Otto Stoessl
Morgenrot
Otto Stoessl

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VI.

Der Kooperator Eidherr bewohnte zwei Zimmer eines großen, seiner Pfarre gehörigen Miethauses in einer Seitengasse der Landstraße und sah von seinen Fenstern auf die mit roten Ziegeln in moderner Reißbrettgotik wie aus einem Baukasten erstellte Kirche, in welcher er seinen Dienst zu verrichten hatte.

Die beiden ernst und einfach eingerichteten Stuben hatten durch die niedere Wölbung, die weiße Tünche und den gut gescheuerten Holzboden, durch die alten Kommoden und die vielen gestickten Decken, Tücher und Behänge, mit denen die Ripsmöbel wohl von weiblichen Pfarrkindern geschmückt worden waren, etwas zugleich strenges und anheimelndes, sie erschienen väterlich, wie eines geistlichen Herrn Wohnung immerhin wirken soll. Freilich blickte man aus den Fenstern nicht auf einen stillen, feierlichen Platz, sondern auf eine öde, traurige Gasse und auf lauter Mietkasernen, und die Kirche, die am Ende zur Rechten die Aussicht abschloß, war keine vornehm geschmückte, prunkvolle Dame, wie die Jesuitenkirche bei der Aula, sondern gleichsam eine einfältige, dürftig nett gehaltene Dienerin gemeiner Leute. Keine Brunnen mit wohlgenährten hübschen, nackten Knaben und Delphinen ließen vor dem Hause das lachende Wasser wie den Schall der glücklichen Ewigkeit ins Becken klingen. Arme Leute hausten ringsum unter Lärm, Türenzuschlagen, kreischenden Weiberstimmen, Teppichklopfen, und auf den Gängen der einzelnen Stockwerke lag Wohnung an Wohnung, wo geplagte, sorgenvolle Menschen dicht nebeneinander atmen, essen, trinken, schlafen, leiden, zanken, gebären, sterben mußten. Das Haus selbst schnürte Dietern anfangs wohl die Kehle zusammen und war an sich schon ein strenges Erziehungsmittel. In den Stuben des Kooperators fand er sehr wenig Dinge, welche an die Religion und den Seelsorgerberuf des Hausherrn erinnerten, nur etwa einen braven Stich nach Raffaels Sixtina und ein schwarzes Kreuz über dem Bett. Der Gast bekam das kleinere der beiden Zimmer angewiesen. Beim Fenster stand ein Tisch mit großer Lade, an welchem er arbeiten sollte.

Um fünf Uhr morgens nach der ersten Nacht trat der geistliche Herr, vollständig angekleidet, glatt rasiert vor Dieters Bett und weckte ihn. Der mußte nun geschwind aufstehen, sich waschen, seine Kleider und Schuhe putzen, sich anziehen und von der nahen Meierei die gemeinsame Frühstücksmilch und zwei Brote holen. Man verzehrte nebeneinander dieses bescheidene Mahl, dann fragte der Kooperator den Zögling aus und ging die Aufgaben mit ihm durch, bis es Zeit zur Schule wurde. Sicher und gestärkt wanderte Dieter hin. Durch diese gelehrte Vormundschaft war ihm manche Sorge um das Bestehen der gymnasialen Martern genommen. Zu Mittag konnte er sich allerdings nicht wie bisher mit den Kameraden auf dem Heimweg balgend umhertreiben, denn er wurde pünktlich erwartet. Der Kooperator speiste in einem kleinen Gasthause nahe der Kirche, wo er im Honoratiorenzimmer mit einigen Lehrern, Beamten und alten Männern saß, während Dieter im Gassenschank seinen Platz angewiesen und ein für zwanzig Kreuzer akkordiertes einfaches, gesundes Essen bekam. Durch die Glaswand dieses Gassenschankes sah man ins hintere Zimmer. Zahlte der Schutzherr dort seine Zeche, so mußte Dieter geschwind aufbrechen und vorangehen, um bereits daheim zu sein, wenn der Kooperator nachkam. Und dann begann wiederum der Unterricht. Die schriftlichen Arbeiten wurden durchgesehen und verbessert und alle Aufgaben so lange geprüft und wiederholt, bis sie im Kopfe festsaßen. Ueber dieser Lektion wurde es fünf oder sechs Uhr, dann erhob sich der Lehrer und nun verwandelte sich der ruhige, ernste, vom kleinen Burschen als ein großer Mann weit entfernte Hochwürdige in einen freundlichen und heiteren, umgänglichen, welcher ganz andere Züge bekam, die gleichsam ein mildes Feierabendlicht erhellte. Er gab den Zögling ganz frei und ließ ihn entweder fort, wohin er mochte oder er ging selbst mit ihm spazieren, oder Dieter blieb zu Hause, während der Geistliche seine Angelegenheiten besorgte. So kam der frühe Abend, der Junge kaufte um ein Sechserl sein Nachtmahl und ging schlafen, während Eidherr im Wirtshause bei seiner Tisch- und Spielgesellschaft ausdauerte, und zurückgekehrt, den Zögling längst entschlummert fand.

