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34

Sivo Courtien hatte den tragischen Tod der Gräfin Oberndorff erfahren und war stark geblieben, an Leib und Seele gesund.

Eines Tages kam ihm ein gräßlicher Gedanke.

Einen Augenblick zuvor, ehe jene mörderische Lawine von den Adlerwänden sich löste, fiel ein Schuß ... Was Courtien dachte, war Wahnsinn! Trotzdem stürzte er zur Wand, wo Gian Vitals Büchse hing, riß sie herab und untersuchte sie –

Die Büchse war mit Gian Vitals letzter Kugel geladen ...

Nächsten Tags sollte an seinem vollendeten Gemälde das Letzte geschehen: es sollte aus seiner hohen Welt herabgeschafft werden in die Tiefe und – der Welt übergeben werden.

Zum letzten Male sahen Sivo und Maira das Bild in der Natur, davon es ein Teil zu sein schien. Da tat Maira eine seltsame Frage: »Weshalb ist die einsame Gestalt, darüber die Nebelflut zusammenschlägt, ein Mann?«

»Weshalb? ... Ich verstehe dich nicht.«

»Könnte es nicht auch eine Frau sein, an der sich dort oben ein Schicksal erfüllt?«

»Aber Maira!«

»Mir kam plötzlich der Gedanke.«

»Wie sollte eine Frau in diese Welt gelangen können?«

»Gelangte doch ich hinauf.«

»Zusammen mit mir!«

»Das ist wahr.«

Sie nahmen von dem Bilde Abschied ...

In der edlen Stadt Zürich wurde Sivo Courtiens Gemälde »Alpentragödie« in einem eigens dafür errichteten Gebäude aufgestellt. Die ganze Schweiz, alle fremden Nationen, die sie sommers über bevölkerten, strömten herbei, das Riesenwerk zu schauen. Der Name Sivo Courtien wurde in einem Atem genannt mit dem ehrfurchtgebietenden Namen Arnold Böcklin. Denn Arnold Böcklin hatte den genialen Schöpfer der »Alpentragödie« entdeckt.

Aus seinem von dem schönsten Baume des Südens umleuchteten Hause, hoch über der Blumenstadt Florenz, kam der große Meister herbei, um das Werk des Jüngeren zu schauen. Das war für Sivo Courtien eine große Stunde! Denn Arnold Böcklin bewunderte sein Bild, das der Kanton ankaufen wollte.

Aber Sivo Courtiens Lebenswerk sollte seiner Heimat verbleiben.

 

Sivo Courtien befand sich in Zürich, und bewohnte mit der Familie Gian Vital und dem jungen Servaz das Haus am Crap da Chüern. Denn dorthin gehörte sie fortan. Fern von dem Freunde erlebte sie mit ihm dessen Erfolg, der ein Sieg war: der Triumph einer bis dahin ungekannten Kunst der Malerei – einer neuen Kunst. Und diese war zugleich eine große Kunst. Da erhielt sie aus Zürich von Sivo Courtien einen Brief, dessen Inhalt sie im voraus wußte. Sie ließ das Schreiben uneröffnet und begab sich damit hinaus. Am Cavalocciosee, über dessen regungsloser schwarzer Flut die Sonnenlichter des scheidenden Tages wie niedergesunkene Gestirne hintanzten, las sie den Brief.

Sivo Courtien begehrte Maira à Mara zum Weibe ...

Wenige Tage darauf traf an sie ein anderes Schreiben ein. Es kam aus Mailand, die Adresse von zarter, fast weiblich zierlicher Handschrift.

Maira kannte die Schrift und wußte den Inhalt auch dieses Briefes, den sie ungelesen in die reinigende Flamme des Herdfeuers warf.

Jetzt war's für sie Zeit.

 

Noch am Abend des nämlichen Tages sagte sie zu Gian Vital: »Morgen früh will ich hinauf.«

»Ins Gletscherhaus?«

»Ich habe oben zu tun.«

»Es ist spät im Jahr. Wir bekommen Nebel und Sturm.«

»Ich nehme den Servaz mit.«

»Wann kommst du wieder?«

»Einen Tag möchte ich oben bleiben.«

»Wenn du den Servaz mitnimmst, bin ich ruhig.«

»Du kannst ganz ruhig sein.«

»Grüße von mir meine Büchse. Es waren doch schöne Zeiten.«

»Das waren sie ... Ich will dir den Edelweißkranz mitbringen. Er hängt noch immer um deine alte Waffe.«

»Der ist längst verwelkt.«

»Das tut nichts.«

In der Nacht stand sie auf. Sie stieg hinab zum See und badete ihren jungfräulichen Leib in der kristallklaren Flut, kleidete sich sorgfältig an und legte sich Sivo Courtiens Werbebrief auf ihr auch jetzt ruhig schlagendes Herz. Sie weckte im Hause niemand – auch nicht den jungen Servaz. Noch herrschte geheimnisvolles Dunkel. Über dem See lagerte eine dichte Nebelschicht. Nebel umhüllten die Gipfel; Nebel Himmel und Erde.

Es war wie eine Nebellandschaft Sivo Courtiens ...

Maira schlug den gewohnten Weg ein: vom Crap da Chüern die Landstraße längs des Seeufers hin, auf der sie der Gräfin Oberndorff zum ersten Male begegnet war; vorüber am Grand Hotel, das wegen Bankerotts seines gräflichen Gründers geschlossen war; vorüber an den Hütten von Cresta der Kirche und dem Friedhofe zu.

Sie hielt sich nicht auf.

Wenn Gran Vital entdeckte, daß sie ohne den jungen Servaz gegangen war, bei dem dichten Herbstnebel, würde er ihr den Buben nachsenden, um sie zurückzuholen. Oder –

Oder wußte Gian Vital vielleicht, weshalb sie gegangen war – weshalb sie gehen mußte! Bei dem Nebel mutterseelenallein ...

Weiter ging Maira.

Zur wilden Orlenga kam sie, die der Tochter Malojas den letzten Heimatsgruß rauschte.

Sie ging weiter und weiter.

Wind erhob sich. Er fuhr durch das Nebelmeer, machte es wallen und wogen, trieb es hin und her, auf und ab.

Es war Sivo Courtiens wallende, wogende Nebelflut!

Plötzlich sah es Maira auf sich zuziehen: ein seltsam fahler, leichenhafter Dunststreif in Gestalt einer Frau.

Vom Monte della Disgrazia her kam es so gespenstisch gezogen!

War es das Gletscherweib, das Unheilsweib? ... Vor diesem hatte Maira Ruhe; denn Ruhe hatte die Frau, welche die Lawine begrub.

Die Totenfrau war's! Die Totenfrau von Maloja! Aus dem Murettotal kam sie Maira entgegengeschwebt, um die ewige Braut zu ihrem ewigen Bräutigam zu führen.

Ohne Kranz war die Braut ... Um den Kranz sich zu holen, war sie mitten in der Nacht ausgegangen. Es würde eine Totenkrone sein.

Denn schon schlug die Nebelflut, gepeitscht von dem aufbrausenden Sturm, über die einsame Gestalt in wilder Woge zusammen.


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