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5. Die wilden Schafe und ihr Wächter

Ich holte aus unserm Reisebündel einen kleinen zinnernen Becher heraus, den ich mitgenommen hatte, und steckte ihn in die Tasche. Er sollte uns Milcheimer und Tasse zugleich sein.

Dann machten wir uns auf den Weg zu den Schafen. Wir schritten behutsam voran, um die grasenden Tiere nicht aufzuscheuchen. »Das beste wird sein«, sagte ich zu Valdemar, »wir treiben einige zu dem dichten Gebüsch dort an dem Waldrand hin; aber ganz langsam und ruhig, sonst sind sie imstande und laufen uns alle zusammen davon!«

Wir gingen in einem Halbkreis um die Herde herum und merkten uns etwa ein halbes Dutzend großer Mutterschafe heraus, die am Gebüsch entlang grasten. Diese wollten wir fangen.

Als wir schon ganz nah bei der Herde waren, wurden ein paar von den Tieren auf uns aufmerksam. Sie drehten die Köpfe herum und schauten uns an. Gleich aber fuhren sie wieder fort zu grasen. Sie schienen gar keine Furcht vor uns zu haben.

»So zahme Schafe habe ich in meinem Leben nicht gesehen«, sagte ich.

»Ja, ich habe auch gemeint, Nonni, sie würden wilder sein.«

Ich ging langsam bis zu einem der Mutterschafe hin und packte es fest im Nacken. Das Tier ließ mich ruhig gewähren. Es reckte den Kopf und schaute mich, während es beständig kaute, mit seinen treu blickenden Augen an, wie wenn es mich hätte fragen wollen, was ich eigentlich da zu tun habe und was ich von ihm wünsche.

Ich nahm meinen Becher aus der Tasche und bat Valdemar, der neben mir stand, das Schaf im Nacken festzuhalten, damit ich es leichter melken könne.

Bevor jedoch Valdemar dazu Zeit bekam, geschah zu unserm Schrecken etwas, was wir von den so gutmütig aussehenden Tieren am allerwenigsten erwartet hätten:

Ein junges, starkes Schaf nämlich, das einige Schritte von uns entfernt war und uns bis dahin ruhig betrachtet hatte, senkte auf einmal den Kopf, ging rückwärts, nahm einen Anlauf und rannte dann urplötzlich in kerzengerader Linie auf den kleinen Valdemar los. Im nächsten Augenblick flog dieser mit einem lauten Schmerzensschrei seitwärts ins hohe Gras hinein.

Das Tier hatte ihn mit seiner kräftigen Stirn hart in die Hüfte gestoßen.

Valdemar raffte sich aber schnell wieder auf, mit beiden Händen sich an der getroffenen Stelle haltend.

Ich verließ jetzt sofort das Milchschaf und eilte meinem kleinen Kameraden zu Hilfe.

»Bist du verwundet?« fragte ich ihn.

»Ja, Nonni, ich muß verwundet sein«, stöhnte er, »denn es tut mir sehr weh an der Seite. Ich habe einen schrecklichen Stoß bekommen.«

Gleich darauf rief er voll Bestürzung: »Schau, Nonni, da kommt das böse Tier wieder!«

Und wahrhaftig, das Schaf war eben im Begriff, einen zweiten Anlauf zu nehmen. Es tat genau so wie das erstemal.

Während es aber schon mit gesenktem Kopf auf uns zu rannte, stellte ich mich rasch vor Valdemar hin, um ihn vor dem neuen Angriff zu schützen. Gleichzeitig forderte ich ihn auf, er solle schnell fliehen.

Hinkend und immer noch stöhnend lief der arme Knabe davon. Ich selbst suchte im letzten Augenblick durch einen Setkensprung dem wilden Schaf zu entgehen. Es gelang mir aber nicht. Das Tier merkte meine Kriegslist; es bog im Laufen von der geraden Linie ab und traf nun auch mich an der rechten Seite.

Der Stoß tat mir sehr weh. Doch er war nicht stark genug gewesen, mich umzuwerfen. Ich taumelte nur einige Schritte weit.

Nun warf ich mich eilends auf das kampflustige Schäflein, faßte es an den langen Ohren und hielt es fest. Zu meiner Verwunderung leistete es keinen Widerstand, sondern ließ sich ruhig festhalten; nur versuchte es wiederholt, den Kopf zu schütteln. Es war ihm offenbar unangenehm, gerade bei den Ohren gehalten zu werden.

