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10. Kapitel

Behutsam hatte Gervinus nachts die Tür geöffnet, um niemanden zu stören. Die Sitzung hatte sich länger hingezogen, als er geglaubt und so war Mitternacht längst vorüber, als er endlich heim kam. Er betrat sein Arbeitszimmer, drehte das elektrische Licht an und erblickte sofort Evas Zettel. Rasch eilte er ins Schlafzimmer hinüber, sah das unberührte Lager seiner Frau und ein unendlicher Schmerz überkam ihn. Was war während seiner Abwesenheit hier vorgegangen? Von wem hatte sie die Vergangenheit erfahren? Er betrat abermals sein Arbeitszimmer und las immer wieder den Zettel. Er empfand den Verlust schmerzlich, denn er liebte Eva mit starker, inniger Liebe. Wohin mochte sich die Aermste gewandt haben? Ob ihm jemand im Hause Auskunft geben konnte? Für heute war das unmöglich, denn die Bedienten schliefen und er mochte sie nicht wecken.

Er legte sich nicht zur Ruhe nieder. Schlaf würde er doch nicht gefunden haben, dazu war sein Inneres zu aufgewühlt. Als dann der Morgen kam, rief er Wanda in sein Zimmer, die sofort, als er nach Eva fragte, zu weinen begann.

Sie wisse nur, daß die gnädige Frau gestern abend sehr erregt gewesen sei und spät die Wohnung verlassen habe.

Gervinus schickte das Mädchen wieder hinaus, da sie ihm keine genaue Auskunft geben konnte. Da fiel ihm ein, daß er die Bescheinigung Krenkows ja noch immer in seinem Geheimfache verwahrte. Dadurch wollte er Eva überzeugen, daß er nicht ganz so schuldig sei, wie sie wohl glaube. Aber er erschrak heftig, als er bemerkte, daß das Geheimfach erbrochen und jener Zettel entwendet war.

Die erste Post brachte ihm den Brief von Gertraude. Anfänglich atmete er erleichtert auf, denn er wußte Eva in gutem Schutz, dann aber kamen ihm die Zweifel. Ob Gertraude seiner armen Frau nicht doch auf deren Fragen die Vergangenheit enthüllte? Er wollte zu Billerbecks, denn aber beschloß er abzuwarten, wie es ihm die Freundin geraten hatte. Als aber die Mittagsstunde herankam, war es ihm unmöglich, noch länger ohne Kunde zu bleiben. Er eilte zu Billerbecks und ließ sich bei Gertraude melden.

Sie empfing ihn sofort, konnte ihm aber auch nur die Auskunft geben, daß Eva ganz verstört des nachts zu ihr gekommen sei, woher sie die Vergangenheit erfahren habe, wisse Gertraude nicht. Da ging er entmutigt wieder heim und versank brütend an seinem Schreibtische. Er hörte Wandas Worte kaum, die ihn freundlich und eindringlich aufforderte, doch wenigstens einige Bissen zu genießen. Er bemerkte auch nicht, daß sie sich heute besonders sorgfältig gekleidet hatte und jetzt trotzig den Kopf zurückwarf, als er so wenig Notiz von ihr nahm.

Eine Stunde später begehrte Doktor Krenkow den Herrn Professor zu sprechen. Da fiel alle Mattigkeit von Gervinus ab und wie ein Freudenschein überlief es sein Gesicht, als er den Befehl gab. Doktor Krenkow eintreten zu lassen. Jetzt würde Klarheit geschaffen werden: vielleicht gelang es Lothar, Eva zu bestimmen, zu ihrem Gatten zurückzukehren, jetzt würde der Arzt zum Kollegen sprechen.

Gervinus sah sogleich, daß der Eintretende über alles gut unterrichtet war. Sein blasses Gesicht war gelblich angelaufen und starr blickten seine Augen.

»Ich bin gekommen, um Rechenschaft von Ihnen zu fordern. Sie werden wissen, was mich heute zu Ihnen führt.«

»Eva war bei dir?«

»Ja, und aus ihrem Munde, der keine Unwahrheit spricht, habe ich endlich alles erfahren.« Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche. »Kennen Sie das?«

Es war jenes Schreiben, das Gervinus seinerzeit von Krenkow erhalten hatte und das ihm entwendet worden war.

