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Nach zehn Jahren

Wie ein Fremder in eine fremde Stadt zog Doktor Wilhelm Born an einem kühlen Septembernachmittag in Eyslau, seinem Geburtsnest, wieder ein.

Niemand erwartete ihn. Die wenigen Personen auf dem Bahnsteig sahen ihm nach wie einem Unbekannten, der weiter nichts Auffälliges oder Interessantes an sich hat, und auch er streifte sie mit den gleichgültig übersehenden Blicken des Wandernden, der nur körperlich und ohne inneres Aufmerken um sich schaut.

Dem kleinen, zerlumpten Jungen, dem er seinen vielgebrauchten Handkoffer auflud, gab er an:

»Nach dem Grünen Kranz zur alten Frau Born.«

»Is kein Wirtshaus mehr«, sagte der Bursche.

»Weiß ich, vorwärts«, lautete der kurze Bescheid. Der Junge sah ihn groß an und setzte sich in Trab. Er selbst ging langsam hinterher. Durch die Bahnhofstraße mit ihrer kümmerlichen Kastanienallee, deren Bäume halb entblättert und zerzaust in dem kalten Winde schwankten. Durch die enge Badergasse, in der ein hoher Getreidespeicher mitten unter kleinen Armeleutshäuschen aufragte. Dann kam der Markt, ausgestorben und kahl, ein Tanzplatz für zusammengewirbelte Herbstblätter, und nun rechts hinauf die Grüne Straße, aus der schon Dämmerungsschatten stiegen.

Die Häuser, dürftig und grau, standen ziemlich dicht einander gegenüber. Sie waren alle gleichmäßig aufgebaut und getüncht und alle gleichmäßig kahl. Das vierte hatte neben dem Hauseingang einen großen Torweg, der mit einer schiefen, fahlroten Holztür verschlossen war.

Da blickte Doktor Born auf, lohnte seinen Kofferträger ab und ging durch die Einfahrt auf den Hof. Hier, am Fenster der großen Stube, die den Anbau ausfüllte, saß in einem braunen Großvaterstuhl die alte Frau Born. Sie hatte die Brille auf der Nase und das Strickzeug in den verkrümmten Gichthänden. Ein Ausdruck von Zufriedenheit lag auf dem alten Gesicht … Nun hob sie es langsam und gewahrte den Draußenstehenden. Verwundern, Erschrecken, Erkennen flogen darüber hin, und zuletzt, wie ein aufflackerndes Licht, ein frohes Lächeln.

Da ließ Doktor Born den Koffer fallen und lief in die dämmerige Stube hinein. Er nahm die alte Frau an seine Brust und drückte sie fest an sich.

»Gott sei Dank, daß du noch da bist, Mutter!«

»Du – du –« sagte sie, sich freimachend. »Beinahe hätt' ich dich nicht erkannt … Herrgott, ich dacht' ja, der Vater stand draußen … Und schon graue Haare? … Und nun wirst du hier zu Hause doktern? Jung', Jung' … zehn Jahre! … Wir dachten, du wolltst erst am Freitag kommen. Zu tun wirst du schon haben. Der alte Sanitätsrat hatte ja die meisten … Zu dem Doktor Heymann gehn sie ja nicht. Bloß die paar Kathol'schen und die Juden … Konnt' das nicht der Vater erlebt haben? … Der Wilhelm! Und hier bei uns Doktor!« So und mehr schwatzte das alte Weibchen und lief dabei in der Stube herum und rückte hier an den birkenen Stühlen und glättete dort das gehäkelte Deckchen auf der Kommode und blieb zuletzt vor dem Sohn stehen, der sich in den Großvaterstuhl gedrückt hatte.

