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9. Kapitel
Der Segen der Arbeit

»Du bist doch die Tapferste von uns, Bärbel. Weißt du noch, wie wir uns alle trafen, nachdem wir zehn Jahre von der Schule fort waren? Jeder von uns mußte aus seinem Leben berichten, wir hörten viel Schlimmes, viel Gutes. Und wenn wir wieder einmal alle zusammenkommen werden, hat sich abermals der Lebensweg jeder Einzelnen von uns geändert. Du, Bärbel, wirst trotzdem den Kopf nicht hängen lassen. Du hast dir eine Existenz aufgebaut, hast, wie du mir soeben sagtest, so viel zu tun, daß du es nicht immer allein schaffen kannst.«

»Darüber bin ich einerseits sehr froh, Gabriele. Aber die viele Arbeit hat auch für mich ihre Schattenseiten. Ich fühle mich den Kindern gegenüber ein wenig schuldig. Ich glaube, ich vernachlässige bei meinem Existenzkampf meine Mutterpflichten.«

Gabriele Langen, eine der Schulfreundinnen Bärbels, schüttelte den Kopf. »Ich sehe deine drei Kinder aufwachsen, ganz reizende Rangen, frisch, übermütig und herzensgut. Wenn alle Mütter solche Kinder hätten, möchte ich sogar umsatteln und Lehrerin werden. Es müßte eine Lust sein!«

»Ich denke, du fühlst dich wohl in deinem Beruf?«

»Ja, Bärbel, ich bin durchaus zufrieden. Ich habe meine hochinteressante Arbeit als Assistentin im Röntgenlaboratorium, ich bin mit dem Los, das ich mir schuf, durchaus zufrieden. Es macht mich stolz, sagen zu können, daß ich allein den Weg durchs Leben finde und dabei zufrieden bin. Drücke nur nicht den Kopf zwischen die Schultern, Bärbel. Es gibt überall Glück und Leid im Leben. Du weißt, auch ich habe nicht immer das seelische Gleichgewicht gehabt. Aber das macht nichts. Kampf, Leid, Entsagung stählen Herz und Seele. Auch du hast dich allezeit tapfer gehalten und prächtig durchgerungen.«

»Ja, Gabriele, ich habe es versucht und es ist mir gelungen. Natürlich bleibt die Lücke in meinem Leben. Und darum bin ich froh, daß ich so viel Arbeit habe. Eigentlich ist es wunderbar, bei den heutigen schlechten Zeiten, doch mein einstiger Fremdenbesuch am Silvesterabend hat mir außerordentlich genützt. Denke nur, es vergeht kaum eine Woche, in der ich nicht ein ganzes Paket Amateuraufnahmen zum Entwickeln bekomme. Jeden Augenblick hält ein Auto vor meinem Hause, und auch Geheimrat Rose bin ich zu großem Danke verpflichtet. Wie für eine liebe Tochter sorgt er für mich. So manches habe ich durch ihn bekommen, und wenn ich auf die beiden letzten Monate zurückblicke, mag ich es gar nicht glauben, daß mein Atelier, das im Dezember eröffnet wurde, innerhalb von vier Monaten so gut besucht ist.«

»Du leistest gute Arbeiten, Bärbel, aber dazu kommt noch etwas anderes. Wer dich kennenlernt, wird von deinem Zauber gefangengenommen. So ist es uns allen schon in der Schulzeit ergangen. Wir hatten dich alle herzlich lieb und haben dich lieb behalten. Allen denen, mit denen du in Berührung kamst, ist es wohl ebenso ergangen. Unser Goldköpfchen hat durch seine Güte alle Gegner bezwungen und hat sich seinen Weg selbst gebahnt.«

»Ach, Gabriele, was fällt dir ein, so zu sprechen. Rate mir lieber, wie ich es mache, daß der Tag einige Stunden länger ist. Gerade gestern hat mir Jürgen gesagt, daß ich früher viel mehr mit ihnen gespielt habe. Es ist ein Vorwurf für mich, Gabriele. Ich möchte mich meinen Kindern mehr widmen, darf aber auch meine Arbeit nicht liegen lassen.«

»Das Entwickeln und Kopieren der Amateuraufnahmen könnte doch irgendeiner weniger geübten Kraft überlassen werden, Bärbel.«

»Ich wage es nicht, eine Hilfe einzustellen, liebe Gabriele. Ich weiß ja nicht, ob der Zuspruch so rege bleibt. Eine Hilfskraft ist teuer.«

»Bärbel!« Gabriele schlug der Freundin auf die Schulter. »Gutherziges Goldköpfchen, ich glaube, wir können zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.«

Fragend blickte Bärbel die Freundin an.

