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V

Tags darauf brachte die Post Herrn Bäuwlin die Einladung zu einer Konferenz. Er selber hatte seinerzeit die Idee zur Ausbeutung einer noch unbenützten Wasserkraft im Wallis lanciert, und nun war die Sache so weit gediehen, daß zur eingehenden Untersuchung der verschiedenen Varianten an Ort und Stelle geschritten werden konnte. Daß er der Einladung Folge leistete, verstand sich von selbst. Soweit war alles klar; aber was sollte nun mit Lydia geschehen? Herr Simeon ertappte 54 sich plötzlich darüber, daß von den zwei Gründen, die ihn hiehergeführt, der eine auf dem besten Weg in die Vergessenheit begriffen war. Er hatte in den letzten Tagen fast nur noch an die Überwindung seiner eigenen innern Unruhe gedacht und die Sorge um die Zukunft seiner Tochter vernachlässigt. Hatte er nicht seiner Frau mit dem ganzen Gewicht seines eheherrlichen Verantwortungsgefühls erklärt: «So, nun ist’s gut, nun werde ich Lydia in Sicherheit bringen. Ich werde darüber wachen, daß sie sich frei nach dem Zug ihres Herzens entwickeln kann. Ich werde darüber wachen, daß niemand sie darin durch unbefugte Einmischung stört. Ich biete jede Gewähr für einen guten Ausgang?» Ja, so hatte er sich eingesetzt. Und nun mußte er doch notgedrungen sein Kind einem andern Hüter anvertrauen. Noch war er nicht ganz im klaren darüber, ob Frau Allenbach nicht doch eigentlich zu den «frommen Leuten» gehöre, denen er den Rücken zu kehren entschlossen war. Und doch hatte er zu der schlichten Frau ein tiefes Vertrauen gefaßt. Sie erschien ihm als die berufene Hüterin seines Kindes, so sehr, daß es ihm wie Beleigung vorgekommen wäre, ihr besondere Wachsamkeit zu empfehlen. – Sollte er sie auf den jungen Herrn vom Hornbachbrücklein aufmerksam machen? Das widerstrebte ihm nun doch. Eisi war ja gewiß eine von Gott erleuchtete Frau, der man das Seelenheil eines Kindes jederzeit anvertrauen durfte. Daneben aber war sie nun einmal eine Bäuerin und ermangelte vermutlich des Taktes, mit dem die diesseitigen Angelegenheiten einer gebildeten jungen Dame anzufassen sind. Es war wohl besser, ihr gar nichts zu sagen.

Diese Dinge gaben Herrn Simeon erschrecklich viel 55 zu denken. Sie bereiteten ihm eine schlaflose Nacht. Ja, er trug sich sogar mit dem Gedanken, Eisi schriftliche Verhaltungsmaßregeln zu hinterlassen. Als ein neuer Tag in die Stube hineinleuchtete, gab er diese Idee wieder auf. Doch brachte er es nicht über sich, abzureisen, ohne mit Eisi noch einmal gründlich Rücksprache genommen zu haben. Nachdem er Lydia mit Briefen zur Post geschickt, setzte er sich zu der Alten auf die Laube und redete sehr gründlich auf sie ein. Um sie ja nicht durch irgendein Zeichen des Mißtrauens zu verletzen, sprach er mit so viel Umschweifen, daß Eisi mit dem besten Willen nicht verstand, was er eigentlich wollte. Selbstverständlich werde sie die Tochter wohl behüten, versicherte sie, einzusperren brauche man sie aber nicht. Lydia sei ein so wohlgesittetes und ernstes Mädchen, daß man sie ruhig ihres Weges dürfe ziehen lassen. Man brauche ihr auch gar nicht den schönen Beruf noch «chüstiger» zu machen, den sie erwählt habe. «Laßt Euer Kind ganz ungestört seiner Bestimmung entgegenreifen, so kommt’s am besten.»