»Ja, ich kenne das Blatt. Ich verlange Aufklärung, wer es in deine Hände legte.«

»Aufklärung habe ich zu verlangen, Herr Professor! Ist es wahr, daß Sie meinen Vater bestimmten, sich Ihrer Behandlung anzuvertrauen? Ist es wahr, daß Sie ihn durch Geldsummen verlockten, sein Leben aufs Spiel zu setzen? Daß Sie ihn opferten, um Ihre Versuche auszuführen?«

Keine Miene im Antlitz des Angeredeten zuckte. «So redet der Sohn des Vaters, dem ich, wie du sagst, das Leben verkürzte. Der Kollege dürfte zum Kollegen nicht so sprechen. Du, der du bereits so tief in die medizinische Wissenschaft eingedrungen bist, solltest doch wissen, daß es damals für deinen Vater keine Rettung mehr gab. Ich habe ihn seinerzeit nicht gezwungen!«

Flammend fuhr Lothar auf. »Wer gab Ihnen aber das Recht, Ihre unabgeschlossenen Versuche um Geldeswert an einem Manne auszuführen? Sie wußten sehr wohl, daß die Not der Angehörigen meinem Vater ins Herz schnitt. Sie köderten ihn und spielten ein grausames Versteckspiel.«

»Ueberlege dein Wort, Lothar. Du hast durchaus nicht das Recht, dich hier zum Richter aufzuwerfen. Waren denn deine Forschungen schon abgeschlossen, als du Prinz Ferdinand unter das Messer nahmst?«

»Habe ich das Leben des Prinzen dadurch verkürzt?«

»Warst du sicher, daß die Operation gelingen mußte?«

»Ja,« gab Lothar zurück. »Ich würde niemals gewissenlos ein Menschenleben zur Forschung benutzen.«

»Du sprichst wie ein unreifer Knabe, Lothar. Du als Arzt –«

»Ich spreche, wie es mir die Sohnespflicht vorschreibt. Sie sind zum Mörder an meinem Vater geworden und ich verlange jetzt Rechenschaft. Ich könnte hingehen, könnte Sie öffentlich bloßstellen, der Jüngere den Aelteren, aber man würde versuchen beizulegen, was der Arzt dem Arzte vorzuwerfen hat. Mich aber wird keine Macht der Erde hindern, Rechenschaft von Ihnen zu verlangen, denn grenzenlos ist mein Haß, grenzenlos meine Verachtung! Was Sie mir angetan haben, das sühnt nur Blut. Mit der Waffe in der Hand werden mir uns gegenüberstehen.«

Da vertrat ihm Gervinus den Weg. »Meinst du mich zu zwingen, Lothar? Ich, als dein Schwager, verweigere dir dieses Duell!«

»Sie verweigern es?«

»Ja, denn Wahnsinn ist es, was du jetzt sprichst. Geh heim, und wenn du ohne Erbitterung bedenkst, was du soeben hier gesprochen, so muß dir die Röte der Scham in die Wangen steigen.«

»Du Mörder, willst dich aufwerfen zum Richter über mein Tun? – Ich werde Sie zu zwingen wissen, sich mit mir zu schlagen!«

Gervinus blickte dem Erregten fest ins Auge. »Du willst mich zwingen?« Er lächelte überlegen.

Da hob Lothar die Hand. »So werde ich Sie züchtigen wie es Ihnen zukommt.«

Zu seiner ganzen imponierenden Größe richtete sich jetzt der Professor auf und trat dicht vor den jungen Schwager hin: »Nun, Lothar, du willst mich schlagen?« Aber dann plötzlich sprang seine Stimme auf wie sprühendes Feuer: »Wag' es, Knabe! Wag' es die Hand zu erheben gegen den Mann, der dir und euch allen nur Gutes tat! Wag' es und du wirst meine ganze Kraft fühlen!«

