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Die beiden Reiche

Sänger und König

Auf der Bühne spielt einer den Fürsten, ein anderer den Rat, ein dritter den Diener, oder Soldaten, oder General. Aber diese Unterschiede sind nur im Äußern vorhanden; im Innern, als Kern einer solchen Erscheinung, steckt bei allen das Selbe: ein armer Komödiant; mit seiner Plage und Not. Im Leben ist es auch so.

Schopenhauer.

De musico, poeta y loco Todos tenemos un poco.
(Vom Musiker, Dichter und Narren haben wir alle etwas an uns.)

Spanisches Sprichwort.

Soll der Sänger (nach Schillers Ausspruch) mit dem König gehen? Seitdem die Könige immer seltener werden, ist die Frage akut geworden. Wer für die Kunst lebt, braucht ideelle Förderung und Schutz vor materieller Not; wer von ihr leben will, wird seine Ziele nicht sehr hoch stecken können. Es ist zum mindesten fraglich, ob genossenschaftliche Organisationen jemals soviel für die Kunst leisten können (und wollen), wie Mäzene und Fürsten für sie getan haben. Auf sich selbst gestellt, muß die Kunst verkümmern. Goethe wußte, warum er sich unter den Schutz eines kleinen deutschen Reichsfürsten stellte. Und stellen durfte. Die Gunst von kulturfremden Vertretern des Reichtums oder von politischen Emporkömmlingen hätte er von sich gewiesen. Aber man muß die Frage auch von der andern Seite aus betrachten. Zu allen Zeiten und bei allen Nationen haben Könige und Kaiser Wert auf gute Beziehungen zu den hervorragendsten Künstlern ihrer Zeit gelegt. Die Demokraten und Sozialisten, die heute auf der Menschheit Höhen wohnen und die Geschicke der Völker leiten, denken anders. Ihnen scheint der Künstler keine besondere Beachtung zu verdienen, weil er kein »politischer Machtfaktor« ist. Sie leben und wirken nur für die Gegenwart, für den Augenblick (wenngleich sie es leugnen), und bedenken nicht, daß die Künstler den Ewigkeitswert eines Volkes bestimmen. Was wären z. B. die Italiener ohne Palestrina, Verdi, Dante, Petrarca, Ariosto, Leonardo, Raffael und Michelangelo? Was wären wir Deutsche heute ohne unsere großen Dichter und Denker, ohne die schier unendliche Reihe unserer musikalischen Genies, der kein anderes Volk der Erde mehr als ein paar vereinzelte große Namen gegenüberzustellen hat? Jedem Geistesaristokraten ist darum die Achtung vor der Kunst und dem Künstler etwas ganz Natürliches, ganz Selbstverständliches. So hat auch unser letzter Kaiser, trotz seines geringen Verständnisses für Kunst, den Künstler stets als seinesgleichen behandelt, als einen »von Gottes Gnaden« zu einem hohen Amt Berufenen. Und hat der Kunst auf seine Weise zu dienen versucht. Soviel Mißgriffe er sich dabei auch zuschulden kommen ließ, den guten Willen muß man anerkennen. Man denke an die Menzel-Feste in Potsdam, an die Gastfreundschaft, die er ausländischen Künstlern bei ihrer Anwesenheit in Berlin bezeigte, an all die festlichen Aufführungen bedeutender (und manchmal auch minderwertiger) Werke, die er veranstaltete oder förderte. Er war vielleicht kein sehr kunstsinniger, aber doch ein kunstliebender Herrscher. Auf seinen Nordlandsreisen hat er Grieg mehrmals in Bergen besucht, und der nordische Meister (der seine republikanische Gesinnung niemals verhehlte) schildert in lebhaften Farben, wie natürlich und herzlich, ja zuvorkommend der Kaiser stets zu ihm war.

