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Zweites Kapitel.
Bimalas Erzählung

IV

Um diese Zeit geschah es, daß Sandip Babu mit seinen Anhängern in unsere Gegend kam, um Reden im Dienste der Swadeschi-Bewegung zu halten.

Es soll eine große Versammlung in unsrer Tempelhalle stattfinden. Wir Frauen sitzen dort auf der einen Seite, hinter einem Vorhang. Das Triumphgeschrei Bande Mataram kommt näher, und ein Schauer läuft durch alle meine Adern. Plötzlich strömt eine Schar von barfüßigen Jünglingen im gelben Asketengewand und Turban in den Tempelhof, wie ein schlammgeröteter Bach beim ersten Regenguß sich in das ausgetrocknete Flußbett ergießt. Der ganze Raum ist angefüllt von einer ungeheuren Menge, durch die man Sandip Babu trägt, auf einem großen Stuhl thronend, den zehn bis zwölf Jünglinge auf den Schultern tragen.

Bande Mataram! Bande Mataram! Bande Mataram! Es ist, als ob der Himmel bersten und in tausend Stücke zerreißen wollte.

Ich hatte Sandip Babus Bild schon früher gesehen. Es war etwas in seinem Gesicht, was ich nicht mochte. Nicht, daß er häßlich war, – im Gegenteil, er hatte ein auffallend schönes Gesicht. Doch, ich weiß nicht, es schien mir, daß trotz all der Schönheit zuviel gemeiner Stoff hineingearbeitet war. Das Licht in seinen Augen schien mir nicht ganz echt zu sein. Darum mochte ich nicht, daß mein Gatte unbedenklich allen seinen Forderungen nachgab. Den Verlust des Geldes konnte ich schon ertragen, aber es ärgerte mich, daß er meinen Gatten hinterging und seine Freundschaft ausbeutete. Sein Benehmen war nicht das eines Asketen, nicht einmal das eines Menschen in beschränkten Verhältnissen, sondern durchaus stutzerhaft und verriet Liebe zum Luxus–... Eine ganze Reihe solcher Betrachtungen kommen mir heute wieder in den Sinn, aber genug davon!

Als Sandip Babu jedoch an jenem Nachmittag zu sprechen anfing und die Herzen der Menge bei seinen Worten wogten und schwollen, als ob sie alle Schranken durchbrechen wollten, sah ich ihn wunderbar verklärt. Besonders als seine Züge plötzlich von einem Strahl der untergehenden Sonne erleuchtet wurden, die langsam unter die Linie des Tempeldaches sank, da erschien er mir wie ein Gottgesandter.

Von Anfang bis zu Ende war seine Rede ein stürmischer Ausbruch. Sein Vertrauen auf den Sieg der Sache war felsenfest. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich merkte plötzlich, daß ich den Vorhang ungeduldig zurückgeschlagen und den Blick fest auf ihn gerichtet hatte. Aber niemand unter der Menge beachtete, was ich tat. Nur einmal bemerkte ich, wie seine Augen mich anfunkelten, wie die Sterne des schicksalsvollen Orions.

Ich hatte mich ganz vergessen. Ich war nicht mehr die Gemahlin des Radscha, sondern die einzige Vertreterin von Bengalens Frauen. Und er war der Streiter für Bengalen. Wie der Himmel sein Licht über ihn ausgegossen hatte, so mußte auch der Segen einer Frau ihn für seine Aufgabe weihen–...

Es schien mir ganz deutlich, daß, seit er mich erblickt hatte, das Feuer seiner Rede noch leidenschaftlicher emporgeflammt war. Indras Roß ließ sich nicht bändigen, und nun kam das Rollen des Donners und das Leuchten der Blitze. Ich sagte mir, daß seine Rede sich an meinen Augen entzündet hatte; denn wir Frauen wachen nicht nur über das Feuer des häuslichen Herdes, sondern über die Flamme der Seele selbst.

Als ich an jenem Abend heimkehrte, strahlte ich von einem neuen Gefühl des Stolzes und der Freude. Der Sturm in mir hatte mein ganzes Wesen aufgewühlt und seinen Schwerpunkt verschoben. Wie die Jungfrauen der alten Griechen hätte ich gern meine langen, glänzenden Flechten abgeschnitten, um eine Bogensehne für meinen Helden daraus zu machen. Wenn mein äußerer Schmuck mit meinen Gefühlen in Verbindung gestanden hätte, so würden Halsband und Armspangen ihren Verschluß gesprengt und sich wie ein Schauer von Meteoren über die Versammlung ergossen haben. Ich fühlte, daß ich ein persönliches Opfer bringen mußte, um den Sturm der leidenschaftlichen Erregung in mir aushalten zu können.

Als mein Gatte später nach Hause kam, zitterte ich vor Angst, er könne etwas sagen, was mit dem Siegeslied, das noch in meinen Ohren klang, in Disharmonie wäre; ich fürchtete, sein Wahrheitsfanatismus könne ihn verleiten, sich über irgend etwas, was am Nachmittag gesagt war, mißbilligend zu äußern. Denn dann würde ich ihm offen getrotzt und ihn gedemütigt haben. Aber er sagte kein Wort–... und dies war mir auch nicht recht. Er hätte sagen sollen: »Sandip hat mich zur Vernunft gebracht. Jetzt sehe ich ein, wie sehr ich mich diese ganze Zeit geirrt habe.«

Ich hatte das Gefühl, daß er aus Ärger und Bosheit schwieg, daß er sich eigensinnig der Begeisterung verschloß. Ich fragte ihn, wie lange Sandip Babu bei uns bleiben würde.

»Er wird morgen in der Frühe nach Rangpur aufbrechen«, sagte mein Gatte.

»Muß es schon morgen sein?«

»Ja, er hat versprochen, dort zu reden.«

Ich schwieg eine Weile, dann fragte ich wieder: »Könnte er es nicht möglich machen, noch einen Tag zu bleiben?«

»Das wird er schwerlich können. Aber warum möchtest du es?«

»Ich möchte ihn zum Mittagessen einladen und ihn dabei selbst bedienen.«

Mein Gatte war überrascht. Er hatte mich oft gebeten, dabei zu sein, wenn er nahe Freunde zum Mittagessen bei sich hatte, aber ich hatte mich nie dazu überreden lassen. Er sah mich einen Augenblick schweigend und aufmerksam an, mit einem Blick, den ich nicht ganz verstand.

Plötzlich überkam mich ein Gefühl der Scham.

