Rudolph Stratz
Montblanc
Rudolph Stratz

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20.

Auf dem weißen Haupt des Bergkönigs lag noch eine rotglühende Krone, das letzte Sonnenlicht, indessen Europa da unten mit seinen Tälern und Höhen, seinen Städten und Ländern längst in der Nacht verschwamm. Über den Abendwolken, die weißdampfend seine Gletscher umzogen, blinkte der schmale Eiskamm wie ein Feuerstreifen vom Himmel, und als sei der ewige Firn da oben in Brand geraten, wehten hoch aufschlagend weiße Rauchwirbel von dem stundenweit hingestreckten Grat. Das war der Firnstaub, mit dem der Südsturm spielte. Mit eisigem Hauch fegte er die losen Kristallkörner aus ihrem kalten Bett, er ließ sie als einen im Widerschein der Sonne blutrot flimmernden Dunst über die gefrorenen, glatt spiegelnden Grate und Schneiden hintanzen und stäubte sie über die jähen Schneehalden hinab zu Tal.

Wo diese knisternden und wie Nadelstiche prickelnden Eisschleier im Abendleuchten hinwehten, da verwischten sie die Spuren der Zwerge, die am Morgen dem Gebieter der Hochwelt ihren Fuß auf den Nacken gesetzt, mit scharfer Waffe Fugen in sein Frostkleid gehauen und triumphierend ihre Stahlspitzen in den weißen, zertrampelten Firn seines höchsten Gipfels eingepflanzt hatten. Ein übler Knasterdunst ging vor den Eindringlingen her durch die reine Luft, ihr schweres, beklommenes Atmen störte die Stille der Einsamkeit, und mehr noch entweihte, wenn sie keuchend das Ziel erreicht, ihr lärmendes Gelächter, ihr aufgeregter Wortwechsel das heilige Schweigen der Höhen.

Ihrer gab es so viele. Sie kamen immer wieder und in immer stärkerer Zahl. Sie hatten die Angst vor den einst abergläubisch gefürchteten Bergungeheuern verloren, sie kannten auswendig deren grobe Tücken und Gefahren, wie der Stierkämpfer in der Arena die Künste seines ungeschlachten Gegners, und lachten nur noch mitleidig darüber, wenn sie hoch über den Wolken im ewigen Schnee spazierengingen wie auf blumigen Matten.

Und fuhren sie endlich, sogar die Steilheit der Hänge für ihr Vergnügen ausnutzend, in sausender Fahrt auf den Pickel gestemmt wieder zu Tal, so blieben doch, da und dort in dem endlosen Firn verloren, ihre Zwingburgen zurück, winzige, häßliche Schutzhütten, die, wie Schmutzflecken aus der weißen Fläche wachsend, aller Wut der Elemente trotzten.

Und das höchste dieser Bollwerke stand höher als die Berge selbst, stand, sie alle überragend, auf der Spitze des Montblanc. Ein Sklavenmal, thronte, in seinem Firn verankert, das Observatorium Janssen auf seinem weißen Haupt, um das bis vor hundert Jahren nichts anderes gegangen war als Sturm und Sonnenschein, Flockentreiben und Wolkenflug der Jahrtausende. Jetzt mochte die Windsbraut lange da draußen heulend und rasend an der verschlossenen Tür rütteln, die Schneeschwaden mochten monatelang im Winterdämmern es mit grauen Armen umfangen und die Sonne darauf niederglühen – die düstere kleine Festung stand reglos in ihren eisigen Grundmauern, und innen arbeiteten lautlos, den meilenweit entfernten Zwergen im Tal da unten gehorsam, die Apparate, regten sich die Quecksilbersäulen und harrte umsonst die Nährbouillon in der dünnen, schon dem Nichts des Weltenraums sich nähernden Luft auf die Bazillen, die sie bevölkern sollten. Da war keine Hoffnung auf Befreiung mehr. In ratlosem Grimm wirbelte der Geistertanz der aufgewehten Eisschleier, rot durchschimmert vom scheidenden Tag, um den plumpen Kasten mit dem Aussichtsrondell darauf und dem kleinen vergletscherten Ställchen zur Seite, und prallte schwächlich wie Hagelstaub davon ab.

