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Auf dem Lande

 

I

»Mein teurer Freund und Bruder,« schrieb Ustinjka, »im Namen aller Heiligen bitte ich dich: Verlaß Petersburg, das deiner Gesundheit so schädlich ist, und komm zu uns nach Sakup. Auch Grigorij bittet dich inständig darum. Die Kinder können sich gar nicht mehr fassen vor Ungeduld. Du wirst dich mit ihnen nicht langweilen. Man sagt, Mitja erinnere sehr an dich, weniger seinen Fähigkeiten als seiner Gemütsart nach. In Sakup wartet auf dich dein geliebter Hain, wo die Nachtigallen bereits eingetroffen sind. Teurer Bruder, laß nicht auf dich warten, komm und wohne bei uns, aber nicht bloß einen Tag oder einen Monat; ich weiß ja, wie schnell du alles satt hast. Wie geht es Mischa?«

So ganz harmlos war die Sache nicht. Ein wenig List steckte dahinter. Tante Breitkopf hatte lange überlegt, was man mit Wilhelm anfangen solle, der einen ganzen Monat lang überhaupt nirgendwo ankommen konnte. Sie hatte ihn nicht einmal ausgefragt, hatte ihr doch la charmante princesse Galitzine im Vertrauen bereits all die Gerüchte mitgeteilt, die über ihn umliefen … Unmöglich! Wilhelm sollte ein gefährlicher Mensch geworden sein?! Die Auslandsreise, die unseligen Vorlesungen, die waren sein Verderben. Auch der Kaukasus war nicht gut für ihn gewesen. Da hatte der tolle Willi jemand geschlagen und sich duelliert. Die Tante mochte gar nichts mehr von all dem hören. Jetzt wollte natürlich kein Mensch mehr Willi empfangen, und seine Karriere, die so schön begonnen hatte, war verpfuscht. Sie vermutete auch den schlechten Einfluß irgendeiner verderblichen Leidenschaft; sicher steckte eine Frau dahinter. Sie schrieb an Ustinjka, die gottlob friedlich mit ihrem Glinka auf ihrer Besitzung im Gouvernement Smolensk lebte: Sie müsse Wilhelm zu sich kommen lassen; sie, die Tante, könne sonst für nichts mehr einstehn. Der arme Junge habe nicht einmal Taschengeld.

So kam es, daß sich Wilhelm plötzlich eine Art von Heim bot. Nach drei Tagen war er in Smolensk, am vierten Tag gegen Abend im Dorfe Sakup, Bezirk Duchowschtschino.

Ustinjka führte ein friedliches Leben. Das Gut Sakup war nicht allzu groß, hatte aber herrliche Wiesen, einen Hain, den Wilhelm, wie Ustinjka schrieb, besonders liebte, und tausend Deßjatinen Ackerland, das jedoch nicht viel Ertrag brachte, da der Boden ein Gemisch aus Lehm und Sand war. Auf einer Anhöhe stand das Herrschaftshaus, umgeben von hundertjährigen Birken. Es war alt. Die Holzsäulen der Vorderseite sahen ziemlich mitgenommen aus. Die Zimmer hatten niedrige Decken. Dafür aber waren sie geräumig, im Sommer kühl und im Winter, wenn rote Glut aus den Kaminen leuchtete, schön warm. An den Wänden hingen Bilder der Glinkaschen Ahnen. Einer von ihnen zog Wilhelm besonders an, ein Dicker aus der Zeit Anna Johannownas, mit starkem Kinn, sinnlicher Nase und sehr klugen, aber bösen Augen. Der Mann hatte für ihn etwas Dämonisches. Wilhelm bekam ein nicht sehr großes, aber helles und freundliches Zimmer. Farbige Holzschnitte erzählten Episoden aus der Geschichte von Atala. Auf einem war ein Jüngling dargestellt, wie er die zarte Atala über einen Bach trug, auf einem anderen die sterbende Atala mit großen, etwas schielenden Augen, aus denen übergroße Tränen rollten.

Vom Fenster aus sah man den munteren, allerdings etwas niedrigen Fluß sich dahinschlängeln und das Dorf daliegen mit den kleinen Häuschen inmitten von Gärten, in denen nur Ebereschen wuchsen.

Wilhelm wurde mit allgemeiner Freude empfangen. Grigorij Andrejewitsch Glinka, Ustinjkas Mann, war in vieler Hinsicht ein bemerkenswerter Mensch. Er hatte eine nicht ganz gewöhnliche Laufbahn hinter sich. In seiner Jugend war er ein glänzender Page und später Gardeoffizier gewesen, hatte auf großem Fuß gelebt und sich schnell eine angesehene Stellung in der Gesellschaft errungen. Dann aber, eines schönen Tages war es über ihn gekommen. Er wurde schwermütig, quittierte den Dienst und zog sich zurück. Die Freunde erfuhren mit Staunen, daß der lustige Gardeoffizier nunmehr wie ein Schüler hinter Büchern hockte, und einige Zeit später kam eine sonderbare Neuigkeit: Grigorij Glinka hatte eine Professur für russische Philologie an der Universität Dorpat bekommen, ein Amt, das viel eher irgendeinem Gerichtsschreiber anstand als einem richtigen Edelmann und Gardeoffizier dazu.

Später wurde Grigorij Andrejewitsch zum Erzieher des Großfürsten, zum »Kavalier« ernannt, und dann hatte er sich zur Ruhe gesetzt und lebte der Liebe zu seinem Garten und seinen Blumenanlagen und vor allem zu seiner stillen Frau.

Wilhelm beobachtete er mit Interesse und einiger Verwunderung und hörte ihm aufmerksam zu, wenn er seine literarischen Ansichten vortrug, wahrscheinlich, ohne mit ihnen einverstanden zu sein; doch er ließ sich nicht gern auf einen Streit ein. Die Ruhe ging ihm über alles. Enthusiasmus war stets etwas Lächerliches für ihn. Aber dank der Großzügigkeit, die allen Menschen eigen ist, in deren Leben sich ein entscheidender Umschwung vollzogen hat, liebte er Wilhelm auf seine Art und hatte Freude an seinem Anblick, wie er sich am Anblick der Kinder, der Frau, der Blumen und des Waldes freute.