Zu geistlichen Exerzitien und irgendwelchen religiösen Gewissensplagen verhielt Eidherr den Dieter in keiner Weise. Einmal, weil er seinen Seelsorgerberuf wohl nicht anders übte, wie einfache Menschen eben den ihrigen, als eine unerläßliche Pflicht, von der man kein Aufhebens macht und zu der man anderen nicht sonderlich zuredet. Zum zweiten, weil er zu diesem Stande, wie so viele, nicht aus innerer Notwendigkeit gekommen war und ihn darum auch ohne dringende Veranlassung lieber nicht von innen besah oder gar selbstquälerisch um- und umwälzte, sondern als des Tages Last eben trug und leidlich verwaltete. Es schien ihm genug, wenn er vor der Welt die nötigen Gebärden und Funktionen mit dem gebotenen Hergange vollführte, doch unnütz, eine junge Seele damit über Gebühr zu befassen. So trägt gerade der Unwillige die Dornenkrone der äußeren, ohne die blühenden Rosen der inneren Weihe und verschont eines freien Knaben Stirne mit ihrem Druck. Dieter hatte seine Zeit des Glaubens, die Wandlung des hilfsbedürftigen Kindes, das einen Gott wie seinen Vater verlangt, zum unzufriedenen Betrachter, der hinter den Geheimnissen vergeblich den Lenker sucht, rasch und in aller Stille seines abenteuernden Friedens durchgemacht. Er war hierin so unbeirrt gelassen worden, wie sonst in seinen Angelegenheiten.

Als er in der Marktgasse unter den Blicken seiner Mutter auf- und niederging und später noch, mußte er abends beim Zubettegehen und morgens beim Aufstehen sein Gebet sagen. Die Mutter besuchte nur an den hohen Feiertagen die Kirche und war von Natur, doch nicht mit Gebärden und Reden fromm, sprach nichts über den Glauben und den Herrgott und hielt auf pünktliches Beten nur darum so viel, weil dies eben zu einer Religion gehörte, welche die Menschen um sich versammelt und ordnet, und weil jeder eben zu einer solchen Gemeinschaft sich stellen soll, damit man ihn zur Zeit findet. Wie ihr Bub unter der Toreinfahrt ihrem Blicke begegnete, so sollte er abends und morgens auch seinen Glauben über sich waltend finden, als einen mütterlichen Schutz. Er sollte diese Gebete sprechen, wie er die Mahlzeiten einhielt, weil Ordnung not tat und weil das Leben seine Einteilungen braucht, nach denen es sich gliedert und fassen läßt.

Noch weniger dachte der Vater an solche Dinge, der mit den täglichen Arbeiten genug zu tun hatte, und da er sie wohl versah, auch die Ewigkeit ohnedies mit drein bekam, wenn es durchaus eine geben sollte. Wer im Diesseits auf festen Beinen steht, nicht mehr begehrt, als er sich mit eigener Kraft zu schaffen vermag und die fremden Gaben nicht erbettelt, der denkt ungern oder nur mit einem gewissen Lächeln an die schwelgerischen Versprechungen des Jenseits. Sein Tag ist ihm Rosengarten des Paradieses, Fegefeuer und Hölle in einem, und darin sich mit Ehren zu behaupten, mag als irdische Tugend genügen. Die wenigen geistlichen Sitten, die der Vater kannte und übte, entstammten einer dunklen, mehr heimatlichen, als religiösen Gewohnheit.

So pflegte er nach Neujahr am Dreikönigstage einen rotwangigen Apfel in der Mitte, aber wagrecht zu durchschneiden, die beiden Hälften zeigten dann das regelmäßige Kerngehäuse als einen schwarzen Stern: »das ist der Stern der heiligen Drei Könige.« Und am Ostermorgen trat er frühmorgens ans Bett des Sohnes und steckte ihm einen Bissen Brot in den Mund. Das geschah jedes Jahr; zuerst aß Dieter, ohne viel zu forschen, weil es eben Uebung war, später aber fragte er einmal, warum der Vater so tat. Der lachte verlegen, wie immer, wenn er einen gewohnten Brauch erklären sollte und sprach: »Iß nur Bürschlein, wer zu Ostern in der Frühe Brot ißt, der wird das ganze Jahr Brot zu essen haben.«

Sonst gab es ja überhaupt wenig Gelegenheit zu geistigen Auseinandersetzungen mit dem Vater, der solchen Gesprächen abgeneigt war, aber da Kinder viel fragen und zuweilen auf einer Antwort bestehen, wollte Dieter einmal durchaus wissen, ob der Vater an Engel glaubte und daß sie Flügel hätten, im Himmel oben umherzögen und zur Erde herabkämen, wo man doch niemals einen gesehen hätte.