»Ja, Mutter, da wären wir also zu Hause … Gut gegangen ist mir's gerade nicht. Geschuftet hab' ich mir das Fleisch von den Knochen.« Er streckte einen vermagerten Arm vor. »Jünger bin ich auch nicht geworden, und herausgekommen ist gar nichts dabei.«

»Na, jetzt bist du doch in schönem Amt und Brot«, sagte die Mutter. »Und hier legen sie ja alle was zurück. Essen mußt du bei uns, wenn du vorlieb nimmst, Wilhelm … Wohnen? Das wird hernach ja wohl nicht gehn.«

»Nein, das ist schon alles abgemacht, Mutter. Als mir der Sanitätsrat schrieb, daß er fortgehen wolle, und mir seine Praxis anbot, hat er mir auch vorgeschlagen, seine Wohnung zum Teil zu übernehmen. Das ist bequem und gut so …«

»Also da … am Markt? Beim Kürschner Bartke? … ja, ja …«

Die blöden alten Augen wurden vor Stolz naß. Sie trocknete sie mit dem Handrücken … »Ja, ich dacht', du wollt'st schreiben, wenn du kommst … Aber deine Stube haben wir schon zurecht … Betten bezogen und alles. Die Käthe sagte gleich: »Der kommt ungemeldet.«

Der Doktor stand auf und ging eine Weile schweigend im Zimmer umher. »Noch der alte Flickenteppich«, sagte er dann. »An dem hab' ich nähen geholfen … Ja, die Käthe ist nun also ganz bei dir, schreibst du? …«

Die Mutter nickte: »Ja, gottlob … Es bringt sich doch alles ein … Was hat der Vater damals geredet und geredet … weißt du noch? Wie der Kantor Müller starb, und die Marjell, die Käthe, mitten im Lehrerinlernen, und nichts mehr da, daß sie's zu Ende bringen konnt' … Na, und da sagt' ich zu Vater … Nein, Born, sagt' ich, das Kind übernehm' ich, und wenn ich's mir am Mund absparen sollte … Und ist es nun nicht gut für mich, daß ich sie auf meine alten Tage hab'? … Ich brauch' mich nun nicht mehr viel zu rühren … das heißt, ihr ist es auch wohl … Sie hat sich mit ihrem kranken Herz schändlich abrackern müssen, wie sie noch Gouvernante war … Gottchen, die weiß ja noch nichts! Herrje, ich hol' sie schon.«

Der Doktor strich in Gedanken seinen Bart.

»Wo ist sie denn?«

»In der alten Kontorstube … Da wohnt sie jetzt wieder … Ich geh' schon …«

»Laß, Mutter, ich werde selbst …«

Die Mutter nickte zufrieden.

»Ja, ja … Ich mach' derweil die Lampe zurecht, daß ich dich doch ganz zu sehn krieg', du …«

Draußen auf dem dunkeln Hausflur blieb Wilhelm Born einen Augenblick stehen. Dann schüttelte er sich und machte schnell, ohne anzuklopfen, die Tür rechts auf.

In dem einfenstrigen Zimmerchen war noch bleichgraues Taglicht. Neben der andern Tür, die auf die Einfahrt hinausführte, vor der alten Kommode, kniete eine dunkelgekleidete Frau.

Bei dem Geräusch des Eintretenden wandte sie sich um und sprang auf. Ein jähes Zucken lief über ihr Gesicht. In den Augen, die unter vorstehenden Stirnbogen und dichten schwarzen Brauen versteckt lagen, brannte eine hohe Erregung auf.

Sie streckte die Hände aus und ließ sie wieder sinken …

»Wilhelm …«

»Sieh mal, du erkennst mich also gleich?« sagte er mit nicht ganz freiem Ton. »Und ich hätte an dir ruhig vorbeigehn können … Du mußt damals doch noch ein Kind gewesen sein … Jetzt bist du so groß wie ich …«

Sie richtete sich höher auf und sagte nichts. Die Hände auf dem Rücken sah sie ihn voll an.

Unter seinen matt neugierigen Blicken verfinsterte sich ihr blasses, großzügiges Gesicht. Die Augen funkelten, der üppige Mund zog sich zusammen, und der Atem drängte sich gepreßt über die Lippen.

Auch sein Ausdruck veränderte sich. Statt des verlegen freundlichen Lächelns, das durch tiefe Kummerfalten melancholisch eingeschränkt war, überzog zuletzt eine gemachte verletzende Gleichgültigkeit sein hageres Gesicht, und seine scharfen, kleinen Augen hefteten sich fest an die ihren.

