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21.
Der Obrist Ade.


Weld hatte es für zweckdienlich erkannt, sich Neuwardt wieder anzuschließen. Neuwardt hatte ihn wieder in seinem Hause aufgenommen, nicht sowohl aus Rücksicht auf seine politische Gesinnung, denn hierin fühlte der einmal getäuschte Mann zu dem, welchen er früher seinen Freund genannt, kein volles Vertrauen mehr, sondern in Hinsicht auf die Neigung seiner Tochter. Aber auch dieses Band sollte reißen. Nicht durch Robert, der zu zartfühlend dachte, um sich hierbei zu betheiligen, aber wohl durch Gabriel erfuhr die Tochter Neuwardt's die Täuschung, die ihr der Unwürdige bereitete. Jetzt ward Weld, nach einer heftigen Scene mit dem Vater, völlig und auf immer verbannt. Die Ungückliche, die ihm vertraut hatte, erlag fast dem harten Kampfe, der für sie in diesem Treubruche lag, sie wünschte die Stadt zu [319] verlassen, und der sorgsame und bekümmerte Vater brachte sie auf's Land, wo er selbst, obgleich die politischen Zustände in der Stadt ihn mächtig dahin zogen, einige Wochen bei ihr weilte. Robert sah sie in dieser Zeit nicht, durch Gabriel jedoch, der von Zeit zu Zeit einen Ausflug auf das Landgut machte, erhielt er umständlich Nachrichten.

Wir kehren zu unserm alten Obrist Ade zurück.

Es war eine merkwürdige Veränderung mit ihm vorgegangen.

Und dies erst seit einer Woche, oder etwas darüber. Ganz genau wußte Fräulein Rosa Scholz es nicht anzugeben. Sie war darüber mit ihrer ersten Ladenmamsell im Streit. War es am Dienstag vor acht Tagen, war es erst am darauf folgenden Freitag gewesen, als der Obrist nach Hause gekommen, ungefähr in der dritten Stunde nach Mittag, ohne Mütze, mit einem ostindischen seidenen Taschentuch den Kopf umhüllt, und was das Merkwürdigste war, ohne die Sirene, sondern statt ihrer einen alten Gradmesser in der Hand, den er eben so schwang und mit ihm Zeichen in die Luft machte, als wenn es die Sirene wäre. Die Putzmacherin behauptete gegen ihre erste Ladenmamsell, und Fräulein Angelica stand ihr bei, daß diese merkwürdige Erscheinung des [320] Obristen zu drei Uhr Nachmittag mit dem Gradmesser und dem ostindischen Taschentuche am Dienstag stattgefunden habe, denn sie wisse sich sehr genau zu besinnen, daß sie gerade damals die Rechnung der Justizräthin für ein Basthütchen, mit Rosa Crepp und einem Stiefmütterchenstrauß besetzt, habe schreiben wollen, statt dessen aber, wunderlicher Weise, in unbegreiflicher Zerstreutheit einen Brief an Herrn Sigribi angefangen habe. Es könne also nur am Dienstag gewesen sein, denn Freitags schreibe sie nie Rechnungen. Fräulein Angelica bemerkte, dies sei ein so auffallendes Beispiel von Gedächtnißtreue und sicherem Blick in die verworrensten Verhältnisse und Lagen, daß sie nicht genug die theure Prinzipalin um dieser Eigenschaften willen bewundern könne. Die Prinzipalin warf ihr wegen dieses Geständnisses einen dankbaren Blick zu, und Beide bekämpften nun als eng Verbündete die Ladenmamsell, die hartnäckig bei ihrer Behauptung blieb, daß es ein Freitag gewesen sei, als man den Obrist in dem oben beschriebenen Zustande heim hatte kommen sehen. Denn sie wisse ihrerseits auch ganz wohl die einzelnen Tage der Woche zu unterscheiden, und schon als ganz kleines albernes Ding von drei Jahren – die boshafte Angelica zischelte hier der Prinzipalin in's Ohr, daß, was [321] die eben genannte Charaktereigenschaft beträfe, die Jahre keinen Unterschied gemacht hätten – sie schon den Dienstag vom Freitag zu unterscheiden gewußt. Sie fügte hinzu, daß am Freitag gewöhnlich in ihrer Eltern Hause ein alter gichtischer Graf aus der Nachbarschaft Zuckerwerk den Kindern gebracht hätte. Ueber dieses Schönthun mit aristokratischen Erinnerungen höhnte das ganze Atelier, und die Ladenmamsell, die hierin die zartesten Saiten ihres Gemüthslebens angetastet sah, entfernte sich beleidigt hinter den Ladentisch, wo sie sich auf ihren Stuhl niederließ und in ein hartnäckiges Schweigen verfiel, aus dem sie selbst nicht zu erwecken war, als der Briefträger eintrat und zuerst mit seinen Briefen an sie sich wandte. Das ganze Atelier stürzte sich auf die angekommenen Briefe, und jede der Damen wollte die Ueberbringerin eines gewissen rosarothen Couverts sein, in welchem ein citronengelbes Schreiben von der Hand des Zugführers der Bürgerwehr sich befand. Fräulein Rosa nahm dieses farbige Liebeszeichen mit jungfräulicher Würde entgegen, entfaltete es und las es, ohne eine Miene zu verziehen, während das Atelier in gespanntester Aufmerksamkeit lauschte.