»Ich muß dir wieder einmal von einem traurigen Menschenschicksal berichten, Bärbel. – Ach, daß ich daran nicht eher dachte. Ich habe eine Kollegin, die erzählt uns oft von Karla Schilling. Auch sie hat Photographie gelernt. Anfangs wollte sie lieber Röntgenschwester werden, doch die Mutter hat es mit ihrer kleinen Pension nicht durchhalten können. Sie hat in Dresden eine Lehrstelle gefunden und war im Oktober fertig. Bis heute hat sie noch keinen Posten. Das wäre sonst gar nicht so schlimm; doch im Januar ist ihr die Mutter gestorben, mit der sie zusammen lebte. Nun hat sie nichts, da die kleine Pension wegfällt. Meine Kolleginnen berichteten, daß ein Möbelstück nach dem anderen verkauft wird. Fräulein Karla ist so verzweifelt, daß sie sich nicht aufraffen kann. Ein Mensch, der vor dem Leben Angst hat, der den Kampf damit nicht aufnehmen will oder kann; für jeden Zuspruch ist Fräulein Schilling vorläufig unzugänglich. Wenn sie Arbeit hätte, – Arbeit hilft über vieles hinweg.«

»Ja, Arbeit«, sagte Bärbel leise. »Wer arbeitet, der verzweifelt nicht.«

»Ob ich mal mit Fräulein Schilling rede? Vielleicht kannst du sie ein wenig aufrichten. Du, die du dich selbst so tapfer im Leide zeigtest, du dürftest die rechten Worte für sie finden, dürftest sie verstehen.«

»Sie ist ganz allein?«

»Ja, seit sie die Mutter hingeben mußte.«

»Ich weiß zwar nicht, ob ich ständig für sie genügend Beschäftigung habe. Doch wenn ich ihr im Augenblick helfen kann, will ich es tun. – Arbeit, ja Arbeit, ich selbst habe es erfahren, welch starken Trost emsige Arbeit gibt.«

»Ach, Bärbel, – du bist immer für andere da! Ich spreche mit Karla Schilling. Gleich morgen besuche ich sie. Dann komme ich in den nächsten Tagen am Abend einmal zu dir, mit ihr. Vielleicht könnt ihr etwas festmachen. Es wird freilich nicht leicht sein, die Verzweifelte zu diesem Schritt zu bewegen.«

»So bringe sie mir recht bald, liebe Gabriele. Jede Stunde, die man nur seinem Leid, seinem Unglück lebt, wiegt schwer und kann den Menschen so niederdrücken, daß er das Aufraffen ganz verlernt.«

»Du sagtest vorhin, du leidest in dem Bewußtsein, dich deinen Kindern zu oft entziehen zu müssen. Fräulein Schilling kann dir manche Arbeit abnehmen, und vielleicht findet ihr Gefallen aneinander. Du wirst sicherlich die rechten Worte für ihre kranke Seele sprechen.«

Nachdem Gabriele Langen gegangen war, blickte Bärbel noch eine Weile sinnend vor sich nieder. Wieder ein trauriges Menschenlos. Ein Schicksal, das ihr ins Herz schnitt. Ein junges Mädchen, allein in der Welt stehend und vergeblich nach Arbeit suchend. Im Augenblick hätte Bärbel manche Arbeit für eine Helferin gehabt. Warum sollte sie es also nicht einmal versuchen? Und wenn sie nur ein wenig Trost in die Seele der Vereinsamten goß, es würde gewiß nicht vom Übel sein.