Der Montblanc brüllte auf. Von seinen weißen Flanken rieselte es in dünnen Strähnen, wie ein stäubender Wasserfall, knatternd und krachend hernieder, und weithin hallte das Echo der Lawinen, deren Bahnen an diesem sonnenheißen Augusttag überall als schnurgerade abwärts führende und unten von losen Schneehaufen abgeschlossene Rillen die jähen Berghänge durchzogen. Jetzt war ihre Zeit. Rings in der Runde schüttelten die Riesen die Flocken aus ihrem Schneemantel: aus der Ferne, vom Tal aus gesehen, kleine, rasch versiegende Bächlein, für den, der sie aus nächster Nähe im letzten Augenblick seines Lebens schaut, eine ungefüg niederdonnernde, alles mit sich fortreißende weiße Sintflut. Lärm überall in den Schrunden und Klüften, den Schneekratern und Gletscherkesseln. Innen, in der vielgezackten Teufelswelt der Monts-Maudits polterte und dröhnte es unaufhörlich, ohne daß das Auge eine Bewegung an den starren Eisleibern erkennen konnte; es knisterte bösartig drüben in den Seracs du Géant; von dem fürchterlichen Kirchturm der Niguille du Dru klirrten sonnenzernagte, abenteuerliche Eisklumpen herab und zerschellten in jähem Sturz zu Hunderten von elastisch weiterhüpfenden Blöcken, selbst der sanfte Nachbar des Montblanc, der mächtige Dome du Gouter ward rege und schleuderte – wie einen ärgerlichen Fluch, daß die Bescherung für die verhaßten kleinen schwarzen Insekten zu spät kam – aus seinem Überfluß eine Wand voll Schnee hinab auf das »kleine Plateau« und die dort zerstreuten leeren Weinflaschen und Papierfetzen.

Die Berge atmeten schwer. In regelmäßigen Zwischenräumen stöhnte der Sturm dahin. Dann erhob sich der Firnstaub auf den Kämmen zu neuem Tanz, und unten in den eisigen Rissen und Schluchten entstand ein seltsames Lachen und Raunen. Es war, als erzählten sich die Eisriesen vor dem Schlafengehen noch allerhand Geschichten, unwahrscheinliche, ungeheuerliche Geschichten aus der Urzeit, da es noch keine Menschen gab – als wiegten sie die zum Himmel aufschießenden, weiblich schlanken Eisnadeln belustigt hin und her, während die breit gewölbten, massigen Dome zu ihren Füßen prusteten und sich im Lawinendonner vor Vergnügen schüttelten über das ungeschlachte Zeug, das da drüben die »Riesenschründe« mit den »Verfluchten Bergen« tuschelten und raunten.

*

Sonnenuntergang auf der Höhe des Montblanc ...

Ein einsamer Wanderer drängte sich, ohne rechts und links zu sehen, durch das bunte Gewühl, das jetzt um die siebente Abendstunde, wo von der letzten Eisenbahnstation her die Diligencen ankamen, die Gassen von Chamonix erfüllte. Er war in einem eigenen Fuhrwerk vorausgefahren. Allein zu sein, das war sein einziger Wunsch. Der trieb ihn so rasch wie möglich durch die Menschengruppen dem Ausgang des Dorfes zu, und vielleicht mehr noch die unbestimmte Beklemmung, doch irgendwo plötzlich das wohlbekannte Silberlachen zu hören und vor Angela zu stehen.