Herr Simeon war durch diese Worte vollkommen beruhigt und rüstete sich frohgemut zur Reise. Über die Strubelegg wollte er ins Wallis, und Lydia sollte ihn begleiten bis auf die Engstligenalp.

Am andern Morgen früh wurde aufgebrochen. Seinen Rucksack gab Herr Bäuwlin einem handfesten Burschen zu tragen. Lydia hatte nichts zu schleppen als ihren Photographier-Apparat, mit dem sie geschickt umzugehen wußte. Den Talboden durchwandernd, sangen Vater und Tochter ihre gewohnten Lieder, so daß den Träger, ungeachtet des schweren Rucksackes, gelüstete, mitzutun; aber er kannte die Lieder nicht und vergnügte 56 sich deshalb, weit voraus schreitend, den in Feld und Wald arbeitenden Kameraden seine Tagesarbeit durch kräftige Jauchzer kundzugeben. Als der Anstieg über eine von Bergwald umschattete und durch einen Wildbach aufgerissene Alpweide begann, bemerkten sie einen kleinen Buben, der in großer Angst die Weide durchlief. In kühnen Sprüngen von Block zu Block kam er über den Bach gesetzt und wollte weiter hasten, als der Träger ihn anhielt. Der Knabe zeigte große Ungeduld und lief weinend davon, noch ehe Vater und Tochter Bäuwlin die beiden einholten.

«Was fehlt dem Kleinen?» fragte Lydia.

«Eine Geiß hat er verloren.»

«Der arme Bub!»

«Ja, das geht übel an, wenn so einem Geißbuben ein Stück verloren geht.»

Der Weg wurde steiler und gebot den Wanderern Schweigen. Jedes spann seine Gedanken. Wo der Pfad sein erstes Knie macht, blieb Herr Simeon stehen und verriet alsbald, was ihn beschäftigte: «Solch ein Hirtlein fällt in Verzweiflung, wenn ihm ein vertrautes Tier aus den Augen kommt. Wie steht es aber um die, in deren Hand die unsterbliche Seele eines Menschen...»

«Ach, Papa, die unsterbliche Seele hat nicht Raum in eines Menschen Hand. Laß jetzt das! Du wirst dir die ganze schöne Wanderung verderben.»

«Was willst du? Wes das Herz voll ist...»

Herr Bäuwlin nahm sich aber zusammen und gab seiner Tochter bei weitern Halten Beweise, daß er seine Aufmerksamkeit nur noch der Natur schenke. So kamen sie nach drei Stunden beharrlichen Marsches auf die ausgedehnte Engstligenalp, wo man sich eine längere 57 Rast gönnte. Gesprochen wurde nicht viel. Jedes genoß in Andacht das erhabene Bild der Gletscher, die jenseits der blühenden Triften zwischen wuchtigen Felsmassen hingen. Zahllose flimmernde Rinnen nährten den großen Bach, der in schlanken Bogen durch die schwellenden Wiesen daherschäumte, um etwa hundert Schritte hinter den Wanderern durch eine tiefe Scharte jagend in blaue Tiefe hinauszustürzen. Wie Harfenchor füllte das hundertstimmige Brausen den weiten, mit blumigem Teppich ausgelegten Kessel. Und in den Sang der Wasser mischte sich, Melodien spinnend, das Herdengeläut, selten nur durchbrochen vom fernen, dumpfen Poltern einer berstenden Eiswand.

Die Schatten der Felsgräte schrumpften auf den sich immer blendender herauswölbenden Firnfeldern zusammen und mahnten Herrn Simeon zum Aufbruch.

«Behüt dich Gott, liebes Kind. Sei vorsichtig auf dem Heimweg.»

