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16

Draußen – durch das nächtige Alt-Berlin – durch Ladenlicht und Gassen – durch das Volk der Arbeit – ging der Garagenschlosser und Dr.-Ing. Werner Wiebeking – langsam – den Kopf gesenkt.

Um ihn der brausende Bienenstock Berlin. Menschen ... Menschen ... wo seid ihr, denen man helfen kann, wo man doch nach besten Kräften helfen will? Ein zu dummes, kleines Mädel! ... Glücklich Gespenster im Spatzenkopf ...

Also, in Gottes Namen, in den Obstkram und dem versonnenen Fräulein dort melden: ›Ihre Kamurke oben bleibt leer‹ ...

Hilde Luders kauerte nicht wie sonst im Hintergrund des Ladens, den unruhigen Braunkopf zwischen den Händen, die phantastischen Braunaugen über dem Schmöker. Sie stand, biegsam, schmächtig, den schwermütigen Mund erwartungsvoll halb offen, mitten im Geschäft, zwischen ihren Orangenkörben, Feigenkränzen und Bananenbüscheln, und hob sich leidenschaftlich auf die Fußspitzen, als die Eingangsschelle schrillte.

Nein! Nicht der trat ein, den sie erhofft hatte ... Ein fremdes Gesicht – jung, berlinisch humoristisch – rund, auf stämmigen Schultern. Nun erkannte sie es wieder. Ein feindseliger, abwehrender Schatten lief über ihre blassen, regelmäßigen Züge. Drüben ein freundlich-verlegenes:

»'n Abend, Fräulein Lüders! Ich war nämlich heut' früh schon hier ... Mit dem Kommissar vom Alex ... wissen Sie ...«

»Sie sind von der Kriminalpolizei?« Hilde übersah die freundschaftlich dargebotene Hand.

»Leider noch nicht!« Der Besucher zog mit einem vorwurfsvollen Blick die Rechte zurück. »Aber was nicht ist, kann noch werden! Ich hab' den gewissen Ehrgeiz in mir – sozusagen –, mit dem's der Mensch im Leben weit bringt!«

»Was für Obst soll's denn sein?«

»Vorläufig bin ich noch Schupo!«

»Hier vom Revier?«

»Ach nein – Fräulein! Ich müller' im Westen! Ich will Sie nicht aufschreiben! Sie sehen ja: ich bin in Zivil. Mein Herz ist rein. Da ist ganz was anderes drin. Na – ich werd' Sie doch noch ansehen dürfen ...«

»Messina-Blutorangen kann ich empfehlen!« sagte das Obstfräulein geistesabwesend, die Augen auf die Straße gerichtet. »Dattelpackung gefällig?«

»Ach nee! Ein Gefallen von Ihnen ist gefällig! Peschke ist mein Name ... Peschke.« Der junge Schupo trat unsicher von einem Fuß auf den andern. »Wissen Sie – mit mir steht das so: Ich muß 'ne Spreewaldamme mit ihrem Balg über den Ottoplatz draußen führen, und inzwischen fangen sie hier die großen Nummern für Moabit ... Sie werden ja so blaß ...«

»Ach – kümmern Sie sich nicht um meine Gesichtsfarbe – ja?«

»Aber ich hab' den Geist in mir – verstehen Sie – den Mumm ... Ich möcht mir einen Namen machen – für mich – in aller Stille und dadurch zur IV B – zur Kriminalpolizei kommen!«

»Da kann ich Ihnen nicht dazu helfen!«

»Doch, Fräulein! Gestern ist auf dem Ottoplatz ein Mädel zu mir gekommen und hat mir einen Kerl gezeigt. Der Kerl hat für das Mädel hier bei Ihnen Quartier gemacht ...«

»Die beiden sind noch nicht gekommen!«

»Aber wenn sie kommen ...«

»Lassen Sie mich bloß mit der Polizei zufrieden ...«

»Sie sollen mich nur hier still im Laden sitzen lassen, Fräulein Lüders – so wie einer, der ins Geschäft gehört – ein Gärtner von draußen oder so was – und das Pärchen beobachten, wenn es auf der Bildfläche erscheint ... Wer weiß, was ich da seh' und hör' ... Vielleicht ist das der Kerl – der Schrecken von Berlin! Dann steh' ich groß da!«

»Wenn mir nur der Kommissar Dürisch nicht 'nen Strich durch die Rechnung macht«, setzte er sorgenvoll hinzu, »und läßt die beiden schon auf der Straße festnehmen ...«

Die schlanke Gestalt im weißen, langen Ladenkittel fuhr jäh zu ihm herum. Er sah das bange, regelmäßige Gesicht mit den weit geöffneten braunen Augen.