Von den Kindern war Mitja am glücklichsten über Wilhelms Ankunft: ein schüchterner, verlegener Junge mit strahlenden Augen und dünnem Hals, der seinen Onkel ehrfurchtsvoll bewunderte und ihm auf Schritt und Tritt folgte. Ustinjka ärgerte sich sogar darüber. Sie befürchtete, er könnte Wilhelm lästig fallen. Der aber las stundenlang dem neunjährigen Mitja Märchen aus »Tausendundeine Nacht« vor, die er selbst über alles liebte, und fertigte für ihn prächtige Flitzbogen an.

Noch jemand war über seine Ankunft fast genau so glücklich wie Mitja: Während des Wanderlebens Wilhelms in Europa und im Kaukasus hatte Semjon bei Ustinjka Unterkunft gefunden. Er war noch immer derselbe lustige und sorglose Bursche, obwohl er das Dasein unter dem Dorfgesinde reichlich satt zu haben schien. Gleich am ersten Tage suchte er Wilhelm auf und bat flehentlich, ihn bei der Abreise mitzunehmen.

Die Glinkas hatten ziemlich zahlreiches Gesinde. Durch Gestalt und Bedeutung stach die Schließerin Agrafena hervor. Für Wilhelm war sie ein Greuel.

Aus der Mädchenstube ertönte manchmal Gesang. »Ihr da!« hörte man dann ihre scheltende Stimme, und der Gesang brach jäh ab; nur das Summen des Spinnrads hörte man noch.

Wilhelm fragte einmal Ustinjka ärgerlich:

»Warum läßt sie denn die armen Mädchen nicht singen?«

Ustinjka machte große Augen:

»Aber Wilhelm! Beim Gesang vergessen sie die Arbeit. Außerdem sind sie gar nicht arm!«

Wilhelm schwieg und sprach nie mehr davon.

Er hielt sich an eine feststehende Tageseinteilung: Morgens Reiten, dann Arbeit, nach dem Mittagessen Lesen und abends Spiele mit Mitja und Spaziergänge in der Umgebung.

Er war ein ausgezeichneter Reiter, doch die Wege waren eben und flach und ließen völlig die gefährliche kaukasische Romantik vermissen. Bald aber entdeckte Wilhelm auch hier eine Romantik besonderer Art: der hauchfeine Morgennebel (er ritt früh, gegen sieben Uhr aus), das feuchte Birkenlaub, an dem noch der Tau hing, die am friedlichen Himmel erstarrten Wolken, das alles hatte, schien es ihm, einen besonderen Reiz.

Manchmal begegnete ihm ein altes Weib mit einem Topf Milch oder ein Mädchen mit einem Korb. Sie grüßten demütig, machten hastige und tiefe Verbeugungen, als ob man ihnen einen Peitschenhieb in den Nacken gebe. Wenn er höflich den Hut hob, schüchterte er die alten Weiber und die Mädchen noch mehr ein. Die Nachbarn besuchte er nicht. Einmal hatte ihm Ustinjka vorgeschlagen, zu Bekannten zu fahren, die zehn Werst weiter wohnten; es gehe da sehr lustig zu; junge Mädchen seien im Haus, und man werde sich über seinen Besuch herzlich freuen. Aber auf Wilhelms Gesicht malte sich bei diesem Vorschlag solcher Schreck und Abscheu, daß Ustinjka ihn weiter als Einsiedler leben ließ.

Er las und schrieb viel. Eifrig arbeitete er an seiner Tragödie. Er verbesserte, strich aus, verbesserte wieder. Die Tragödie mußte einen Umschwung des russischen Theaters bringen, wenn … ja wenn sie veröffentlicht würde. Daran aber zweifelte Wilhelm. Der Held seiner Tragödie war Timoleon, rauher Republikaner, Mörder seines eigenen Bruders, des Tyrannen.

Neben den schwachen, doch großmütigen Tyrannen stellte er den einfachen Timoleon. Als Wilhelm diesen Führer des Aufstandes, den sittenstrengen, weisen, auch vor einem Mord nicht zurückschreckenden Republikaner zeichnete, dachte er an Turgenjews harten Blick. Bei Timoleon, um dessentwillen Wilhelm Plutarch und Diodor studierte, erlebte Wilhelm dasselbe, was er einst bei Turgenjew und Rylejew beobachtet hatte. Er bewunderte selber seinen Helden. Er sah ihn so deutlich vor sich, daß er sich wahrhaft danach sehnte, Timoleon möchte doch wirklich leben! Und er trug dem kleinen Mitja, der unbeweglich wie eine Bildsäule dasaß, Timoleons Monologe vor:

Verderblich ist verfrühtes Handeln.
O Jünglinge, wenn ihr aufrichtig wünscht,
Daß Wohlfahrt, Freiheit und Gesetz
In eurem Vaterlande Einzug halten,
Dann laßt die reifen Männer walten,
Dann laßt sie euch die hehre Stunde sagen,
Die für den heil'gen Aufstand hat geschlagen.