So standen sie sekundenlang ohne ein Wort.

Dann trat der Doktor einen Schritt näher.

»Sag mal, Käthe, was soll das eigentlich heißen? Wir starren uns an wie ein paar Feinde, und waren doch gute Kameraden … Ich komme ganz friedlich …«

»Nach zehn Jahren«, stieß sie höhnisch hervor. »Und was für Jahren!«

»Ja«, sagte er, »Käthe, das ist nun mal nicht anders im Leben. Wir haben eine schöne Zeit zusammen verlebt – der Sommer war schön, wir beide jung, und gaben uns gegenseitig, was wir hatten.«

»Du hast mein Leben schimpfiert – ich war siebzehn …«

Wilhelm Born zuckte die Achseln.

»Und ich vierundzwanzig … Mein Gott, Käthe, was soll es dir geschadet haben, daß wir toll und voll glücklich waren? …«

»Gebrandmarkt hat es mich … körperlich, seelisch verelendet … Ein Wort von dir, ein gutes Wort in der ersten gräßlichen Zeit, und alles wäre anders gewesen … Aber so … Als ich nach den Sommerferien damals wieder in die Selekta kam, elend zum Sterben – und wartete und wartete …«

»Herrgott, Käthe, das ist eine Ewigkeit her. Und du hast doch das wirkliche Leben kennen gelernt und solltest dich jetzt nicht mit kindischen Sentimentalitäten abgeben … Außerdem hat's nie einer geahnt …«

»Nein, ich habe mich immer nur vor mir allein zu schämen gehabt, daß ich dem ersten, der kam, alles hingeworfen habe, Jugend und Gesundheit und alles … Einem, der es hinterher nicht einmal der Mühe für wert hielt, zu fragen … nachzusehen … o pfui, pfui … das war roh … das war schlecht … das soll dir auf der Seele brennen … das soll …«

»Sei still!« befahl er. »Was verlangtest du denn eigentlich? … Hast wohl gar, trotz der Abrede, noch an Heiraten gedacht? … Nein, mein Kind, dazu langte es nicht … Nicht die Kraft und nicht die Neigung … Auf mich wartete nach ein paar Feierstunden die schwere Arbeit …«

»Ich hasse dich, ich verabscheue dich«, sagte sie tonlos.

»So?! Weshalb kamst du denn gerade zu meiner Mutter? … Die Welt ist doch groß genug. Und du bist jung und konntest dich auch anderswo nützlich machen. Nützlicher als hier …«

»Wilhelm«, schrie sie und fuhr sich mit beiden Händen durch die schwarzen Haare, »wo sollte ich denn hin? Ich habe niemand, und ich bin krank … Acht Jahre von Haus zu Haus gegangen, und immer mehr arbeiten müssen, als ich konnte … Meine letzte Stelle wurde mir gekündigt. Da trieb mich die Not her, Wilhelm. Not und Krankheit … Und wer konnte denn ahnen, daß du auf immer herkommen wolltest?«

»Ja, das konnte keiner ahnen«, sagte er und setzte sich auf den Stuhl am Fenster. »Wenn mir einer vor zehn Jahren gesagt hätte, daß ich in diesem verwünschten Nest einmal die Praxis vom alten Burkhard übernehmen würde, dem hätte ich ins Gesicht gelacht … Und nun sitzt man doch da …«

Er zog eines der fahlen Schnurrbartenden durch die Lippen und brütete vor sich hin.

»Warum denn? Warum bist du nicht in Wien geblieben?« fragte Käthe mit demselben Widerwillen im Ton.

»Ach … warum soll ich's übrigens auch nicht aussprechen … Es ist mir schlecht gegangen, Käthe … Ich habe mich – nun, sagen wir unter uns – etwas blamiert.«

Er lachte voll Bitterkeit.

Käthe kam einen Schritt näher und sah ihn musternd an.

»Ja, man merkt's … Du hast viel durchgemacht?« sagte sie hart, aber doch voll auffordernder Teilnahme. »Du bist wohl irgendwie ins Unglück geraten, wie es ja euch Ärzten durch einen Zufall passieren kann? Wohl gar mit dem Staatsanwalt?«

Er stand auf.