Karla Schilling! Wie merkwürdig! Karl Schilling, Karlos Schilling.

Bärbels Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit. Wie lange war es her, daß sie Karl Schilling, den Eleven, kennengelernt hatte? Merkwürdig, daß sie ihn bis heute nicht vergessen hatte. Vierzehn Jahre war sie alt gewesen, als sie für den Eleven schwärmte, der auf dem Gute Kortentin beschäftigt war. In ihrem alten Tagebuch war manches über ihn niedergeschrieben. Auch das Stück Blutwurst, das er ihr schenkte, das sie wochenlang in einem Blechkasten aufbewahrt hatte, kam ihr jetzt wieder in den Sinn. – Glückliche Jungmädchenzeit! Wieviel Freude war schon durch ihr Leben gegangen! Welch eine glückliche Jugend lag hinter ihr. Die geliebten Eltern, die hübsche Schulzeit. Sie war zwar niemals gern zu Fräulein Gregor in den Unterricht gegangen, doch in der Erinnerung war es trotzdem eine wonnige Zeit gewesen. – Und dann Bruder Joachim, der seinen Schulfreund ins Elternhaus mitbrachte. Sie wußte noch ganz genau, wie Harald Wendelin zum ersten Male nach Dillstadt gekommen war. Er hatte sich schon immer mit dem kleinen Mädchen beschäftigt, doch für Bärbel war Harald nur ein Streber gewesen, und junge Leute, die fleißig lernten, mißfielen dem Kinde.

Weiter und immer weiter wanderten die Gedanken. Die übermütige Backfischzeit in Dresden bei der guten Großmutter. Auch hier wieder das häufige Zusammentreffen mit ihrem Harald, der schon damals fest entschlossen gewesen war, den trotzigen Backfisch einstmals zu seinem Weibe zu machen.

Und an die Backfischzeit schloß sich die Lehrzeit. Auch ihr hatte im Anfang davor gegraut. Welch eisiger Schreck war ihr durch die Glieder gefahren, als sie ausrechnete, daß sie über tausendmal frühmorgens zu Herrn Brausewetter gehen müßte. Wie schwer war ihr mancher Tag dort geworden und wie dankbar war sie heute, daß sie etwas Ordentliches gelernt hatte.

Und dann – – Bärbel stand auf und schaute durch das Fenster hinaus zum stillen Friedhof. Glück, – Glück – Glück ohne Ende!

Sie strich sich mit der Hand über die Stirn. »Karla Schilling. Sie soll zu mir kommen. Es ist mir, als ob mich das Schicksal an all das Schöne und Herrliche mahnte, was ich seit jenen Tagen, in denen ich Karlos Schilling kennenlernte, bis heute genossen habe. – Wie ein Ruf ist es, und ich will ihn hören.«

Nicht die Zeit verträumen! Es war noch viel Arbeit zu erledigen, und auch die Kinder mußten zu ihrem Recht kommen. Sie hatte ohnehin durch die Plauderstunde mit Gabriele Langen schon manches versäumt. Also schnell hinüber zu den Kleinen, um mit ihnen das Abendessen einzunehmen.

Die Kinder hatten sofort allerhand Wünsche, unendlich viel zu erzählen, und alle die kleinen Neuigkeiten erregten natürlich Bärbels Interesse. Wie schön war es doch, daß alle drei keine Geheimnisse vor der Mutter hatten. Alle kleinen Sünden, alle begangenen Missetaten wurden gebeichtet, ohne daß Bärbel daran zu mahnen brauchte.