Als Wilhelm der Zweite gelegentlich erfuhr, daß Grieg im Jahre 1903 seinen sechzigsten Geburtstag feiere, beschloß er, ihm in Bergen eine Huldigung zu bereiten. Er ließ deshalb von der Schiffskapelle seiner »Hohenzollern« mehrere Werke Griegs einstudieren und verschaffte sich auch einen zu Ehren des Tondichters von einem Kapellmeister in Drontheim komponierten Festmarsch, mit dem der Komponist begrüßt werden sollte. Aus der Begegnung wurde aber nichts, wie wir aus dem nachstehenden im Jahre 1904 geschriebenen Briefe Griegs ersehen: »Neulich hatte ich Gelegenheit, mit Ihrem Kaiser zusammen zu sein. Er hatte schon voriges Jahr gewünscht mich zu sehen. Ich war aber damals krank. Jetzt hatte er den Wunsch erneuert, und ich konnte deshalb die Einladung nicht ablehnen. Ich bin, wie Sie wissen, wenig ›hoffähig‹. Ich sagte aber zu mir selbst: ›Aalesund nicht vergessen!‹ und das Pflichtgefühl siegte. Zuerst trafen wir uns zum Frühstück beim deutschen Konsul. Bei Tisch sprachen wir viel über Musik. Die Art und Weise gefiel mir sehr und – sonderbar genug! – stimmten auch unsere Ansichten überein. Nach Tisch kam er zu mir, und ich hatte das Vergnügen, fast eine Stunde lang mich mit ihm allein zu unterhalten. Wir sprachen über alles zwischen Himmel und Erde, über Dichtung, Malkunst, Religion, Sozialismus und Gott weiß was alles. Er war glücklicherweise ein Mensch und kein Kaiser. Ich durfte deshalb – wenn auch in taktvoller Weise natürlich – meine Ansichten offen bekennen. Jetzt kam die Musik daran. Er hatte sein Orchester mitgebracht (!), zirka vierzig Mann. Er nahm zwei Stühle, placierte dieselben vor allen anderen, setzte sich auf den einen und sagte: ›Bitte, erstes Parkett!‹ Und nun ging es los: Sigurd Jorsalfar, Peer-Gynt-Suite und vieles andere. Er war mir während der Musik fortwährend behilflich, die Tempi und den Vortrag zu korrigieren, obgleich dies von vornherein selbstverständlich nicht in meiner Absicht lag. Er wollte aber durchaus, daß ich meine Intentionen verdeutlichen sollte. Dann illustrierte er den Eindruck der Musik durch Bewegungen des Kopfes und des Körpers. Göttlich war es, während ›Anitras Tanz‹, der ihn ganz elektrisierte, seine schlangenförmigen Tanzbewegungen à la Orientalin anzusehen. Nachher mußte ich ihm auf dem Flügel vorspielen, und meine Frau, welche ihm am nächsten saß, erzählte mir, daß er auch hier den Eindruck illustrierte, und ganz besonders bei den besten Stellen. Ich spielte das Menuett aus der Klaviersonate, das er ›sehr germanisch und mächtig aufgebaut‹ fand, und ›Hochzeitstag auf Troldhaugen‹, welches Stück ihm ebenfalls gefiel. Am folgenden Tage wiederholte sich alles auf der ›Hohenzollern‹, wo wir um acht Uhr abends zum Diner eingeladen waren. Das Orchester spielte in der wunderbarsten hellen Sommernacht auf Deck, während viele Hunderte, ja ich glaube Tausende von Ruderbooten und kleinen Dampfschiffen sich umher gelagert hatten. Die Menschenmenge applaudierte fortwährend und jubelte begeistert dem Kaiser entgegen, wenn er sich zeigte. Mich behandelte er wie einen Patienten, er gab mir seinen Mantel um und holte eine Decke, womit er mich sorgfältig zudeckte. Ich muß nicht vergessen, daß er über ›Sigurd Jorsalfar‹, welches Sujet ich ihm so genau wie möglich auseinandersetzte, so begeistert wurde, daß er dem neben uns sitzenden Hoftheaterintendanten von Hülsen sagte: ›Das Stück müssen wir aufführen.‹ Ich lud dann von Hülsen ein, nach Christiania zu kommen, um eine dortige Aufführung zu sehen, wozu er große Lust äußerte. Alles in allem bedeutete dieses Zusammentreffen ein Erlebnis und eine Überraschung im besten Sinne. Der Kaiser ist gewiß ein sehr ungewöhnlicher Mensch, eine sonderbare Mischung von großer Energie, großem Selbstvertrauen und großer Herzensgüte. Von Kindern und Tieren sprach er gern und mit Liebe – das ist für mich ein bedeutungsvolles Zeichen.«