»Unsinn … Es ist eine elende Sache, an der man erstickt …«

»So sag's doch.«

»Warum nicht? – ja doch«, sagte er gleichgültig. »Es tut sogar gut, einmal so etwas hinauszuschreien, zur Abwechslung einmal nicht bloß gegen den Wind. Außerdem wußtest du auch schon vor Jahren, aus meiner letzten Studentenzeit, daß ich hinter einer neuen Entdeckung herjagte – Adernerkrankungen … weißt du noch?«

Ihr Gesicht verzog sich in Bitterkeit.

»Höhne nur, höhne! Das schadet nichts. Wenn man Tag für Tag und Nacht für Nacht auf sich selber herumhaut, müssen ein paar Nadelstiche von einer boshaften Frau ja eine wahre Erleichterung sein.«

Nun sah sie ihn wirklich böse an.

Er aber warf die Lippen geringschätzig auf.

»Ja, vor fünf Jahren war meine große Idee in der Theorie da … Eine neue Kontraktionsmethode, teils durch chemische … doch – das ist ja gleichgültig – etwas Neues, Großes war es … Ein weites Feld abgerungen, vielen Verlorenen eine Hilfe – und für einen selbst der Gipfel … Ich brauchte Experimente – das Glück verschaffte mir die Gelegenheit. Ich kam in die Abteilung für innere Krankheiten zu Frotha, unbesoldet … Die Privatpraxis, die sich zugefunden hatte, gab ich auf … Ich habe unter Schwierigkeiten … ach, das läßt sich ja gar nicht erzählen – so kaltblütig … Aber die Entbehrungen, diese Intrigen, Verantwortung, Verschleierung bei den Experimenten …«

»Auf so ein paar Menschenleben kam es dir dabei natürlich nicht an?« fragte sie höhnisch.

»Nicht im geringsten«, gab er ebenso zurück. »Nein, nein« – er richtete sich auf – »in ehrlichem Ernst gesprochen – es kam mir nicht darauf an … Ich habe die Sterbegeschichten von fünf Menschen – wertloses und verlorenes Menschenmaterial übrigens – ja, die hab ich verwertet … Unter Blutschwitzen hab' ich also mein Buch geschrieben … der letzte Strich fertig – alles zum Druck fertig – auch der Verleger da – und ich betrunken vor Freude – da …«

Er ballte die Fäuste gegen die Schläfen …

»Was – was?«

»Da kommt dieser verfluchte Italiener, der Kamazotti, Und bringt seine Abhandlung über meine Materie. Schon fertig – Und meine sollte erst gedruckt werden … Aber nun das Schlimmste … Ich lese – und lese – mit einem Teil meiner Experimente das Gegenteil meiner Aufstellungen bewiesen – und – der Hund hat recht … Der Hund hat recht …«

Er schlug mit der umgekehrten Hand auf das Fensterbrett und sah abwesend vor sich hin.

Käthe warf den Kopf zurück.

»Wenn dein Buch noch nicht gedruckt war, ahnt ja niemand …«

»Schöner Trost … Und meine verlorene Arbeit? Meine Hoffnungen? Mein verlorenes Selbstvertrauen? … Meinst du, wenn ich davon noch einen Funken übrig hätte, säße ich hier auf dem Sande?«

Käthe trat dicht vor ihn hin.

»Und meine verlorene Jugend? und meine Gesundheit? Mein verlorenes Selbstgefühl? – Siehst du!«

Er schob sie von sich.

»Ja, so«, sagte er. »Ich vergesse ja, wem ich von meinem Unglück erzähle … Du bist ja selbst so voll von deinem eigenen eingebildeten, und ich sehe … ja, wahrhaftig … das ist ja Schadenfreude … Pfui, Käthe – laß mich hinaus … Und ein für allemal … wir sehen uns ja ab und zu – wenn du hierbleibst – bilde dir nicht ein, daß wir noch einmal von intimeren Dingen reden werden. Und mäßige deine Blicke – deinen Ton – sonst –«

»Sonst?« fragte sie.