Da wich Lothar erblassend zurück, die gehobene Hand sank ihm schlaff herab. Er schaute in dieses eherne Antlitz, dessen überwältigende Ruhe und Hoheit ihm eine Scheu einflößte, die er bisher nicht gekannt hatte. Die trotzig aufgeschlagenen Augen senkte er zu Boden, dann stieß er die Worte hervor:

»So wird der Ehrenrat entscheiden, was hier zu tun ist!«

Dann ging er davon. –

In tiefe Gedanken versunken überhörte Gervinus das leise, schüchterne Klopfen. Erst beim dritten Male vernahm er es und auf seinen Ruf trat Wanda über die Schwelle. Sie schlich langsam näher, sank dann plötzlich vor dem Professor nieder und brach in heftiges Weinen aus.

»Was soll das, Wanda? Stehen Sie auf. Was wollen Sie?«

Sie aber blieb am Boden liegen und stotterte unter heftigem Schluchzen, daß sie alles wisse. Der Vater sei hier gewesen, er hätte Herrn Doktor Krenkow und Frau Professor alles aus der Vergangenheit erzählt. »Aus Haß hat er es getan. Er wollte Rache nehmen für seine Entlassung und dabei weiß ich doch, daß Sie, Herr Professor, ihm nur immer Gutes erwiesen haben. Ich weiß auch, daß der Vater immer tiefer sinkt. Ich kann ihn nicht mehr halten.«

Ein warmes Mitgefühl stieg in Gervinus Innerem empor. Das bitterlich weinende Mädchen tat ihm leid. Sie litt unter der Verkommenheit des Vaters und unter seiner jetzt so niedrigen Handlungsweise.

»Stehen Sie auf, Wanda. Es wird schon noch alles zum guten Ende kommen.«

»Niemals wird es wieder gut werden,« jammerte sie. »Mit Fingern wird man auf die Tochter des verkommenen Mannes zeigen. Schon jetzt hat mich mein Bräutigam deswegen verlassen. Aber nicht allein mein Leid treibt mich her, Sie leiden, Herr Professor, und das tut mir weh. Ich möchte Ihnen helfen.«

Er strich ihr leicht über das Haar. »Sie sind ein gutes Mädchen, Wanda. Ich will sehen, was ich für Sie tun kann.«

»Lassen Sie mich wenigstens in Ihrem Dienste bleiben,« weinte Wanda. »Ich habe Stunden, in denen mir die Angst fast die Sinne raubt. Darf ich mich dann an Sie wenden, um ein beruhigendes Wort von Ihnen zu hören?«

»Kommen Sie, Wanda, so oft Sie wollen. Selbstverständlich bleiben Sie in meinem Hause, denn ich hoffe, daß die gnädige Frau in aller Kürze zurückkehrt.«

»Wenn der Herr Professor mir sagen würden, wo sich die gnädige Frau aufhält, könnte ich vielleicht etwas nützen. Ich war einst die Gespielin der gnädigen Frau, ich kannte auch deren Vater und wußte, daß es damals für ihn keine Rettung mehr gab. Vielleicht könnte ich der gnädigen Frau einige beruhigende Worte sagen.«

Professor Gervinus streckte dem Mädchen die Hand hin. »Ich danke Ihnen, Wanda. Aber lassen wir die Vergangenheit. Meine Frau ist bei einer befreundeten Familie, bei Frau von Billerbeck. Sie wird dort für einige Zeit bleiben und dann wieder hierher zurückkehren. Und nun weinen Sie nicht länger. Hoffen Sie auf eine gute Zukunft.«

Da ging Wanda. Um ihre Lippen spielte ein befriedigendes Lächeln.

In später Abendstunde, als sich Gervinus gerade zur Ruhe begeben wollte, klopfte es wieder an seine Tür. Er öffnete und sah Wanda, die nur einen losen Morgenrock übergeworfen hatte. Ihre Augen schwammen in Tränen. »Verzeihen Sie, Herr Professor, aber ich halte es vor Angst nicht länger aus. Wollen Sie mir einige Tropfen geben. Ich finde sonst die ganze Nacht über keinen Schlaf.«

Er sah, wie sie sich fröstelnd in ihr Gewand hüllte, sah ihre bloßen Füße.