Die antiken Helden liebte Wilhelm fast genau so wie Puschkin und Gribojedow. Stockenden Atems las er, im Innersten aufgewühlt, die Briefe, in denen Brutus nach seinem Entschluß, gegen Oktavian vorzugehn, dem Cicero Kleinmut vorwarf. Nach solcher Lektüre schwang er sich aufs Pferd und sprengte wie ein Wahnsinniger davon. Kaum konnte er das Weinen unterdrücken; sechsundzwanzig Jahre war er alt, und was hatte er für das Vaterland getan? Das Leben in Sakup bei dieser gütigen Familie begann ihm schwer zu fallen. Sklaverei, die wahre, den Menschen erniedrigende Sklaverei umgab ihn. Die gute Schwester, ihr gelehrter Mann, sie waren prächtige Menschen. Ohne sie wäre er völlig einsam gewesen. Sie machten dem Gesinde das Leben nicht zu schwer und überbürdeten die Bauern nicht mit Abgaben und Fronarbeit. Doch einmal sah er, wie der Kutscher einen alten Knecht in den Pferdestall brachte. Das Vergehen des Alten war groß: Er hatte sich einen Rausch angetrunken und den Herrschaften, denen er begegnete, Grobheiten gesagt. Er ging mit gesenktem Kopf und finsterem Gesicht, ohne nach rechts oder links zu blicken. Der Kutscher, ein wohlgenährter Bauer mit sorgfältig gezogenem Scheitel, führte den Alten gleichgültig des Wegs.

Er verneigte sich vor dem Bruder der gnädigen Frau.

Wilhelm hielt ihn an.

»Wohin?«

Der Kutscher antwortete stockend:

»Lukitsch soll wegen eines Vergehens ausgepeitscht werden.«

Wilhelm sagte entschieden:

»Geht nach Hause!«

Der Kutscher kratzte sich im Nacken und murmelte:

»Ich weiß nicht, Euer Gnaden, ob ich's darf. Es ist mir so befohlen.«

»Sofort nach Haus!« schrie Wilhelm wütend und machte einen Schritt auf den Kutscher zu.

»Laß den Alten laufen!« Seine Stimme überschlug sich.

»Mir ist's ja einerlei,« brummte der Kutscher, »ich kann ihn ja laufen lassen.«

Zu Hause erschien Wilhelm nicht beim Mittagessen. Als Grigorij Andrejewitsch von dem Vorfall erfuhr, hatte er eine ernste Auseinandersetzung mit Ustinja Karlowna.

»So geht das nicht! Wilhelm hätte sich an mich wenden sollen. Das heißt die Macht des Adels an der Wurzel untergraben.«

Zwei Tage waren die Beziehungen gespannt, und beim Mittagessen herrschte Schweigen. Dann geriet die Sache in Vergessenheit.

Eine Woche später ließ Wilhelm Semjon zu sich kommen. Er erschien in einem kurzen Frack. Angewidert betrachtete Wilhelm seinen Aufzug.

»Semjon, ich habe eine Bitte an dich. Tu mir den Gefallen und hole den Dorfschneider. Er wird für dich und mich russische Kleidung anfertigen. Du läufst herum wie ein dummer August. Besorge auch Schaftstiefel für mich.«

Nach fünf Tagen gingen Wilhelm und Semjon in einfachen Bauernhemden und -hosen. Sie ließen sich auch Bauernröcke machen.

Grigorij Andrejewitsch zuckte die Achseln, sagte aber nichts.

»Der Herr hat drollige Einfälle!« kicherte man in der Mädchenstube.

Wilhelm ließ sich nicht beirren.

Bald begann er regelmäßig ins Dorf zu gehn. Die Glinkas besaßen zwei Dörfer: das große, saubere Sagussino, zwei Werst vom Gut entfernt, und Duchowschtschina, fünf Werst nach der anderen Richtung hin gelegen. Wilhelm besuchte das nähere Sagussino. Sobald der Dorfälteste, Foma Lukjanow, ein rüstiger Greis von hoher Gestalt, den Bruder der gnädigen Frau sah, trat er vor das Haus und verneigte sich tief. Foma war ein kluger, schweigsamer Bauer. Ustinja Karlowna nannte ihn einen Diplomaten. Wilhelm kam er höflich entgegen, schaute ihn aber aus kleinen, grauen Augen schlau an. Das ganze Dorf hatte Scheu vor dem Herrn. Nur ein alter Bauer empfing ihn freundlich: Iwan Letoschnikow, ein alter Dorfschwätzer und Säufer. Iwan war schon an die siebzig und erinnerte sich noch genau an Pugatschew und die Teilung Polens. Er hatte als Junggeselle ein ziemlich schlechtes Dasein und war kein tüchtiger Bauer. Wilhelm hatte lange Gespräche mit ihm. Der Alte sang ihm Lieder vor, die er sich aufschrieb. Die Augen aufs Fenster gerichtet, stimmte Iwan irgendein Lied an. Er sang, was ihm gerade einfiel. Einmal trug er vor:

Auf dem Meer, dem klaren,
Auf dem weiten Meer
Hundertfünfzig Schiffe fahren.
Und auf jedem Schiffe sitzen
Viele Hunderte Malaien,
Und die Schiffe nur so flitzen.
Die Malaien Lieder singen,
Die Malaien schuften gut
Mit den Rudern den flinken.
Alles schimpft auf Araktschejew.

Er sah sich nach allen Seiten um, zwinkerte Wilhelm listig zu und senkte die Stimme:

Der verfluchte Edelmann!
Der verdammte Hundesohn!
Was der alles machen kann!
Wie er pfeift, so wird getanzt.
Hat das Russenland verdorben,
Hat Kanäle aufgeworfen,
Birken überall gepflanzt.

»Woher hast du das Lied?« fragte Wilhelm überrascht.

»Ich weiß selber nicht,« erwiderte Iwan. »Hier war so 'n Soldat. Wer er war, weiß ich nicht.«

»Das sind ja Turgenjewsche Flugblätter,« dachte Wilhelm. »Die dringen ja überallhin.«

»Willst du Verse über Araktschejew hören?« fragte er Iwan.

Mit gedehnter Stimme deklamierte er:

Verächtlicher Nepot, voll Tücke, Trug und List,
Der du des Zaren Speichellecker bist,
Der Heimat wütender, vermessener Tyrann,
Durch Schande und Verbrechen hochgekommner Mann,
Wenn auch Entsetzen du ins Land gebracht,
Hohl ist dein Ruhm und nichtig deine Macht!

Iwan gefielen die Verse sehr gut.