Aber es war nicht leicht, vorwärts zu kommen. Besonders vor dem Postgebäude stockte der Verkehr. Dort hielten die Diligencen, schwerfällige, mit fünf und sechs Pferden bespannte und bis auf den letzten Platz mit Passagieren und Koffern vollgepackte Kolosse. Aus ihnen quoll, von dem Geschrei der in langer Reihe aufgestellten Hoteldiener empfangen, ein wildes Durcheinander aller Stände und Sprachen. Vom Kutschbock, wo die Rosselenker in blauen Blusen saßen, kletterten deutsche Touristen mit dem grünen Rucksack auf dem Rücken und französische Talwanderer in seltsamen, kurzen Kapuzenmäntelchen nieder, auf den gegen die Plattform oben gelehnten Leitern tasteten sich gichtbrüchige englische Reverends und behende Amerikanerinnen, den Bergstock in der Hand und das Schoßhündchen unter dem Arm, auf den Boden herab, und aus den engen, heißen Innenplätzen unten löste sich ein Knäuel von fetten, alten Damen, von Priestern, Kindern und Kammerzofen aus dem Chaos des dazwischen aufgeschichteten Handgepäcks los. Elegante Pariser, noch elegantere, nervös plaudernde Pariserinnen, junge Abbés zu ihrer Linken, die mit ihren glatt lächelnden und weltklugen Gesichtern eher an liebenswürdige Schauspieler in schwarzen Weiberröcken erinnerten und nicht einen Blick für ihre derben Berufsgenossen, die dicht daneben mit Fuhrleuten und Arbeitern Gruß und Handschlag austauschenden savoyardischen Dorfpfarrer, übrig hatten; Engländer in Menge, mit weiten Kniehosen und modischen Jacketts darüber als einem Kompromiß zwischen Klubhütte und Salon, lärmende Italiener, Holländer und Russen, Schweden und Ungarn, Yankees und zitronenfarbene, schmächtige Südamerikaner durcheinander. Durch das Gewirr der angeschirrten Pferde, der Lohnfuhrwerke und der Maultiere, auf denen die Bauernburschen und Mädchen der Umgegend mit leeren Körben am Arm und geschwungener Gerte einhertrabten, der mit flatternder grüner Schürze dahinradelnden Hausknechte trippelte ängstlich, in buntseidene Jacke und ebensolche Hosen gekleidet, auf hohen Holzsandalen eine anamitische Dienerin, einen kleinen, dreijährigen Blondkopf an der Hand. Ein paar Lakaien, das Gefolge irgendeiner inkognito eingetroffenen Fürstlichkeit, schauten ihr blasiert nach; ein befrackter, bloßhäuptiger Elegant, der Wiener Oberkellner eines Grandhotels, verhandelte mit der bebrillten kleinen Direktrice der gegenüberliegenden Photographienhandlung; in offenen Läden arbeiteten Schuster und Schneider emsig an den meist drängenden Reparaturen, und aus der Ferne klangen die Hammerschläge, mit denen der Schmied beim Feuerschein der Esse den Pferden neue Eisen auflegte und die wackelig gewordenen Räder für die Strapazen des nächsten Tages ausbesserte.

Wie braune Felsblöcke im Strom standen überall in dem Gewühl die wenig beweglichen Gruppen der Bergführer. Es mochten ihrer hundert oder mehr sein, die auf dem Platz zwischen der Poststation und der Kirche vor dem Bureau des Guides sich scharten. Doch waren es meist nur die Kleineren ihrer Gilde. Die großen Gletschermänner, die eigentlichen Montblancführer, deren Namen alle Reisehandbücher nennen, hielten sich, soweit sie nicht »draußen« waren, eher in ihren Häusern und Kantinen auf. Sie wußten, daß der Hochtourist diejenigen von ihnen, die er sich aus der ihm wohlbekannten Schar gewählt hatte, schon rufen lassen würde.

Augenblicklich herrschte in den Gruppen dieser blasiert dastehenden, unansehnlich gekleideten Gestalten etwas mehr Leben als sonst. Eine Montblancexpedition kehrte zurück. Aus den Dachluken des Hotels vor ihnen knallten die Schüsse der Hausknechte, und eine Menge Gäste – Engländer und Amerikaner – stand erwartungsvoll im Eingang, um den jungen Burschen zu begrüßen, der, die Stummelpfeife im Mund, die Eisaxt geschultert, zwischen zwei verwetterten alten Führern über die Arvebrücke daherkam. Er schien gar nicht ermüdet und lächelte kindlich vergnügt, als oben in den Fensterchen die Pulverwölkchen sich kräuselten und unten ihn ein Trupp befreundeter Herren und Damen aus Boston mit einem begeisterten »Hip! Hip! Hurra!« empfing.

Der ganze Schwarm der Neugierigen zog mit ihm bis vor die Pforte des Hotels. Auf der Gasse wurde es licht. Sie lag frei vor dem einsamen, sonnengebräunten Wanderer, und er verdoppelte seine Schritte, um bald das Freie zu erreichen.

Gottlob – nun hatte er Chamonix hinter sich und stand allein.