»Das ist möglich?«

»Na, sehr ... Er redete heute früh schon davon. Er braucht mich nicht mehr – hat er zu mir gesagt. Er hat ja seine eigenen Leute. Aber er ist sehr vorsichtig ... Er wartet immer gern noch mal zu ...«

Stille in der orangenwürzigen Kühle des Lädchens. Draußen eintönig Lärm der Straße. Durch ihn die Stimme des Schupos Peschke:

»Sie sind zu nervös, Fräulein! Sie leben zu einsam hier. Das sieht man Ihnen an. Sie müssen mehr 'raus ... Unter Menschen!«

Wieder nach einer Pause, ungewiß, mit zögernder Wärme:

»Mein Vater – der ist nämlich noch feste auf dem Posten – der alte Mann!«

»So ...«

»Der arbeitet draußen in Siemensstadt. Da haben die Eltern 'ne Laube! Also – propper – sag' ich Ihnen! ... An meinen dienstfreien Tagen helf' ich da oft mit ins Gemüse ...«

Das Obstfräulein hörte kaum zu. Sie atmete schwer und schaute auf die Straße.

»Da an der Ecke – da geht immer einer auf und ab!« sagte sie verstört mehr zu sich als zu dem andern. »Und drüben auch einer!«

»Besonders am Sonntagnachmittag ...« Dem Schupo Peschke entgingen ihre Worte im Dröhnen eines Lastwagens auf dem Pflaster. »Da ist es draußen in der Laubenkolonie riesig nett. Es ist eine mächtige Kolonie. Die richtige Stadt. Sie müßten sich das mal ansehen, Fräulein Lüders!«

»... und gegenüber – da steht noch so einer sich die Beine in den Leib ...«

»Kann ich Sie nicht am Sonntag mal abholen, Fräulein? 'n bißchen frische Luft! ... Tut gut! ... Aber Sie hören ja gar nicht ...«

»Was ist ...?« Sie schaute leer über die Schulter.

»... ob Sie nicht mal mit mir zu meinen Eltern in die Laubenkolonie da draußen kommen ...«

»Ich glaube, Sie sind ...« Das Obstfräulein machte ein paar Schritte in den Laden und schüttelte den blassen Kopf, als zweifelte sie an seinem Verstand. Er murmelte kummervoll und betreten:

»... wenn man so was doch ganz ehrbar meint ...«

»Das heißt ...« Es war eine plötzliche Veränderung auf Hilde Lüders' fiebrigen Zügen. »... Schließlich ... wenn sich's gerade mal so trifft ...«

Sie griff unauffällig in einen Stapel leerer Fruchtkörbchen mit grellen grünweißroten italienischen Firmenzetteln, zog hastig einen schon geöffneten leeren Faktura-Umschlag heraus und schob ihn in die Seitentasche ihres Leinenkittels. Ein erschrockener Blick auf die Wanduhr.

»Herrjeses – da liegt ja noch der Geschäftsbrief nach Bozen! ... Das Theater von der Tante, wenn der heute nacht noch mitkommt! 'Augenblick, Herr Peschke! Ich muß nur schnell 'rüber zum nächsten Kasten!«

Der Schupo Peschke war verblüfft. Er sah sie draußen bloßköpfig in ihrem Ladenmantel wie einen flinken, weißen Strich über den Fahrdamm gleiten, den Brief in der Hand. An dem Pflastertreter an der Straßenecke vorbei. Um die Ecke. Weg.

Außer Sicht schritt Hilde Lüders langsam im Zwielicht der Laternen. Sie schaute den vorbeikommenden Herren ängstlich ins Gesicht. Die meisten verstanden das falsch. Sie mußte den Kopf abwenden und eilig weitergehen. Jetzt setzte sie sich in Trab – mit großen, phantastischen Augen auf einen jungen Mann zu. Er stand erstaunt still.

»Nanu – Hildchen – Können Sie's nicht erwarten? Leider umsonst! Das Fräulein streikt!«

»Um so besser!«

»Ärgern kann man sich über so eine unvernünftige Göre!« Er mußte trotzdem lachen. »Hilde – so sollte man Sie photographieren! Was haben Sie für einen Rausch der Romantik in Ihren braunen Pupillen!«

»Wenn Ihnen der grüne Wagen romantisch vorkommt!« Ihre Lippen flatterten. »In dem enden Sie todsicher, wenn Sie noch fünfzig Schritte weitergehen!«

»Hildchen – Ihre Phantasie geht mit Ihnen durch!«

»Rings haben sie meine Bude umstellt!«

»Zuviel Ehre! Für einen schlichten Mann aus dem Volk!«

»Sie werden schon wissen, mit wem sie's zu tun haben! Ach – reden Sie doch nicht! Sie sind einer von den ganz Großen!«

