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6

Nach Verlauf der Überfahrtszeit kamen die Zwillinge an und wurden ihrem hohen Verwandten übergeben. Es wäre vergebliches Bemühen, die Wut dieses alten Mannes schildern zu wollen; jeder Versuch würde das Ziel bei weitem nicht erreichen. Als er sich aber ausgetobt hatte und wieder etwas ruhiger geworden war, bedachte er die Sache nochmals und fand, daß die Zwillinge zwar keine gesetzlichen, aber doch gewissermaßen moralische Rechte hatten; sie waren von seinem Blut, und es war nicht passend, sie wie gemeinen Staub zu behandeln. So ließ er sie neben ihren majestätischen Verwandten in der Kirche von Cholmondeley mit Prunk und Feierlichkeit zu Grabe legen, und gab der Sache die letzte Vollendung dadurch, daß er als Hauptleidtragender auftrat. Aber von den Wappenschildern wollte er nichts wissen.

Unsre Freunde in Washington zählten die Stunden der langweiligen Tage, in denen sie auf Peter warteten, und häuften Vorwürfe auf seinen Namen wegen seiner unleidlichen Verzögerung. Während dessen führte Sally Sellers, die ebenso praktisch und demokratisch war, wie Lady Gwendolin romantisch und aristokratisch – ein Leben, dem es an lebhaftem Reiz und reger Tätigkeit nicht fehlte, und sie zog soviel als möglich Vorteil aus ihrer zweifachen Persönlichkeit. Den Tag über verdiente Sally Sellers in der Verborgenheit ihres Zimmers Brot für die Familie Sellers, und den ganzen Abend hielt Lady Gwendolin die Würde der Roßmore aufrecht; tagsüber war sie amerikanisch praktisch, stolz auf das Werk ihres Kopfes und ihrer Hände und den erzielten Erfolg; abends hatte sie ihren Feiertag und wohnte in einem reichen Schattenlande, das mit hochgestellten, gekrönten Phantasiebildern bevölkert war. Am Tage war ihr das Haus eine widerwärtige, baufällige alte Hütte; am Abend war es Roßmore-Kastell. Im College hatte sie ohne ihr Zutun ein Gewerbe erlernt. Die Mädchen hatten herausgefunden, daß sie die Muster ihrer Kleider selbst zeichnete. Von da an hatte sie keinen müßigen Augenblick mehr und verlangte auch nach keinem, denn die Ausübung einer ungewöhnlichen Gabe bereitet ja das größte Vergnügen, und es war augenscheinlich, daß Sally Sellers eine derartige Gabe in betreff des Kostümzeichnens besaß. Drei Tage nach ihrer Rückkehr in die Heimat hatte sie schon Arbeit aufgetrieben, und ehe man Peter in Washington erwarten konnte und die Zwillinge in englischer Erde schliefen, war sie schon beinahe überschwemmt mit Aufträgen, und das Opfern der Familienfarbendrucke für Schulden war zum Stillstand gekommen.

»Sie ist ein Kleinod,« sagte Roßmore zu Hawkins, »ganz wie ihr Vater, rasch bei der Arbeit mit Kopf und Händen und sich deren nicht schämend; fähig, immer fähig, welches auch das Unternehmen sei; erfolgreich von Natur – weiß nicht, was eine Niederlage ist; durch eingeatmeten Nationalismus im höchsten Grade praktisch amerikanisch; und ebenso außerordentlich und aristokratisch europäisch durch ererbten Adel des Blutes. Genau so wie ich; in Finanz- und Erfindungsangelegenheiten Mulberry Sellers – und was findest du nach den Geschäftsstunden? Dieselben Kleider, ja, aber was steckt darin? Rohware aus der Adelsliste.«

Die Freunde hatten das Hauptpostamt täglich heimgesucht; endlich wurden sie belohnt. Am zwanzigsten Mai gegen Abend erhielten sie einen Brief für X. Y. Z. Er trug den Poststempel Washington, der Zettel selbst hatte kein Datum. Er lautete:

»Kutterfaß hinter dem Laternenpfahl in der Rappenallee. Wenn Du es ehrlich meinst, geh und setze Dich dorthin morgen, 21. früh 10 Uhr 22 Min., nicht früher und nicht später. Warte, bis ich komme.«

Die Freunde verhandelten eifrig über die Botschaft.