Vor ihm lag im Abenddämmern das grüne Wiesental, mit steinbeschwerten Hütten übersät und eingerahmt von düsteren, blauschwarzen Tannenhängen, durch die sich in blendendem Weiß die Gletscherströme niederwälzten. Oben, über der Grenze des Waldwuchses flossen sie ineinander und bildeten ungeheuere Eismeere, die dann wieder, wo noch weiter hinauf das Reich des ewigen Schnees begann, in blendende Firnfelder übergingen. Die weißen Schneedächer wölbten sich, eines das andere überhöhend, unermeßlich zum Himmel empor und begrenzten, beinahe senkrecht über den schwindelnden Augen unten, dessen unergründliches Blau mit ihren stäubenden Kämmen. Dort oben war die Spitze des Montblanc. Es kostete Mühe, sie herauszufinden – schien doch der Dome du Gouter in der Verkürzung ebenso hoch – aber es war auch nicht die einzelne kleine, über den Abendwolken verlorene Schneekuppe, die so gewaltig wirkte, sondern der ganze Anblick dieser blendendweißen, sonnenüberglühten, sich stumm über die Erde aufreckenden Riesenwelt, vor der alles im Tal zusammenschrumpfte und nichtig erschien.

Sonnenuntergang auf dem Gipfel des Montblanc! Er kannte das Schauspiel wohl. Es lebte vor seinem inneren Auge, als lebe er selbst oben auf jener Höhe.

Unten in einem Dämmern von Nacht, Nebel und Wolken ging ganz Europa zur Ruhe. Aber die Berge waren noch wach. Sie standen noch im Licht. In siebenfach flammender Gipfelpracht wölbte sich da oben, frei vor dem Montblanc hingelagert, der herrlichste aller Höhenzüge, die Monte-Rosa-Gruppe. Mit ihrer goldglänzenden Dufourspitze überragte sie die ganze Schweiz. Das Matterhorn, der böse Feind, hockte ganz verkümmert und zerknirscht links daneben. Wohl stand auch sein trotzig zurückgekrümmter Gipfel noch in lichten Abendflammen, aber seine Gestalt war, von hier betrachtet, unschön, ganz anders, als wenn man umgekehrt von der Spitze des Monte Rosa aus die Felspyramide gerade vor dem Montblanc stehen sieht. Jetzt trug sie deutlich einen Höcker und war in sich zusammengesunken, ein buckliger Teufel, der aus der Ferne wenigstens keinen mehr schreckt.

Auch das Berner Oberland schien klein gegen die Monte-Rosa-Pracht. Seine Giganten standen zu dicht beisammen. Rot überstrahlt drängten sich Jungfrau, Mönch und Eiger Hand in Hand, und an sie wieder preßte sich die zackige Riesenwand der Ebenefluh, das gigantische Dreieck des Breithorns und die Tschingelkette, wie gegenüber, Mann neben Mann zur Mauer gereiht, die Aar- und Schreckhörner mit funkelnden Eiskronen standen und über ihre Schulter weg aus der Wetterhorngruppe die Rivalin der Berner Königin, die schöne Hasli-Jungfrau, im Abendgold blitzte.

Hier im Norden und Osten sank rasch die Nacht auch über die Hochgipfel. Von den Eistürmen des Engadins war nichts mehr zu sehen, der Tödi versunken, vom Schwarzwald her lag es finster auf Deutschland und der Schweiz. Aber nach der anderen Seite hin wollte das Licht noch nicht weichen. In Italien war es noch hell. Ein düster ragender violetter Riesenklotz, bewachte da der Monte Viso sein Reich. Grivola und Paradies standen da vor dem Gewimmel der italienischen Seealpen, hinter denen in unsichtbaren Fernen das Mittelländische Meer rauschte, und blickte der Montblanc dorthin, in sein Heimatland nach Frankreich hinüber, so schimmerten da noch deutlich unter ihm die zerrissenen Schneeflächen, die zackigen Felsengipfel und wilden Schluchten der Dauphiné. Tiefer und tiefer sank zwischen ihnen der rote Sonnenball, und in dieser Spanne weniger Minuten, in denen das Licht zur Nacht sich wandelt, ging plötzlich eine wundersame Bewegung durch die Firnwelt. Es schien, als seien auf einmal die weiten Schneefelder von innen belebt. Sie leuchteten in warmen, fleischfarbenen Tönen, und ihre über Mulden und Kesseln lagernden Schatten gewannen einen hellen, grünlichen Glanz, gleich dem Widerschein des Abendhimmels, an dem das verschwimmende, von Rosenwölkchen durchsetzte Blaßblau in durchsichtigen, seegrünen Schimmer überging.