»Mutti, haste auch bald Osterferien wie wir?«

»Vielleicht hat die Mutti in der nächsten Woche etwas mehr Zeit für euch.«

»Na, dann ist es ja gut«, meinte Hermann erleichtert. »Ich dachte schon, das geht nun immer so fort. Schön wäre das nicht, aber – freilich, Brotverdienen ist eine saure Beschäftigung.«

»Zu Ostern suchste mit uns Eier, Mutti?«

»Aber freilich, kleiner Jürgen.«

»Und Erna will auch viele Ostereier und ein Osterhäschen.«

»Der Onkel Geheimrat will mir auch Ostereier bringen. Ich habe ihm gesagt, hundert Stück sollen es sein.«

»Jürgen, du bist ein kleiner Vielfraß!«

»Mutti, Ostern, sagte das Fräulein in der Schule, da ist Auferstehung. Aber der Vati steht nicht auf?«

»Aus seinem Grabe kommt er freilich niemals wieder hervor, mein lieber Junge. Doch an allen hohen Festen ist der Vater euch ganz besonders nahe. Und am Auferstehungsfest müßt ihr doppelt daran denken, daß der Vati in euch lebt. Schau, manchmal ist es gewiß der Vati, der euch alle die guten und schönen Gedanken eingibt. Als Hermann im Winter Herrn Hampel vom Ertrinken errettete, war es der Vater, der in ihm lebte, der ihm zurief: ›Hermann, rette den Ertrinkenden!‹«

»Ja, Mutti«, meinte Hermann. »Ich habe auch immerzu an den Vati denken müssen.«

»Und wann lebt der Vati besonders in mir?« wollte der kleine Jürgen wissen.

»Wenn du einmal ein Unrecht begangen hast, und wenn es dir im Herzen so schwer ist, dann klopft der Vati in deinem Innern an und mahnt: ›Jürgen, kleiner Jürgen, denke daran, daß du ein Unrecht begingst und mache es wieder gut.‹«

Eine kurze Stille trat ein, dann sagte Jürgen: »Ja, das habe ich schon gemerkt. Manchmal steckt der Vati ganz toll in mir! Oh, dann ist es mir so schwer.«

»Siehst du, Jürgen, du hörst ihn also auch schon. Darum ist uns der Vati auch niemals gestorben, darum lebt er weiter für uns, darum vergessen wir ihn niemals.«

»Mutti ist der Vati auch bei der kleinen Erna?« forschte die Jüngste und schlang die Ärmchen um den Hals Bärbels.

»Ja, mein Mädelchen, er kommt abwechselnd zu jedem von euch und paßt gut auf, daß ihr gute und brave Kinder werdet.«

»Wo ist er denn, wenn er in mir ist?«

»Hier in deinem kleinen Herzen.«

»Och, der Vati in mir?«

»Ja, Kleinchen.«

Das kleine Plappermäulchen schwieg. Alle drei Kinder schienen über die Worte der Mutter nachzudenken.

Jürgen unterbrach schließlich die Stille. »Wenn aber nun Ostern der Auferstehungstag ist, ob er dann nicht vielleicht mal zu uns kommt?«

»So ist das nicht gemeint, Hermann. Ich sagte dir schon, daß der Vati in den Feiertagen euch doppelt nahe ist.«

Es war am nächsten Morgen, als Bärbel mitten in der Arbeit von ihrer Kleinsten gestört wurde. Frau Leuschner kam hinter dem Kinde ins Atelier gegangen.

»Sie läßt sich nicht halten, Frau Wendelin, sie muß Ihnen etwas sagen.«

»Mutti«, rief die Kleine erregt, »horch mal!«

»Was soll ich denn hören, Kleinchen?«

»In mir rumort es so fürchterlich, – Jetzt höre ich den Vati ganz deutlich.«

Erna atmete tief und lang, der kleine Kindermagen knurrte.

»Der Vati redet mit mir, – horch doch mal. – Mutti, was sagt er denn?«

»Da wollen wir einmal horchen, Kleinchen. – Oh, die Mutti versteht es ganz genau.«

»Was sagt er?« fragte Erna gespannt.