»Nein, nein,« rief ich, »das geht auf keinen Fall.«

»Warum nicht?« sagte er. »Ich will ihn selbst fragen; wenn es irgend möglich ist, wird er sicher morgen noch bleiben.«

Es erwies sich als durchaus möglich.

Ich will ganz aufrichtig sein. An jenem Tage machte ich meinem Schöpfer Vorwürfe, daß er mich nicht mit hervorragender Schönheit geschmückt hatte, – nicht daß ich damit hätte Herzen stehlen wollen, sondern weil Schönheit verklärt. An diesem großen Tage sollten die Männer die Gottheit des Landes im Weibe erkennen. Aber ach, die Augen der Männer erkennen die Gottheit nicht, wenn es ihr an äußerer Schönheit fehlt. Würde Sandip Babu die Schakti Kraft, Macht, insbesondere die magische Kraft eines Gottes; sodann personifiziert als weibliche Gottheit. Speziell als Name der Gemahlin Schivas, die auch Kali heißt. (Übers.) unseres Landes in mir offenbart sehen? Oder würde er mich nur für eine gewöhnliche Hausfrau halten?

An jenem Morgen besprengte ich mein herabhängendes Haar mit wohlriechendem Wasser und band es in einen losen Knoten mit einem rotseidenen Bande, das ich geschickt hindurchschlang. Das Mittagessen sollte schon um zwölf sein, da hatte ich begreiflicherweise nicht die Zeit, es nach meinem Bade noch in der gewohnten Weise in Flechten hochzustecken. Ich zog einen goldgesäumten weißen Sari an, und auch mein kurzärmeliges Muslinjäckchen hatte einen Goldsaum.

Ich war der Meinung, daß meine Kleidung eigentlich recht diskret sei und daß nicht leicht etwas einfacher hätte sein können. Aber meine Schwägerin, die zufällig vorbeiging, blieb plötzlich vor mir stehen, sah mich von Kopf zu Fuß an und lächelte mit zusammengepreßten Lippen ein vielsagendes Lächeln. Als ich sie nach dem Grunde fragte, sagte sie: »Ich bewundere deinen Aufputz.«

»Was ist daran so Belustigendes?« fragte ich sehr geärgert.

»Er ist prächtig«, sagte sie. »Ich dachte mir eben, daß eine von jenen tief ausgeschnittenen englischen Taillen ihn vollkommen machen würde.« Nicht nur ihr Mund und ihre Augen, sondern ihr ganzer Körper schien von unterdrücktem Lachen zu zucken, als sie das Zimmer verließ.

Ich war sehr, sehr böse und wollte im ersten Augenblick alles ausziehen und meine Alltagskleider anlegen. Ich kann nicht genau sagen, was mich hinderte, diesem Impuls zu folgen. Die Frauen sind die Zierde der Gesellschaft – so redete ich mir ein – und mein Gatte würde es nicht mögen, wenn ich nicht standesgemäß gekleidet vor Sandip Babu erschiene.

Meine Absicht war, erst zu erscheinen, nachdem sie sich schon zum Mittagessen gesetzt hatten.

Bei der Beaufsichtigung des Bedienens hätte ich die erste Scheu am besten überwinden können. Aber das Essen war nicht zur rechten Zeit fertig, und es wurde spät. Inzwischen ließ mein Gatte mich rufen, um mir den Gast vorzustellen.

Ich war schrecklich verlegen, als ich Sandip Babu ins Gesicht sehen sollte. Es gelang mir jedoch, mich zu fassen, und ich sagte: »Es tut mir sehr leid, daß es mit dem Essen so spät wird.«

Er kam ohne jede Verlegenheit auf mich zu und nahm an meiner Seite Platz. »Ein Mittagessen,« sagte er, »bekomme ich irgendwie jeden Tag, aber die Göttin des Überflusses bleibt hinter der Szene. Nun, da die Göttin selbst erschienen ist, macht es wenig, wenn das Essen auf sich warten läßt.«

Er war im Privatverkehr eben so emphatisch wie in seinen öffentlichen Reden. Er zögerte nicht und schien daran gewöhnt, unaufgefordert den Platz einzunehmen, den er sich wählte. Er erhob mit solcher Zuversicht den Anspruch auf Vertraulichkeit, daß man sich im Unrecht gefühlt hätte, wenn man sie ihm hätte streitig machen wollen.

Es war mir ein schrecklicher Gedanke, daß Sandip Babu mich für ein schüchternes, altmodisches Häufchen Unbedeutendheit halten könnte. Aber ich hätte ihn um mein Leben nicht mit geistreichen Erwiderungen bezaubern oder blenden können. Wie war ich nur auf den unglücklichen Einfall gekommen, so fragte ich mich zornig, solche lächerliche Figur vor ihm zu spielen?

Als das Mittagessen vorüber war, wollte ich mich zurückziehen, aber Sandip Babu, kühn wie immer, stellte sich mir in den Weg.

»Sie müssen mich nicht für so materiell halten«, sagte er. »Nicht das Mittagessen veranlaßte mich zu bleiben, sondern Ihre Einladung. Wenn Sie jetzt die Flucht ergriffen, so würden Sie mit Ihrem Gast kein ehrliches Spiel treiben.«

Wenn er diese Worte nicht in heiterm und ungezwungenem Ton gesagt hätte, so hätten sie mich wohl verstimmt. Aber ich mußte mir ja sagen, er stand meinem Gatten so nahe, daß ich mich als seine Schwester ansehen konnte.

Während ich versuchte, mich innerlich auf diesen vertraulichen Ton einzustellen, kam mir mein Gatte zu Hilfe, indem er sagte: »Könntest du denn nicht wiederkommen, wenn du dein Mittagessen gehabt hast?«

»Aber Sie müssen uns Ihr Wort geben, bevor wir Sie fortlassen«, sagte Sandip Babu.

»Ich verspreche es«, sagte ich mit einem leichten Lächeln.

»Ich will Ihnen sagen, warum ich Ihnen nicht trauen kann«, fuhr Sandip Babu fort. »Nikhil ist nun schon neun Jahre verheiratet, und diese ganze Zeit sind Sie mir ausgewichen. Wenn Sie dies nun wieder neun Jahre lang tun, werden wir uns überhaupt nicht wiedersehen.«

Ich ging auf den Geist seiner Bemerkung ein und fragte leise: »Aber warum sollten wir uns selbst dann nicht wiedersehen?«

»Mein Horoskop sagt mir, daß ich früh sterben werde. Keiner von meinen Vorfahren hat sein dreißigstes Jahr überlebt. Ich bin jetzt siebenundzwanzig.«

Er wußte, daß dies Eindruck machen würde. Und er mußte diesmal einen leisen Ton von Besorgnis in meiner Stimme hören, als ich flüsternd sagte: »Der Segen des ganzen Landes wird sicher den bösen Einfluß der Sterne abwenden.«

»Dann muß die Gottheit des Landes selbst diesem Segen ihre Stimme leihen. Dies ist der Grund, warum ich so eifrig wünsche, Sie möchten wiederkommen, damit mein Talisman schon heute anfangen kann zu wirken.«

Sandip Babu hatte eine solche Art, alles im Sturm zu nehmen, daß ich gar nicht dazu kam, ihm etwas übelzunehmen, was ich einem andern nie erlaubt haben würde.

