramen mit Schillers »Wallenstein« zusammen, so müssen wir beim ersten Blicke erkennen, wie hier mit Umgehung der äußerlichen geschichtlichen Treue zugleich auch der Inhalt der Geschichte entstellt wird, während dort bei chronistischer Genauigkeit der charakteristische Inhalt der Geschichte auf das Überzeugendste wahrhaftig zutage tritt. Ohne Zweifel war aber Schiller ein größerer Geschichtsforscher als Shakespeare, und in seinen rein historischen Arbeiten entschuldigt er sich völlig für seine Auffassung der Geschichte als dramatischer Dichter. Worauf es uns jetzt hierbei aber ankommt, ist die faktische Bestätigung dessen, daß wohl für Shakespeare, auf dessen Bühne für die Szene an die Phantasie appelliert wurde, nicht aber für uns, die wir auch die Szene überzeugend an die Sinne dargestellt haben wollen, der Historie der Stoff zum Drama zu entnehmen ist. Selbst Schiller war es aber auch nicht möglich, den noch so absichtlich von ihm zugerichteten historischen Stoff zu der von ihm ins Auge gefaßten dramatischen Einheit zusammenzudrängen: Alles, was der Geschichte erst ihr eigentliches Leben gibt, die weithin sich erstreckende und wiederum nach dem Mittelpunkte bedingend hinwirkende Umgebung mußte er, da er ihre Schilderung doch als unerläßlich fühlte, außerhalb des Dramas, in ein ganz selbständig abgeschlossenes Sonderstück verlegen und das Drama selbst in zwei Dramen auflösen, was bei den mehrteiligen historischen Dramen Shakespeares eine ganz andere Bedeutung hat, da in ihnen ganze Lebensläufe von Personen, die zu einem historischen Mittelpunkte dienen, nach ihren wichtigsten Perioden abgeteilt sind, während im Wallenstein nur eine solche, an Stoff verhältnismäßig gar nicht überreiche, Periode, bloß wegen der Umständlichkeit der Motivierung eines zur Unklarheit getrübten historischen Momentes, mehrteilig gegeben wird. Shakespeare würde auf seiner Bühne den ganzen Dreißigjährigen Krieg in drei Stücken gegeben haben.

Dieses »dramatische Gedicht« – wie Schiller selbst es nennt – war dennoch der redlichste Versuch, der Geschichte als solcher Stoff für das Drama abzugewinnen.

In der weiteren Entwickelung des Dramas sehen wir von nun an von Schiller die Rücksicht auf die Historie immer mehr fallen lassen, einerseits um die Historie selbst nur als Verkleidung eines besonderen, dem allgemeinen Bildungsgange des Dichters eigenen, gedankenhaften Motives zu verwenden – andererseits um dieses Motiv immer bestimmter in einer Form des Dramas zu geben, die der Natur der Sache nach, und namentlich auch seit Goethes vielseitigen Versuchen, zum Gegenstände künstlerischer Spekulation geworden war. Schiller geriet bei dieser zwecklichen Unterordnung und willkürlichen Bestimmung des Stoffes immer tiefer in den notwendigen Fehler der bloß reflektierenden und rhetorisch sich gebarenden Darstellung des Gegenstandes, bis er diesen endlich ganz nur noch nach der Form bestimmte, die er als rein künstlerisch zweckmäßigste der griechischen Tragödie entnahm. In seiner »Braut von Messina« verfuhr er für die Nachahmung der griechischen Form noch bestimmter als Goethe in der »Iphigenia«: Goethe konstruierte sich diese Form nur soweit zurück, als in ihr die plastische Einheit einer Handlung sich kundgeben sollte; Schiller suchte aus dieser Form selbst den Stoff des Dramas zu gestalten. Hierin näherte er sich dem Verfahren der französischen Tragödiendichter; nur unterschied er sich von ihnen wesentlich dadurch, daß er die griechische Form vollständiger herstellte, als sie diesen mitgeteilt worden war, und daß er den Geist dieser Form, von dem diese gar nichts wußten, zu beleben und dem Stoffe selbst einzuprägen suchte. Er nahm hierzu von der griechischen Tragödie das »Fatum« – allerdings nur nach dem ihm möglichen Verständnisse von ihm – auf und konstruierte aus diesem Fatum eine Handlung, die nach ihrem mittelalterlichen Kostüm den lebendigen Vermittelungspunkt zwischen der Antike und dem modernen Verständnisse bieten sollte. Nie ist vom rein kunsthistorischen Standpunkte aus so absichtlich geschaffen worden, als in dieser »Braut von Messina«: was Goethe in der Vermählung des Faust mit der Helena andeutete, sollte hier durch künstlerische Spekulation verwirklicht werden. Diese Verwirklichung glückte aber entschieden nicht: Stoff und Form wurden gleichmäßig getrübt, so daß weder der mittelalterliche, gewaltsam gedeutete Roman zur Wirkung noch auch die antike Form zur klaren Anschauung kam. Wer möchte aus diesem fruchtlosen Versuche Schillers nicht gründliche Belehrung ziehen? – Verzweifelnd wandte auch Schiller von dieser Form sich wieder ab und suchte in seinem letzten dramatischen Gedichte, »Wilhelm Tell«, durch Wiederaufnahme der dramatischen Romanform wenigstens seine dichterische Frische zu retten, die unter seinem ästhetischen Experimentieren merklich erschlafft war.