»Hohl ist dein Ruhm,« wiederholte er und schüttelte den Kopf. »Das stimmt. Hast du's selber gemacht oder irgendwo gehört?«

»Das hat mein Freund gemacht,« sagte Wilhelm stolz. »Er heißt Rylejew.«

Die Verse interessierten Iwan sehr.

»Araktschejew ist die erste Macht im Staate,« meinte er geheimnisvoll. »Ein Mann ist hier mal vorbeigekommen. Er hat gesagt, daß Araktschejew den Zaren besoffen gemacht und ganz Rußland zu einem Zuchthaus gemacht hat. Der Zar hat einen Ukas geschrieben, daß alle Bauern nach seinem Tode die Freiheit bekommen sollen, aber nur Araktschejew weiß, wo der Ukas aufbewahrt wird. Er wird doch noch verloren gehn.«

»Es ist wahr: Araktschejew beeinflußt den Zaren,« sagte Wilhelm. »Er ist sein böser Dämon. Ich bezweifle aber, daß der Zar ein solches Testament gemacht hat.«

»Ich weiß nichts,« sagte Iwan. »Die Menschen erzählen's aber. Vielleicht gibt es kein Testament … Du, das weiß ich,« Iwan zwinkerte ihm vielsagend zu, »du schreibst solche Papierchen über die Bauern. Wozu schreibst du sie?«

»Ich liebe das einfache Volk, Iwan. Ich beneide euch!«

»Nanu?« Iwan schüttelte den Kopf. »Du beneidest uns? Wieso denn?«

Wilhelm konnte ihm nicht auseinandersetzen, warum er die Bauern beneide.

»Nein,« sagte Iwan streng, »du bist ein guter Herr, aber die Bauern beneiden, das ist schon eine Beleidigung. Irgendein Soldat oder ein gebrandmarkter Zuchthäusler, der mag uns noch beneiden. Die stehn immer unter der Knute. Du aber darfst die Bauern nicht beneiden. Das ist dasselbe, wie wenn man einen Buckligen beneiden wollte. Die Bauern leben in Bedrängnis. Ihr aber könnt machen, was ihr wollt. Warum beneidest du sie?«

»Ich hab mich falsch ausgedrückt, Iwan,« antwortete Wilhelm nachdenklich. »Ich schäme mich, eure Sklaverei mit anzusehn.«

»Wart nur ab, Herr,« zwinkerte Iwan ihm zu. »Die Sklaverei dauert nicht ewig. Pugatschew ist hingerichtet. Vielleicht aber wächst schon ein anderer heran.«

Ein Schauer durchfuhr Wilhelm. Pugatschew schreckte ihn vielleicht noch mehr als Araktschejew.

»Erinnerst du dich noch an Pugatschew? Erzähl mir was von ihm,« bat er Iwan.

»Ich erinnere mich nicht mehr,« antwortete Iwan widerstrebend. »Was soll man sich da viel erinnern? Wir wissen von nichts.«

 

II

Eines Abends betrachtete Grigorij Andrejewitsch Wilhelm mit auffallender Aufmerksamkeit, als ob er zögere, ein wichtiges Gespräch zu beginnen. Endlich faßte er Wilhelm an der Hand und sagte mit jener ausgesuchten Höflichkeit, die Wilhelm manchmal erraten ließ, was für ein liebenswürdiger Gardeoffizier dieser Mann einst gewesen war.

»Mon cher Guillaume, ich muß mit Ihnen sprechen.«

Sie gingen in das kleine Arbeitszimmer, dessen Wände mit Porträts von Schriftstellern und Generälen behängt waren. An besonders sichtbarer Stelle hing ein Bild Karamsins mit eigenhändiger Unterschrift. In tadelloser Ordnung lagen auf dem Tisch Bücher und irgendwelche Schriftstücke; daneben standen Bilder der Großfürsten in ihren Kinderuniformen; ihre ungeschickten Namenszüge waren darauf zu lesen. Grigorij Andrejewitsch ließ sich in einen Sessel nieder und verharrte zwei Minuten in ernstem Schweigen. Dann sah er Wilhelm verlegen an und sagte fast ängstlich:

»Ich beobachte Sie schon lange, mon cher Guillaume, und komme zu dem Schluß, daß Sie sich auf falschem Wege befinden. Ich weiß genau so gut wie Sie, daß es mit manchen Dingen so nicht weitergehn kann; aber Ihr Benehmen gegenüber den Bauern bereitet mir große Sorge.«

Wilhelm machte ein finsteres Gesicht:

»In der Rückkehr zum echten russischen Volkstum, Grigorij Andrejewitsch, sehe ich die Erneuerung des Lebens und der Literatur. Wo sonst ist dieses Volkstum in seiner ursprünglichen Art zu finden als bei unseren braven Bauern?«

Grigorij Andrejewitsch schüttelte den Kopf:

»Nein, Sie irren sich! Sie spielen mit dem Feuer. Ich weiß sehr wohl, daß die Throne wanken und daß dieser Herr,« er zeigte auf Konstantins Bild, das auf dem Tisch stand, »nach Alexanders Tod nicht imstande sein wird, sich zu behaupten, von den jüngeren Brüdern, Nikolaus und Michail, ganz zu schweigen. Ich verstehe Sie. Die Geschichte mit dem Semjonow-Regiment hat mir die Augen geöffnet. Aber, mon cher, täuschen Sie sich nicht! Um die Freiheit zu schaffen, von der Ihr Timoleon träumt, muß man sich auf die Aristokratie, nicht auf den Pöbel stützen.«

Verwundert sah Wilhelm Grigorij Andrejewitsch an. Dieser stille Mann, der Blumen liebte, der so schweigsam und verschlossen war, erschien ihm gar nicht mehr so unkompliziert, wie er bisher gedacht hatte.