»Also«, schloß er lachend, »werde ich Ihren Gatten so lange als Geisel hierbehalten, bis Sie zurückkommen.«

Als ich im Begriff war zu gehen, rief er: »Darf ich Sie um eine Kleinigkeit bemühen?«

Ich wandte mich etwas erschrocken um.

»Erschrecken Sie nicht«, sagte er. »Es ist nur ein Glas Wasser. Sie haben vielleicht bemerkt, daß ich beim Essen kein Wasser trank. Ich trinke es etwas später.«

Ich mußte hierauf etwas Interesse zeigen und nach dem Grund fragen. Er erzählte mir, daß er seit länger als einem halben Jahr an Verdauungsbeschwerden gelitten und nun endlich, nachdem er alle möglichen allopathischen und homöopathischen Mittel vergeblich versucht hatte, mit einheimischen Heilmitteln ganz wundervolle Resultate erzielt hätte.

»Sehen Sie,« fügte er mit einem Lächeln hinzu, »Gott hat selbst meine Gebrechen so eingerichtet, daß sie nur dem Bombardement mit Swadeschi-Pillen weichen.«

Hier mischte sich mein Gatte ein. »Du mußt zugeben,« sagte er, »daß du eine ebenso große Anziehungskraft für ausländische Medizin hast, wie die Erde für Meteore. Du hast in deinem Wohnzimmer drei Schränke–...«

Sandip Babu unterbrach ihn. »Weißt du, was die sind? Die sind die Strafpolizei. Sie sind da, nicht weil man ihrer bedarf, sondern weil sie uns durch die moderne Gesellschaftsordnung aufoktroyiert sind, daß sie uns Geldstrafen auferlegen oder andere Unbill zufügen.«

Mein Gatte kann Übertreibungen nicht leiden, und ich merkte, daß er verstimmt war. Aber jede Verzierung ist eine Übertreibung. Sie stammt nicht von Gott, sondern vom Menschen. Ich weiß noch, wie ich einmal mich meinem Gatten gegenüber verteidigte, als ich eine Unwahrheit gesagt hatte: »Nur die Bäume und Tiere und Vögel sagen die Wahrheit ganz nackt, weil es diesen armen Dingern an Erfindungsgabe fehlt. Hierin zeigen die Menschen ihre Überlegenheit über die niedern Geschöpfe, und die Frauen sind noch den Männern über. Wie reicher Schmuck der Frau wohl ansteht, so auch Ausschmückung der Wahrheit.«

Als ich hinaustrat auf den Korridor, der zu den Frauengemächern führte, sah ich meine Schwägerin an einem Fenster stehen, durch das man ins Empfangszimmer sehen konnte. Sie versuchte durch die Jalousien zu spähen.

»Du hier?« fragte ich überrascht.

»Auf dem Lauscherposten«, erwiderte sie.

 

V

Als ich zurückkam, entschuldigte sich Sandip Babu. »Ich fürchte, ich habe Ihnen den Appetit verdorben«, sagte er besorgt.

Ich schämte mich sehr. Ich war wirklich unziemlich schnell mit meinem Essen fertig geworden. Man konnte mir leicht nachrechnen, daß ich in der Zeit nicht viel hatte essen können. Aber mir war nicht der Gedanke gekommen, daß jemand nachrechnen würde.

Ich hatte das Gefühl, daß Sandip Babu meine Beschämung merkte, was sie natürlich noch erhöhte. »Ich wußte wohl,« sagte er, »daß der Impuls des scheuen Wildes Sie von mir trieb, um so mehr weiß ich es zu würdigen, daß Sie Ihr Versprechen halten.«

Mir wollte keine passende Antwort einfallen, und so setzte ich mich errötend und voll Unbehagen auf das eine Ende des Sofas. Die Vision, die ich von mir selbst gehabt hatte, als die im Weibe verkörperte Gottheit, die durch ihre bloße Gegenwart Sandip Babu krönte, in stolzer Majestät, diese Vision war mir ganz entschwunden.

Sandip Babu begann absichtlich eine Diskussion mit meinem Gatten. Er wußte, daß sein scharfer Verstand in schlagfertigen Entgegnungen am besten zur Geltung kam. Ich habe seitdem oft beobachtet, daß er sich nie eine Gelegenheit zum Wortgefecht entgehen ließ, wenn ich zufällig dabei war.

Er kannte meines Gatten Ansichten über den Bande-Mataram-Kult und begann in herausforderndem Tone: »Also du gibst nicht zu, daß man bei der patriotischen Werbearbeit auch versuchen soll, auf die Phantasie zu wirken?«

»Man darf schon auf sie wirken, Sandip, aber ich halte nichts davon, wenn man alles damit machen will. Ich möchte mein Vaterland so sehen, wie es in Wahrheit ist, und darum würde ich mich scheuen und es für unwürdig halten, mit hypnotisierenden patriotischen Reden zu arbeiten.«

»Aber was du hypnotisierende Reden nennst, ist für mich Wahrheit. Ich glaube an mein Vaterland wie an meinen Gott. Mir ist die Menschheit heilig. Gott offenbart sich sowohl im Menschen wie in seinem Vaterlande.«

»Wenn du das wirklich glaubst, dann sollte es für dich keinen Unterschied geben zwischen den verschiedenen Menschen und den verschiedenen Ländern.«

»Ganz recht. Aber mein Gefühl ist begrenzt und kann nicht die ganze Menschheit umfassen, daher verehre ich sie hier in meinem Volke.«

»Ich habe nichts gegen diese Verehrung als solche, aber wie willst du Gott verehren, wenn du andere Völker hassest, in denen er sich gleichfalls offenbart?«