Bei der hier geschilderten Begegnung auf der »Hohenzollern« geschah es, daß der Kaiser dem Komponisten seinen Mantel zum Schutze gegen den Wind lieh. Als Grieg in dem für ihn viel zu langen Bekleidungsstück spazieren ging, rief ihm ein Offizier nach: »Geben Sie acht! Majestäts Mantel schleppt!«. Der Kaiser hörte das zufällig, machte eine unwillige Handbewegung und sagte dann lächelnd: »Die Hauptsache bleibt doch wohl, daß sich unser Meister nicht erkältet.« (Diese Geschichte wird in vielen Schriften als charakteristisch für eine Begegnung im Jahre 1903 erzählt, die niemals stattgefunden hat.)

Am Neujahrstage 1905 telegraphierte der Kaiser an Grieg: »Ich sende dem nordischen Sänger, dessen Klängen zu lauschen mir immer eine Freude war, meinen aufrichtigsten Glückwunsch zum neuen Jahre und zu neuem Schaffen.«

Ein Jahr später schrieb Grieg über den Kaiser: »Sehr erfreut war er über seine neue Großvaterwürde. Über den Tisch rief er mir zu: ›Ist es Ihnen recht, wenn ich das Kind Sigurd nenne?‹ (Anspielend auf Sigurd Jorsalfar.) ›Es muß doch etwas Urgermanisches sein.‹ Dabei kam er auch auf das Schauspiel Björnsons zu sprechen, welches er in der nächsten Saison durchaus aufführen wollte. Sein Bruder, Prinz Heinrich, der das Stück in Christiania gesehen hatte, war im hohen Grade über die Aufführung begeistert.«

Als Grieg 1907 in Berlin zwei Konzerte gab, war er mehrmals Gast Wilhelms des Zweiten (der auch einige französische Komponisten, wie z. B. Massenet und Saint-Saëns, aber keinen einzigen deutschen Tonsetzer eingeladen hatte); ebenso wurde seine Witwe 1914 anläßlich der ersten Aufführung des Peer Gynt im Kgl. Schauspielhause vom Deutschen Kaiser in seinem Berliner Schloß empfangen. Über ihre Eindrücke äußerte sie sich zu einem norwegischen Journalisten; ein paar charakteristische Bemerkungen (damals in den Dresdener Nachrichten abgedruckt) verdienen vor der Vergessenheit bewahrt zu werden: »Der Kaiser ist derselbe fröhliche und herzhafte Mann hier in Berlin wie auf seinen Ferienreisen in Norwegen. Als ich ihm erzählte, daß sein Freund, der Konsul in Bergen, auf einer langen Reise im Osten sei, meinte er: ›So möchte ich es auch einmal haben.‹ Auf meine stille Frage fuhr er fort: ›Ja, ich bin nicht weggekommen, seitdem ich von meiner Sommerreise in Norwegen zurückkam. Selbstverständlich rechne ich meine Reisen in Deutschland nicht, denn da bin ich ja immer im eigenen Hause; aber sonst bin ich die ganze Zeit daheim gewesen. Und doch nennt man mich den Reise-Kaiser.‹«

Als Grieg starb, telegraphierte Wilhelm der Zweite an seine Witwe: »Ich spreche Ihnen anläßlich des Todes Ihres Gemahls meine herzlichste Teilnahme aus. Er und seine Kunst werden nie vergessen werden, weder von mir noch von seinen Landsleuten oder den Deutschen. Gott tröste Sie in Ihrem Schmerze. Ich habe meinen Gesandten beauftragt, mich bei den Trauerfeierlichkeiten zu vertreten und in meinem Namen einen Kranz niederzulegen.«

Später besuchte Kaiser Wilhelm die Grabstätte Griegs, von der er sich eine Zeichnung anfertigen ließ. Er veranlaßte auch den deutschen Konsul in Bergen, Konrad Mohr, ein Denkmal bei dem Bildhauer Ingebrigt Vik zu bestellen, das 1917 in Bergen enthüllt worden ist. (Grieg wird hier seltsamerweise in ganzer Figur dargestellt, stark idealisiert natürlich, mit der Rechten auf einen Stock gestützt, während die Linke über der Brust in den Rock geschoben ist.) –