»Ich spreche aber doch gar nicht vom Pöbel in meiner Tragödie,« stammelte Wilhelm. »Die Bauern liebe ich wegen ihrer echt volkstümlichen Art, und unsere Leibeigenschaft betrachte ich als Sünde.«

»Ich spreche nicht vom Volkstum, mon cher frère,« lächelte Grigorij Andrejewitsch. »Wenn aber Menschen wie Sie sich mit dem Pöbel einlassen,« Grigorij Andrejewitschs Augen wurden hart, »dann werden am Tag der Entscheidung, der vielleicht gar nicht mehr so fern ist, Hunderttausende von Bauern ihre Messer wetzen, uns wie euch zum Verderben.«

Wilhelm wurde nachdenklich. Er hatte keine Antwort für Grigorij Andrejewitsch. Er konnte nicht begreifen, wie Freiheit und Volkstümlichkeit in irgendeinem Zusammenhang mit den Messern der Bauern stehen sollten.

Dann aber sagte Grigorij Andrejewitsch sichtbar befriedigt:

»Eigentlich habe ich Sie aber aus einem ganz anderen Anlaß hierher gebeten. Ich wollte mit Ihnen eine literarische Angelegenheit besprechen.«

Wilhelms Erstaunen wuchs.

»Ich dachte, Grigorij Andrejewitsch, Sie hätten Ihre literarischen Arbeiten längst aufgegeben.«

Glinka winkte ab.

»Ich denke an keine literarische Arbeit. Ich habe mir nur vorgenommen, meine Memoiren zu schreiben. Heute habe ich in alten Notizen gewühlt. Ich fand, daß viele für einen künftigen Historiker nicht unwichtige Beobachtungen der Geschichte entgehen werden, wenn ich sie nicht verwerte.«

Wilhelm wurde aufmerksam.

»Ich nehme an, Grigorij Andrejewitsch, daß Ihre Beobachtungen nicht nur für Historiker von Interesse sind.«

Glinka lächelte wieder:

»Ich habe Gott sei Dank kein kurzes Leben hinter mir. Ich habe Zaren, Soldaten und Schriftstellern nahegestanden. Da aber, wie ich meine, für jeden Historiker die Charaktere das Interessanteste sind, möchte ich Ihren Rat hören, mon cher: Soll man all die kleinen Einzelheiten mit aufnehmen oder sie streichen?«

»Die Einzelheiten sind das Wertvollste bei der Schilderung von Charakteren,« sagte Wilhelm voll Überzeugung.

»Ich danke,« sagte Glinka. »Ich werde sie also alle verwerten. Als ich heute an die Schilderung der Großfürsten Nikolaus und Michail kam, deren Erzieher ich einmal war, merkte ich selber, wie aus einzelnen Zügen sich das Bild eines ganzen Menschen ergibt. So erinnere ich mich,« fuhr er nachdenklich fort, »wie mir der dreizehnjährige Nikolaus, als er mich liebkoste, plötzlich in die Schulter biß. Ich sah ihn an. Er zitterte am ganzen Körper und begann in einer Art von Paroxysmus mir auf die Füße zu treten. Ist das nicht eine plastische Tatsache?«

»War denn Nikolai Pawlowitsch wirklich so?« fragte Wilhelm. »Ich weiß, daß er ein grausamer Kommandeur ist, aber diesen Zug hab ich an ihm nicht gekannt.«

»Ich habe ihn ja viele Jahre beobachtet,« sagte Glinka. »Ein entsetzlicher Charakter. Beim Spiel war er roh. Wie oft verletzte und beschimpfte er seine Spielkameraden! Besonders bemerkenswert aber ist folgendes: Wurde er böse, so begann er mit seiner kleinen Axt alles in Stücke zu schlagen. Die Trommel, das ganze Spielzeug wurde zerhackt. Dabei verrenkte er den Körper und schnitt tolle Grimassen.« Glinka lachte plötzlich auf: »Einmal, als ich ihm von Sokrates, von seinem Leben und Sterben erzählte, gab er mir zur Antwort: ›So ein Dummkopf!‹.«

»Und Konstantin Pawlowitsch?« fragte Wilhelm mit Interesse. »Haben Sie auch ihn näher gekannt?«

Grigorij Andrejewitsch verzog das Gesicht:

»Von dem wollen wir lieber gar nicht sprechen. Mir graut bei dem Gedanken, daß ein Mann, dessen Handlungen nach dem Gesetz mit Zuchthaus zu bestrafen wären, den russischen Thron besteigen soll.«

Er brach plötzlich ab, als ob er seine Worte bedauere, und dankte Wilhelm höflich. So sehr dieser ihn auch bat, weiterzuerzählen, – er schwieg hartnäckig.

 

III

Auf einem Spazierritt überholte Wilhelm eine Kutsche, in der eine ältere Dame und ein junges Mädchen saßen. Als dieses ihn erblickte, klatschte es überrascht in die Hände und lachte ihn an. Es war Dunja. Sie kam mit ihrer Tante auf Besuch zu den Glinkas, mit denen sie verschwägert war. Die Glinkas unterhielten die herzlichsten Beziehungen zu ihren Verwandten und lebten mit allen in Frieden.

Dunjas Ankunft stürzte Wilhelms Tagesordnung völlig um. Das Dorf, seine tägliche Arbeit, seine Tragödie traten in den Hintergrund. Er sah und hörte nur noch Dunja. Wenn sie stundenlang im Hain spazieren gingen, sprachen sie von allem Möglichen, und Wilhelm staunte, wie gut Dunja mit ihren siebzehn Jahren die Menschen kannte, wie sie ohne viel Nachdenken das von ihnen sagte, was er, Wilhelm, nur dunkel vermutete. Vielleicht beurteilte sie die Menschen falsch, aber immer interessant und geistvoll. Sie kannte Puschkin sehr gut. Gribojedow hatte sie nur zweimal gesehen. Mit Delwig war sie befreundet. Über Puschkin bemerkte sie einmal: »Mir scheint, daß Alexander in seinem Leben nichts liebt oder geliebt hat außer seinen Versen.«

Wilhelm war erstaunt:

»Merkwürdig! Dasselbe hat mir schon einmal jemand gesagt: Engelhardt oder Korff. Sie mögen also Alexander gar nicht?«

Dunja lächelte und gab dem Gespräch eine andere Wendung. Ein halbes Jahr, bevor Wilhelm sie kennengelernt hatte, war sie in Puschkin verliebt gewesen, doch wußte niemand etwas davon.