Als dieser große Moment vorüber war, wurden auch die anderen Briefe geöffnet. Es waren einige [322] unartige darunter, die sich über zu theure Preise oder leichtfertige Arbeit beklagten. Fräulein Scholz dachte und fühlte in diesem Augenblicke zu groß, um über so kleinliche Vorwürfe und Mäkeleien irgend ein Wort zu verlieren. Die tadelnden Briefe wurden stillschweigend einem großen Papierkorb anvertraut, wo neben Mustern, die aus der Mode gekommen waren, neben Papierschnitzeln aller Art auch ein altes Florhäubchen lag, das vor langer, langer Zeit einmal schön gewesen war, und damals »zum Entzücken reizend,« die volle Wange der Prinzipalin umschlossen hatte.

»Haben Sie keinen Brief an den Obrist?« hatte die Putzmacherin den Briefträger gefragt, und als er dies bejaht, hatte sie sich die Schreiben zeigen lassen. Es waren zwei kleine niedliche Briefe von unbekannter Hand, offenbar weiblichen Geschlechts, und ein großer, breiter, ungeschlachter Brief männlichen Geschlechts. Wie gerne hätte die Prinzipalin alle drei erbrochen, und sich so mit einem Schlage in Besitz der Geheimnisse ihres Miethers gesetzt, allein sie wagte es nicht, und gab seufzend die Briefe zurück.

Kaum waren die Schreiben oben abgegeben, als man auch schon den wohlbekannten Tritt des Obristen [323] auf der kleinen baufälligen Treppe hörte. Das Atelier ward unruhig und warf sich Blicke zu. Fräulein Scholz begab sich sofort mit gemessenem Schritt zur Glasthüre, öffnete sie jedoch nicht, denn sie fühlte – durch ein gewisses Etwas belehrt – daß sie jetzt mehr wie je gegen den Obrist auf ihrer Huth sein müsse – sondern blickte hinter dem kleinen grünen Vorhang hervor. Sie sah den »Sonderling« mit Catharinen auf dem Flur einige Worte wechseln und sich dann schnell entfernen. Es war ihr dabei nicht entgangen, daß die Sirene, die sich wieder nach ihrer unbegreiflichen Flucht ganz wohl in der Hand ihres Gebieters befand – einen Wink nach der Glasthür zu machte, und Catharine hatte offenbar diesen Wink verstanden, schüttelte das Haupt, zwinkerte mit den Augen und geberdete sich wie Eine, die da sagte: »Durch keine Tortur und keine Marter soll man mir auch nur eine Silbe erpressen.« Wie verächtlich fand Fräulein Scholz dieses Geschöpf, das sich unterstand, für so wenig Lohn ihrem Herrn so treu zu sein, und allen Bestechungen, die der Putzladen in Anwendung brachte, zu widerstehen.

Bald, nachdem der Obrist verschwunden, erschien der Bauer Adam, und jetzt öffnete sich die Glasthür, und die Putzmacherin erschien auf der Schwelle ihres [324] Besitzthums mit demselben anmuthigen, gewinnenden Lächeln, das der Bauer schon kannte, und auf das er so wenig achtete. Er hatte sich auf der Bank in dem Flur hingesetzt, mit der Bitte, man möchte ihm gestatten, hier zu warten, bis der Obrist käme.