Dieter der ältere antwortete: »Wenn der Kaiser daran glaubt, kann ich's auch,« und damit war die theologische Diskussion abgeschnitten. Von dieser Seite konnte der Junge in seinen Glaubensangelegenheiten keine Förderung oder Bestimmung erfahren. So war er sich selbst überlassen. In der Schule lernte er freilich vielerlei von den heiligen Geschichten, von den frommen Vorgängen im alten Morgenlande, von den Urvätern des Glaubens, doch schienen ihm diese Begebenheiten mehr weltlicher als geistiger Art: Familiensorgen, Mitgiftangelegenheiten, Kindersegen, Zänkereien und Schwierigkeiten der nicht recht wohlgelittenen Juden in ihren verschiedenen Wohnorten. Obgleich nur armselige Mieter bei fremden, reichen Hausherrn, machten sie sich mit einer eigentümlichen Vornehmtuerei, selbstgefälligem Rechthaben und vordringlichem Stolz als die alleinigen Gerechten, Wissenden und privilegierten Inhaber des wahren Glaubens unbeliebt, wofür sie dann wieder Schläge bekamen und gestraft wurden, während ihr einziger, alleiniger angestammter Herrgottvater, auf den sie sich gar so viel zugute taten, mit seinem auserwählten Volke geschehen ließ, was da wollte. Die Wahllosigkeit des von Menschen über diesen kleinen Stamm allenthalben verhängten Unglücks entsprach nicht eben einer Vorsehung, es sei denn, daß alle jene Eigenschaften die gottselige Nation bei ihrem Beschützer selbst mißliebig machten, um deren Willen sie sich den Haß der übrigen Erdenkinder zuzog. Gar das Neue Testament aber mit seiner Dreieinigkeit und einer so merkwürdig zugleich geteilten und gesammelten Gewalt, mit der Geschichte eines armen, gequälten Menschenkindes, welches plötzlich in den Himmel als Allherrscher entrückt wurde, mit seinem Gleichnis eines geistigen Kampfes, dessen Notwendigkeit und Allgiltigkeit am allerwenigsten einem Knaben einleuchten will, verwirrte ihn und umgab alles, was er suchte, mit immer neuen Schleiern und Wolken. Diese Nebel und wohlriechenden Dämpfe, die bunten Zeremonien und prunkvollen Aufzüge der Feste mochten an sich als Herrlichkeit gelten, aber was hinter ihnen als wirkender endgültiger Inhalt lebte, ließ sich nicht ergründen. Immer und immer wieder zog sich der Gott weiter zurück. Aber gleichwohl sollte er alles bestimmen und bewirken, das ebensogut auch ohne sein Zutun geschah, ja nur ohne dieses so schlimm ausgehen konnte, wie es der Fall war. Man mußte doch über gewisse Dinge einen ordentlichen Bescheid bekommen. Wie sah es im Himmel aus? Wenn man die mannigfaltige irdische Welt mit ihren Menschen, Bauten, Ländern, Tieren, Himmelsstrichen, Jahreszeiten, Meeren, Bergen betrachtete, mußte man von der überirdischen ein höheres, doch klares Bild begehren. Keiner konnte es schildern, doch sollte man daran glauben. Gott thront da droben, umgeben von Engelsscharen in seiner Glorie, hieß es. Das war zu wenig: er thront. Immer thront er, nichts weiter. Ein Gott mußte mehr und anderes, gewaltigeres tun als thronen, wie viel geschah auf Erden, im Himmel sollte nicht mehr, als ein prächtiges Dasitzen sich ereignen? Man muß zu Gott beten. Man tat's, aber es half nichts. Unterließ man's, so geschah auch nichts weiter. Der Gläubige lebte neben dem Ungläubigen ohne sonderliche Auszeichnung, vielmehr waltete die übermütigste Ungerechtigkeit unter dem Allgerechten, die schlimmste Ungüte unter dem Allgütigen, die Geschichte war von je ein erbarmungsloses Zerfleischen der Menschen, wie wilder Tiere vor dem Allbarmherzigen. Ringsum sah man Plagen, von der Geburt bis zum Tode, welcher gar als die höchste Ungerechtigkeit erschien, als eine Strafe, die durch keine Schuld erklärt oder verdient war. Immer gibt es Mühe und Arbeit, wenig Freude. Der Kooperator Eidherr, der doch ganz dem lieben Gotte diente, somit am ehesten auf ein bißchen Frieden Anspruch hatte, war den ganzen Tag überlastet, mußte Messe lesen, Leichen einsegnen, Beichte abnehmen, Sterbende besuchen und seufzte unter seinem anstrengenden Dienst. War das notwendig oder billig? Die Menschen wurden bei ihrem Glauben weder besser noch fröhlicher, ja so oft Dieter ihre Gesichter in der Kirche beobachtete, fand er sie doppelt schmerzvoll, bitter, sehnsüchtig und hungrig. Und so erschien auch der Gott auf den Bildern nicht als heiterer Herr, der mit seiner Welt zufrieden sein kann, sondern stets furchtbar ernst. Und warum verrät der Gott sein wahres, richtiges Aussehen nicht? Da er der einzige, ewige Herrscher der Welt ist, läge es doch an ihm, sich den Gläubigen ein für allemal darzustellen und unfehlbar zu offenbaren, damit es weiter keinen Zweifel gebe.

Den Kaiser kennt jedermann, keine Münze, welche diese Züge nicht zeigte, die überall und zu jeder Zeit gleich sind. Gott aber sieht auf allen Bildern anders aus. Nur der Ernst, die Trauer, der Schmerz kehren immer wieder, nicht ein Strahl von Heiterkeit, höchstens eine gefaßte Verklärung, welche ein Knabe nicht würdigt.