Rasch entfernten sich die beiden Männer, während Lydia ihren Apparat bereitstellte, um sie beim Überschreiten des Baches als belebende Staffage auf ein Bild der schönen Alp einzufangen. Mit ihren Blicken folgte sie den Wandernden, bis sie jenseits der Weiden, vom Felsgeröll kaum noch zu unterscheiden, den Aufstieg zur Paßlücke begannen. Sie hatte Mühe, sich von der Bergherrlichkeit loszureißen. Wieder und wieder wandte sie sich um und suchte die langsam Ansteigenden. Einmal noch traten sie als schwarze Pünktlein auf einer Schneerinne hervor. Dann entschwanden sie dem Auge.

«So wird es einmal sein, wenn...» Lydia wagte den Gedanken nicht weiter auszuspinnen, aber der Vergleich 58 zwischen der Alp und sonniger Jugend lag zu nahe. Und nun führte sie der Heimweg in die Tiefe. «Ja, so wird es einmal sein.» Wehmütig trat sie den Abstieg an. Was wollte sie nicht hingeben, wenn es ihr gelänge, Vater und Mutter einander wieder näher zu bringen! Sie wollten im Grund dasselbe und meinten doch einander nicht zu verstehen. Um sie, Lydia, drehte sich die Mißhelligkeit. Aber, so sagte sie sich jetzt, ist es eigentlich nur Sorge um mich und meine Zukunft? Ist es nicht eher ein Opfern aus frommer Selbstsucht? Um vor Gott als dankbare Menschen dazustehen, möchten sie mein Leben in eine bestimmte Bahn weisen. Bin ich denn nicht schon ohne die Diakonissenhaube ein Gotteskind? Die guten Eltern plagen sich um ein Gelübde, das sie längst eingelöst haben. – Nein, was doch die frommen Leute kompliziert sind! Darin hat Papa recht. Er ist zwar selber schon angesteckt davon; es war höchste Zeit, daß er hieher kam, unter diese natürlichen, unverbildeten Menschen. Wer weiß, wenn auch Mama herkäme, sie würden sich in dieser Umgebung bald wieder verstehen. Alles geht hier so schlicht gradaus.

Lydia nahm sich vor, an ihre Mutter einen Bericht über den heutigen Ausflug zu schreiben, um ihr Lust nach den Bergen zu machen. Möglichst viel von der gesunden Luft sollte dahinein. Und dazu eine Reihe schöner Photographien. Links und rechts hielt sie Ausschau nach hübschen Motiven, und es fanden sich solcher genug.

Als sie die kleine Weide im Wald wieder erreichte, hockte der Geißbub stillvergnügt auf einem Felsblock und klepfte mit der Geißel. Du kommst mir gerade recht, dachte sie.

59 «Hör mal, du!» rief sie ihn an. «Hast deine Geiß gefunden?»

«Ja», erwiderte er scheu.

«Gut. Jetzt halt dich mal schön still, gelt. Dann kriegst ein großes Stück Schokolade.»

Lydia wollte eine Zeitaufnahme machen und stellte ihr Stativ zurecht. Da fiel ihr ein, daß die Filmrolle im Apparat abgelaufen war. Sie ließ das Stativ, wo es war, und setzte sich zu dem kleinen Hirten auf den Block, um eine neue Rolle einzuspannen. Mit großen Augen verfolgte das Büblein die Hantierung Lydias, indes die Kühe und Geißen ringsherum vergnüglich grasend ihre Glöcklein läuteten. Die beiden achteten auch nicht der Sommerfrischler, die weiter unten dem Bach entlang durch den Tann gingen. Schnaufend und wedelnd rupfte in ihrer nächsten Nähe eine stattliche Kuh ihr Gras aus den Schollen, hob den mächtigen weißen Kopf, wedelte mit den Ohren und schnob behaglich in die warme Luft. Lydias Blicke ruhten mit Wohlgefallen auf dem schönen, von langen weißen Wimpern überschatteten Auge des Tieres, als ein Blinken hinter dessen Rücken sie jäh aufschreckte. Das Schwanzbüschel der Kuh hatte sich in dem Stativ verfangen und schlenkerte das zierliche Gestell unsanft hin und her. Und dazu streckte das Tier die rosige Schnauze mit gedämpftem Muhen den beiden Menschen entgegen. Als sie sich aber mit solcher Hast an seinem andern Ende zu schaffen machten und der Bub unter Schimpfen nach ihm schlug, setzte es sich in Trab, und Lydia mußte mit dem Hirten ein Stück weit hinterher laufen, um ihre Habe wieder an sich zu bringen. Es gelang ihr bald, aber o weh! Die zierlichen Messingstänglein waren verbogen wie die Hörner der 60 Kuh. Mißmutig legte sie das Stativ auf den Felsblock und überlegte, wie die verbogenen Rohre gerade zu kriegen wären.