Ich tat ihm deshalb seinen Willen, ließ die Ohren los und faßte es, wie vorhin das andere Schaf, an der dicken Wolle im Nacken.

Jetzt blieb es ruhig bei mir stehen und schaute mich gutmütig an. Ich schloß aus diesem Benehmen, daß es uns nicht feindlich gesinnt war. Es sah sehr lebenslustig aus und hatte wohl nur mit uns spielen wollen. Ich erkannte jetzt auch, daß es ein Bock war. Er war noch jung und hatte ein Paar kleine Hörnchen.

Um uns jedoch vor seinen weiteren »Freundlichkeiten« zu sichern, entschloß ich mich, es nach der Hütte zu führen und dort einzusperren, bis wir mit dem Melken der Milchschafe fertig wären.

Das Böcklein folgte mir willig.

Bald kam auch Valdemar uns nach. Ich fragte ihn, ob er noch Schmerzen habe.

»Nein, jetzt nicht mehr so stark«, antwortete er. »Aber was willst du mit dem bösen Tier machen, Nonni?«

»Ich will es in die Hütte einsperren, damit wir die Milchschafe melken können.«

»Da hast du ganz recht, sperr es nur ein!« stimmte Valdemar mir zu.

Als wir ungefähr halbwegs bis zur Hütte gekommen waren, hörten wir plötzlich ein vielstimmiges, lautes Blöken hinter uns.

Valdemar schaute um und rief: »Nonni, sieh mal, da kommen ja auch die andern Schafe!«

Ich wollte zuerst meinen Augen nicht trauen; doch es war so, wie Valdemar gesagt hatte: fast die ganze Herde lief blökend hinter uns her.

»Ich glaube, sie wollen uns wieder anfallen, Nonni!« rief von neuem der Kleine. »Schau, wie einige schon die Köpfe senken!«

»Hab nur keine Angst, Valdemar! Komm, wir wollen eilen, daß wir vor ihnen bei der Hütte sind!«

Wir fingen an zu laufen. Unser Gefangener lief artig mit und machte sogar allerlei lustige Sprünge dabei. Er schien das Ganze als ein Spiel aufzufassen.

Wieder schaute Valdemar um. – »Sie kommen immer näher, Nonni! – Und wie sie laufen!« schrie er. – »Nonni, wir sind in Gefahr!«

Das wilde, stürmische Benehmen dieser Tiere machte mich allmählich auch selber stutzig.

»Valdemar!« rief ich jetzt, »spring schnell voraus zur Hütte und stell die alte Tür bereit, daß wir gleich zumachen können, wenn ich mit dem Bock da bin!«

Valdemar sprang trotz seiner wehen Hüfte, so schnell er konnte, voraus und tat, wie ich ihm gesagt hatte.

Hinter mir her rannte noch immer wie gejagt die ganze wilde Schafherde. Die ersten Reihen waren mir schon fast auf den Fersen. Doch ich erreichte gerade noch vor ihnen mit meinem Böcklein die Hütte. Ich zog es rasch hinein bis in die innerste Ecke und half dann Valdemar die bereitgehaltene Tür vor den Eingang schieben.

Wir waren verschanzt!

Und siehe da, schon stürmte auch das volle Rudel der uns verfolgenden Schafe mit gewaltigem Poltern und Lärmen gegen die Hütte heran. Ein Teil drängte sich ganz nah an den Eingang, die andern umringten von allen Seiten das kleine hölzerne Gebäude. Sie schauten neugierig durch die Risse und Löcher und Spalten herein und schnüffelten vorsichtig, so wie Schafe zu tun pflegen, an den Balken und Brettern herum. Keines aber versuchte gewaltsam einzudringen.

Auch unser Gefangener blieb ruhig in der Ecke stehen.

»Das sind doch merkwürdige Tiere«, sagte ich zu Valdemar. »Vorher hat der Bock uns gestoßen, die andern haben uns soeben verfolgt, und jetzt sind alle wieder ganz ruhig und zahm.«

»Ja, jetzt!« erwiderte er. – »Aber wenn wir hinausgehen, dann fangen sie gewiß wieder an!«

»Meinst du, Valdemar? – Ich glaube, daß sie nicht mehr so wild sind. Wenn wir beide zusammenhelfen, dann werden wir schon mit ihnen fertig werden.«

»Ja, Nonni, ich werde immer ganz nah bei dir bleiben«, sagte Valdemar treuherzig. »Aber es ist doch eigentümlich, daß sie uns alle ohne Ausnahme bis hierher verfolgt haben.«