Nur eine kurze Frist – dann war auch für die Spitze des Montblanc der Sonnenball geschwunden, und fast im selben Augenblick kleideten sich Schnee und Eis umher bei sofort unheimlich steigender Kälte in ein stumpfes, totes Weiß. Aber der Beschauer unten im Tale wußte es wohl: die Nacht war noch nicht da. An Stelle der kleinen roten Scheibe, vor der jetzt schwarze, wie zackig mit der Schere ausgeschnittene Riesenkonturen die Berge standen, lief rechts und links ein breites, rotes Feuerband über den Horizont. Es dehnte sich mehr und mehr aus, es spannte sich nach Frankreich und Italien und bildete einen flammenden Hintergrund, von dem die Schattenrisse der Berge sich gigantisch in unwahrscheinlichen, bei Tage nie geschauten Gespenstergestalten abzeichneten.

Im Halbkreis um den Montblanc lohte Europa. Ein Weltbrand, eine jener Farbenorgien, in denen sich, unbekümmert um Menschenaugen, die schweigende Natur berauscht, wenn sie in der Polarnacht die regenbogenbunt zitternden Bänder des Nordlichts über den Himmel wirft, wenn sie das tiefblaue, von weißen Schaumspritzern gekrönte Eismeer in den blutigen Dunst der Mitternachtssonne kleidet oder dem Monarchen der Montblanckette einmal noch seine Lande im Feuerschein zeigt, ehe die Nacht ihre grämlichen Hüllen darüberwirft.

Denn nun kam die Nacht wirklich. Das Flammenband am Horizont ward blasser und blasser, ein kränklicher, violetter Hauch legte sich darüberhin und ging rasch in volles Schwarz über. Die Dunkelheit war da, die Dunkelheit der Hochwelt, in der nur noch das letzte ersterbende Schneegeriesel und, wenn auch das zu Ende, zuweilen ein langgezogenes Sturmgestöhne das Todesschweigen unterbricht, indessen am Himmel, strahlend und glitzernd, wie man es nie in den Tälern schaut, die stumme Sternenpracht sich wölbt.

Aber nicht lange dauerte die Dunkelheit. Hinter der Aiguille du Moine stieg ein bläulicher, unbestimmt nach allen Seiten sich verteilender Schein rasch empor. Er wurde stärker und stärker, und plötzlich schwamm, grell leuchtend und gewaltig wie die Sonnenscheibe, scharf von dem fern dahinterliegenden Sternengewimmel abgegrenzt und scheinbar in unheimlicher Größe dicht über der Erde schwebend, der Vollmond am Himmel.

Es wurde beinahe taghell ringsumher. Weithin traten silberübergossen die Montblancspitzen aus der Nacht, die Schneefelder schimmerten in bläulichem, von schwarzen Schattenflecken durchbrochenem Glanz, und auf den zerklüftet und zerrissen in die Nacht der Tannenwälder und Täler hinabrollenden Gletschern spiegelte sich wie auf den Schuppen eines Fisches das silberne Licht.

Der Mond stand still am Himmel. Die Berge schliefen. Ringsum war Ruhe. Nur ihr schweres Atmen ging zuweilen als ein Sturmhauch durch die Öde. Dann stöhnte es unten in den Schrunden, und oben auf den Kämmen wehten, vom Himmel her bläulich durchleuchtet, die aufgefegten Eisschleier schweigend im Geistertanz dahin ...

*

Er blickte noch einmal zu den Höhen empor. Dann ging er still im Dunkel nach dem Städtchen zurück. Der heutige Nachmittag war ihm mit der Vorbereitung der Tour, der Beschaffung all der Kleinigkeiten verstrichen, die seine Erfahrung als unentbehrlich für die Montblancbesteigung kannte. Morgen aber, mit dem frühesten, wollte er hinauf bis zum Nachtquartier der Grands Mulets.

Der Abend war klar und heiter, in seinem frisch von den Höhen niederwehenden Hauch schönes Wetter versprechend. Und klar und froh war es auch in seinem Innern. Der Anblick der Größe hatte ihn befreit. Er war ruhig, wie schon lange nicht mehr, erfrischt und geläutert wie nach einem Bad in kaltem Bergquell.