Lydia hörte Schritte hinter sich. «Du», sagte sie, ohne aufzuschauen, «ein bißchen besser aufpassen dürftest du schon.» Als aber statt des Hüterbuben ein anderer antwortete: «Es tut mir sehr leid, daß ich zu spät kam», stand ihr beinahe das Herz still. Es war der Herr vom Hornbachbrücklein. Er entschuldigte sich, daß er Lydia so erschreckt habe, und fragte: «Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?» Aufs tiefste verwirrt, antwortete Lydia: «Ich weiß nicht, ob noch was daraus zu machen ist. Es sieht schlimm aus.»

Der junge Herr nahm das Gestell zur Hand, betrachtete es und sagte: «So arg ist’s nicht. Aber, bitte, kommen Sie mit. Dort drunten, jenseits des Brückleins, ist eine Bank, worauf wir die Stänglein vielleicht ein wenig gerade klopfen können. Nur so weit, daß man sie ineinanderschieben kann.»

Ohne weiteres schritt er mit dem Apparat dem Wege zu, und Lydia mußte ihm wohl oder übel folgen. Er bewegte sich frei und sicher, und seine klaren blauen Augen machten kein Hehl aus dem Vergnügen, das ihm der hübsche Zufall bereitete. – Zufall? Sofern man noch von einem solchen reden darf, wenn einer sich stundenlang in der Nähe eines Brückleins herumtreibt, über welches der Heimweg denjenigen führen muß, dem man zu begegnen hofft.

Als sie bei der Bank anlangten, sagte der galante Mann: «Übrigens – erlauben Sie, Fräulein, ich bin Dr. Sontag, meines Zeichens Chemiker.» Daß er ihren Namen kannte und über ihre Herkunft auf das Genaueste 61 unterrichtet war, ließ er nicht merken. Lydia klopfte das Herz, aber sie zeigte sich trotzdem unbefangen und nahm die Hilfe des jungen Herrn als etwas Selbstverständliches an. Mit vereinten Kräften klopften, schoben, drehten und zogen sie, bis Herr Sontag plötzlich sagte: «So, jetzt hab’ ich’s Ihnen glücklich entzweigemacht. Sehen Sie, da ist die Röhre gebrochen. Nun müssen Sie mir schon erlauben, daß ich das Ding zum Mechaniker schicke. In vier Tagen haben Sie’s wieder.»