»Ach nichts –« sagte er widerwillig. »Mir ist ja alles egal. Ich habe den Kopf voll von anderen Sachen … Also tu und mach, was du willst – aber mich laß in Frieden mit Vorwürfen und Erinnerungen und solchen Geschichten.«

Sie biß die Zähne zusammen und schlug die Augen nieder.

Er sah noch einmal nach ihr. Sie stand in dem Fensterrahmen. Ihre hohe Gestalt in dem schwarzen Kleide schien das kümmerliche Dämmerlicht, das vorher noch die Stube gefüllt hatte, aufgeschluckt zu haben. Es war fast dunkel.

Einen Augenblick blieb der Doktor noch stehen. Als sie kein Wort sagte, ging er hinaus.

In der Wohnstube jenseits des Korridors brannte die Lampe. Die Mutter hantierte in der Küche nebenan.

»Ich geh' noch fort«, rief er ihr zu, »und mach dir keine Umstände mit mir, Mutterchen. Verwöhnt bin ich nicht …«

Die alte Frau kam doch angelaufen. Sie hatte die Küchenlampe in der Hand, hob sie hoch und besah ihn.

»Und das is mein Kind … mein Jung' …«

»Ja, das ist dein Jung'. Und nun setz mal die Küchenlampe hin und nimm seinen alten, häßlichen Kopf in deine Hände und wünsch … Ach – das ist ja alles gräßlicher, sentimentaler Unsinn … Guten Abend! Und wenn ich wiederkomme, Mutter, laß mich still in dem alten Großvaterstuhl sitzen … Und allein wollen wir zwei den ersten Abend sein, ohne Fremde, ja?«

Damit lief er hinaus.

Und lief durch das Städtchen. Vorbei an der verwitterten Mauer des Amtshofes, die ehemals den Zuggraben der alten Ritterburg eingefaßt hatte, den Landweg zur Oberförsterei hinunter und dann entlang an den weiten Mooren, aus denen raschelnde Schilfbüschel aufstiegen, über die verspätete Wasservögel geräuschlos strichen, deren jenseitige Ufer schwarzes Kieferngestrüpp, zwerghaft und häßlich in den Umrissen, abgrenzte.

Trostlos, einsam, reizlos … Ein dunkles Bild, von laufenden Abendschatten überhuscht, mit gelben, verblassenden Lichtern am Horizont spärlich gefleckt, eine Welt verkörpernd, aus der Freude, Hoffnung und Vorwärtsstreben gewichen sind.

Dieses Bild begleitete den Doktor Born, der frierend den Fußweg am Ufer entlang ging, der scheuen, widerwilligen Blicks aufsog, was sich um ihn ausbreitete und der zuletzt auf dem Rückwege, als es immer dunkler und stiller wurde, die Fäuste ballte und abgebrochene Worte vor sich hin sprach. Als er wieder in die Stadt einbog, waren schon die Laternen angesteckt. Sie brannten trübe und in langen Abständen, und alles sah weiter und größer aus in diesem ungewissen Licht.

Auch sein Elternhaus. Die Fenster darin waren dunkel, nur aus dem der alten Kontorstube fiel ein gelbes Lichtherz durch den Ausschnitt der Holzläden auf die Straße.

In Gedanken starrte er darauf hin, dann ging er zum Torweg und machte die Tür auf.

Die Einfahrt war ganz dunkel. Auch die Hoftür schien geschlossen, nur ein paar trübgraue Streifen fielen als einzige Lichter durch ihre Ritzen in den Raum.

Doktor Born tastete die Wand entlang.

Da drängte sich etwas an ihn. Er fuhr zurück. Da schlangen sich ein paar Arme um ihn, fest und weich.

»Wer? … Käthe?« …

»Wilhelm, ja, ich bin es … Wilhelm, ich sah dir vorhin nach, als du über die Straße gingst. So elend – so elend … Ach, … Wilhelm – da hab' ich auf dich gewartet … Du kamst ja immer durch die Einfahrt …«

»Was willst du?« …

Die Arme schlangen sich fester um ihn.