Die Straße war jetzt, zur Zeit der großen Fütterung in allen Hotels, wenig belebt. Nur die Führer standen noch da und dort beisammen, und manche von ihnen griffen, den Alpenforscher erkennend, an ihre Schlapphüte. Er machte halt und reichte einem von ihnen, dessen Greisenantlitz fast in einem weißen Urwald von Bart verschwand, die Rechte.

»Wie geht's, Vater Baptiste?« fragte er freundlich auf französisch seinen einstigen Bergbegleiter. »Was macht der Montblanc?«

Der Patriarch lächelte schmerzlich. »Ach, Monsieur! Ich habe dem Montblanc adieu sagen müssen. Vor drei Jahren. Es geht nicht mehr mit der dünnen Luft. Nun führe ich nur noch Reisegesellschaften über den Glacier des Bossens, allenfalls auf den Jardin.«

»Das ist freilich traurig. Ein Führer wie Sie, Baptiste!«

»Ja, Monsieur! Und was könnte ich diesen Sommer verdienen! Er ist so gut wie selten einer. Sehr viel Fremde. Man macht nicht nur den Montblanc, sondern auch die seltenen Spitzen. Sehen Monsieur nur da!« Und er wies hinaus auf den Nachthimmel, an dem in halber Höhe ein winziges, rotes Feuerpünktchen schimmerte.

»Ein Biwak?«

»Ja, Monsieur! Zwei Herren, die mit vier Führern und vielen Trägern die Aiguille du Diable machen wollen! Ein vornehmer deutscher Herr und ein Herr aus Amerika oder Afrika ... ich weiß nicht recht!«

»Vielleicht ein ganz großer Mann, mit langem, rotem Schnurrbart, und ein ganz kleiner, glatter?«

»Richtig, Monsieur! Monsieur ist wohl mit Ihnen befreundet?«

»Ja. Ziemlich!« Er stockte. »Sagen Sie ... ist niemand anders mit den Herrschaften?«

»Doch. Ein alter Herr mit seiner Tochter!«

»Sind sie unten?«

»Ja, Monsieur! Sie wohnen in dem Hotel hier drüben – gleich neben dem Führerbureau. Der alte Herr ist nicht gut zu Fuß.«

Also war sie hier, in seiner Nähe! Jeder Schritt aufwärts entfernte ihn von ihr und führte ihn zur vollen Freiheit. Und da sie jedenfalls nicht ohne ihre beiden Freunde eine Montblanctour unternahm, so war er vollkommen sicher, ihr morgen nicht auf seinem Wege zu begegnen.

»Adieu, Baptiste!« sagte er. »Morgen geht's auf die ›Calotte‹!«

Der Alte sah ihn neidisch an. »Welche Führer nimmt Monsieur denn mit?«

»Keine!«

»Das ist aber sehr gefährlich, Monsieur!«

»Ach ja, Vater Baptiste!« Der Afrikaner wandte sich zum Gehen. »Das ganze Leben ist gefährlich. Schließlich stirbt jeder daran.« Er drückte dem Alten, der ihn kopfschüttelnd ansah, die Hand und schlenderte die Gasse weiter.

Da war die Straßenecke mit dem von vereinzelten Hochtouristen, Führern und Trägern umstandenen »Bureau des Guides« und dicht daneben das Hotel.

Ein plötzliches, unbezwingliches Verlangen kam über ihn, die paar Dutzend Schritte bis zu dem Portal zurückzulegen und in den hellerleuchteten Speisesaal einzutreten.

Wenn die Weltwanderer wirklich da waren, wenn nicht wieder wie jüngst in Gibraltar die Enttäuschung an der einsamen Tafel mit Nikolai Ney zu Gaste saß, so würden sie ihn jedenfalls freudig empfangen! Er war wieder unter seinesgleichen, statt unter den Philistern von Genf, und er konnte von ihr Abschied nehmen ...

Er stand noch immer an der Ecke, ohne einen Schritt gegen das Hotel zu tun. Sein Gesicht wurde finster. »Nein« sagte er plötzlich ganz laut und mit fester Stimme und ging geradeaus weiter, das lockende Portal im Rücken lassend.

Nein! Ihr Mitleid mit dem Kranken begehrte er nicht. Es war vorbei und überwunden. »Nein!« wiederholte er noch einmal und schritt rascher in das Dunkel hinein.


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