»Das ist bloß ihre Art so, Valdemar. Die Schafe wollen immer beieinander bleiben; wenn man eines von ihnen wegführt, dann laufen die andern auch mit.«

»Sind die aber spassig, Nonni! – Glaubst du wirklich, sie werden uns nicht mehr stoßen, wenn wir zu ihnen hinausgehen?«

»Ganz sicher nicht, Valdemar, du wirst sehen, sie tun uns nichts mehr. Ich will es gleich einmal probieren. Aber ich gehe allein hinaus, du bleibst unterdessen hier drinnen.«

Valdemar warf einen bangen Blick nach dem gefangenen Bock in der Ecke. Ich sagte ihm jedoch, er brauche keine Furcht zu haben: das Böcklein tue ihm nichts, es sei ja ganz zahm geworden.

»Ja, aber du mußt dich in acht nehmen, Nonni, wenn du hinauskommst«, versetzte er.

»Das werde ich schon, Valdemar. Und wenn sie auf mich los wollen, dann komme ich schnell wieder zu dir herein.«

Ich schob langsam die Tür ein wenig zur Seite und schlüpfte hinaus.

Da war nun alles weiß vor mir von lauter dichtgedrängten wolligen Schafen. Sie standen alle ganz ruhig beisammen und schauten mich wie vorher friedlich und gutmütig an. Sie ließen sich sogar gerne von mir streicheln.

Als ich sah, wie harmlos sie waren, rief ich zu Valdemar in die Hütte hinein:

»Komm nur auch heraus, Valdemar, es ist keine Gefahr mehr!«

Ich half ihm die Tür ein wenig beiseite rücken, und so schlüpfte auch er aus der Hütte heraus.

Da auf einmal geschah etwas überraschendes. – In dem Augenblick nämlich, als Valdemar herausgekommen war, fuhr plötzlich die ganze Schafherde heftig zusammen. Ein einziger Ruck – und alle Köpfe wandten sich wie auf Kommando nach links. Angstvoll schauten die Tiere gegen die grüne Wiese hin, wo sie soeben gegrast hatten. Es war, wie wenn sie vor einer jäh auftauchenden Gefahr in Furcht und Schrecken geraten wären.

Was war geschehen?

Von dem Wäldchen her, drüben an der Wiese, vernahmen wir plötzlich ein kurzes, zornartiges Geheul, und gleich darauf sahen wir zu unserm höchsten Erstaunen ein rabenschwarzes kleines Tier aus dem Gebüsch herausschießen und in rasendem Lauf über die Wiese daher auf uns zurennen.

Die Schafe standen im ersten Schrecken wie gelähmt da. Keines regte sich. Dann aber fuhr ein heftiges Zittern durch alle ihre Glieder.

Als der kleine schwarze Unhold, in dem wir jetzt einen grimmigen Schäferhund erkannten, bereits in unsere nächste Nähe gekommen war, setzte sich die ganze Schafherde sturmartig in Bewegung und flüchtete mit wilder Angst in einem weiten Bogen wieder nach der Wiese zu.

Der wütende Hund verfolgte sie und biß mehrere Schafe jämmerlich in die Hinterbeine. Am Weideplatz bei dem Wäldchen trieb er sie zusammen. Dann lief er noch ein paarmal um sie herum und verschwand zuletzt im Gebüsch, aus dem er gekommen war.

Valdemar und ich schauten uns immer noch erstaunt an. Wir konnten uns gar nicht erklären, wie der Hund hier sein konnte. Es waren doch, glaubten wir, keine Menschen auf der Insel! Woher konnte denn dieser Hund kommen?

Oder war am Ende doch jemand da, ohne daß wir es merkten? – vielleicht jenseits des Wäldchens, aus dem der Hund herausgesprungen war und wohin er wieder verschwand?

Wir verstanden es nicht. Schließlich sagte Valdemar:

»Sollen wir nicht einmal Nachsehen, Nonni, ob wir jemand finden?«

Mir gefiel dieser Vorschlag. Ich willigte sofort ein.

Wir ließen ruhig das gefangene Böcklein in der Hütte zurück und liefen über die Wiese an der Schafherde vorbei bis zu dem Wäldchen hin. Dort blieben wir stehen und horchten. Dann gingen wir hinein.

Der Weg durch das Wäldchen war gar nicht lang. Wir kamen schon nach wenigen Minuten auf der andern Seite wieder hinaus.