»Der Haß ist auch ein Diener der Anbetung. Ardschuna gewann Mahadevas Gnade Ardschuna, der Hauptheld des Pândustammes in dem großen Heldenepos Mahâbhârata. Mahâdçva, »der große Gott«, Beiname Vischnus, der in diesem Epos in menschlicher Gestalt auftritt, als Krischna, ein Vetter Ardschunas, dem er als Wagenlenker dient. (Übers.) dadurch, daß er mit ihm rang. Gott wird am Ende mit uns sein, wenn wir bereit sind, uns ihm im Streite zu stellen.«

»Wenn dem so ist, so sind beides seine Diener, die, welche deinem Volke dienen, und die, welche ihm schaden. Aber wozu dann noch Patriotismus predigen?«

»Wenn es sich um das eigene Volk handelt, ist es etwas anderes. Da spricht das Herz deutlich und verlangt, daß wir ihm dienen.«

»Wenn du die Konsequenz dieser Beweisführung ziehst, so mußt du sagen, daß, da Gott sich in uns offenbart, wir vor allen Dingen uns selbst dienen müssen, weil unser natürlicher Instinkt dies fordert.«

»Nun höre einmal, Nikhil, dies ist alles nur dürre Logik. Begreifst du denn nicht, daß es so etwas wie Gefühl gibt?«

»Ich will dir offen sagen, Sandip,« erwiderte mein Gatte, »gerade mein Gefühl ist verletzt, wenn ihr Ungerechtigkeit zur Pflicht zu machen sucht, und Gottlosigkeit zum sittlichen Ideal. Wenn ich nicht imstande bin zu stehlen, so liegt die Ursache nicht in meinen logischen Fähigkeiten, sondern in einem gewissen Gefühl von Selbstachtung und Treue gegen meine Ideale.«

Ich kochte innerlich. Zuletzt konnte ich nicht länger schweigen. »Ist nicht die Geschichte jedes Landes,« rief ich, »sei es nun England, Frankreich, Deutschland oder Rußland, die Geschichte von Diebstählen, die für das Vaterland begangen wurden?«

»Sie müssen für diese Diebstähle zahlen; sie müssen schon jetzt dafür zahlen; ihre Geschichte ist noch nicht zu Ende.«

»Auf jeden Fall,« fiel Sandip Babu ein, »meine ich, wir sollten es ebenso machen wie sie. Laß uns nur einstweilen die Koffer unsres Landes mit gestohlenen Schätzen füllen, und dann mögen, wie bei den andern Ländern, Jahrhunderte darüber hingehen, ehe wir dafür zahlen, wenn es überhaupt dazu kommt. Denn ich frage dich, wo findest du für dies ›Zahlen‹ ein Beispiel in der Geschichte?«

»Als Rom für seine Sünde zahlte, wußte es niemand. Die ganze Zeit schien sein Glück unbegrenzt zu sein. Aber siehst du denn nicht das eine: wie sie unter der Last ihrer politischen Lügen und Verrätereien zusammenbrechen?«

Ich hatte nie vorher Gelegenheit gehabt, bei einer Diskussion zwischen meinem Gatten und seinen Freunden zugegen zu sein. Immer, wenn er mit mir stritt, konnte ich fühlen, wie ungern er mich in die Enge trieb. Dies kam daher, daß er mich so liebte. Heute sah ich zum erstenmal seine Fechtkunst im Wortstreite.

Dennoch wollte mein Herz nicht für ihn Partei nehmen. Ich suchte nach einer Antwort, aber ich fand keine. Wenn jemand sich auf den Standpunkt der Gerechtigkeit stellt, so klingt es häßlich, wenn man ihm sagt, daß nicht alles, was gut ist, für das Leben taugt.

Plötzlich wandte sich Sandip Babu an mich mit der Frage: »Was sagen denn Sie dazu?«

»Ich bin nicht für feine Unterscheidungen«, brach ich los. »Ich will Ihnen ganz kurz und einfach sagen, wie ich empfinde. Ich bin nur ein Mensch und habe als solcher meine Begierden. Ich möchte meinem Vaterlande Gutes verschaffen. Zur Not würde ich es mit Gewalt nehmen oder stehlen. Ich habe meine Galle. Ich könnte um meines Vaterlandes willen in Wut geraten. Ich könnte, wenn es darauf ankäme, Mord und Totschlag begehen, um seine Schmach zu rächen. Ich habe das Bedürfnis, mich zu begeistern, und das, was mich begeistern soll, wie mein Vaterland, muß mir in sinnfälliger Gestalt entgegentreten. Es muß ein sichtbares Symbol haben, das seinen Zauber auf mich ausübt. Ich möchte mein Vaterland personifizieren können und es Mutter, Göttin, Durga Ein andrer Name der Gemahlin Schivas, die sonst Uma Kali usw. heißt. (Übers.) nennen – und ich würde in seinem Dienst die Erde mit dem Blut meiner Opfergaben röten. Ich bin ein Mensch, kein ›Heiliger‹.«

Sandip Babu sprang begeistert auf und rief: »Hurrah!« – Im nächsten Augenblick verbesserte er sich und rief: »Bande Mataram.«

Ein leiser Zug von Schmerz ging über das Gesicht meines Gatten. Seine Stimme klang sehr sanft, als er zu mir sagte: »Auch ich bin kein Heiliger, auch ich bin ein Mensch. Und daher darf ich niemals dulden, daß das Böse, das in mir ist, zu einem Götzenbild des Vaterlandes herausgeputzt wird – niemals!«

Sandip Babu aber rief: »Sieh, Nikhil, wie die Wahrheit im Herzen des Weibes Fleisch und Blut annimmt. Das Weib versteht es, grausam zu sein; sein Wüten ist wie ein blinder Sturm. Es ist schön in seiner Furchtbarkeit. Bei dem Manne ist es häßlich, weil es den nagenden Wurm des Gedankens und der Vernunft in sich birgt. Ich sage dir, Nikhil, unsre Frauen sind es, die das Vaterland retten werden. Jetzt ist nicht die Zeit für ängstliche Skrupel. Wir müssen, ohne zu schwanken und ohne zu überlegen, brutal sein. Wir müssen sündigen. Wir müssen unsern Frauen rote Sandelpaste geben, daß sie unsre Sünde salben und auf den Thron setzen. Erinnerst du dich noch der Worte des Dichters:

Komm Sünde, schöne Sünde,
Und gieß mit deinen brennend heißen Küssen
Feurigen roten Wein in unser Blut!
Gebieterisch laß die Trompete tönen
Und kröne unsre Stirne mit dem Kranz
Jauchzender Zügellosigkeit!
O Göttin, große Schänderin, komm, salbe
Die Brust uns schamlos mit dem schwarzen Schlamm der Schande!