»Ich weiß nicht, mein Freund,« hob die Putzmacherin an, »ob der Obrist heute zur gewöhnlichen Stunde heimkommen wird.«

»Wird schon kommen, Madamken.«

»Wißt Ihr das so gewiß? Ihr habt doch nicht gehört, daß dem Obrist etwas Besonderes zugestoßen ist?« Der Bauer wurde aufmerksam und lauschte. »Ich meine nur so,« setzte sie hinzu, »wenn Ihr nichts wißt, so ist's auch nichts, denn Ihr seid doch sein Vertrauter.«

Adam Braun lächelte geschmeichelt, und Fräulein Rosa Scholz faßte sogleich Hoffnung, daß sie hier Etwas erfahren werde. Allein sie erfuhr nichts. Entweder wußte der Bauer in Wahrheit nichts von dem, was dem Obrist seit dem denkwürdigen Dienstag oder Freitag widerfahren war, oder – und dies war wahrscheinlicher – er wollte nichts sagen.

Die Glasthür schloß sich wieder. So wie sie zu war, erschien der Obrist und schlüpfte sogleich rasch über den Flur, und zog den Bauer mit sich fort. [325] Es geschah dies so leicht, daß im Atelier nichts gehört wurde. Oben rieb sich der Obrist vergnügt die Hände und rief: »Wieder einmal den Posten betrogen!«

»Er wollte schon Feuer geben, Herr Obrist!« sagte Braun.

»Ich hörte es hinter der Thür, Alter!« entgegnete der Obrist. »Ein verdammt attenter Posten das! bei Sturm und Regen immer auf dem Platz. Was hat sie Dich gefragt?«

»Ich sollte sagen, was mit dem Herrn Obrist seit dem Dienstag im Werke sei?«

»Also hat sie was gemerkt?« murmelte der Fragende. »Ja, ich konnt's nicht verbergen, Adam! Es platzte und hagelte mir zu sehr auf's alte morsche Dach. Ich lief fort, – Morgens in der Frühe, als mir Gerhard den Brief gebracht – ganz in der Frühe – der Thau lag noch auf dem Grase – und da warf ich mich, ich alter Mann – in die Einsamkeit am Fluß hin, und lag im hohen Grase, und ließ die Wolken über mir dahinziehen, und hörte den Fluß rauschen, und immer wieder rief ich laut: Er lebt – er lebt! Ich habe einen Sohn!«

Adam Braun wischte sich mit dem Rockärmel eine Thräne aus dem Auge.

[326] »Wie lange ich da im Grase gelegen, und wie wahnsinnig den Namen: »Paul! Paul!« gerufen? ich weiß es nicht. Es war mir, als setzten sich oben die Wolken zu seinem Bilde zusammen, und wie das Bild fertig war, und ihm bis auf den kleinsten Zug glich – nämlich so wie er damals aussah, als ich ihn zum letztenmal auf der Brücke an der Hand hielt – da gaben mir die Wolken das liebe Bild und riefen: Da nimm, er ist nicht im Himmel bei uns, er ist auf Erden bei Dir! Und plötzlich stand auch die Mutter da – die Mutter, Adam! die Mutter. Und ich hatte sie nun Alle beisammen, und lag im Grase und streckte die Arme aus, und zog sie Alle – Alle – an mein Herz! In diesem Augenblicke stand ich mich auch wieder gut mit meinem Könige, und nannte ihn nicht mehr ›meinen gnädigen Herrn,‹ sondern wie früher, ›meinen geliebten König.‹ Der ganze wilde Spuk der bösen Tage war mit einem Streiche dahin. Die Welt war wieder so schön, und ich durfte wieder in ihr leben und glücklich sein. Wie gesagt, ich weiß nicht, wie lange ich so geträumt, nur das fühlte ich – wie ich fortging, daß mir mein alter Schädel heiß wurd' im Stich der Sonne, und ich suchte meine Mütze, fand sie nicht, und band mir mein Taschentuch um [327] den Kopf – so kam ich hier an. Mit Erstaunen vernahm ich von Katharinen, daß ich stundenlang fortgewesen, daß ich nicht zu Mittag gegessen, daß ich wie ein Trunkenbold Mütze und Stock verloren. Ei, wie soll man nicht trunken werden, wenn Einem das Glück einen solchen Becher starken Weins vorsetzt! Adam, Adam! Du kannst mein Glück nicht ermessen, denn Du hast nie einen Sohn verloren.«

»Gott, der Herr, sei gelobt! Nein!« rief der Bauer, und faltete die Hände.