«Aber nein», wehrte Lydia, «Sie können ja nichts dafür.» Sie wollte das Gestänge an sich nehmen, aber Dr. Sontag ließ es ihr nicht zu. Das Gespräch griff nun auf das Abenteuer mit der Kuh zurück, das nicht wenig zu lachen gab. Beide erfreuten sich von Herzen ihrer Unbefangenheit, die ihnen nicht so ganz selbstverständlich war und deshalb um so angenehmer vorkam. Eben wollte Lydia sich auf den Heimweg machen, als sie den alten Ärtele-Brecht des Weges kommen sah. Langsam und bedächtig schritt das Männchen. Zuweilen schien es, als wäre die Pfeife die Hauptsache und der Mann gewissermaßen nur das Vehikel zum Spazierenfahren dieses wichtigen Gerätes. Mit vergnügten Äuglein hielt Brecht vor den zweien an, und man bot sich den üblichen Gruß. Als wäre er ihnen eine Begründung für sein Erscheinen schuldig, berichtete er den Sommerfrischlern, er habe da droben auf der Weide ein Chueli. Er hatte aber keine Eile, nach dem Tier zu schauen. Wie angewurzelt blieb er stehen, paffte gelegentlich ein Wölkchen aus der Pfeife, ließ seine Blicke an den Bergwänden herumstreifen und wackelte mit dem Kopf. Allmählich schien er Lydia wiederzuerkennen, ohne sich deutlich zu erinnern, wo er sie schon gesehen. Nachdem er lange 62 die beiden betrachtet, fragte er den jungen Doktor, mit der Pfeife nach Lydia zeigend, plötzlich: «Der Schatz? – Donners hübsches Meitschi. Ihr gäbtet ein guetes Päärli zsämen.» Ihr jähes Erröten regte den Alten zu weiterer Aufmunterung an: «Mußt nit so scheu tun. An deinem Platz nähme ich das Meitschi grad eis a nes Ärvelli. Wo ich jung gewäsen bin, hab’ ich alben nid lang gefragt.»

Die beiden waren aufgesprungen und gingen behenden Schrittes talwärts. Mit vielem Lachen suchten sie über das Peinliche hinwegzukommen.

«Närrischer Kauz!» sagte Doktor Sontag. Und Lydia versicherte, der Alte sei an Kindes Statt. Als sie schon ein gut Stück weit durch den lichten Wald gegangen waren, blickten sie zurück. Der alte Brecht stand noch ungefähr am gleichen Fleck und verfolgte sie mit neugierigem Blick, als wollte er sich überzeugen, ob nicht doch der junge Herr seinem Rate folgte. So waren sie, ohne es zu wollen, auf den gemeinsamen Heimweg geraten. Um Unterhaltung waren sie nicht verlegen. Sie hatten sich im Gegenteil so viel zu sagen, daß Dr. Sontag den «Adler», wo er wohnte, weit rechts liegen ließ und Lydia in munterem Gespräch bis zum Chalet der Mutter Allenbach begleitete. Beim Abschiednehmen lud er Lydia ein, während ihres Alleinseins sich ihm und seinen Eltern auf ihren Ausflügen anzuschließen.

In tiefster Verwirrung rannte Lydia in ihr Zimmer hinauf. Kunterbunt gingen ihr die Eindrücke des Tages durcheinander, so daß sie sich lange nicht zurechtfinden konnte. Da hatte sie’s jetzt mit dem Gradausreden dieser 63 unverdorbenen Naturmenschen. An diesem Abend freilich kam ihr die Müdigkeit zustatten. Ein tiefer Schlaf erlöste sie bald aus dem Wirrwarr ihrer Gedanken und Empfindungen. Um so schlimmer wurde sie andern Tags und vollends in der darauf folgenden Nacht in den Strudel gerissen. Was sollte das arme Kind tun? In keinem Winkel des Tales war sie von nun an sicher. Die Kirche konnte sie ja meiden; aber auf der Straße, an den Wildbächen, im Wald, auf den Weiden, an den Flühen, ja in den Gletschergründen war Dr. Sontag, und wo war man gewiß, diesem gräßlichen Ärtele-Brecht nicht zu begegnen? Auch der war trotz seiner Unbeweglichkeit überall und nirgends. – Und doch hatte diese Unsicherheit etwas so Süßes.