»Lieb sein, – brav sein, – gut folgen, nicht immer gleich weinen und um sich schlagen.«

»Ach, – das sagt er jetzt?«

»Ja, mein Kind.«

Da klopfte Klein-Erna zärtlich auf den Magen und sagte mit ihrem süßen Kinderstimmchen: »Ja, lieber Vati, ich versprech es dir. – Nun sei nur wieder still.«

Noch lange hielten sich Mutter und Tochter fest umschlungen. – –

Schon am übernächsten Tage kam Gabriele Langen mit der jungen Photographin. Voll unendlichen Mitgefühls schaute Bärbel auf das schwarzgekleidete junge Mädchen, dessen Antlitz vor Schmerz und Verzweiflung wie versteinert war. Die warmen, innigen Worte, die Goldköpfchen sprach, lösten gerade das Gegenteil von dem aus, was Gabriele Langen erwartet hatte. Leidenschaftliche Anklagen gegen das grausame Leben flossen über die Lippen Karlas. Kein Glauben an die Zukunft, kein Hoffen auf Linderung des Schmerzes, kein Vertrauen zur eigenen Kraft.

»Was soll ich hier, wozu noch weiterleben? Ich will nicht!«

Gabrieles Antlitz verfinsterte sich. Bärbel dagegen faßte nach den Händen der Unglücklichen und hielt sie fest.

»Wir beide tragen das schwarze Kleid, uns beiden nahm das Leben so viel, daß wir kurz nach dem Verlust glaubten, es hätte uns nichts mehr zu schenken. Ich kann Sie sehr gut verstehen, Fräulein Schilling, ach, gar zu gut! Vielleicht habe ich in der ersten Zeit meines Schmerzes genau so gedacht, obgleich ich nicht so einsam war wie Sie. Aber Sie sollen jetzt nicht mehr länger einsam sein. Suchen Sie sich Freunde, Menschen, die mit Ihnen empfinden können. Sehen Sie, dieses schwarze Kleid, das wir beide tragen, ist wie ein Symbol. Erst ist alles, alles schwarz und dunkel um uns her; doch dann kommt die Zeit, die gütige, lindernde Zeit, und man vertauscht das schwarze Gewand mit einem grauen. Es wird ein wenig heller um uns her. Die Seele richtet sich ganz langsam auf, und schließlich hat man selber Sehnsucht nach dem weißen Gewand, nach dem Licht, das unsere Zukunft wieder erhellen soll. Liebes Fräulein Karla, nur nicht verzweifeln, denn wer am Leben verzweifelt, der ist verloren. Aber in den Stunden der Verlassenheit hilft uns nur die Arbeit und ich habe Arbeit für Sie. Wollen Sie bei mir tätig sein? Morgen, nein, schon heute, gleich jetzt, sollen Sie Arbeit haben. Sehen Sie um sich, es wartet Beschäftigung auf Sie.«

Noch richtete sich der trotzig gesenkte Kopf nicht auf. Aber um die zusammengepreßten Lippen zuckte es leise.

Und immer weiter sprach Bärbel. Sie brauchte ihre Worte nicht erst zu überlegen. Sie dachte zurück an die Stunden ihres ersten Grames. Da flossen die Worte wie von selbst über ihre Lippen.

Als Karla Schilling in lautes, wildes Weinen ausbrach, zog Bärbel den Kopf des jungen Mädchens an ihre Brust.

»So lege ich das Haupt meiner Kinder an mein Herz, wenn sie mit ihren kleinen Sorgen zur Mutter kommen. Dann fühlen sie, daß ich es gut mit ihnen meine. Genau so soll auch Ihr müdes Köpfchen an meinem Herzen ruhen, bis Sie das Pochen verstehen, Karla, bis Sie wissen, daß neben Ihnen jemand sitzt, der Ihre große Not begreift, der Sie aufrichten möchte. – Nein, vor dem Leben wollen wir uns nicht fürchten, meine liebe, kleine Freundin, das paßt nicht mehr in die heutige Zeit. Den Kopf hoch und mutig voran! Freilich, je jünger man ist, um so dichter scheint das Dunkel zu sein, in das man nun hineintappen soll. Aber das ist ganz falsch. Noch einmal, Fräulein Schilling, bei mir liegt gar viel Arbeit, ich bitte Sie, helfen Sie mir!«

Gabriele Langen sagte kein Wort. Sie fühlte, Bärbels Seele rang um das verzweifelte junge Menschenkind, Bärbel breitete ihre gütigen Arme weit aus, um einer Schicksalsgenossin beizustehen. Noch immer zitterte Karlas Körper in verhaltenem Weinen, doch immer fester legten sich Bärbels Hände um die Aufgewühlte.