Zu Hause in der Aula hing im Wohnzimmer der Eltern ein altes Jesusbild aus der Heimat, das den Kopf des Gekreuzigten mit furchtbarem Aussehen zeigte, mit dunkeln, rollenden Augen, die sich zu bewegen schienen und den Betrachter in jeder Ecke des Zimmers trafen und verfolgten, so daß er nicht entrinnen konnte. Dieter hatte vor diesen Augen Angst, er vergaß ihren Blick auch später nicht, er war fröhlich und suchte des Lebens helle und muntere Seite. Sein Gott sollte heiter sein, wozu war er der Herr der großen Welt, wenn er sich darüber nicht freuen mochte; ließ er alles Unheil und Uebel geschehen, die Menschen schlecht sein und einander schlechtes tun, so mußte er wenigstens den Uebermut seiner Anzettelungen durchaus empfinden und zeigen, er mußte lächeln und im Grunde seines göttlichen Sinnes vergnügt sein, nicht hinter Wolken sich selbst zu finsterem Verdruß erniedrigen. Nein, das war sein Gott nicht. Und gab es überhaupt einen?

Dieter hatte jenes Erlebnis, welches für ihn das Nichtsein Gottes endgültig entschied, als er einmal ein Gewitter beobachtete, das sich über dem Universitätsplatze in finsteren Wolken sammelte und ankündigte. Er sah vom Fenster der Wohnstube hinaus. Unruhig schwirrten die Tauben hin und wieder und konnten sich gar nicht beschwichtigen. Eine hockte am Blitzableiter. Und plötzlich, als die ersten schweren Regentropfen niederfielen, sauste sie, wie hinabgestoßen, geschwinder als sie sonst jemals flog, gleichsam im Sturz kopfüber zu Boden, und gleich darauf zuckte ein Blitz just in den Blitzableiter, ein erschütternder Donnerschlag folgte, als wollte er die Kirche von ihrem breiten Stufengrunde niederschlagen. Der Vogel hatte dies Kommen gefühlt und war ihm entflohen, obgleich er an einem heiligen Orte saß. Also können Gottes Unwetter auch Kirchen treffen, Gottes Stätten? Also brauchen auch sie einen Blitzableiter und können das bißchen Unheil nicht durch ihre innewohnende Heiligkeit abwehren? Gott war nicht einmal in seinem Hause vor sich selber sicher. Dann gab es keinen, und nie mehr sollte man Dietern einen aufschwatzen wollen.