Hier lag ödes, flaches Land vor uns. Da und dort sah man einen Baum stehen. Wir schauten und spähten nach allen Seiten, konnten aber keine Spur von Menschen entdecken. Auch der Hund war nirgends mehr zu sehen; er war wie vom Erdboden verschwunden.

»Das ist aber doch ganz unbegreiflich!« sagte Valdemar.

»Ja, wahrhaftig, ein Hund hier und keine Menschen, das hätte ich nicht für möglich gehalten.«

»Vielleicht hat man ihn auf der Insel vergessen, Nonni.«

»Oder er ist abgerichtet, daß er allein die Herde hüten kann«, bemerkte ich.

»Aber wovon soll er dann hier leben, wenn er ganz allein ist?«

»Er hat vielleicht einen Vorrat von Lebensmitteln dort im Gebüsch. Sollen wir nicht hineingehen, Valdemar, und ihn aufsuchen?«

»Nein, Nonni, tun wir das lieber nicht; er könnte uns beißen.«

»Gut, dann schlage ich vor, wir gehen wieder zu den Schafen und versuchen noch einmal, sie zu melken. Ich habe einen gewaltigen Durst. Und jetzt ist ja auch der Bock nicht mehr da. Die andern Schafe werden uns wohl in Ruhe lassen.«

Wir begaben uns also wieder zu der Schafherde; aber wir nahmen uns diesmal in acht vor einem neuen Angriff, indem wir überall umherschauten, ob keine Gefahr vorhanden sei.

Wie vorher ließen uns die Schafe ruhig an sich herankommen. Ich faßte ein großes, schönes Mutterschaf beim Ohr, tatschte es freundschaftlich am Kopf und zog es einige Schritte von den andern weg. Valdemar mußte es dann an der Wolle im Nacken festhalten.

Jetzt nahm ich meinen Becher aus der Tasche und wollte soeben anfangen, ihn mit köstlicher warmer Milch vollzumelken, da auf einmal ertönt wieder das Geheul aus dem Gebüsch herüber, und der geheimnisvolle schwarze Hund kommt blitzschnell mit flammenden Blicken herbeigerannt!

Wir ließen aus der Stelle das Schaf los und sprangen davon.

Doch wir brauchten nicht weit zu fliehen, denn der Hund begnügte sich, wenigstens vorläufig, damit, das Schaf zur Herde zurückzubringen.

Als wir sahen, daß er uns nicht angriff, blieben wir in einiger Entfernung stehen, um zu beobachten, was nun geschehen werde.

Diesmal lief der Hund nicht ins Gebüsch zurück. Er stellte sich zwischen uns und der Herde auf und legte sich dann bald ins Gras nieder. Aber er schaute uns immer fest an. – Ein sonderbares Tier: gegen die Schafe war er streng, uns jedoch tat er nicht das geringste zuleid.

Trotzdem blieben wir auf unserer Hut vor ihm. Er machte so schreckliche Augen.

Ich überlegte nun, was wir anfangen sollten.

Um jeden Preis mußten wir versuchen, etwas Milch zu bekommen. Wir hatten ja beide gewaltigen Durst.

Vielleicht merkt er es nicht, dachte ich, wenn wir uns auf der andern Seite an die Schafe heranschleichen.

Wir gingen daher in einem großen Bogen um die Herde herum, näherten uns ihr langsam von drüben her und faßten wieder eines der Mutterschafe beim Ohr.

Aber ach, sofort kam der strenge Wächter wieder gesprungen und vertrieb uns. Er stellte sich abermals zwischen uns und die Herde und schaute uns scharf an.

»Da ist nichts zu machen, Nonni«, sagte nun Valdemar. »Er leidet es einfach nicht, daß wir ein Schaf melken.«

»Aber was sollen wir dann tun?« entgegnete ich. »Wir müssen doch etwas zu trinken haben!«

»Ich glaube«, antwortete er, »es ist das beste, wir verzichten auf die Milch und gehen wieder zur Hütte.«

»Nein, Valdemar, ich will jetzt noch versuchen, den Hund durch Freundlichkeit zu gewinnen.«

»Um Gottes willen, sei vorsichtig, Nonni! Er könnte auf dich losspringen!«

»O, so bös wird er wohl nicht sein! Bleib du nur hier stehen, Valdemar.«

Ich ging also langsam vorwärts dem sonderbaren Tier entgegen. Ich rief ihm freundlich zu, klopfte mit der flachen Hand auf meine Kniee und gab ihm allerlei Zeichen von Wohlwollen und Freundschaft.