»Man kann es schon zwingen«, sagte sie leise und weich. »Ich habe es an mir selbst erfahren. – Wollen Sie es nicht auch versuchen?«

Nochmals eine wilde Anklage gegen das grausame Leben; dann zerbrach Karlas Widerspruch an Bärbels gütigen Worten.

»Arbeit«, rief sie leidenschaftlich, »ja, arbeiten will ich, auf daß ich alles vergesse!«

Noch in derselben Stunde führte Bärbel die neue Hilfskraft in die Dunkelkammer, gab mit ruhiger, energischer Stimme die notwendigen Anweisungen und lauschte zwischendurch angstvoll, ob der Schmerz Karlas nicht erneut die Überhand gewinnen werde. Es war ein gewagtes Experiment. Bärbel wußte nicht viel von der Fremden, aber sie hatte in diesem Augenblick nur den einen Wunsch, das junge, mutlose Mädchen über das Schwerste hinwegzubringen, einem hoffnungsleeren Leben wieder Inhalt zu geben.

»Eine wundertätige Fee bist du«, sagte Gabriele bewundernd. »Weißt du, Bärbel, was man dir über dein Leben schreiben müßte? Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt. Du, die vom Leid geprüfte, du, die geläutert daraus hervorgegangen ist, du kannst uns allen ein Vorbild sein.« –

Karla Schilling kam täglich nach Heidenau hinaus. War sie auch anfangs sehr verschlossen, so merkte Frau Wendelin doch, daß sie sich mit Eifer auf die Arbeit stürzte. Es geschah wohl auch, daß mitunter ein hartes Wort von Karlas Lippen fiel. Goldköpfchen hörte es absichtlich nicht. Der Schmerz, den die Ärmste erlitten hatte, mußte zuerst überwunden werden. Da durfte sie mit unüberlegten Äußerungen nicht abrechnen. Die Arbeit, die Karla Schilling leistete, war einwandfrei, und so blieb Bärbel von nun an manche Viertelstunde, die sie den Kindern schenken konnte. Es war vielleicht wieder möglich, alte Freunde und Bekannte zu besuchen. Sie hatte in der letzten Zeit, wegen zu überreichlicher Arbeit, sogar Forstrat Schmeling und seine Gattin vernachlässigen müssen. Auch die regelmäßigen Sonntagsbesuche bei Geheimrat Rose waren unterblieben, zum Schmerze Hermanns, der sich mit leidenschaftlicher Liebe an den alten Gelehrten angeschlossen hatte. Aber nun, da Karla Schilling im Atelier mit arbeitete und alle einfacheren Aufträge selbständig erledigte, hatte es Bärbel leichter.

Ostern! – Ganz flüchtig war erwogen worden, daß Goldköpfchen mit den Kindern nach Dillstadt zu den Großeltern kommen sollte. Doch rasch wieder hatte man diesen Plan fallen lassen. Dagegen hatte sich Bruder Kuno für einige Tage in Heidenau angesagt. Auch Geheimrat Rose wollte einen Nachmittag im Kreise seiner jungen Freunde verbringen. Man hatte auch Karla Schilling, die Einsame, eingeladen. So hoffte Bärbel, daß das Osterfest für alle glücklich und befriedigend verlaufen werde.

Sie hatte sich nicht getäuscht. Die Stimmen schwirrten durcheinander, und zeitweilig klang auch frohes Lachen hindurch. Alt und jung bunt durcheinander.

Bärbel vernachlässigte ihre Hausfrauenpflichten nicht. Sie hatte sich für ein Weilchen entfernt; als sie wieder ins Zimmer kam, blieb sie einige Augenblicke beobachtend in der Tür stehen. Ein Lächeln übersonnte ihr Gesicht. Wie war es möglich, daß in diesem Hause, in dem vor kaum einem Jahr grenzenlose Trauer und Hoffnungslosigkeit herrschten, wieder so viel Frohsinn wohnte? Ihre Augen überflogen die einzelnen Gruppen. Dort am Fenster Geheimrat Rose, neben ihm Hermann, auf seinen Knien Jürgen. Hermanns laute Stimme ertönte. Er war mit dem alten Gelehrten in Meinungsverschiedenheit über Indianerangelegenheiten. Immer wieder hielt er dem Geheimrat ein Bild aus dem Lederstrumpf vor die Augen.