Allmählich entschlummernd, sah Lydia die beiden schwarzen Punkte auf der Schneerinne. Aber statt zu verschwinden, wuchsen sie, und auf einmal sah sie in das treue Gesicht ihres Vaters, jede Falte voll Sorge um sie, jeder Blick eine Frage: Lydia, Herzenskind, wirst du uns erlösen von dem Druck? – Ja, Papa. Sie brauchte nur an ihre Gotte zu denken, die einmal gesagt hatte: «Aber selbstverständlich wirst du Krankenschwester oder Missionsbraut. Wozu sonst hätte man dich Lydia getauft.» In ihres Herzens Tafelrunde sah Lydia ganz gewiß den Heiland obenan. Da war’s auch immer so licht und schön. Und die Eltern saßen mit zu Tisch, die Gotte und Mutter Allenbach. Aber, was konnte sie dafür, daß nun auch Doktor Sontag seine Füße unter diesen Tisch streckte, als wäre er immer da zu Hause gewesen? Und untenan legte sogar der Ärtele Brecht seine Ellbogen auf den Tisch, und der Heiland an seinem Ehrensitz hatte gar nichts dawider.

64 Schwarze Tupfen, blaue Augen, Rauchwölklein, eine galoppierende Kuh mit einem großen messingenen Strickzeug am Schwanz, ein weinendes Büblein und die Gotte, das wirbelte alles durcheinander – fürchterlich und doch in einer Art Morgenrot.

Wenn sich Lydia morgens aus dem fieberigen Schlummer erhob, so sah sie kühler in die Welt. Schließlich gab es doch Mittel und Wege, sich verborgen zu halten bis zu Papas Rückkehr. Aber wenn abends die Dämmerung heraufzog, so fiel ihr das Stativ ein, das Doktor Sontag wie ein Pfand mitgenommen und das ihm nun einen Vorwand bot, sie aufzusuchen. – Sollte sie sich hinter Mutter Allenbach verstecken? Schon reifte dieser Entschluß. Dann aber stellte sich ein Bangen ein, es möchte die Gestrenge mit rücksichtsloser Schere den angesponnenen Faden entzweischneiden. – Nun, dann wäre ja alles wieder gut, und Lydia hätte ihre Ruhe... aber es wäre doch schade.

Die vier Tage waren abgelaufen. Das Stativ war offenbar noch nicht repariert. Da erschien eines Morgens eine Dame vor dem Hause. Es war Doktor Sontags Mutter, die Fräulein Bäuwlin zu einem Ausflug abholen wollte. Eisi, die ihr im Garten Bescheid gegeben, kam mit dem Bericht zu Lydia.

«Mein Gott!» sagte die mit Herzklopfen. «Soll ich gehen?»

«Ei warum denn nicht? Die Leute werden öppa mit Euch nichts Ungutes vorhaben.»

Lydia ging, wurde von der Familie Sontag aufs liebenswürdigste empfangen und kehrte erst abends wieder heim, vergnügt und versonnen. Am darauffolgenden Sonntag wurde sie von der Familie nach dem Gottesdienst 65 abgefaßt und zum Mittagessen in den «Adler» mitgenommen.

Von dort nun kam sie in heißer Aufregung heim. Es war auf den nächsten ganz schönen Tag eine größere Bergtour verabredet, und Lydia hatte herausgefühlt, daß Doktor Sontag auf die Gipfelstunde etwas Geheimnisvolles plante. Den Augenblick zu einer schicklichen Ablehnung hatte sie verpaßt, und nun war es sehr schwierig, der Ausführung des Planes auszuweichen. Sie fühlte, es ging um eine Entscheidung. Bis jetzt waren ihr die Möglichkeiten, die aus ihrem Verkehr mit der Familie Sontag sich ergaben, wie in weiter Ferne liegend erschienen. Nun, da diese Entfernung so jäh zusammenschrumpfte, geriet sie wieder in tiefes Nachdenken über die Dinge, welche zwischen ihren Eltern soviel Mißverstehen heraufbeschworen hatten. Was geschah, wenn sie von der Freiheit, welche ihr Vater für sie beanspruchte, einen ganz unerwarteten Gebrauch machte?