Fort mit jener Gerechtigkeit, die den Feind nicht lächelnd ins Verderben schleudern kann!«

Ein kalter Schauer durchlief mich, als Sandip Babu so stolz erhobenen Hauptes, dem Impuls des Augenblicks folgend, alles verhöhnte, was die Menschen in allen Ländern und zu allen Zeiten als ihr Höchstes geehrt haben.

Aber in wildem Trotz aufstampfend, fuhr er fort: »Ich erkenne dich, schöner Feuergeist, der das Heim zu Asche verbrennt, um mit seiner Flamme die ganze Welt zu erleuchten. Gib uns den unbezwinglichen Mut, uns in die tiefste Hölle des Verderbens zu stürzen! Gib allem, was tödlich ist, den Reiz deiner Schönheit!«

Es war nicht klar, wen Sandip Babu mit diesen letzten Worten anrief. Vielleicht war es die Gottheit, der sein Bande Mataram galt. Vielleicht waren es die Frauen seines Vaterlandes im allgemeinen. Vielleicht auch war es ihre Vertreterin, die Frau, die vor ihm stand. Er hätte noch im gleichen Tone fortgefahren, wenn mein Gatte sich nicht plötzlich erhoben und leicht seine Schulter berührend gesagt hätte: »Sandip, Tschandranath Babu ist hier.«

Ich fuhr zusammen, und als ich mich umsah, erblickte ich einen alten Herrn von ehrwürdigem Äußern, der ruhig abwartend an der Tür stand, in Zweifel, ob er hereinkommen oder sich zurückziehen sollte. Auf seinem Antlitz lag ein mildes Licht wie das der untergehenden Sonne.

Mein Gatte trat zu mir heran und flüsterte: »Dies ist mein Lehrer, von dem ich dir so oft erzählt habe. Begrüße ihn, wie sich's gebührt!«

Ich neigte mich tief und berührte ehrfurchtsvoll seine Füße. Er segnete mich und sagte: »Möge Gott Sie immer schützen, Mütterchen!«

Ach, ich hatte in jenem Augenblick solchen Segen so nötig.

 

Nikhils Erzählung

 

I

Einst war ich so zuversichtlich in meinem Glauben, daß ich meinte, ich würde alles tragen können, was mein Gott mir auferlegte. Ich wurde nie auf die Probe gestellt. Jetzt, glaube ich, ist die Stunde gekommen.

Ich pflegte meine Seelenstärke zu prüfen, indem ich mir alle möglichen Übel, die mir zustoßen könnten, vorstellte – Armut, Kerker, Schande, Tod, – selbst den Tod Bimalas. Und wenn ich mir dann sagte, daß ich die Kraft haben würde, das alles mit Standhaftigkeit zu ertragen, so sagte ich sicher nicht zuviel. Nur eines war mir niemals in den Sinn gekommen, und das ist es, woran ich heute denke und wovon ich nicht weiß, ob ich es wirklich ertragen kann. Es ist, als ob ein Dorn mir irgendwo im Herzen sitzt und mich beständig sticht, während ich bei meiner täglichen Arbeit bin. Er scheint selbst weiterzustechen, wenn ich schlafe. Sobald ich morgens erwache, fühle ich, daß das Antlitz des Himmels seinen Glanz verloren hat. Was ist es? Was ist geschehen?

Mein Gefühl ist so empfindlich geworden, daß selbst mein vergangenes Leben, das den Schein des Glückes trug, jetzt mein Herz mit seiner Lüge martert, und die Sorge und Schande, die an mich heranschleichen, zeigen sich immer unverhüllter, je mehr sie versuchen, ihr Antlitz zu verbergen. Mein Herz ist ganz Auge geworden. Gerade die Dinge, die verborgen bleiben sollten, die ich nicht sehen will, drängen sich mir auf.

Jetzt ist endlich der Tag gekommen, wo mein unglückliches Los sich in einer langen Reihe von Schicksalsschlägen offenbaren soll. Ganz unerwartet ist die bittre Not in dem Herzen eingekehrt, wo Überfluß zu herrschen schien. Den Lohn, den ich für neun Jahre meiner Jugend der Täuschung zahlte, muß ich jetzt der Wahrheit mit Zinsen zurückerstatten, und ich werde mein Leben lang daran zu zahlen haben.

Was nützt es, daß ich meinen Stolz gewaltsam aufrechtzuerhalten suche? Warum soll ich nicht zugeben, daß ich Mängel habe? Vielleicht fehlt mir das unüberlegte Draufgängertum, das die Frauen an den Männern lieben. Aber ist Stärke nur Entfaltung von Muskelkraft? Darf Stärke unbedenklich die Schwachen in den Staub treten?

Doch was nützen alle diese Erwägungen? Würdigkeit kann man nicht dadurch erwerben, daß man darüber disputiert. Und ich bin unwürdig, unwürdig, unwürdig!

Aber wenn ich auch unwürdig bin, – besteht nicht der wahre Wert der Liebe darin, daß sie dem Unwürdigen immer wieder aus der Fülle ihres eigenen Überflusses spendet? Für die Würdigen gibt es viele Arten von Belohnungen auf Gottes Erde, aber die Liebe hat Gott besonders den Unwürdigen vorbehalten.

Bis jetzt war Bimala, meine häusliche Bimala, das Produkt der räumlichen Enge und der gewohnheitsmäßigen kleinen Pflichten. Ich fragte mich, ob die Liebe, die sie mir gab, aus der Tiefe ihres Herzens quelle oder die gewohnheitsmäßige Ausübung einer anerzogenen Pflicht sei.

Ich sehnte mich danach, Bimala in ihrer ganzen Wahrheit und Kraft aufblühen zu sehen. Aber ich bedachte nicht, daß man alle Ansprüche aufgeben muß, die sich auf herkömmliche Rechte gründen, wenn ein Mensch sich in seinem wahren Wesen frei entfalten soll.

Warum hatte ich daran nicht gedacht? Geschah es aus dem Gefühl stolzer Sicherheit im Besitz meines Weibes? Nein. Es geschah, weil ich das vollste Vertrauen auf die Liebe setzte. Ich war eitel genug, zu glauben, daß ich die Kraft in mir hätte, den Anblick der Wahrheit in seiner erschreckenden Nacktheit zu ertragen. Ich wußte, daß ich die Vorsehung versuchte, aber ich beharrte bei meinem stolzen Entschluß, die Probe siegreich zu bestehen.