Nun war es allerdings schwer, ohne eine beherrschende Macht sich einzurichten, denn man bedurfte gewisser Zeichen, um sich im Leben auszukennen, gewisser geheimer Ratschläge vor Entscheidungen. In dem entgötterten Heiligtum der überirdischen Gewalten wohnte von Stund an ein unnennbares, dunkles, gestaltloses Schicksal. Dieter hatte keinen Glauben mehr, so ersann er sich seinen Aberglauben und vertraute gewissen Stimmen und Erinnerungen, welche ihm allein bekannt waren. Wenn er am Morgen aus dem Hause trat und die Tauben vor ihm aufflogen, bedeutete es, daß er vorsichtig sein mußte und eine Prüfung in der Schule zu gewärtigen hatte; blieben sie ruhig und spazierten furchtlos auf und nieder, so konnte auch er unbesorgt seinen Tag beginnen. Daraus folgte, daß er in weitem Bogen den Schicksalsvögeln auswich, um sie nicht zu stören. Ein anderes Zeichen gaben die alten Weiber, welche morgens in der Jesuitenkirche zur Andacht kamen oder aus der Messe fortgingen. Dieter konnte diese häßlichen Frauenzimmer nicht leiden, wie er überhaupt das schwächere Geschlecht durchaus verachtete und nur beschützte, weil es eben erbärmlich hilflos, sich keines Ungefährs zu erwehren vermochte . . . Vorerst war er der Meinung, jedes alte Weib in der Frühe verheiße Unheil. Aber da er allmorgens auf dem Platze mindestens eines fand, das kam oder ging, mußte er diese Deutung einschränken. Er entschloß sich daher, anzunehmen, wenn eine aus der Kirche kam, sei ihr gleichsam das Gift genommen, und es könne ihm nichts mehr geschehen; wenn eine aber erst zur Kirche ging, mußte er ein Uebel gewärtigen. Derlei Zeichen fand er auf jedem Schritt und wanderte mutig durch einen ganzen Zaubergarten voller Ungeheuer. Aber die Mächte des Lebens beschäftigten ihn um so mehr und inständiger, als bestimmende Gewalten. Und hier trat ihm in der Kirche als solcher eine Bedeutung entgegen, die er willig anerkannte, gerade weil er nun wußte, daß kein Gott daneben stand, sondern daß Menschen sich selber dieses ungeheure Gebilde beständiger Wachsamkeit und Herrschaft errichtet hatten. Welcher Eifer, welche Fülle von Pflicht und Menschenkenntnis fand er in diesen ringsum wandelnden Pfaffengestalten tätig in unablässigem Geschäft. Da hatten sich Leute freiwillig vereinigt und zu Dienern eines unsichtbaren und unvorhandenen Gottes gemacht, um den übrigen Menschen den Herrn zu geben, den diese brauchten. Staat und Gemeinde als Ordnungen des bürgerlichen Lebens waren dem Knaben noch fremd, die Kirche aber zeigte sich ihm in ihrer weiten Ausbreitung. Kein Weg, der ihn nicht zu einem schönen Gebäude brachte, wo Gottesdienst gehalten, Orgel gespielt, Weihrauch verbrannt wurde, wo herrlich gekleidete Priester sich unter Gesang und Murmeln mit feierlichen Gebärden bewegten. In Beichtstühlen liehen sie ihr Ohr jeglichem Gewissen, das sich ihnen eröffnete und sprachen es der Schuld ledig, so daß ein armer Sünder getröstet wieder seinen Dienst antreten konnte. Sie veranstalteten Feiertage und pflanzten damit wohlduftende Blüten von Ruhe und Freiheit in die kümmerliche Hutweide des armen Lebens, sie gaben in den Kirchen umsonst und für jedermann Feste, bei denen es hoch herging mit Gold und blauem Weihrauch, mit flackernden Kerzen und Musik von dröhnenden Pfeifen aus der Höhe, von hellen Chören, welche gar wohl an Engelstimmen erinnern konnten. Sie ersannen für verschiedene Gelegenheiten immer neue, doch immer wiederkehrende Zeremonien, welche den Menschen das Gleichmaß der Zeiten und den stetig in sich selbst rückfindenden Wechsel der Tage vergegenwärtigten. Ihre Einteilung bildete die feste Ordnung des Jahres, so daß sie die stillen Beherrscher der menschlichen Zeit waren. Ihr Werk verlief wie das einer gehenden Uhr, mit Messen am Morgen und Abend, Predigt und Segen; an jedem Tage um halb vier Uhr läuteten die Glocken zum Leichenbegängnis und wurde ein Toter mit ihrem letzten Spruche zur Erde gegeben, von der er gekommen. Dazwischen aber, zu allen Stunden, tauften sie die Neugeborenen und trugen deren Namen in ihre Bücher ein, so daß ihnen keine lebendige Christenseele entgehen konnte. Sie übernahmen die Fürsorge jenes vorgeblichen Gottes, sie wachten über ihren Schützlingen und waren allgegenwärtig, sie kamen zu den Schwerkranken, sie taten die Menschen zusammen und erlösten sie von der Last der Erde, sie waren immer auf den Beinen und verwalteten die Zahl der Seelen, wie ein besorgter Hausvater sein Gut. Sie waren eine große Gemeinschaft inmitten der feindlichen, ringsum verstreuten Menschen, und jedes ihrer Glieder hatte seine Aufgaben zugemessen und mußte sie genau versehen, von dem immer offenen Auge der Kirche beobachtet und von der eigenen Stimme der Pflicht gerufen und beherrscht. So schienen sie mit eigenem Willen an den Dienst einer Gesamtheit gebunden, zugleich Herren und Knechte aus freien Stücken einem Glauben zuliebe, hinter welchem nicht einmal eine Wahrheit stand. Bei dem Herrn Kooperator Eidherr konnte Dieter die ganze Bürde dieser selbstauferlegten Zucht unmittelbar vor Augen sehen.

Solche Strenge machte ihm auch das stille, gebundene, neue Leben erträglich, gab ihm die richtige Anspannung aller Kräfte, die den Menschen von innen heraus stärkt, sicher und munter macht, des Tages jede Faser seines Wesens übt und ihn endlich abends mit der gesundesten Müdigkeit dem herrlichsten Schlaf überläßt.

Wenn der Herr Kooperator nachmittags fortging, pflegte er Dietern kleine Schachteln mit bunten Heiligenbildchen zur besonderen Obhut zu empfehlen. Er war nämlich auch Katechet an einer Mädchenschule und sammelte, wie es üblich ist, Briefmarken zur Befreiung und Bekehrung von Heiden. Die Schulmädchen gaben ihm ihre Markenvorräte und bekamen dafür zum Dank, je nach der Größe und dem Wert ihrer Sammlung, größere oder kleinere, einfache oder bunte Heiligenbildchen mit frommen Bibelsprüchen: glühende Herzen von Pfeilen durchbohrt, die Mutter Gottes auf goldenem Grund, Engel in Wolken, das Vaterunser in farbigen Lettern und dergleichen mehr.

Eine sortierte Gattung von vorzüglichen Bildchen aber hieß er Dietern für die Veronika aufsparen. Wie sich später zeigte, war diese Kleine das Kind einer sehr glaubenseifrigen Frau seines Sprengels und darum sein besonderer Schützling.

Eines Abends, als Eidherr ausgegangen war, kam die Veronika.