Irgendeine Ordensauszeichnung ist dem norwegischen Meister vom Kaiser niemals angeboten worden; er wußte, daß sich Grieg aus Orden und Ehrenzeichen nicht viel machte. In einem kleinen deutschen Staate wurde dem Tondichter einmal vom regierenden Herzog persönlich ein Orden überreicht. »Danke schön«, sagte der Meister trocken und steckte das Ding in eine der hinteren Fracktaschen. Die Herzogin rettete dann die Situation, indem sie bemerkte: »Mein lieber Herr Grieg, lassen Sie mich Ihnen zeigen, wie man einen solchen Orden trägt.« (Worauf sie die Dekoration eigenhändig an der richtigen Stelle befestigte.) Als Grieg die Geschichte später einem Freunde erzählte, erwähnte er eine ebenso amüsante Anekdote von Ole Bull, der einst einen spanischen Orden mit der Inschrift »Pour la Vertue« erhalten hatte. Auf die merkwürdige Frage der Königin Desideria von Schweden, wofür er den Orden bekommen habe, erwiderte er mit einem verschmitzten Lächeln: »Für meine Tugend, Majestät.« Im Jahre 1897 hatte Grieg große Erfolge in Holland und erhielt daraufhin einen oder zwei sehr schöne Sterne. Ironisch schreibt er an seinen Verleger: »Wenn Sie mich kennen, werden Sie verstehen, daß ich überglücklich war! Im Koffer liegen nämlich die Orden sehr gut! Die Zollbeamten an der Grenze sind immer sehr liebenswürdig, wenn sie dergleichen sehen.« Auch als er in die französische Ehrenlegion aufgenommen wurde, war er nicht sonderlich beglückt. (Weil »Legionen« die Auszeichnung erhielten.)

Ganz anders verhielt er sich den Ehrungen gegenüber, die ihm Akademien und Kunstinstitute zuteil werden ließen. Solche Auszeichnungen haben ihn stets sehr erfreut, und er erwähnt sie auch oft mit großem Stolz. 1872 wurde er zum Mitglied der Schwedischen Akademie der Musik erwählt (1873 erhielt er den schwedischen Olafs-Orden), 1883 ernannte ihn die Musikakademie zu Leyden zum korrespondierenden Mitglied, 1890 wurde er Offizier der Académie Française, 1893 erhielt er von der Universität Cambridge den Titel »Doktor der Musik« und 1897 wurde er von der Kgl. Akademie der Künste in Berlin zum ordentlichen Mitglied ernannt.

Von der Universität Cambridge bekamen gleichzeitig mit Grieg Arrigo Boito, Max Bruch, Saint-Saëns und Tschaikowsky den Doktortitel. Als bei der Promotion Griegs Vordermann abtrat, glaubte der bescheidene nordische Meister, die nun einsetzende Ovation gelte diesem, nicht ihm, und unterließ deshalb auch die übliche Dankesverbeugung. Er soll übrigens in dem langen, weißen, goldbestickten Doktormantel sehr spaßig ausgesehen und recht mißmutig dreingeschaut haben. Der Pianist Oscar Meyer erzählt, daß Grieg lachend mit der Hand ausgeholt habe, als er ihn später des Scherzes halber »Herr Doktor« betitelte; es habe so ausgesehen, als ob er ihm eine hätte herunterhauen wollen. Humorvoll bemerkt Meyer dazu: »hinaufhauen« wäre eigentlich das richtigere Wort gewesen.