In einem Punkte hatte Bimala mich nicht verstanden. Sie konnte nicht wirklich begreifen, daß in meinen Augen jede Anwendung von Gewalt Schwäche ist. Nur die Schwachen wagen es nicht, gerecht zu sein. Sie weichen der Verantwortlichkeit aus und versuchen auf unerlaubten Richtwegen schnell zum Ziel zu kommen. Es macht Bimala ungeduldig, wenn man Geduld zeigt. Sie liebt am Manne das Ungestüme, Heftige, Ungerechte. Ihrer Ehrfurcht muß etwas Furcht beigemischt sein.

Ich hatte gehofft, daß Bimala, wenn sie in voller Freiheit draußen in der Welt lebte, bald von dieser Schwäche frei werden würde. Aber jetzt bin ich sicher, daß diese tief in ihrer Natur wurzelt. Sie liebt das Geräuschvolle. Wenn sie die einfache Kost des Lebens recht genießen soll, muß sie so scharf gewürzt sein, daß ihr Zunge und Gaumen brennen. Aber mein Grundsatz war immer, meine Pflicht nie mit wildem Ungestüm zu tun, noch mich durch den feurigen Wein der Erregung dazu anzustacheln. Ich weiß, es wird Bimala schwer, diese Eigenschaft an mir zu achten, da sie meine Skrupel für Schwäche hält, und sie ist böse auf mich, daß ich nicht in blindem Eifer losstürme mit dem Ruf: Bande Mataram.

Und was diesen Punkt anbetrifft, so habe ich es darin mit allen meinen Landsleuten verdorben, weil ich in ihren Lärm nicht einstimme. Sie sind sicher, daß ich entweder Verlangen nach irgendeinem Titel habe oder mich vor der Polizei fürchte. Die Polizei wiederum meint, daß ich zuviel Sanftmut zeige, um nicht irgendeinen geheimen Anschlag zu planen.

Aber mein Gefühl sagt mir, daß die, welche sich nicht für ihr Vaterland begeistern können, wenn sie es so sehen, wie es in Wahrheit ist, oder die die Menschen nicht lieben können, gerade in ihrer Menschlichkeit, – die ein Geschrei erheben und ihr Vaterland zum Götzen machen müssen, um ihren Begeisterungsrausch aufrecht zu erhalten, – daß diese den Rausch selbst mehr als ihr Vaterland lieben.

Wenn wir versuchen, den Gegenstand unsrer Begeisterung höher zu stellen als die Wahrheit, so zeigen wir damit, daß wir von Natur unfrei sind. Unsre kranke Lebenskraft muß entweder von irgendeinem Wahn in Schwung gebracht oder durch irgendeine weltliche oder geistliche Autorität angetrieben werden, um in Bewegung zu kommen. Solange wir uns der Wahrheit verschließen und nur durch hypnotische Einwirkung zur Tat gedrängt werden können, solange müssen wir uns sagen, daß wir noch nicht imstande sind, uns selbst zu regieren.

Als neulich Sandip mir vorwarf, daß es mir an Phantasie fehle und daß ich daher mein Vaterland nicht als lebendige Idealgestalt sehen könne, stimmte Bimala ihm zu. Ich sagte nichts zu meiner Verteidigung, denn was hilft es zum Glück, wenn man im Wortstreit siegt? Ihre abweichende Meinung beruhte ja nicht auf Mangel an Einsicht, sondern hatte ihren Grund in der Andersartigkeit ihrer Natur.

Sie machen mir Phantasielosigkeit zum Vorwurf, – das heißt bei ihnen, daß ich wohl Öl in meiner Lampe habe, aber keine Flamme. Dies ist aber gerade der Vorwurf, den ich ihnen mache. Ich möchte ihnen sagen: Ihr seid dunkel wie die Feuersteine. Ihr müßt zu heftigen Zusammenstößen kommen und Lärm machen, um Funken hervorzubringen. Doch diese vereinzelten Blitze dienen nur eurer Eitelkeit, aber helfen euch nicht zu klarem Sehen.

Ich habe seit einiger Zeit bemerkt, daß Sandip von groben Begierden beherrscht wird. Seine Sinnlichkeit trübt sein religiöses Gefühl und macht ihn tyrannisch in seinem Patriotismus. Sein Verstand ist scharf, aber seine Natur ist roh, und so verherrlicht er seine selbstsüchtigen Gelüste unter hochtönenden Namen. Der billige Trost des Hasses ist ihm ebensosehr Bedürfnis wie die Befriedigung seiner Begierden. Bimala hat mich früher oft vor seiner Geldgier gewarnt. Ich gab ihr innerlich recht, aber ich konnte mich nicht überwinden, mit Sandip zu feilschen. Ich schämte mich sogar, mir selber einzugestehen, daß er mich ausbeutete.

Doch heute wird es schwer sein, Bimala begreiflich zu machen, daß Sandips Vaterlandsliebe nur eine andre Form seiner begehrlichen Eigenliebe ist. Bimalas Heldenverehrung für Sandip hält mich um so mehr davon zurück, mit ihr über ihn zu sprechen, weil ich fürchte, daß eine leise Regung von Eifersucht mich unbewußt zu Übertreibungen verleiten könnte. Es kann sein, daß der Schmerz in meinem Herzen mir Sandips Bild schon verzerrt. Und doch ist es vielleicht besser, mich auszusprechen, als meine Gefühle weiter in mir nagen zu lassen.

 

II

Ich kenne meinen Lehrer nun schon dreißig Jahre. Weder Verleumdung noch Mißgeschick, noch der Tod selbst haben irgendwelche Schrecken für ihn. Nichts hätte mich retten können, der ich in die Traditionen dieser unsrer Familie hineingeboren war, wenn er nicht in den Mittelpunkt meines Lebens sein eignes gestellt hätte, mit seinem Frieden und seiner Wahrheit und mit seinen Idealen. In ihm war für mich das Gute selbst Gestalt geworden.

Mein Lehrer kam an jenem Tage zu mir und sagte: »Ist es nötig, daß du Sandip noch länger hier zurückhältst?«

Er hatte von Natur ein so feines Empfinden für alle Anzeichen des Übels, daß er sofort die Gefahr gespürt hatte. Er zeigt nicht leicht seine innere Bewegung, aber an jenem Tage sah ich, wie die dunklen Schatten kommenden Unheils ihn schreckten. Weiß ich doch, wie sehr er mich liebt.

Beim Tee sagte ich zu Sandip: »Ich erhalte eben einen Brief von Rangpur. Sie beklagen sich, daß ich dich selbstsüchtig hier festhalte. Wann willst du dahin reisen?«

Bimala war dabei, den Tee einzuschenken. Ein Ausdruck der Enttäuschung ging über ihr Gesicht. Sie warf Sandip schnell einen fragenden Blick zu.