»Sie werden sich erkälten, Wanda. Gehen Sie sogleich in Ihr Zimmer. Ich komme hinüber. Legen Sie sich hin, ich bereite Ihnen inzwischen ein Beruhigungsmittel.«

Wenige Minuten später stand er an ihrem Bett, die furchtbare Aufregung schien gewichen zu sein, nur manchmal zuckte sie leicht zusammen. Gervinus wollte es erscheinen, als seien diese Zuckungen keine Krankheitserscheinungen, doch wies er diesen Gedanken rasch von sich. Wanda schluchzte immer wieder:

»Was wird aus meinem Vater werden!« Als sie sich aber noch immer nicht beruhigen wollte, zog sich der Arzt einen Stuhl an ihr Bett. »Jetzt schlafen Sie, Wanda, ich werde sehen, daß ich für Ihren Vater noch etwas tun kann.«

»Ich habe Ihnen ja noch nicht alles gesagt, Herr Professor. Der Vater kommt ins Gefängnis, wenn ich ihm nicht bis morgen helfe. Er hat dreihundert Mark, die man ihm anvertraute, unterschlagen und muß das Geld bis morgen schaffen. Meine Ersparnisse betragen nur wenig über hundert Mark und ich weiß nicht, woher ich den Rest nehmen soll. So wird man den Vater ins Gefängnis werfen.«

»Warum haben Sie nicht gleich Vertrauen zu mir gehabt, Wanda? Jetzt sehe ich allerdings ein, daß wir für Ihren Vater etwas tun müssen. Wegen des Geldes machen Sie sich keine Sorge und Ihre eigenen Ersparnisse behalten Sie sich.« Er zog seine Brieftasche hervor. »Hier gebe ich Ihnen dreihundert Mark, doch bitte ich Sie, morgen mit Ihrem Vater zu seinem Schuldner zu gehen und dort das Geld persönlich abzuliefern. Sie brauchen aber nicht zu sagen, daß der Betrag von mir kommt.«

Abermals brach Wanda in einen Tränenstrom aus. »Tausend Dank, Herr Professor! Ich werde niemals vergessen, was Sie an mir taten. Mein Leben lang will ich Ihnen dienen und versuchen, diese Summe langsam abzuzahlen.«

Er wehrte ihr mit leisem Lächeln. »Nehmen Sie es als Geschenk, Wanda, es macht mir Freude, Tränen trocknen zu können.« Er neigte sich nochmals ein wenig über ihr Bett, da umschlang ihn Wanda plötzlich mit ihren Armen.

»Wie ein Vater sind Sie zu mir,« klang es in rührenden Tönen an sein Ohr. Ganz scheu drückte sie ihre Lippen auf seine Wange. »Verzeihen Sie mir, Herr Professor, aber ich habe so lange Elternliebe entbehren müssen. Ich konnte jetzt nicht anders handeln. Es ist eine grenzenlose Sehnsucht in mir nach einem Lebenszeichen, und diese Sehnsucht überwältigte mich soeben.«

Gervinus betrachtete die Sprecherin mit einem warmen Blick. »Sie armes Kind, nun aber schlafen Sie.«

»Sie zürnen mir nicht, Herr Professor?«

»Warum sollte ich Ihnen zürnen, Wanda?«

»Weil – ich – Sie – küßte.«

Seine Stimme war voll weicher, väterlicher Güte. »Sie sehnten sich nach Liebe, sehnten sich danach, Ihr überströmendes Gefühl zu zeigen. Nein, Wanda, ich zürne Ihnen deswegen nicht.« Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände und drückte flüchtig einen Kuß auf ihre Stirn. »So, nun wissen Sie genau, daß Sie einen Berater an mir haben.«

Dann verließ er das Zimmer. Aber kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, da richtete sich Wanda in ihrem Bett auf und ein glühender Triumph blitzte aus ihren Augen. Raubtierartig bohrten sich ihre weißen Zähne in ihre Unterlippe und dann lachte sie frohlockend in sich hinein.


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