Nicht viele Komponisten sind mit so zahlreichen Orden und Ehren bedacht worden wie Grieg; wenige haben auch einen so großen und unbestrittenen Erfolg beim Publikum errungen. Und wenn er nicht ein überzeugter Republikaner gewesen wäre, so hätte er sich eigentlich wie ein kleiner König im Reiche der Kunst vorkommen müssen. Die Bezeichnung ist vielleicht unzeitgemäß. (Selbst von einem »Dichterfürsten« darf man wohl nicht mehr sprechen, sintemalen es keine Fürsten mehr gibt.) Aber was soll man machen? Ruhm und Glanz werden stets einen erfolgreichen Künstler umgeben und ihn so turmhoch über die Schar der Namenlosen emporheben, wie kein Präsident oder Parteisekretär über seinen Genossen steht. Man wird also Vergleiche mit Größen der absterbenden Zeit bis auf weiteres noch erlauben müssen. Sobald die Künste ihre selbstherrliche Sonderstellung aufgegeben haben und Industrien geworden sind, werden sich schon neue Wertbegriffe und damit auch neue Worte einstellen. Grieg hat übrigens die neue Zeit schon frühzeitig vorausgeahnt, wie sich u. a. aus einem Brief ergibt, den er 1898 an seinen Verleger schrieb: »Soeben lese ich, daß die alte liebe Königin Louise von Dänemark gestorben ist, allerdings einen ruhigeren Tod als die Kaiserin Elisabeth von Österreich.« (Die ermordet wurde.) »Ja, was sagen Sie nun dazu? In der Tat, es ist mehr als eine Redensart, daß wir auf einem Vulkan tanzen! Wie schade, daß Sie einen in der dänischen Zeitung »Politiken« enthaltenen Brief vom Fürsten Krapotkin in London an Georg Brandes nicht verstehen. Eine Stelle in diesem Brief ist besonders beachtenswert. Krapotkin sagt: Wenn die höheren und höchsten Schichten der Gesellschaft keine Bedenken tragen, Tausende, ja Hunderttausende von Menschen unter den Bauern und Arbeitern niederzuschlachten, um die in diesen höchsten Schichten erwünschten ruhigen und guten Zustände herbeizuführen, wie kann es Wunder nehmen, wenn die unteren, ganz und gar bildungslosen Schichten das Verhältnis umkehren und sagen: ›Es ist mir gleichgültig, wen ich von der höheren Gesellschaft totschlage. Es gibt den Menschen etwas zu denken, und vielleicht werden die von uns erwünschten besseren Zustände einmal dadurch erreicht.‹ Krapotkin meint: Das eine ist ebenso falsch wie das andere, aber die Bildung muß anfangen. Also zuerst muß das Schlachten mit Genehmigung von oben aufhören. Utopien, nicht wahr? Aber glauben Sie: Es werden auch andere Zeiten kommen, ob durch Blut oder Intelligenz. Hoffentlich durch das letztere.« Diese Hoffnung Griegs hat sich nicht erfüllt. Im übrigen: Wozu braucht man denn überhaupt Intelligenz? Die hebt ja doch einige wenige über die Masse hinaus und führt zu ideeller wie materieller Ungleichheit, also gerade zu dem, was in Zukunft nicht mehr bestehen soll. Das Glück einer dauernden Herrschaft der Masse (und damit ein ewiges Eden) kann uns erst dann zuteil werden, wenn die Intelligenz völlig ausgerottet ist.

Kollege und Kritiker

Ehre das Alte hoch, bringe aber auch dem Neuen ein warmes Herz entgegen. Gegen Dir unbekannte Namen hege kein Vorurteil.

Robert Schumann.

In der Kunst gibt es keine allgemeine Wahrheit. Jede Wahrheit in der Kunst ist so beschaffen, daß ihre Umkehrung ebenso wahr ist.

Oscar Wilde.

Drei Tondichter, denen Grieg die größte Verehrung entgegenbrachte, waren zugleich bedeutende Schriftsteller: Liszt, Schumann und Wagner. Ihr Beispiel hat den nordischen Meister wohl dazu veranlaßt, seine Ansichten über Musik und Musiker gelegentlich in Zeitungen und Zeitschriften zum Ausdruck zu bringen. Wenn wir diese kritischen Versuche mit brieflichen Äußerungen über Kollegen zusammenstellen, so erhalten wir einen Einblick in die künstlerischen Anschauungen Griegs, der zum Verständnis seines eigenen Schaffens wesentlich beiträgt.

Bach wird fast immer mit anderen Klassikern zusammen erwähnt. Nirgends bemüht sich Grieg ernstlich, seiner Individualität gerecht zu werden. Er setzt ihn auf einen hohen Thron, macht ihm seine Reverenz und geht dann seiner Wege. Bachs polyphone Begabung, sagt er einmal, erwuchs aus den Tiefen seiner germanischen Seele und stellt ihn in Gegensatz zu den Italienern, deren Musik weniger tiefsinnig, dafür aber farbenreicher, melodiöser ist.