»Ist der hochwürdige Herr zu Hause?«

»Nein.«

»Wirklich nicht?«

»Nein, sag' ich dir. Was möchtest du denn von ihm?«

»Ich bring' ihm Marken.«

»So gib sie mir, ich werd' es ihm schon ausrichten.«

»Das mag ich nicht.«

Sie hatte zu Dieters Ehrlichkeit kein Zutrauen, da die Buben bekanntlich als leidenschaftliche Markensammler vor keinem unlauteren Mittel zurückschrecken, solches Gut an sich zu bringen.

»Ich geb' dir aber was Schönes.«

Sie schwieg und zögerte, endlich siegte die Neu gier:

»Was gibst du mir denn?«

»Heiligenbilder.«

»Was denn für welche?«

»Schöne.«

Noch stand sie zum Fortgehen halb abgewandt draußen auf dem Gange. Da besann sie sich eines Besseren:

»Laß sie mich anschauen.«

Sie trat ins Zimmer, und Dieter zeigte ihr die für sie aufbewahrten Blättchen. Lächelnd und wohlzufrieden lieferte sie ihm nun ihre Marken aus, von welchen Dieter als Sammler und Tauschhändler für den Schulgebrauch die wertvollsten behielt. In der Klasse bekam er dafür einige Kreuzer, mit welchen er nützlichere Dinge beschaffte. Die Veronika lieferte Dietern nun häufiger und mit besserem Vertrauen ihre Marken gegen die Bildchen aus. Der Kooperator zog bei diesem Tauschverkehr freilich den kürzeren, indem seine Heiligenbildchen rascher abnahmen, als seine Markenvorräte sich mehrten. Er sah zwar sicherlich dies Mißverhältnis, sagte aber nichts dazu, wie ihm wohl die ganze Bekehrungssorge nicht allzu schwer auf dem Herzen lasten mochte und er überhaupt gewähren ließ, was geschehen durfte und nur dann, aber mit Sicherheit und Maß einschritt, wo es nötig war. Endlich erwirkte Eidherr, der Dietern auch bei seiner Abgeschlossenheit ein wenig Zerstreuung und freundliche Gesellschaft gönnen mochte, daß die Veronika täglich nachmittags spielen kam und auch morgens anstelle des Knaben die Milch zum Frühstück holte, da dies sich doch für den Gymnasiasten vielleicht nicht recht schickte.

Der Samstag aber war der größte und beste Tag der ganzen Woche und blieb seither für Dieter der Schicksalstag, für welchen er sich alles Gute und Schöne aufsparte, um sechs sauren Arbeitsvierundzwanzigstündern die Krone einer rechten Freiheitsfeier aufzusetzen. Am Samstag verließ Eidherr den Knaben früher als sonst und blieb dafür abends selbst zu Hause, wo die große Wochenreinigung der Wohnung stattfand, bei der die Kinder mithelfen sollten. Alle Ueberzüge wurden von den Möbeln gehoben, die Teppiche zum Klopfen in den Hof gebracht, die paar Bilder von den Wänden genommen, die Betten abgeräumt und frisch aufgerüstet. Ueberall durften die beiden mit Hand anlegen. Da offenbarten sich die Geheimnisse der Schränke und der Laden in der braunen Kommode. Der Duft von Lavendel und Pfeifenrauch zog mit dem scharfen Staube beizend zusammen. Die Luft hatte etwas geheimnisvoll Aufreizendes und Berauschendes. Die Kinder tanzten vor Vergnügen um die ganze herrliche Unordnung. Zur Belohnung für ihre Mithilfe bei der Räumerei gab sich der Kooperator abends mit ihnen ab. Das heißt, als es dunkelte, alle Laden und Türen wieder geschlossen, alles ausgeklopft, gebürstet und gereinigt, die Bilder wieder an der Wand, die Behänge wieder an den Möbeln waren und die weißen Stuben in stiller, reinlicher Ordnung dastanden: gegen halb acht Uhr ließ er seine beiden Schützlinge aus der Speisekarte des Stammgasthauses wählen, was ihr Herz begehrte. Sie durften ein Mahl nach ihrem Geschmacke zusammenstellen: gebackene Schnitzel mit Gemüse und Salat, Torte, Obst und Käse und sogar ein Glas Bier dazu. Er gab ihnen ein gehöriges Stück Geld mit auf den Weg, und sie mußten nun in einem Tragkorbe das Essen vom Wirt holen. Wie herrlich schwer ließ sich diese Last schleppen! Kamen sie zurück, so hatte er gewiß irgendeinen lehrhaften Scherz bereit, bei dem es nach seiner bäurischen Laune nicht ohne Derbheit abging. Einmal hatte er zum Beispiel sauber aus schwarzem Papier einen kleinen »Schwaben« ausgeschnitten, welches zudringliche Insekt in allen Küchen gefürchtet wird. Als sie zu dritt bei Tische saßen, praktizierte er ihn unbemerkt auf die Gemüseschüssel. Bei diesem Anblick schrie Veronika auf, als ein rechtes Frauenzimmer. Dieter aber rief: »Ich eß ihn auf.« Ein andermal setzte Eidherr einen wirklichen, lebendigen »Schwaben« auf den Teller. Veronika schrie wiederum und Dieter rief wiederum: »Ich eß ihn auf.« Eidherr sagte ruhig: »Nun bitte, Chineser.« Um nicht als Großsprecher zu gelten, nahm Dieter wirklich das Tierlein zwischen die Finger und hätte es kaltblütig verzehrt, wenn es der Kooperator ihm nicht gerade noch zurzeit aus der Hand geschlagen hätte, lachend, doch nicht böse, weil er auf Wahrhaftigkeit in Wort und Tun etwas hielt.