Ein anderes Mal sagte sie plötzlich von Grigorij Andrejewitsch:

»Oncle Grégoire muß wohl irgend einmal etwas sehr Schlimmes begangen haben. Darum liebt er Tante so sehr!«

Wilhelm sprach mit ihr von allem: von Gribojedow, von Jermolow, besonders auch von Paris, das unvergeßlichen Eindruck auf ihn gemacht hatte.

Abends las er ihr aus seiner Tragödie vor. Ihr Urteil war von überraschender Treffsicherheit. Sie sagte von Timoleon:

»Ich fürchte, Ihr Tyrann wird anziehender als der Held. Einen Menschen kann man nur liebgewinnen, wenn er irgendein Laster besitzt.« Und schelmisch fügte sie hinzu: »Sie aber haben viele Laster.«

In ihrer Gegenwart wurde Wilhelm alles klar. Die wichtigste Entscheidung, von der das ganze Leben abhing, hätte man treffen können, ohne sich zu quälen, in einer halben Stunde, ohne darüber mehr nachzudenken als über eine Karte beim Whist. Das furchtbarste Verbrechen erschien verständlich, höchstens betrüblich. Man brauchte sich nicht den Kopf zu zermartern. Man entschloß sich leicht zu allem. Das Leben wurde ungewöhnlich reich an Freuden.

Sie war siebzehn Jahre alt.

Oft ritten sie zusammen aus. Dunja saß leicht und sicher im Sattel. Sie liebte schnelles Reiten. Oft nahm sie den Hut ab. Dann flatterten ihre blonden Haare im Wind. Den langen Körper vornübergebeugt, raste Wilhelm neben ihr her und sah nicht Himmel noch Weg noch Wald, nur die blonden Locken.

Nach einer Woche erfolgte im Hain eine Liebeserklärung. Freilich, eine eigentliche Erklärung war es nicht; sie küßten sich bloß. Die Kühle ihrer Mädchenlippen war für Wilhelm die Schranke, hinter der das neue Leben begann. Sie schworen einander ewige Liebe bis über das Grab hinaus.

Doch nun begannen für Wilhelm Zweifel, die ihn nachts nicht schlafen ließen: Er war bettelarm, heimatlos, hatte keinen eigenen Winkel. Der Beruf eines russischen Literaten war eher ein Fluch als ein Beruf. Es gab gar keinen solchen Berufsstand. Was sollte Dunja in seiner tabakverrauchten Petropoler Klause? Irgendein Entschluß mußte gefaßt werden. Dunja sagte er nichts davon. Vor ihrer Abreise nahmen sie lange Abschied im Hain. Dunja weinte. Dann faßte er seinen Entschluß: Tag und Nacht wollte er arbeiten, die Armut niederringen, um Dunja keinem Wander- und Hungerleben preiszugeben. Als Frist setzte er sich ein Jahr. Dann mußte das neue Leben beginnen. Fast fürchtete er sich, an dieses Leben zu denken. Das war ja ein zu großes Glück. Er begann, Briefe zu schreiben.

An Engelhardt. Dann nach einigem Überlegen an Komowski.

Das Füchschen war doch ein guter Kamerad. Komowski kam schnell vorwärts in seiner Laufbahn und konnte ihm vielleicht nützlich sein. Wilhelm teilte ihm auch einiges von seinen Plänen mit. Er wollte eine große Zeitschrift herausgeben. Das Füchschen antwortete sofort. Der Brief war eigentlich zum Lachen, aber Wilhelm versetzte er in Raserei. Er fühlte sich plötzlich an Petersburg erinnert, an die Not, die Unsicherheit seiner Lage, und sofort verlor er allen Mut. Das Füchschen nannte ihn einen Narren, redete ihm zu, in den Staatsdienst zu treten, und wies schließlich darauf hin, daß Wilhelm selber an all seinem Mißgeschick schuld sei. Weshalb war er nicht in Petersburg geblieben, als es für ihn vorteilhaft war? Weshalb hatte er Vorlesungen in Paris gehalten, was man nur höchst vorsichtig, vielleicht aber gar nicht hätte tun sollen? Weshalb hatte er, statt sich zu bemühen, mit Jermolow gut auszukommen, dort obendrein noch jemand beleidigt? Sodann empfahl Komowski ihm noch, unbedingt zu heiraten, da dies unverzüglich auf sein Gemüt heilend wirken werde.

Er zählte mit Wollust Wilhelms Sünden auf, was diesen lebhaft daran erinnerte, wie Komowski hinter Türen spioniert hatte. Er antwortete ihm:

 

»Komowski! Was willst Du von mir? Du willst recht haben … Schön. Wenn es Dich freut: Du hast recht. Ich erlaube Dir, mich einen Narren zu nennen und was Du sonst willst. Parce qu'il paraît que vous vous plaisez à cette expression. In der ersten Hitze wollte ich Dir gar nicht mehr schreiben. Ich tue es dennoch, um Dir zu beweisen: Wenn ich mit den Menschen nicht auskommen konnte, geschah es nicht, weil ich es nicht wollte, sondern weil ich es nicht konnte. Es ist grausam, unmenschlich, einem Unglücklichen sein Unglück vorzuwerfen. Doch Du hast mir Dienste erwiesen. Man sagt: Du hast mich gern. Ich glaube es und hoffe, Du warst Dir nicht bewußt, was es heißt, mit mir in meiner Lage so zu reden. Doch hören wir damit auf. Im Namen alles dessen, was Dir heilig sein kann, flehe ich Dich an, zwinge mich nicht, Deine Dienste abzulehnen, denn das müßte ich, wenn Du Dich durch sie berechtigt fühlen solltest, meine Wunden aufzureißen. Ihr Glücklichen! Ihr wißt noch nicht, wie schmerzlich ein gemartertes Herz bei der geringsten Berührung sich zusammenkrampft. Noch einmal: Schluß damit! Reich mir die Hand. Ich will alles vergessen. Aber schreib mir nicht so. Schreib mir nicht Dinge, die tiefer schmerzen als der Tod.