Als der Obrist hier im Taumel seiner Empfindung schwieg, hob sein alter Gefährte zu fragen an: »Aber wie, Herr Obrist, wie erfuhren Sie dies Alles? ich meine diese Nachrichten vom Herrn Sohn?«

»Das ist eine etwas lange Geschichte, Adam,« erwiderte der Gefragte; »ich will mich aber kurz fassen. Als ich noch ein junger Offizier war, schloß ich eine herzliche Freundschaft mit einem Cameraden in unserm Regiment, er hieß Herr von Händel. Aus dieser Freundschaft wurde später die erbittertste Feindschaft. Händel freiete nach einem Mädchen, und dieses Mädchen zog mich vor. Wahrlich, ich konnte dafür nicht die Schuld tragen. Aber Jener bürdete mir gleichwohl Verrath und Treubruch, und ich weiß nicht was alles für Schändlichkeit auf. Er schied aus [328] unserm Regiment, und sein Abschiedsbrief an mich enthielt einen Schwur der Rache. Der Krieg brach aus; ich hörte und sah lange nichts von Händel; er befand sich unter den Truppen, die Napoleon's Fahnen folgen mußten. Wir Preußen standen gegen den Empörer auf und züchtigten ihn. Es mußte geschehen, daß ich da dem Händel in einem der Gefechte Mann gegen Mann feindlich entgegentrat. Er erkannte mich, stürzte auf mich zu, und bot mir einen Kampf auf Leben und Tod an. Ich weigerte mich, indem ich ihm bemerklich machte, daß mein Leben dem Vaterlande gehöre, daß ich in diesem Moment nicht darüber verfügen dürfe. Er schalt mich einen Feigen. Jetzt führten unsere Pistolen die Sprache weiter. Er schoß auf mich, fehlte, und ich – schoß in die Luft. Wir wurden getrennt, er schied, feindlicher als jemals mir gesinnt. Der Friede kam. Der Unwürdige hatte mich nicht aus den Augen verloren. Ich weiß nicht, hat er es veranlaßt, oder hat er es selbst vollführt, genug, durch ihn verlor ich meinen Knaben. Er raubte ihn und brachte ihn nach Frankreich. Dort ist mein Kind aufgewachsen – bei wem und wie, das weiß ich nicht. Genug, Händel hat sein Bubenstück bereut, ist während einer schweren Krankheit, wo ihn selbst Unglück und Leid aller Art [329] getroffen, während welcher er seinen eigenen einzigen Sohn verloren, in sich gegangen, und die Frucht dieser Bekehrung war nun, daß er jenem Freunde in Paris schrieb, wer der Vater des Knaben sei, und zugleich ihn bat, den Sohn dem Vater auszuliefern. Der Brief, da Händel unterdeß gestorben ist, kam hierher an einen gewissen Herrn Neuwardt, und dieser hat durch einen Handwerksmann Gerhard seines Auftrags sich entledigt.«

»Und der junge Herr?« fragte der Bauer. »Wo ist der?«

»Er soll in diesen Tagen eintreffen,« entgegnete der Obrist mit bebender Stimme. »Vielleicht befindet er sich schon in Berlin, vielleicht gar schon in meiner Nähe. Aber schon ist ein Tropfen Wermuth in meinen Freudenbecher gefallen. Der Lieutenant von Hohenheim, der ihm entgegengereist ist, schreibt mir, daß ich mich darauf gefaßt machen solle, ihn körperlich nicht ganz wohlbestellt zu finden. Er soll ein Gebrechen haben. Nun denn – mag er ein Krüppel sein, er ist doch immer mein Sohn. Die Vaterarme sind für ihn offen.«

Diese letzten Worte wurden von Jemand vernommen, der sich in diesem Augenblicke der Thür [330] genähert und diese halb geöffnet hatte. Es war Hohenheim.