Der Hund ließ sich aber auf nichts ein. Er blieb unbeweglich stehen und warf mir so unheimlich ernste Blicke zu, daß ich es nicht wagte, ganz in seine Nähe zu treten.

Alle meine Bemühungen, ihn zu mir herzulocken, waren vergeblich. Er blieb standhaft auf derselben Stelle stehen und heftete seinen Blick fest auf mich.

Schließlich mußte ich unverrichteter Sache zu Valdemar zurückkehren. Ich war enttäuscht und nahe daran, die Schafe samt der Milch aufzugeben.

Da fiel mir ein neuer Plan ein. – »Valdemar«, sagte ich, »ich will jetzt einen andern Versuch machen. Wir gehen zur Hütte und holen dort ein Stück von unserm Fleisch. Einen Knochen haben wir auch dabei. Für Hunde sind das die größten Leckerbissen. Wir bringen das Fleisch und den Knochen hierher und bieten ihm beides an. Wer weiß, vielleicht schließt er dann doch Freundschaft mit uns!«

Wir liefen also zur Hütte hin, wickelten den Knochen und einige Stückchen Fleisch in Papier ein und kehrten gleich wieder zurück.

Mit einem kleinen Stück Fleisch auf der flachen Hand näherte ich mich jetzt dem aufmerksam schauenden Hund und bot ihm freundlich meine Gabe an. Sofort merkte ich, daß er hungrig war und daß er ein großes Verlangen nach dem Fleisch hatte. Er war so begierig darauf, daß ihm förmlich das Wasser im Maul zusammenlief und an den beiden Maulwinkeln herunkertropfte.

Ich hielt ihm nun in einer Entfernung von drei bis vier Schritten das Fleisch hin.

Die Wirkung war überraschend! Der Hund blickte mit einem Male ganz anders, ja beinahe freundlich. Er fing sogar an, ein wenig mit dem Schwanze zu wedeln.

Ich sah nun, daß mein Spiel gewonnen war. Ich wagte mich vollends zu ihm hin, hielt ihm mit der einen Hand das Fleisch vor das Maul und klopfte ihn freundschaftlich mit der andern auf seinen dichtbehaarten Kopf.

Jetzt nahm er den kleinen Bissen und schlang ihn hastig hinunter. Dann setzte er sich auf die Hinterbeine und schaute mich gemütlich an.

Wir waren Freunde geworden.

Zuletzt kam auch Valdemar hinzu und schenkte ihm ein paar Stückchen Fleisch. Die wurden ebenso rasch verschlungen.

Um den Hund ganz für uns zu gewinnen, liebkosten wir ihn beide um die Wette. Dann sagte ich zu Valdemar:

»Jetzt wird er uns wohl ein paar Schafe melken lassen.«

»Das glaube ich auch, Nonni.«

Doch wie überrascht wurden wir, als wir unser Vorhaben ausführen wollten! – Kaum waren wir einige Schritte gegen die Schafe hin gegangen, da sprang der scharfe Wächter sogleich wieder auf und stellte sich uns in den Weg. Er warf uns wieder seine strengen, unerbittlich festen Blicke zu und nahm die gleiche drohende Haltung ein wie vorher.

»Das ist aber doch ein merkwürdiger Hund!« sagte Valdemar. »Das Fleisch durften wir ihm geben, uns aber will er keinen Gefallen tun! Komm, wir wollen gehen, er läßt uns doch nicht zu den Schafen.«

»Nein, Valdemar, ich gehe nicht. Wenn wir durch Güte nichts bei ihm erreichen, dann werden wir eine Kriegslist anwenden.«

»Wie willst du das machen, Nonni?«

»Ganz einfach. Du hast ja noch immer den Knochen, Valdemar. – Gib ihn her! – – So, jetzt will ich dir meine Kriegslist erklären.«

Valdemar war aufs höchste gespannt.