Der Lord sagte:

»Meinst du nicht, daß er fürchtet, einen Sheriff mit einem Haftbefehl zu finden?«

»Warum das, Oberst?«

»Weil das doch kein Ort für eine Zusammenkunft ist. Gar nichts Freundliches und Geselliges ist an dem Platze. Und überdies kann jemand, der wissen will, wer auf dem Kutterfaß sitzt, ohne sich selbst durch Nähertreten einer Gefahr auszusetzen, und ohne dabei interessiert zu erscheinen, doch recht gut an der Straßenecke stehenbleiben und einen Blick die Allee hinunterwerfen, um seine Neugierde zu befriedigen, nicht wahr?«

»Ja, seine Absicht ist mir jetzt klar. Er scheint ein Mann zu sein, der gar nicht offen und gerade sein kann. Er handelt, als ob er dächte, wir – – zum Henker, ich wünschte, er hätte wie ein Mann geredet, und uns gesagt, in welchem Gasthof er – –«

»Jetzt hast du es getroffen, sicher getroffen. Washington, er hat es uns gesagt.«

»Er hat es uns gesagt?«

»Ja wohl, allerdings war es nicht seine Absicht. Diese Allee ist ein meist menschenleerer Sack, der an der einen Seite des neuen Gadsby-Hotels hin läuft. Das ist sein Gasthof.«

»Was bringt dich auf den Gedanken?«

»Ich weiß es eben. Er hat ein Zimmer, welches dem Laternenpfahl gerade gegenüber liegt. Er wird morgen um 10 Uhr 22 Minuten ganz gemütlich da hinter den geschlossenen Fensterläden sitzen, und wenn er uns auf dem Kutterfaß sieht, wird er sich sagen: ›Einen von diesen Burschen habe ich schon im Zuge gesehen‹ – und dann wird er sein Bündel in einer halben Minute schnüren und sich ans Ende der Welt begeben.«

Hawkins fühlte sich ganz krank vor Enttäuschung.

»Oh, nun ist alles aus, Oberst, das wird er gewiß tun.«

»Nein, er wird nicht.«

»Nicht? – Warum nicht?«

»Weil du nicht auf dem Kutterfaß thronen wirst, sondern ich. Du wirst mit einem Polizeioffizier und einem Verhaftungsbefehl in Zivil – ich meine den Polizeioffizier – herzutreten, sowie du ihn kommen und mit mir ein Gespräch anknüpfen siehst.«

»Bei Gott, was für einen Kopf du hast, Oberst Sellers! Ich würde im Leben nicht an so etwas gedacht haben.«

»Auch kein Graf Roßmore, von Wilhelm bis herunter zu Mulberry, würde als Graf darauf verfallen sein; aber es ist jetzt Geschäftszeit, wie du siehst, und der Lord in mir schläft. Komm, ich will dir sogar sein Zimmer zeigen.«

Sie näherten sich dem neuen Gadsby-Hotel etwa um neun Uhr des Abends und gingen die Allee bis zum Laternenpfahl hinunter.

»Da haben wir's,« sagte der Oberst triumphierend, mit einer Handbewegung die ganze Seitenfront des Hotels bezeichnend. »Da siehst du es; was sagte ich dir?«

»Ja – aber wie, Sellers? Es ist doch sechs Stockwerk hoch. Ich sehe noch nicht recht, welches Fenster du – –«

»Alle Fenster, alle miteinander. Er mag seine Wahl treffen, mir ist es gleichgültig jetzt, da ich ihn untergebracht habe. Gehe du und warte an der Ecke; ich will das Hotel im Auge behalten.«

Der Lord ging in dem sehr besuchten Flur des Hotels auf und ab und stellte sich endlich wartend in der Nähe des Aufzuges auf. Eine Stunde lang wurden Schwärme von Leuten hinauf- und herabbefördert, und alle waren im Vollbesitz ihrer sämtlichen Gliedmaßen; zuletzt aber konnte der Beobachter noch einen raschen Blick auf eine Figur werfen, der ihn befriedigte, einen Blick nur auf den Rücken, da er den rechten Moment, das Gesicht zu sehen, wegen nachlassender Aufmerksamkeit versäumt hatte. Der Blick zeigte ihm einen sogenannten Cowboyhut und darunter einen gestreiften Sackpaletot von ziemlich auffallendem Muster und mit einem leeren Ärmel, der an der Schulter aufgesteckt war. Dann entzog der Aufzug die Erscheinung dem Auge, und der Beobachter eilte in freudiger Aufregung davon, seinen Mitverschworenen aufzusuchen.

»Wir haben ihn, Major, haben ihn sicher! Ich habe ihn gesehen, so gut gesehen, daß, selbst wenn er mir von rückwärts nahe kommt, ich ihn doch sofort erkennen werde. Wir sind auf dem Weg zum Ziel, nun den Haftbefehl.«

Sie erlangten denselben nach den in solchen Fällen üblichen Weitläufigkeiten. Um halb zwölf Uhr waren sie zu Hause und glücklich; sie gingen zu Bett, voller Erwartung der großen Erfolge des nächsten Tages.

In der Fracht des Hotelaufzuges, welche den verdächtigen Mitpassagier enthielt, befand sich auch ein junger Verwandter des Oberst Sellers, was dieser nicht wußte und den er auch nicht sah. Es war Lord Berkeley.


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