Der Obrist begrüßte den Eintretenden mit einer überraschten und bestürzten Miene. »Nun?« rief er, – »Sie bringen ihn nicht mit?«

Der junge Mann war in sichtbarer Verlegenheit.

»Ihr Sohn ist bei seiner Schwester,« sagte Hohenheim. »Sie werden Beide zusammen kommen. Ich wünschte erst ein paar Worte mit Ihnen allein zu sprechen.«

»Mit mir allein? Was giebt's? Mein Himmel! Ihre Miene deutet auf Unglück.«

»O nicht doch, mein theurer Obrist, nicht doch!«

»So sprechen Sie. Mein alter Freund und Camerad Braun kann Alles hören. Er stand im Colbergschen Regiment mit mir, und war zu seiner Zeit ein braver Soldat. Ein braver Mann ist er auch jetzt. Also reden Sie.«

Hohenheim stockte dennoch. Er dachte an Louisen, und dieser Gedanke gab ihm Muth. Louise hatte ihn zum Vertrauten gemacht, sie hatte ihm den Bruder zugeführt, und mit ihm berathen, wie der Wiedergefundene mit dem Vater vereinigt werden solle. Hohenheim fühlte durch dieses Vertrauen, das die Geliebte ihm zeigte, sich hoch geehrt, zugleich aber [331] erkannte er die Schwierigkeit der Aufgabe. Wie sollte dieser Vater und dieser Sohn sich zusammenfinden, ohne daß ein unheilvoller Conflict sich offenbare. Robert, oder wie sein eigentlicher Taufname: Paul konnte und wollte dem Vater nicht verheimlichen, bei welcher Gelegenheit er seine Verwundung erhalten; wenn der junge Mann auch über den eigentlichen Charakter dieses unglückseligen Kampfes jetzt anders dachte, als wie er anfangs, als er sich in diesen Kampf begeben, gedacht, so war er doch weit davon entfernt, seine Theilnahme an demselben zu verleugnen. Er hätte dann auch die Grundsätze verleugnen müssen, in denen er aufgewachsen, das System der Menschenrechte und der Völkerbeglückung, welches ihm als höchstes Ideal seiner Wirksamkeit vorgehalten worden, und hierzu hätte ihn keine Macht der Erde, selbst nicht das Wort eines geliebten, verlorenen und wiedergefundenen Vaters vermocht. So fest nisteten diese glühenden Schwärmereien in dem Kopfe und Herzen dieses Jünglings. Es kam also darauf an, den Vater zur Duldung zu bewegen, und Louise hatte mit Hohenheim über die Mittel nachgedacht, wie man diese Duldung in dem Herzen des Greises hervorrufen könne. Hohenheim hatte endlich den Vorschlag ge [332]macht, daß er eine Reise fingiren, daß er dem Obrist schreiben und ihn vorbereiten wolle, den sehnlichst Erwarteten nicht ganz so zu finden, als er es sich in seinen beseligenden Träumen vielleicht vorstelle. Der Obrist war auch in diese Richtung eingegangen, und wie wir eben gehört haben, hatte er seinen schönen Hoffnungen selbst einen düstern Schleier umgehängt. Allein er bezog das Mißfällige, was er bei dem Sohne entdecken sollte, auf die Körperbildung desselben, es war demnach des jungen Freundes Aufgabe, ihn von dieser Vorstellung abzubringen, und den eigentlichen Gegenstand der Besorgnisse in's Auge zu fassen.

»Ich werde meine Nachrichten,« hob der Befangene an, »in etwas modificiren müssen. Was ich Ihnen von Paul's Aeußerem meldete, sollte nicht andeuten, daß er körperlich verwahrlos't sei.« –

»Nicht,« fragte der Greis mit einem dankbaren Lächeln – »also kein Krüppel? Ich dachte es mir wohl. Es muß ein schlanker, hübscher Bursche sein! braun von Augen und Haar. Das Haar fast in's Schwärzliche übergehend? Weißt Du noch, Adam, so wie ich es hatte.« –