»Ich habe mir gerade überlegt,« sagte Sandip, »daß dieses Hin- und Herwandern doch eine ungeheure Kraftverschwendung für mich bedeutet. Ich glaube, daß ich viel stärker und nachhaltiger wirken kann, wenn ich von einem Mittelpunkt aus arbeite.«

Dabei sah er Bimala an und sagte: »Meinen Sie nicht auch?«

Bimala zögerte einen Augenblick, dann sagte sie: »Beides scheint mir gut, – sowohl von einem Mittelpunkt aus zu arbeiten als im Umherreisen. Die Art, die Ihnen am meisten Befriedigung verschafft, ist für Sie die richtige.«

»Dann will ich ganz offen sein,« sagte Sandip. »Ich habe nirgends etwas gefunden, das allein imstande gewesen wäre, meine Begeisterung dauernd wachzuhalten. Das ist der Grund, warum ich immer umherreiste und das Volk entflammte, um aus seiner Begeisterung wieder Kraft für mich zu schöpfen. Heute haben Sie mir die Sendung an mein Volk erteilt. Solch Feuer habe ich nie in einem Menschen gefunden. Von Ihnen werde ich die Flamme leihen, mit der ich ringsum im Lande das Feuer entzünden werde. Nein, wenden Sie sich nicht beschämt ab! Schüchternheit und Bescheidenheit ziemen sich nicht mehr für Sie. Sie sind die Königin unsres Bienenstockes und wir, die Arbeitsbienen, werden uns um Sie scharen. Sie werden unser Mittelpunkt sein und uns zu unsrer Arbeit anfeuern.«

Bimala errötete über und über in verschämtem Stolz, und ihre Hand zitterte, als sie fortfuhr, den Tee einzuschenken.

Eines Tages kam mein Lehrer zu mir und sagte: »Warum reist ihr beiden nicht einmal zur Abwechselung nach Dardschiling? Du siehst nicht wohl aus. Bekommst du genug Schlaf?«

Am Abend fragte ich Bimala, ob sie Lust hätte, eine kleine Reise in die Berge zu machen. Ich wußte, daß sie sich sehnlich wünschte, den Himalaya zu sehen. Aber sie wollte nicht–... Die Sache des Vaterlandes hinderte sie wohl!

Ich darf mein Vertrauen nicht verlieren, ich werde warten. Die Durchfahrt von der engen zur weiten Welt ist stürmisch. Wenn sie sich an die Freiheit gewöhnt hat, werde ich wissen, wo mein Platz ist. Wenn ich erkenne, daß ich in die Einrichtungen der Welt da draußen nicht hineinpasse, so werde ich nicht hadern mit meinem Schicksal, sondern schweigend gehen–... Gewalt anwenden? Wozu? Vermag Gewalt etwas gegen die Wahrheit?

 

Sandips Erzählung

 

I

Der Unfähige sagt: Was mir zugeteilt wird, ist mein. Und der Schwache stimmt ihm zu. Aber die ganze Welt lehrt uns: Das nur ist wirklich mein, was ich mir erobern kann. Mein Vaterland ist noch nicht dadurch mein, daß ich darin geboren bin. Es wird erst mein an dem Tage, wo ich imstande bin, es mir zu unterwerfen.

Jeder Mensch hat von Natur ein Recht auf Besitz, und daher ist Habsucht etwas Natürliches.

Die Natur in ihrer Weisheit will nicht, daß wir ruhig verzichten. Wonach mein Sinn verlangt, das muß meine Umgebung mir schaffen. Dies ist hier auf Erden das einzig wahre Verhältnis zwischen unsrer innern und äußern Welt. Überlaßt die sittlichen Ideale den armen, bleichsüchtigen Geschöpfen, die zu matt sind, um zu begehren, und zu schwach, um zuzugreifen. Die, welche mit ganzer Seele begehren und mit ganzem Herzen genießen, für die es keine Bedenken und Skrupel gibt, sie sind die Auserwählten und Gesalbten der Vorsehung. Für sie breitet die Natur ihre reichsten und schönsten Schätze aus. Sie schwimmen durch Ströme, springen über Mauern, stoßen Türen ein, um sich das zu verschaffen, was ihnen der Mühe wert scheint. Auf diese Weise die Dinge erlangen ist Genuß; denn jedes Ding erhält erst dadurch seinen Wert, daß man darum kämpft.

Die Natur ist ganz bereit, sich hinzugeben, aber nur dem Räuber. Denn sie hat Lust an diesem ungestümen Verlangen, an dieser gewaltsamen Entführung. Und daher legt sie ihren Kranz nicht um den magern, dürren Hals des Asketen. Die Musik des Hochzeitsmarsches ertönt. Ich darf die Hochzeitsstunde nicht vorbeigehen lassen. Mein Herz ist voll Verlangen. Denn – wer ist der Bräutigam? Ich bin es. Die Braut gehört dem, der mit der Fackel in der Hand zur rechten Stunde kommt. Der Bräutigam im Hochzeitssaal der Natur kommt unerwartet und ungeladen.

Sollte ich mich schämen? Nein, ich kenne keine Scham! Ich fordere alles, was ich haben möchte, und oft halte ich mich nicht erst mit Fordern auf, bevor ich es nehme. Die, welche verzichten, weil sie sich nicht trauen zuzugreifen, suchen diesen Verzicht mit einer Würde zu umkleiden, indem sie ihn Bescheidenheit nennen.

Die Welt, in die wir geboren sind, ist eine Welt der Wirklichkeit. Wenn ein Mensch vom Markt der wirklichen Dinge mit leeren Händen und leerem Magen fortgeht und seinen Sack nur mit hochtrabenden Worten füllt, warum ist er denn überhaupt in diese rauhe Welt gekommen? Wurden diese Leute von den Epikuräern des Jenseits angestellt, um in ihrem Lustgarten, wo ätherische Blumen und Früchte blühen und reifen, nach alten, lieblichen Melodien ihre frommen Lieder zu singen? Ich stimme in diese Melodien nicht ein, und jene ätherischen Früchte sind mir nicht nahrhaft genug.

Was ich begehre, begehre ich ganz und unbedingt. Ich möchte es zerdrücken und zerkneten mit Händen und Füßen; ich möchte mich vom Kopf bis zur Zehe damit salben, ich möchte es verschlingen und mich ganz damit anfüllen. Die quiekenden Pfeifen derer, die sich durch ihr moralisches Fasten aufgerieben haben, bis sie dürr und bleich geworden sind wie verhungertes Ungeziefer in einem lange verlassenen Bett, werden nie an mein Ohr dringen.