»Da hast du dich mächtig verguckt, Onkel Geheimrat. So sieht er aus. In dem Buch steht es doch.«

»Nein, mein Junge, ich habe mich nicht verguckt. Ganz genau habe ich mir die Rothäute angesehen.«

»Na, so schau doch her!«

Und immer eifriger fuchtelte Hermann mit dem Buch vor dem Gesicht des alten Geheimrates hin und her, immer eifriger klang seine Stimme. »Du wirst dich doch verguckt haben!«

In der Ecke auf dem Ledersofa Karla Schilling in ihrem schwarzen, schlichten Kleid, und neben ihr Bruder Kuno. Was war das für ein zärtlicher Blick mit dem er das blasse Mädchengesicht streifte?

»Solange man lebt, muß man hoffen.«

»Ja, ich will es versuchen!«

Ganz leise entfernte sich Bärbel wieder aus dem Zimmer. Im Augenblick war sie hier überflüssig. Keiner vermißte sie. Im Kinderzimmer spielte Erna mit ihren Puppen, Frau Leuschner, ihre Getreue, behütete die Kleine.

Rasch hinüber ins Atelier, einen lieben Blick zum Grabe des Entschlafenen werfen.

Und dann – – Bärbels Brust hob sich unter einem schweren Atemzuge. Irgendwo im Hause hatte einer den Rundfunkapparat angestellt. Die Fenster waren geöffnet, zu ihr heraus drangen die weichen, süßen Klänge eines Liedes. Sie kannte es sehr genau. Der Student hatte es dem Backfisch vorgespielt, der Verlobte seiner geliebten Braut, und später hatte Harald nur zu oft das Lieblingslied Bärbels auf dem Klavier ertönen lassen.

Sie legte das Gesicht still in beide Hände. »Ich liebe dich«, sang unten eine Stimme, »ich liebe dich, in Zeit und Ewigkeit.«

»Ich liebe dich«, flüsterte Bärbel und schaute zum stillen Hügel hinüber.

Nun kamen doch wieder die Tränen. Und gerade, als Bärbel das Gesicht in ein Kissen drückte, wurde stürmisch die Ateliertür geöffnet. Laut weinend stürzte die kleine Erna herein.

»Mutti«, schluchzte ein unglückliches Kind, »ich habe ihr doch nur in die Augen gepiekt, nu sind die Augen der Puppe in den Bauch gekullert. Nu hat sie keine Augen mehr.«

Welch wilder Kinderschmerz klang durch diese Worte. Mit rascher Bewegung rieb sich Bärbel die Augen trocken. Sie wußte, das Leid dieses Kindes war im Augenblick ebenso groß wie das ihre. Und was hatte sie versprochen? Für die Kinder da zu sein, erst die Kinder, dann sie selbst.

»Da müssen wir die Puppe rasch wieder in Ordnung bringen, Erna. Es ist ja gar nicht so schlimm. Deine Puppe kann doch auch einmal krank sein. Und morgen ist sie wieder ganz gesund.«

»Kannst du sie wirklich wieder gesund machen, Mutti?«

»Ja, mein Kleinchen.«

Die Kindertränen versiegten sofort. Ein Leuchten brach aus den hellen Augen.

»Die Mutti kann alles«, sagte der kleine rote Mund bewundernd. »Was habe ich für eine liebe Mutti!«

Bärbel nahm die Kleine auf den Arm. Von unten herauf klang es wieder: »Ich liebe dich!«

Goldköpfchen schaute auf ihr Jüngstes nieder, und die Lippen murmelten:

»Mein Mädelchen, ich liebe dich, ich liebe euch in Zeit und Ewigkeit!«


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