»Armer Wilhelm … armer Wilhelm …«

Sein Gesicht wurde von ihren Tränen naß.

»Laß mich doch, Käthe«, sagte er in schwacher Abwehr.

»Nein, Wilhelm – nein … Hier, im Dunkeln muß ich's dir sagen … Ich habe dich ja lieb wie damals – nein, tausendmal mehr … Ich hab' ja all diese zehn Jahre nur an dich gedacht … Tag und Nacht … Und immer gewartet … Und vorhin, in die Arme wollt' ich dir fliegen … aber du … Und jetzt seh' ich, wie du dich grämst … Da drängt sich etwas aus mir heraus … Und für mich will ich nichts – gar nichts … nein … nein … Aber das Herz möcht' ich mir ausreißen und dir hinhalten … nur daß du wieder lachst und arbeitest.«

Er schüttelte sie von sich.

»Laß mich, Käthe …«

Sie hielt ihn fest.

»Laß mich … wir haben zusammen nichts mehr … Was fehlt dir? – So laß mich doch …«

»Nein … Nein.« Sie zog ihn mit sich.

»Sieh diese Tür … vor zehn Jahren hast du den Pfahl da« – sie bückte sich und zog einen anscheinend fest eingerammten Pfahl aus dem Boden vor der Tür, an der sie standen – »den hast du damals losgemacht, damit du unbemerkt zu mir herein konntest … Weißt du nicht mehr?«

»Ich weiß schon«, sagte er fröstelnd.

Sie stieß die Tür auf. Die führte in die Kontorstube, ihre Stube.

Beide standen nun im hellen Lampenlicht.

Sie ein glühendes, schönes Weib, sehnsüchtige Liebe, heißes Mitleid in den Augen – er ein grämlicher, alternder, verbitterter Mann, lichtscheu nach der dunkelsten Ecke der Einfahrt blickend, als ob er sich vor dem Überschwall an Licht und Liebe dorthin verkriechen wollte.

Aber schon hatte sie ihn in das Zimmer gezogen, aus dem er vor ein paar Stunden zornig und widerwillig hinausgegangen war.

»Was bedeutet das alles? … Was soll ich hier?« fuhr er sie an.

»Du sollst an die Sommernächte denken«, sagte sie leise und demütig, »in denen wir da auf dem Bettrand saßen, Hand in Hand … oder dein Kopf an meiner Brust … Und an die schöne, gute Welt von damals sollst du denken – und dann …« sie breitete die Arme aus – »dann sollst du wiederkommen und hier – hier weinen – weil alles so anders ist, als man's sich gedacht hat – und dann …«

»Liebes Kind«, sagte er und sah nach der Tür, »quäl dich nicht und quäl mich nicht … Was du da sagst – –«

»Hör nicht auf das, was ich sage«, unterbrach sie ihn hastig. »Ich hab' ja solche Herzensangst, daß ich nicht das Richtige finde – denn wenn ich das fände, dann mußt du ja kommen und bleiben … Es ist ja menschenunmöglich … Sieh, ich will ja nur dasein, wenn du keine bessere hast. Ich bin bloß für dich da … Leib … Seele … jeder Gedanke … all die zehn Jahre … Und jetzt, wo ich dich wieder hier hab' … Komm, komm … Geh nicht weg ohne ein gutes Wort … Du nimmst mein Leben mit, wenn du gehst – mit so kalten Augen – vielleicht böse wegen vorhin … Ach nein, … das war ja …«

Glühend, schwer atmend, mit angstvoll bettelnden Augen sah sie ihm ins Gesicht.

Aber er streckte abwehrend die Hände aus.

»Du bist sehr aufgeregt, Käthe«, sagte er mit erzwungener Ruhe. »Du mußt dich zusammennehmen. Ich kann da nicht mit, und ich will auch nicht …«

»Du willst auch nicht …« sagte sie nach.

Und die Glut aus ihrem Gesicht wich, die Spannung der Glieder ließ nach, und eine plötzliche Erschöpfung machte sie schlaff und weich.