»Ja, Herr Obrist – ick meene grade so muß es ok unser Sohn hebben.«

[333] »Grade so – grade so – also, Herr Lieutenant, woran gebricht's denn?«

»Er ist verwundet und trägt den Arm in der Binde.«

»Also ein Duell? Der gottlose Junge! Aber ich will den heißblütigen Knaben sehen, der eines alten Haudegens Sohn, und selbst ein Junge von Ehre, heutzutage nicht zu einem Duell kommt, wie der Knabe zum Butterbrod?«

»Auch hat er eine Wunde über der Stirne.«

»Meinethalben – ich hab' eine auf der Wange.«

»Herr Obrist hebben ok eenen Stich in die Brust,« – setzte Braun hinzu. »Det war in der Schlacht von Belle-Allianze.«

»Recht, und als Pflaster legte mir mein König das eiserne Kreuz darauf.«

»Ja, det war so.«

»Nun weiter, Herr Lieutenant.«

Hohenheim stockte wieder und richtete einen verlegenen Blick auf die Sirene, die gleichsam von stürmischer Leidenschaft getrieben, und als wüßte sie nicht anders wo sich hinzuretten, in dem Augenbrauenbusch über dem linken Auge sich vergrub. Der Obrist wurde ungeduldig. Alle Zeichen sprachen es aus.

»Dann – dann,« setzte der Gepeinigte hinzu – [334] »ist auch noch seine politische Gesinnung zu betrachten, in Folge deren er diese Wunden erhalten hat.«

»Das ist's ja, was ich sage. Er hat sich mit einem unserer modernen Volksschmeichler und Volksaffen geschlagen!« triumphirte der Obrist.

»Seine politische Gesinnung ist nicht auf Ihrer Seite,« – bemerkte der Sprecher. »Sie ist im Gegentheil auf Seite unserer Gegner.«

Die Sirene machte einen rasenden Sprung aus dem Augenbrauenbusch hervor, an Adams Nase vorbei, der sich vorgebeugt hatte, um kein Wort aus des Lieutenants Munde entschlüpfen zu lassen, bis zur schwarzen Atlashalsbinde des jungen Mannes, und mit gepreßter Stimme rief der Obrist: »Halt! das ist nicht gut möglich! Sie irren sich. Mein Sohn!« –

»Bedenken Sie,« setzte Hohenheim gemäßigt hinzu, »wo und in welcher Umgebung er aufgewachsen ist? Bei den Lehrern der trügerischen neuen französischen Socialphilosophie, einer der Hauptquellen unserer modernen Uebel! – Bedenken Sie ferner, welche Muster er vor Augen gehabt, welche Unterweisungen er vernommen!« –

Der Obrist versank in Nachdenken. Wie vor sich hinträumend sprach er die Worte: »Also bis dahin [335] verfolgt mich deine Rache, du böser Feind! – Mit Absicht gabst du den Sohn – die Gesinnungen des Vaters kennend – in eine solche Schule – Himmel! wie ränkevoll!«

»Wenn wir demnach gerecht sein wollen« –

»Und wir wollen es sein,« seufzte der Greis. »Wir wollen es sein!«

»So« –

»So nehmen wir den Irregeleiteten freudig bei uns auf,« ergänzte der Vater. »Es ist eine grausame Prüfung für mich, daß gerade er – doch ich werde dieser Prüfung nicht erliegen. Seine Irrthümer gehören einem fremden Boden an – hat er sich doch nicht auf dem Vaterlandsboden vergangen! Da ist Duldung möglich!«

Hohenheim fühlte sein Blut erstarren, als er diese Worte hörte, mit jener eisernen Energie gesprochen, die er bereits beim Greise zu beobachten Gelegenheit gefunden. In diesen leise hingesprochenen Worten lag ein furchtbarer Urteilsspruch, der unerbittlich alle Hoffnungen der drei Verbündeten niederzuschmettern drohte.

Er wagte nichts weiter hinzuzusetzen, als nur die Bitte, zu bestimmen, wann er den Sohn bei sich aufnehmen – ihn liebevoll in seine Arme schlie [336]ßen wolle. Der morgende Tag wurde zu diesem Vereinigungsfeste bestimmt, und zwar wollte der Greis auf einer Bank in dem Schloßgarten zu einer bezeichneten Stunde auf die vier lieben Gäste warten. Denn daß Hohenheim und Louise mitkommen sollten, und auch Adam nicht fehlen durfte, das machte er geradezu zur Bedingung.


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