Ich fuhr fort: »Der Hund scheint sehr hungrig zu sein. Ich werde ihm nun den Knochen zeigen: aber bloß zeigen, er bekommt ihn nicht. Dann wirst du sehen, wie freundlich er wird!«

»Meinst du, daß er uns dann zu den Schafen läßt?«

»Nein, aber ich habe etwas ganz anderes vor!«

»Was denn, Nonni?«

»Ich locke ihn mit dem Knochen in der Hand bis zur Hütte hin. Dort wird er zum Bock hineingesperrt, so lange, bis wir die Schafe gemolken haben.«

»O ja, das machen wir!« rief der Kleine jetzt begeistert aus. »Ich gehe mit!«

»Nein, Valdemar, du mußt vorauslaufen zur Hütte und dich an der Tür bereitstellen, daß du mir gleich helfen kannst, wenn ich mit dem Hund ankomme.«

Während nun Valdemar zur Hütte vorauslief, nahm ich den Knochen aus dem Papier in die rechte Hand und zeigte ihn dem Hund. Sofort kam dieser auf mich zu, langsam und bedächtig, und immer nach dem Knochen schauend. Er leckte sich das Maul und wedelte mit dem Schwanze.

Ich sprach freundliche Worte zu ihm und ließ ihn an dem Knochen riechen: doch nur einen Augenblick, damit er ihn mir nicht aus der Hand wegschnappe. Dann ging ich rückwärts auf die Hütte zu.

Der Hund folgte mir nach.

Ich war erstaunt, wie leicht mir meine List gelang. Bald drehte ich mich sogar um und ging auf gewöhnliche Weise vorwärts. Nur den Kopf hielt ich etwas auf die Seite gewandt, damit ich den Hund beobachten konnte.

Er kam noch immer nach.

Als ich schon ziemlich nah bei der Hütte war, rief Valdemar mir entgegen:

»Komm nur, Nonni, ich bin mit der Tür fertig. Du kannst ganz leicht hineinschlüpfen. Der Bock hat sich in der Ecke niedergelegt.«

Am Eingang der Hütte lockte ich den Hund wieder und zeigte ihm den Knochen. Valdemar schob vorsichtig die Tür zur Seite, da schlüpfte ich durch die enge Öffnung hinein.

Der Hund blieb erst draußen stehen und schien mir nicht folgen zu wollen. Ich winkte ihm aber von innen mit dem Knochen und lud ihn gleichzeitig durch freundliche Zurufe ein, zu mir zu kommen.

Endlich kam er näher und näher. Zuletzt hüpfte er wirklich zu mir in die Hütte hinein.

Der Bock, der bis jetzt ruhig in seiner Ecke lag, sprang erschrocken auf, als er den Hund sah. Dieser tat ihm jedoch nichts zuleide: er kümmerte sich gar nicht um ihn.

Nun übergab ich meinem neuen Gefangenen den verdienten Knochen, wofür er mir durch eifriges Wedeln mit dem Schwanze seinen Dank bekundete. Er legte sich nieder und begann sofort mit dem besten Appetit den Knochen zu benagen. Ich aber nahm schnell unsere Eßwaren, weil sonst der eingesperrte Hund sie wohl sicher aufgefressen hätte, und schlüpfte wieder zur Hütte hinaus.

Bevor Valdemar und ich fortgingen, schlossen wir die Türe fest zu, damit unsere zwei Gefangenen nicht etwa Lust bekämen, auszubrechen.

»Meinst du aber nicht, Nonni«, sagte Valdemar, »daß der Hund den Bock beißen wird, wenn wir fort sind?«

»Nein, Valdemar, das tun solche Hunde nicht. Er wird ihn im Gegenteil vor jeder Gefahr schützen.«

Frohlockend über das vortreffliche Gelingen unserer Kriegslist, eilten wir jetzt über die Wiese zu den Schafen zurück. Ich suchte mir wieder ein großes Milchschaf aus und bat Valdemar, es festzuhalten. Dann fing ich zu melken an.

Ich merkte aber sogleich, daß die Schafe viel weniger Milch hatten als die isländischen. Trotzdem gelang es mir bald, einen Becher mit schäumender, schneeweißer Milch voll zu melken.

Ich überreichte ihn Valdemar.

Der Kleine trank den Becher in einem Zuge leer; und indem er ihn dann absetzte, rief er aus:

»O, schmeckt aber die fein, Nonni!«

»Das will ich glauben, Valdemar! Eine gute Schafsmilch ist nicht zu verachten!«

Ich molk nun ein Schaf nach dem andern, bis wir beide genug getrunken hatten.

Diesmal wurden wir weder von einem Bock noch von dem Hund belästigt.

Ehe wir die guten Tiere verließen, klopften wir ihnen freundschaftlich noch einmal auf ihre wolligen Köpfe und dankten ihnen für die köstliche Labung. Ihren beiden Kameraden, dem Böcklein und dem Hund, schenkten wir, als wir zur Hütte zurückkamen, die Freiheit wieder.


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