Sie schleppte sich die zwei Schritte zum Bettrand, setzte sich darauf und sah mit verblaßten Augen zu ihm auf.

»Geh nun«, sagte sie matt.

Er reichte seine Hand herüber. Sie nahm sie nicht.

»Nein, Käthe – ein für allemal – mir ist die Lust an Aufregungen solcher Art längst vergangen, wie die Lust zur Liebe überhaupt … Ich kann dich nicht brauchen – ich kann keine brauchen. Willst du das nicht begreifen, dann können wir eben nicht zusammen hier hausen – und es ist besser –«

»Ich gehe«, sagte sie tonlos.

»Versuch's mit dem Bleiben, Käthe … Du überwindest es schon … Es ist ja auch alles nicht wahr … Einbildung … Vorhin warst du ganz vernünftig. Quäl uns nun nicht mehr.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Gute Nacht, Käthe … Komm nicht mehr herüber … Wir sind beide wohl müde … Gute Nacht!« …

»Du sagst das so weich und gut … Noch einmal …« Sie machte die Augen zu.

»Gute Nacht«, sagte er und ging.

Eine Stunde wohl nach dem einfachen Abendbrot saß er erschöpft bei der Mutter, die ihm tausenderlei erzählte, was in der langen Zeit im Ort vorgegangen war. Dann suchte er seine alte Studentenstube im Giebel auf und streckte sich in den dicken, lavendelduftenden Federbetten. Einmal, schon halb im Schlaf, sprang er auf. Er hatte vergessen, die Tür zuzuschließen.

* * *

Am nächsten Morgen weckte ihn lautes Klopfen.

»Wilhelm! Wilhelm!«

Es war die Mutter.

»Komm doch schnell, die Käthe macht gar nicht auf. Am End' ist ihr was passiert. Ich hab' schon solche Angst …«

In wenigen Augenblicken war er fertig und stand mit der Mutter an Käthens Stubentür.

Alles Rütteln vergeblich.

»Hol' ein Hackmesser … oder Beil.«

Die Alte lief in die Küche.

Er rüttelte noch einmal, da gab das Schloß nach, die Tür wich.

Hoch oben, der Tür gegenüber, die zur Einfahrt führte, baumelte ein Strick, ein umgefallener Stuhl lag davor.

Er sprang vorwärts.

An dem rechten Türpfosten zusammengesunken, augenscheinlich vom Stuhl herabgestürzt, ehe sie ihren Vorsatz ausführen konnte, so fand er Käthe. Sie war nur mit ihrem langen Nachthemde bekleidet, der Kopf hing über die Brust, und die langen schwarzen Zöpfe fielen auf den Boden.

Er riß hastig den Strick herab, dann hob er sie auf und schleppte sie in das Bett, das noch die Eindrücke ihres Körpers zeigte.

»Starken Kaffee … Äther«, rief er angstvoll der Mutter zu, die eintrat und aufschreiend davonlief.

Und dann, allein mit ihr, stieß er die Läden auf und begann zu arbeiten … unaufhörlich … die üblichen Bewegungen mit ihren Armen, die sich gestern noch so fest um seinen Hals geschlungen hatten und nun schon kalt waren.

Vergebens … Das Herz schlug längst nicht mehr. Der Tod hatte schon hinter ihr gestanden, als sie ihn rief …

Schwindlig richtete Wilhelm Born sich endlich auf.

Eine kümmerliche, gelbe Herbstsonnenwelle schlug eben ins Zimmer.

Da sah er, wie die offenen, gebrochenen Augen klagend aufstarrten, wie die Brauen schmerzvoll zusammengezogen waren und wie ein krampfiger Leidenszug den erblaßten Mund umschloß.

Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er griff nach der Decke.

Aber wie seine Blicke noch einmal diesen blühenden Menschenleib umspannten, der nur für ihn auf der Welt gewesen war – »Leib – Seele – jeder Gedanke« – da zwang es ihn plötzlich zu Boden.

Er legte den Kopf auf die erkaltete Brust. Erlösende Schauer leidenschaftlicher Sehnsucht überrieselten ihn …

»Käthe – wach auf – Käthe … Käthe!«


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