Wilhelm.

Du sprichst vom Heiraten; ich glaube, auch ich habe das stürmische, wilde Leben satt, das zu führen ich gezwungen bin. Um so mehr, als – ich spreche aufrichtig mit Dir – mein Herz nicht mehr frei ist. Ich werde geliebt. Zum ersten Mal in meinem Leben wird meine Liebe erwidert. Sag aber den Verwandten nichts davon. Je ne veux pas que cette nouvelle leur cause de nouvelles inquiétudes. Ich selbst fürchte für mein Glück. Sechsundzwanzig Jahre bin ich alt, und schon ergraut mein Haar. Meiner Hoffnung fehlt die Kraft. Es hat Freuden gegeben in meinem Leben. Nur Gott weiß, ob es noch welche geben wird. Dir, mein Freund, wünsche ich Glück in allem: in der Gesellschaft, im Dienst, in der Familie. Meine Schwester beauftragt mich, Dich zu grüßen und Dir zu bestellen, daß Du ein liebenswürdiger, angenehmer junger Mann bist.«

 

IV

Ustinjka sah, wie besorgt Wilhelm um seine Zukunft war. Sie zerbrach sich auch den Kopf, wie und wo Wilhelm in geordnete Verhältnisse kommen könnte. Nach längerer Überlegung beschloß sie an Gribojedow zu schreiben, den sie selbst wenig kannte, aber dank Wilhelms Erzählungen liebte.

Sie schrieb, daß sie um des Bruders Zukunft bange, nicht weil er vom Unglück verfolgt werde, sondern weil sein eigener Charakter ihn ins Unglück treibe.

Gribojedow antwortete lange nicht.

Endlich erhielt Ustinjka von ihm einen Brief:

 

»Gnädige Frau!« schrieb er. »Nachdem ich die Beantwortung Ihres freundlichen Briefes so lange hinausgeschoben habe, zerbreche ich mir den Kopf, welche Ausrede ich zur Rechtfertigung meiner Handlungsweise vorbringen könnte; doch Sie lassen sich nicht so leicht anführen. Bedenken Sie die Entfernung, die uns trennt, die ewigen Reisen, die fünf Sechstel meines Aufenthaltes in diesem Lande beanspruchen. Die Briefe derjenigen, die an mich denken, müssen eine Ewigkeit auf der Post herumlungern, bevor es mir gelingt, sie zu erhalten. Eines dient mir zur Beruhigung: Daß mein und in gleichem Maße auch Ihr guter Freund meine Charaktereigenschaften genau kennt. Er hat Sie doch wohl davon verständigt, daß an all meinen Verstößen gegen Sitte und Brauch weder mein Herz noch Mangel an Gefühl schuld sind.

Indem ich auf Ihre Milde rechne, will ich mit Ihnen von dem Menschen sprechen, der in jeder Hinsicht besser ist als ich und der mir genau so teuer ist wie Ihnen. Was macht er, unser guter Wilhelm, den das Unglück getroffen hat, bevor er noch die wenigen wahren Freuden auskosten konnte, die die Gesellschaft bietet? Gequält, unverstanden, während er selbst jedem Menschen mit wirklicher Offenheit und Liebe entgegenkommt, sollte er nicht überall Zuneigung finden?! Da er stets fürchtet, anderen zur Last zu fallen, fällt er nur seiner eigenen Empfindsamkeit zur Last! Er wird jetzt wohl bei Ihnen sein, umgeben von freundlichen Verwandten.

Wer hätte vor einem halben Jahr geglaubt, daß ich so weit käme, sogar ihn um seinen unseligen Stern zu beneiden! Ach, wenn einen Unglücklichen das Unglück eines anderen trösten kann, bestellen Sie ihm, daß ich mir selber zur Qual bin und einsam inmitten einer Bevölkerung lebe, die mir völlig gleichgültig ist; noch einige Tage, und ich entfliehe dieser Stadt, entfliehe der Langeweile und Enttäuschung, die mich hier verfolgen und mich vielleicht auch anderswo peinigen werden.

Reden Sie Ihrem Bruder zu, sich dem Schicksal zu beugen und unsere Leiden als sittliche Prüfungen zu betrachten, aus denen wir hervorgehn werden ärmer an Glut und Begeisterung, aber bereichert um jene seelische Festigkeit, die Achtung erweckt und den Glauben, wir hätten ein glückliches Leben hinter uns. Und ist es uns beschieden, noch lange auf Erden zu wandeln, dann sind launisches Greisentum, trockner Husten und ewig wiederholte Mahnungen an die Jugend jener Hafen, in dem jeder von uns landen wird, ich und Wilhelm und all die Glücklichen unserer Tage.

Verzeihen Sie mir, gnädige Frau, die melancholischen Ergüsse dieses Briefes, mit denen ich Sie hätte verschonen können.

Als ich zu schreiben begann, war meine einzige Absicht die, mich Ihnen gegenüber durch ein aufrichtiges Geständnis meiner Schuld zu erleichtern, deretwegen ich mir stets Vorwürfe machen werde.

Empfangen Sie den Ausdruck meiner vollkommenen Achtung und Verehrung.

Gribojedow.«

 

Ustinjka dachte lange über diesen Brief nach, und Tränen standen in ihren Augen. Sonderbar, Alexander tat ihr sogar noch mehr leid als Wilhelm. Mein Gott, er war allein, unter Fremden, unter Halbwilden. Welches Verhängnis lastete doch auf ihnen allen!