So lebten sie manche Wochen. Am ersten Maiensamstag waren die Kinder von der Luft und Mühe müder als sonst. Sie sollten das Essen im Tragkorbe vom Wirtshause holen und faßten jedes den Henkel mit einer Hand und gingen die hohe Stiege hinab. Auf einmal konnten sie nicht mehr weiter. Jede Stufe ward ihnen schwerer, sie blieben stehen. Und nun schob Dieter seine Hand, oder schob Veronika die ihre näher heran, bis beide Hände der beiden Kinder nebeneinander lagen, so daß die Finger einander leise berührten. Die beiden Kinderhände ruhten beisammen, wie weiße Geschwister. So verharrten sie einen Augenblick und eine Ewigkeit, dann rannten sie plötzlich, wie von irgendeinem unhörbaren Zeugen aufgescheucht, die Stiegen hinab, den Korb haltend, aber mit den Händen längst schon auseinandergerückt ins Wirtshaus und ebenso toll zurück, bis sie atemlos, rot, still und traurig beim Tische saßen und einsilbig blieben, so daß der Kooperator sie in Ruhe ließ.

Seit diesem Abend verging wieder eine beträchtliche Zeit. Dieter dachte nur selten an das wunderbare Geschehnis auf der dunkeln Stiege, bis ein neues Ereignis es ihm wieder nahebrachte. Er hatte sein Lateinheft, mit den zwei »ganz ungenügend« der ersten Schularbeiten dieses Jahres dem Vater und dem Kooperator verheimlicht, nicht ohne daß jener das Unheil dunkel geahnt, weshalb er den Sohn eben dem Geistlichen überantwortet hatte. Seither war Dieter in der Zucht des Kooperators besser gediehen und hatte längst ersprießlichere Noten erlangt. Sowohl diese Sühne, als eine merkwürdige Scham verhinderten Dieter, das Unglücksheft zu verbrennen. Vielmehr hatte er es ganz zu unterst in seine Lade geschoben und dachte nicht daran, daß die Sache jemals noch ruchbar werden könnte. Eines Tages hatte er sich ganz lustig umhergetrieben, kehrte in froher Erwartung heim und fand Eidherr sehr ernst und zornig, die Veronika mit rotgeweinten Augen und vor Aufregung zitternd.

Der Kooperator hielt ihm das verhängnisvolle Heft entgegen: »Was ist das?« Nun kam die Wahrheit an den Tag. Nicht für die längst verbesserten schlechten Noten, aber dafür, daß er sie verheimlicht hatte, erhielt Dieter zum erstenmal Schläge vom geistlichen Herrn. Die Prügel verwand er um so leichter, als Veronika um seinetwillen geweint hatte. Daß sie unschuldig für ihn gelitten, wollte er ihr gedenken.

Wieder an einem Samstag hatten sie besonders reichlich von guten Sachen gegessen, und der Kooperator schickte sie auf die Straße, damit sie drunten spielten und sich vor dem Schlafengehen noch Bewegung machten. Dann sollte Dieter die Veronika nach Hause begleiten. Wieder schlichen die beiden still über die Treppe hinab, da kamen sie zu einem Stiegenfenster, das sie sonst nicht einmal gemerkt hatten, jetzt schien der weiße Mond hindurch und rief wie eine stille Stimme der Nacht. Da fühlte Dieter, heute müsse er es der Veronika sagen. Das »es« wußte er nicht recht zu nennen, noch warum er es bekennen wollte, aber daß er es mußte, war ihm nun auferlegt.

Unten auf der Straße begann Veronika, vom gleichen Mondruf geheißen, zu laufen. Sie lief. War in ihr Dieters Gedanke wach geworden und hatte sein Mut ihre Angst geweckt, ihre Scham oder ihren Stolz, ihre Furcht oder ihre Lust, mit diesem Herzen, das um sie bat, zu spielen, um es so ganz in ihrer Hand zu spüren, eben da sie es von sich abhielt? Sie entlief ihm, Dieter rannte ihr nach, zuerst froh und gewiß, sie einzufangen, sie lief. Aber er konnte sie nicht wie sonst mit ein paar Sprüngen erreichen, denn ihn lähmte die gleiche Kraft, welche Veronika beflügelte. Er spannte seinen ganzen Willen an, aber er holte sie nicht ein, schon war sie um die Kirche herum, immer über die Stufen der verschiedenen Eingänge setzend, weit voran. Sie lief. Dieter rief ihr nach, zuerst lachend, dann in Angst, bis zu nahen Tränen, wie in einem schweren Traum von Not und Gefahr: »Veronika. Veronika.« Sie lachte von weitem, aber wollte nicht hören. Sie lief. Er sah ihr Röckchen flattern und ihren blonden Zopf um die Schultern schlagen wie das rasche Pendel einer Uhr des fernen Glückes. Sie lief. Auf einmal bog sie in eine Seitengasse ein und rannte unaufhaltsam weiter, Dieter ihr nach, aber ohne Hoffnung. Es kamen die Lichter einer belebten Straße und eilten an den Eilenden vorbei, sie lief zum Hause ihrer Mutter, sie lief. Fast war sie schon am Tor. Wenn er sie jetzt nicht erreichte, war es zu spät. Sie lief. Nun schrie er mit aller Macht seines vergehenden Atems in trotziger Verzweiflung: »Jetzt hätte ich dir was gesagt, Veronika, das wirst du nie mehr erfahren.« Sie lief aber, ohne ihm zu antworten und verschwand im Flur. Dieter schlich nach Hause zurück, und von ihrem Geheimnis war zwischen den Kindern kein einziges Mal mehr die Rede.