»... die die Polizei sucht? Und das bewundern Sie scheint's an mir?«

»Klappen lassen sollen Sie sich nicht!« Sie drängte, mit einem verklärten Fernblick in eine Welt voll von Abenteuern und Gefahren: »Das wäre doch zu schade! Einer wie Sie!«

»Hilde – Sie lesen zuviel Verbrechergeschichten!«

»Warten sie dort auf Sie oder nicht?« Sie streckte den Finger förmlich triumphierend nach ihren Obstfenstern. »Der Kriminalkommissar hat doch schon heute früh nach Ihnen gefragt! Ich soll's nicht wiedersagen! Ich red' mich noch vors Gericht! Ach – egal!«

»Träumen Sie eigentlich, Kind? Oder ...«

»Ich muß retour, daß die nicht Verdacht schöpfen, daß ich nicht bloß 'nen Brief in den Kasten gestochen hab'! Womöglich steigt einer hinter mir her und sieht nach! ... Schnell doch mit Ihnen, da seitlings die kleine Gasse 'rein und weiter! Schnell! Schnell!«

Die Hilde Lüders schaute düster bewundernd, mit einer rebellischen Genugtuung, dem jungen Mann nach, dessen Kopfschütteln die schwarze Nacht der Gasse verschluckte. Sie rannte zurück, über die Straße, in den Laden, stützte sich auf einen Hügel goldbrauner Ananasköpfe und zappte nach Luft.

»Gerade noch zurecht!« keuchte sie zu dem Schupo Peschke. »Eben hatte der Postonkel seinen Sack an den Kasten gemacht ... Das piekt einem in die Milz!« Sie legte die Hand an die linke Seite. Immer noch atemlos.

»Sind die beiden unterdessen nicht gekommen?«

»Nee! Leider Gottes!«

»Komisch! Wo mag der Kerl mit seinem Frauenzimmer nur hin sein?«

Die dunkle Gasse, durch die der Garagenschlosser Werner schritt, war nur kurz. Da mündete sie wieder in den lichten Straßenlärm, gerade vor Feuerstakes schwindsüchtigem, schmalbrüstigem Hotel. Er wollte um die Ecke biegen. Von hinten näherte sich ihm eiliges Atmen. Ein fester Griff in seinen Rockärmel. Er wandte sich um. Er riß die Augen auf.

»Ist's die Möglichkeit! ... Fränze ...«

»Da bin ich nu!«

»Sind Sie vernünftig geworden?«

»Ich mußte doch so tun – mit Ihnen!« Das schmale, hübsche Gesicht der Kleinen hob sich unter dem roten Topfhut vertrauensvoll zu ihm empor – Gerissenheit in den kessen, haselnußbraunen Berliner Augen. »Die Brüder hätten mir schön was verpaßt, wenn ich mir hätt' was merken lassen! Ich bin in meine Stube. Und dann heimlich durch den Hof davon!«

Sie trug ihr billiges, pelzbesetztes Mäntelchen, ihre Florstrümpfe, ihre gelben Halbschuhe. Nichts in den Händen.

»Ich hab' so fortmüssen, wie ich da steh'! ... Gotte doch ... Ist das dort drüben der Obstladen, wo ich hin soll?«

»Ja. Aber vor dem Laden wartet schon die Polizei auf uns, Fränzchen!«

»Die mit die Hundemarke?«

Sofort die Sprungbereitschaft. Irgendwohin ins Düstere. Etwas von einem kleinen Tier des Waldes ...

»Was nun?« Der Garagenschlosser Werner fuhr sich mit der schwieligen Rechten über die Stirne. »Da steht man nun mit Ihnen nachts auf der Straße!«

»Zurück kann ich nicht! Da schlagen sie mich tot!«

»Und hier im Hotel geht's auch nicht! Da findet man Sie gleich. Und nirgends sonst 'ne Hoffnung auf Unterkunft – abends – ohne Sachen!«

Vor Feuerstakes Hotel fuhr ein Taxameter vor. Ein Reisender stieg aus. Der Schlosser Werner winkte der Droschke.

»Da gibt's nur einen einzigen Ausweg«, sagte er zu der Fränze. Und dann zu dem Mann auf dem Lenksitz: »Fahren Sie ans Ende vom Tiergarten! Güntherstraße drei. Sie müssen aufpassen, daß Sie's im Dunkel finden! ... 'ne große Villa mitten im Park. An der einen Säule vom Einfahrtstor steht ganz klein: ›Wiebeking‹, Da ist's!«


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