Auch Schillers dramatisches Kunstschaffen sehen wir also im Schwanken zwischen Historie und Roman, dem eigentlichen poetischen Lebenselemente unserer Zeit, einerseits und der vollendeten Form des griechischen Dramas andererseits, befangen: mit allen Fasern seiner dichterischen Lebenskraft haftete er an jenem, während sein höherer künstlerischer Gestaltungsdrang ihn nach dieser hintrieb.

Was Schiller besonders charakterisiert, ist, daß in ihm der Drang zur antiken, reinen Kunstform zum Drange nach dem Idealen überhaupt sich gestaltete. Er war so schmerzlich betrübt, diese Form nicht mit dem Inhalte unseres Lebenselementes künstlerisch erfüllen zu können, daß ihm endlich von der Ausbeutung dieses Elementes durch künstlerische Darstellung selbst ekelte. Goethes praktischer Sinn versöhnte sich mit unserem Lebenselemente durch Aufgeben der vollendeten Kunstform und Weiterbildung der einzigen, in der dieses Leben sich verständlich aussprechen konnte. Schiller kehrte nie zum eigentlichen Romane wieder zurück; das Ideal seiner höheren Kunstanschauung, wie es ihm in der antiken Kunstform aufgegangen war, machte er zum Wesen der wahren Kunst selbst: dies Ideal sah er aber nur vom Standpunkte der poetischen Unfähigkeit unseres Lebens aus, und unsere Lebenszustände mit dem menschlichen Leben überhaupt verwechselnd, konnte er sich endlich die Kunst nur als ein vom Leben Getrenntes, die höchste Kunstfülle als ein Gedachtes, nur annäherungsweise aber Erreichbares vorstellen. –

So blieb Schiller zwischen Himmel und Erde in der Luft schweben, und in dieser Schwebe hängt nach ihm unsere ganze dramatische Dichtkunst. Jener Himmel ist in Wahrheit aber nichts anderes als die antike Kunstform und jene Erde der praktische Roman unserer Zeit. Die neueste dramatische Dichtkunst, die als Kunst nur von den zu literarischen Denkmälern gewordenen Versuchen Goethes und Schillers lebt, hat das Schwanken zwischen den bezeichneten entgegengesetzten Richtungen bis zum Taumeln fortgesetzt. Wo sie aus der bloßen literarischen Dramatik sich zur Darstellung des Lebens anließ, ist sie, um szenisch wirkungsvoll und verständlich zu sein, immer in die Plattheit des dramatisierten bürgerlichen Romanes zurückgefallen, oder, wollte sie einen höheren Lebensgehalt aussprechen, so sah sie sich genötigt, das falsche dramatische Federgewand allmählich immer wieder vollständig von sich abzustreifen und als nackter sechs- oder neunbändiger Roman der bloßen Lektüre sich vorzustellen. –

Um unser ganzes kunstliterarisches Schaffen für einen schnellen Überblick zusammenzufassen, reihen wir die aus ihm hervorgehenden Erscheinungen in folgende Ordnung.