Kurz darauf bekamen die beiden noch einen Kameraden, einen Buben aus Dieters Klasse, einen kleinen Slowaken aus der mährischen Ebene, dessen der Kooperator sich aus anderen Gründen gleichfalls annahm. Denn der Junge war ein Bruder von Eidherrs Herzallerliebsten, der sich dem Zwange der Ehelosigkeit fügte, aber darum nicht auf das bessere Recht seiner Natur verzichtete. Er hatte ein Mädchen gewonnen, das draußen als Lehrerin hauste. Beide fühlten sich in ihrem nicht einmal sonderlich geheimgehaltenen Verhältnis recht wohl, und im Winter besuchte sie ihn zu allen Feiertagen, oder wenn sie eben sonst frei war, während Eidherr den Sommer bei ihr verbrachte. In der Hanna in einem Slowakendorf hatte ihr Vater, auch ein Schulmeister, ein kleines Häuschen inne, dessen Fußböden mit weißem Sand bestreut waren, an dessen Fenstern Bauernblumen standen und in dessen einer Stube seine Tochter wohnte, an deren Bett dem Kooperator ein zweites hinzugerückt wurde, wenn er auf Ferienbesuch kam. Den Sohn dieses Schulmeisters, den Bruder seiner Geliebten, ließ Eidherr hier in Wien studieren und nahm sich seiner an.

Jetzt waren am Samstag vier zur Unterhaltung. Da wurde am liebsten ein Spiel gespielt, wobei jeder den Namen einer Blume bekam. Veronika wollte immer das Veilchen heißen, der Slowak neidete ihr den Namen und begehrte ihn oftmals für sich, aber Veronika mochte ihn nicht ein einziges Mal aufgeben, und Dieter war immer die Primel. Jedes mußte auf die Frage, welche Blume es am liebsten habe, antworten. Der Slowak fuhr immer geradeheraus: »Das Veilchen.« Weder die Veronika, noch Dieter sagten ihre Namen. Dieter nannte immer die Blume des Kooperators oder des Slowaken, aber niemals das Veilchen, und Veronika nannte immer die Blume des Kooperators oder des Slowaken, aber niemals die Primel. Einmal spielte auch Dieters Vater mit, der seinen Buben besucht hatte. Und als Veronika und Dieter wiederum einander zu nennen auswichen, lachten der Vater und der Kooperator. Eidherr sagte: »Du Chineser, warum rufst du denn nicht auch einmal das Veilchen?«

Dieter antwortete trotzig: »So,« und war nicht dazu zu bringen, die Blume der Veronika zu nennen.

Nach ein paar Wochen war das Schuljahr aus, Dieter hatte ein sehr anständiges Zeugnis bekommen und sollte auf Ferien gehen, um im Herbst wieder ins Vaterhaus zurückzukehren, da er nun der Hilfe und Zucht des Kooperators wohl entraten konnte und sich in die neuen Verhältnisse daheim finden sollte. Die Veronika entschwand ihm.

Viel später, als er schon sechzehn Jahre alt war, sah er einmal von dem Fenster des Kooperators, welchen er gelegentlich besuchte, der Fronleichnamsprozession zu, die in Pracht unten vorbeiging. Voran wandelte Eidherr unter den Priestern und wies mit erhobenen beiden Händen die goldene Monstranz. Dann kam der Baldachin von vier Mädchen getragen, dann folgten paarweis Jüngferlein in weißen Kleidern und mit gerollten Locken, in deren Mitte Veronika, nun um ein gutes Stück gewachsen, bescheiden, aber anmutig, wie ihre Blume, das Veilchen, das gestickte seidene Kissen hielt, welches beim Umgange nicht fehlen darf. Die goldenen Locken lagen ihr wie ein Heiligenschein um das feierliche Gesicht, und mit einer jungfräulichen Strenge voll Stolz, Angst und Freude hielt sie den weißen Polster weit von sich. Den Beobachter oben am Fenster nahm sie nicht wahr, welcher in seinem Unglauben überlegen lächelte. Bald war die kleine Heilige unter Glockengeläut und Böllerkrachen vorübergezogen. Und dann sah Dieter sie nie mehr wieder, die für ihn bestimmt war und die er nicht nennen mochte, das erste Veilchen im grünen Schatten seiner Jugend.


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