Lydia wurde zaghaft. Spät abends, als Mutter Allenbach im Schein der Lampe, mit dem Finger den Zeilen folgend, ihr Kapitel las, trat ihre junge Hausgenossin zu ihr, kniete vor sie hin und ergriff ihre hagern Hände. «Liebe Frau Allenbach», fing sie an und richtete ein paar tief erwartungsvolle Augensterne auf sie, «ratet mir! Ihr wißt, was meine Eltern so gerne aus mir machen möchten. Gelt, es wäre eine Sünde, wenn ich ihren Wunsch nicht erfüllte, ich meine... wie stünde ich vor Gottes Angesicht, wenn ich schuld wäre, daß meine Mutter ihr Gelübde nicht einlösen könnte?»

«Kind, wie solltet Ihr dessen schuldig werden? Ihr seid ja willens, der Eltern Wunsch zu erfüllen.»

«Ich war’s, ja. Aber wenn nun... liebe Mutter Allenbach, 66 sagt mir offen und ehrlich Eure Meinung, wenn nun ein rechtschaffener Mann meine Hand begehren sollte...?»

«Ei», sagte die alte Frau, «was hat denn das mit dem Gelübde Eurer Mutter zu tun? Warum sollte unsereins nicht an der Seite eines geliebten Mannes sein Leben Gott hingeben können? Ich meine, das ist ein Weg nach dem Willen Gottes wie kein zweiter. Hat nicht Er es gefügt, daß das ganze Geschlecht seiner Menschen durch die Liebe von Mann und Weib erhalten bleibt? – Also, wenn es in Liebe und Ehren zugeht, so wird Eurer Mutter Gelübde auf diese Art viel schöner erfüllt, als sie selber sich’s vorgenommen hat.»

«O Mütterchen, liebes!» sagte Lydia. Sie streichelte die hagern Hände der Alten und blickte sie an wie ein Kind, das nicht recht weiß, ob die Geschichte, welche Großmutter erzählt, nicht doch zu schön ist, um wahr zu sein.

«Aber eins, mein Kind, dürft Ihr nicht vergessen», fuhr Eisi fort, «der Eltern Segen bauet den Kindern Häuser. Das haben viele zu ihrem Schaden mißachtet. Tut nichts hinter dem Rücken der Eltern.»

«Wenn sie aber...»

«Es gibt kein ‹aber›. Jetzt, Kind, heißt es glauben. Ist Eure Liebe Gott wohlgefällig, so kann’s nicht fehlen. Euer Leben habt Ihr ihm weihen wollen. Nun denn, so legt auch Euer Herz und Lieben in seine Hand. Und betet frevelli morgens und abends das Zweihundertsechsundsechzgi: Dein Werk kann niemand hindern, dein Arbeit darf nicht ruhn, wenn du, was deinen Kindern ersprießlich ist, willst tun.»

Lydia hätte das Mütterchen am liebsten an sich gedrückt; 67 aber sie wagte es nicht recht, denn die Alte erschien ihr jetzt mehr noch als zuvor wie eine Heilige. Sie preßte desto inniger die Hände der alten Beterin, dankte ihr unter Freudentränen und eilte hinaus, um eilends einen Brief an ihren Vater zu schreiben. Unter der Türe zupfte Eisi ihr Beichtkind am Rock und sagte eindringlich: «Aber Ihr habt’s gehört: Wachet und betet.»

Und so geschah es, daß an selbigem Abend diesseits und jenseits der Balkenwand ein Menschenkind herzinniglich Zwiesprache hielt mit dem Vater des Lichts und der Liebe, das eine in verworrenen Seufzern, die stürmisch in dunkle und doch rosig dämmernde Zukunft eilten, das andere in ehrfürchtigem Werben, zu dem es Kraft aus dankbarem Rückblick ins eigene Leben holte. Zwischenhinein kam nach mannigfachen Anläufen ein Brief zustande, in welchem Herr Simeon Bäuwlin von seiner Tochter gebeten wurde, eilends herüberzukommen.


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