Am verständlichsten vermag unser Lebenselement künstlerisch nur der Roman darzustellen. Im Streben nach wirkungsvollerer, unmittelbarerer Darstellung seines Stoffes wird der Roman dramatisiert. Bei erkannter und von jedem Dichter neu erfahrener Unmöglichkeit dieses Beginnens wird der in seiner Vielhandlichkeit störende Stoff zur, erst unwahren, dann vollständig inhaltslosen Unterlage des modernen Bühnenstückes, d. h. des Schauspieles, welches wiederum nur dem modernen Theatervirtuosen zur Unterlage dient, herabgedrückt. Von diesem Schauspiel wendet sich der Dichter, sobald er seines Versinkens in die Kulissenroutine gewahr wird, zur ungestörten Darstellung des Stoffes im Romane zurück; die vergebens von ihm erstrebte vollendete dramatische Form läßt er sich aber als etwas gänzlich Fremdes durch die tatsächliche Aufführung des wirklichen griechischen Dramas vorführen. In der Literatur- Lyrik bekämpft, verspottet – beklagt und beweint er aber endlich den Widerspruch unserer Lebenszustände, der ihm für die Kunst als Widerspruch zwischen Stoff und Form, für das Leben als Widerspruch zwischen Mensch und Natur erscheint.

Merkwürdig ist es, daß die neueste Zeit diesen tiefen, unversöhnbaren Widerspruch kunstgeschichtlich mit einer Augenfälligkeit dargetan hat, daß eine Forterhaltung des Irrtumes in bezug auf ihn jedem nur Halbhellblickenden unmöglich erscheinen muß. Während der Roman überall, und namentlich bei den Franzosen, nach letztem phantastischen Ausmalen der Historie sich auf die nackteste Darstellung des Lebens der Gegenwart warf, dieses Leben bei seiner lasterhaftesten sozialen Grundlage erfaßte und, bei vollendeter Unschönheit als Kunstwerk, das literarische Kunstwerk des Romanes selbst zur revolutionären Waffe gegen diese soziale Grundlage schuf – während der Roman, sage ich, zum Aufruf an die revolutionäre Kraft des Volkes wurde, die diese Lebensgrundlage zerstören soll –, vermochte ein geistvoller Dichter, der als schaffender Künstler nie die Fähigkeit gefunden hatte, irgendwelchen Stoff für das wirkliche Drama zu bewältigen, einen absoluten Fürsten zu dem Befehl an seinen Theaterintendanten, ihm eine wirkliche griechische Tragödie mit antiquarischer Treue aufführen zu lassen, wozu ein berühmter Komponist die nötige Musik anfertigen mußte. Dieses Sophokleische Drama erwies sich unserem Leben gegenüber als eine grobe künstlerische Notlüge: als eine Lüge, welche die künstlerische Not hervorbrachte, um die Unwahrheit unseres ganzen Kunstwesens zu bemänteln; als eine Lüge, welche die wahre Not unserer Zeit unter allerhand künstlerischem Vorwande hinwegzuleugnen suchte. Aber eine bestimmte Wahrheit mußte uns diese Tragödie enthüllen, nämlich die: daß wir kein Drama haben und kein Drama haben können; daß unser Literatur-Drama vom wirklichen Drama gerade so weit entfernt steht als das Klavier vom symphonischen Gesang menschlicher Stimmen; daß wir im modernen Drama nur durch die ausgedachteste Vermittelung literarischer Mechanik zur Hervorbringung von Dichtkunst wie auf dem Klaviere durch komplizierteste Vermittelung der technischen Mechanik zur Hervorbringung von Musik gelangen können – das heißt aber – einer seelenlosen Dichtkunst, einer tonlosen Musik. –

Mit diesem Drama hat allerdings die wahre Musik, das liebende Weib, nichts zu schaffen. Die Kokette kann sich diesem spröden Manne nahen, um ihn in die Netze ihrer Gefallsucht zu verstricken; die Prüde kann sich an den Impotenten anschließen, um sich mit ihm in Gottseligkeit zu ergehen; die Buhlerin läßt sich von ihm bezahlen und verlacht ihn: das wahrhaft liebessehnsüchtige Weib wendet sich aber ungerührt von ihm ab! –

Wollen wir nun näher erforschen, was dieses Drama impotent machte, so haben wir den Stoff genau zu ergründen, von dem es sich ernährte. Dieser Stoff war, wie wir ersahen, der Roman, und auf das Wesen des Romanes müssen wir daher nun bestimmter eingehen.


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