Sie hätte Alexander sofort sehen, sofort ihm auseinandersetzen mögen, daß er noch jung sei, daß man nicht auf diese Weise … daß man was nicht? Ustinjka war sich selber nicht klar darüber, was sie meinte. Ach, wenn man sie doch alle beruhigen, wenn man sie trösten könnte, Alexander und Wilhelm und den unglücklichen Puschkin! Was ist denn aus ihnen allen geworden?! Das ist ja Wahnsinn! Alle sind sie gehetzt und heimatlos!

Wilhelm trat ins Zimmer.

Ustinjka verbarg schnell den Brief an ihrer Brust. Sie hatte nicht die Kraft, ihn jetzt gleich zu zeigen. Sie fürchtete, in Weinen auszubrechen.

 

V

Wilhelms Abreise nahte. Bald trat ein Ereignis ein, das sie einer Flucht ähnlich machte. Als er einmal an dem Nachbargut Ismajlow vorbeiritt, bot sich ihm ein merkwürdiger Anblick. Am Zaun lehnte etwas Schwarzes. Es glänzte in der Sonne. Mücken schwärmten darum. Daneben stand ein Mann in grünem Rock mit einer Nagajka in der Hand.

Als Wilhelm näher kam, bemerkte er, daß die schwarze Masse mit Stricken an den Zaun festgebunden war. Er hörte Stöhnen. Der Mann in dem grünen Rock sah ihn ruhig an. Wilhelm zügelte das Pferd. Die schwarze Masse bewegte sich; heiser kam es heraus:

»Wasser! Um Christi willen!«

Wilhelm schauderte:

»Was ist denn das?« fragte er, ohne zu begreifen.

Der Grünrock grinste:

»Nicht was, sondern wer, mein Herr! Erlauben Sie, mit wem habe ich die Ehre?«

Wilhelm nannte seinen Namen. Er war wie betäubt.

»Ismajlow, Lew Dmitrijewitsch, Gutsbesitzer aus dem Bezirk Duchowschtschino,« sagte der Mann, nicht ohne Artigkeit. Er war an die fünfzig Jahre alt, dick, hatte ein rosiges, gesundes, glattrasiertes Gesicht. »Wunderbares Wetter heut. Sie reiten spazieren?«

Wieder ein Stöhnen. Wilhelm erwachte aus seiner Erstarrung.

»Wie kommt dieser Neger hierher?« fragte er. »Warum ist er angebunden?«

»Aber erlauben Sie,« kicherte der Gutsbesitzer, »das ist doch kein Neger. Das ist Wanjka. Er wird wegen eines Vergehens einer Strafe unterzogen, wie Sie sehen. Mit Teer. Mit Teer, das zieht.« Die Augen des Gutsbesitzers begannen hin und her zu laufen und füllten sich mit Blut. Er faßte die Nagajka fester.

Wilhelm schwieg. Er ritt an den Zaun heran und stieg vom Pferd. Dann holte er wortlos das Messer aus der Tasche und zerschnitt die Stricke.

»Erlauben Sie! Was soll das bedeuten?« sagte der Gutsbesitzer. Sein Blick wurde lauernd. »Mit welchem Recht tun Sie das?«

Wilhelm hatte eine dünne Peitsche mit schwerem Metallgriff in der Hand. Ohne den Boden unter den Füßen zu spüren, machte er einen Schritt auf den Gutsbesitzer zu. Der schwarze Mann begann langsam auf der Erde zu kriechen. Weit holte Wilhelm mit der Peitsche aus und schlug mit voller Wucht in das glattrasierte Gesicht.

»Mit welchem Recht?« murmelte er. »Mit welchem Recht?« Und er schlug noch einmal und noch einmal.

Der Gutsbesitzer schrie wild. Sofort hörte man Schritte, Geschrei, Hundegebell.

»Faß ihn! Faß ihn!«

Wilhelm schwang sich aufs Pferd. –

Zwei Tage danach fuhr der Adelsmarschall bei Grigorij Andrejewitsch vor. Er verständigte ihn davon, daß Ismajlow die Sache weiterverfolgen wolle, daß er an hoher Stelle in Petersburg Verbindungen habe und daß er, der Adelsmarschall, so sehr er es bedaure, auch seinerseits die eines Edelmanns unwürdige Handlungsweise des Herrn Küchelbecker nicht nur verurteile, sondern auch gezwungen sei, Maßnahmen dagegen zu ergreifen.

»Vielleicht klären Sie mich auch über die Maßnahmen auf,« erwiderte Glinka kalt, »die Sie dagegen zu ergreifen gedenken, daß man Menschen mit Teer beschmiert und barbarisch mißhandelt? Ich hoffe, daß eine solche Handlungsweise ebensowenig eines Edelmanns würdig ist!«

Der Adelsmarschall zuckte die Achseln:

»Ich habe meine Schuldigkeit getan, Grigorij Andrejewitsch. Nur Ihretwegen, um Sie zu warnen, bin ich hierher gekommen. Ich erlaube mir, Herrn Küchelbecker einen Rat zu geben: Es ist für ihn selber besser, wenn er jetzt, und sei es nur für eine gewisse Zeit, unser Gouvernement verläßt. Es könnte große Unannehmlichkeiten geben. Das ist nicht nur meine Ansicht, sondern auch die des Gouverneurs.«

Glinka erwiderte kalt:

»Sie erlauben, daß Herr Küchelbecker und ich darüber unsere eigene Meinung haben.«

Als Wilhelm aber von diesem Gespräch erfuhr, hielt er es für angebracht, Grigorij Andrejewitschs Gastfreundschaft nicht länger auf die Probe zu stellen.

Am nächsten Tag packte er seine Sachen und reiste ab. Es war auch Zeit, das Leben, das immer wieder aus dem Geleise geriet, in irgendeine Bahn zu bringen. Zusammen mit ihm fuhr Semjon.


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