Ich möchte mich nicht verstellen, denn das wäre Feigheit. Aber wenn ich mich nicht zur Verstellung entschließen könnte, wo Verstellung nötig ist, das würde auch feige sein. Aus Habsucht baut ihr eure Mauern; aus Habsucht durchbreche ich sie. Ihr gebraucht eure Macht; ich gebrauche meine Geschicklichkeit. Dies sind die Wirklichkeiten des Lebens. Auf ihnen beruhen König- und Kaiserreiche und alle die großen Unternehmungen der Menschen. Aber jene Avatáras Verkörperung göttlicher Wesen, die als Menschen oder Tiere auf der Erde geboren werden., die von ihrem Paradiese herabsteigen, um in einem heiligen Kauderwelsch zu uns zu sprechen – sie predigen uns leere Worte. Daher muß sich ihre ganze Weisheit, trotz des Beifalls, den sie finden, doch schließlich in die Schlupfwinkel der Schwächlinge flüchten. Die Starken, die Beherrscher der Welt, verachten sie. Die, welche den Mut hatten, dies einzusehen, haben Erfolg gehabt, während jene armen Wichte von ihrer Natur nach der einen Seite und von den Avatáras nach der andern gezerrt werden; sie setzen den einen Fuß in das Boot der Wirklichkeit und den andern in das Boot des Wesenlosen und sind auf diese Weise in einer jämmerlichen Lage, da sie weder feststehen noch vorwärtskommen können.

Es gibt viele Menschen, die nur geboren zu sein scheinen, um sich mit Todesgedanken zu plagen. Vielleicht hat dieser über dem Leben hängende Tod etwas von der Schönheit des Sonnenuntergangs, die sie bezaubert. Nikhil lebt solch ein Leben, wenn man es überhaupt Leben nennen kann. Vor Jahren hatte ich über diesen Punkt eine lange Auseinandersetzung mit ihm.

»Es ist wahr,« sagte er, »daß man nur durch Gewalt etwas erlangen kann. Aber was heißt denn Gewalt? Und was heißt erlangen? Die Kraft, an die ich glaube, ist die Kraft des Entsagens.«

»Dich reizt also der Ruhm gänzlichen Bankrotts, der Ruhm, all deiner Habe ledig zu werden?« rief ich aus.

»Genau so, wie es das Küchlein reizt, seiner Schale ledig zu werden«, erwiderte er. »Die Schale ist sicher etwas Wirkliches, und doch wird sie aufgegeben für Licht und Luft, die beide nichts Greifbares sind. Du würdest das wohl einen armseligen Tausch nennen?«

Wenn Nikhil einmal anfängt, in Gleichnissen zu reden, so ist es aussichtslos, ihm klarzumachen, daß er nur mit Worten operiert, nicht mit Wirklichkeiten. Nun, meinetwegen mag er glücklich sein mit seinen Gleichnissen. Wir sind die Fleischfresser auf dieser Welt; wir haben Zähne und Krallen, wir verfolgen und packen zu und zerreißen. Wir geben uns nicht damit zufrieden, das Gras, das wir am Morgen gegessen haben, am Abend noch einmal wiederzukäuen. Jedenfalls können wir uns die Tür zu unserm Lebensunterhalt nicht von euch Gleichniskrämern verriegeln lassen. In solchem Fall müssen wir einfach rauben und stehlen; denn leben müssen wir nun einmal.

Die Leute werden sagen, daß ich ein neues Lebensprinzip aufstelle, weil man in dieser Welt anders zu reden pflegt, obgleich man in Wirklichkeit immer danach handelt. Daher können sie nicht wie ich einsehen, daß dies das einzig herrschende Sittlichkeitsprinzip ist. Ich weiß als Tatsache, daß meine Ansicht durchaus keine abstrakte Theorie ist, denn sie hat sich im praktischen Leben bewährt. Ich habe gefunden, daß meine Art immer die Herzen der Frauen erobert, die mit den Füßen auf dem Boden der Wirklichkeit stehen und nicht wie die Männer in mit Ideendunst gefüllten Ballons im Traumland umherschweifen.

Die Frauen spüren in meinen Zügen, meinem Wesen, meiner Haltung, meiner Rede eine despotische Leidenschaft, – nicht eine Leidenschaft, die vom Fieber der Askese verdorrt ist, nicht eine Leidenschaft, die bei jedem Schritt in Zweifel und Bedenken rückwärts sieht, sondern eine vollblütige Leidenschaft. Sie kommt schäumend und brausend wie die Flut daher und brüllt ihr Verlangen hinaus. Die Frauen fühlen im innersten Herzen, daß diese unbezähmbare Leidenschaft das Lebensblut der Welt ist; sie kennt kein Gesetz als sich selbst und daher ist sie siegreich. Daher haben sie sich so oft willig von der Flutwelle meiner Leidenschaft hinreißen lassen, ohne zu fragen, ob Leben oder Tod das Ende ist.

Die, welche ihre Sehnsucht auf das Jenseits richten, geben ihrer Begehrlichkeit nur eine andere Richtung. Es wird sich zeigen, wie hoch der hervorstürzende Strahl ihres Springbrunnens steigen wird, und wie lange seine Wasser spielen. Soviel ist gewiß: die Frauen sind nicht für diese blassen Geschöpfe geschaffen, – für diese idealistischen Lotusesser.

»Wahlverwandtschaft!« Wenn es meinem Zweck entsprach, habe ich oft gesagt, daß Gott bestimmte Paare für einander geschaffen hat und daß ihre Vereinigung die einzig legitime Vereinigung ist, die höher ist, als alle Vereinigungen durch das Gesetz. Denn obgleich der Mensch seiner Natur folgen möchte, ist er nicht zufrieden, wenn er sich nicht hinter irgendeiner Phrase verstecken kann – und dies ist der Grund, warum die Welt so von Lügen überschwemmt ist.

»Wahlverwandtschaft!« Warum sollte es nur eine geben? Man kann sie mit Tausenden haben. Ich habe mich der Natur gegenüber nie verpflichtet, all meine unzähligen Wahlverwandtschaften zu übersehen um einer einzigen willen. Ich habe in meinem bisherigen Leben schon viele entdeckt, aber darum ist die Tür der nächsten nicht verschlossen, – und diese nächste sehe ich deutlich vor Augen. Und auch sie hat ihre Wahlverwandtschaft mit mir entdeckt.

Und nun?

Wenn ich sie nun nicht gewinne, will ich ein Feigling heißen.


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