Auch Beethovens Namen nennt Grieg meist nur mit etwas kühler Hochachtung. Aussprüchen, die Liebe und tieferes Verständnis verraten, begegnet man sehr selten; dafür findet man um so häufiger abgegraste Gemeinplätze und Urteile aus zweiter Hand. »Mozart und Beethoven wären nicht das geworden, was sie sind, wenn sie nicht das Vorbild der alten Meister gehabt hätten.« Nemo est, quin sciat … Aus Beethovens Klavierwerken suchte sich Grieg gern die langsamen Sätze heraus. Den ersten Satz der Cis-moll-Sonate spielte er bei der Einsegnung der Leiche seines Bruders.

Über Bizet schreibt Grieg einmal an seinen Verleger: »Ganz besonders muß ich Ihnen für die Carmen-Partitur danken … Welches Meisterwerk! Welche Klarheit und Durchsichtigkeit bewundert man aufs neue beim Studium der Partitur! Hätte ich dieselbe nur dreißig Jahre früher kennengelernt.« Die Melodien dieses Werkes, (die zum größten Teil Eigentum des spanischen Volkes sind) erwähnt er nicht. – Ambroise Thomas und andere beim Publikum beliebte französische Komponisten schätzte Grieg sehr wenig. Für die harmonischen und rhythmischen Eigenheiten der Bizetschen Musik aber hatte er das Verständnis eines musikalischen Feinschmeckers.

Von Bülow hielt Grieg nicht viel: »Der sogenannte moderne Fingersatz ist von Liszt und Chopin eingeführt und nicht von Bülow, welcher überhaupt keinen einzigen Gedanken besaß, den er nicht von Wagner oder Liszt genommen hatte. Was nun meine Wenigkeit betrifft, bin ich so wenig konservativ, daß mir sogar der Bülowsche Fingersatz oft philisterhaft und altmodisch erscheint. Ich bin überhaupt in dieser Beziehung so revolutionär, daß ich es für ratsam halte, meine Prinzipien inbezug auf Fingersatz nur auf mein eigenes armseliges Klavierspiel anzuwenden.«

Über Brahms sagt Grieg: »Eine von Wolken und Nebeln zerrissene Landschaft, in welcher ich Städte mit Trümmern von alten Kirchen, auch wohl von griechischen Tempeln entdecken kann, – das ist Brahms. Das Bedürfnis, ihn neben Bach und Beethoven zu placieren, ist für mich ebenso unverständlich wie dasjenige, ihn ad absurdum zu reduzieren. Das Große muß groß sein, und ein Vergleich mit anderen Größen bleibt immer unzulässig.« (Das Große muß groß sein, denn wenn es nicht groß wäre, so könnte man es nicht als groß bezeichnen. »Luft, Clavigo.«) An anderer Stelle heißt es: »Schumann ist der Poet; darin bildet er den Gegensatz zu seinem größten Nachfolger, Brahms, der in erster Linie, selbst in seinen Liedern, Musiker ist.« Als Brahms gestorben war, schreibt Grieg an seinen Verleger: »Jetzt haben die Herren Kritiker zu tun, um ihn mit ihrem Metermaß zu messen. Er kann froh sein, er hatte sich noch nicht überlebt und starb ohne Leiden.« (Wer, wie Brahms, niemals »modern« war, veraltet auch nicht so leicht.) Über die Brahmsschen Symphonien hatte Grieg eine ähnliche Meinung wie Richard Strauß: Schade, jammerschade, daß man sie nicht instrumentieren darf.

Mit Chopin fühlte sich Grieg geistesverwandt. Er hat dessen Klavierwerke schon als Kind kennengelernt und eifrig studiert. Besonders die elegischen, schwermütigen Kompositionen des polnischen Tondichters machten auf ihn einen unauslöschlichen Eindruck. Noch ehe Grieg den jungen Nordraak kennenlernte, ist er wohl durch Chopin auf den Gedanken gekommen, seiner Musik einen nationalen Charakter zu verleihen.

Über deutsche Musik im allgemeinen äußerte sich Grieg (einem Artikel der Leipziger »Signale« zufolge) einmal in sehr bemerkenswerter Weise: »Wir sind die Germanen des Nordens, und in dieser Eigenschaft haben wir mit den Germanen einen starken Zug zur Melancholie und zur Träumerei gemein. Wir haben jedoch nicht das dieser Rasse eigentümliche Bedürfnis, unser Herz in einem langen Wortschwall auszudrücken; wir haben immer die Klarheit und die Kürze geliebt, selbst unsere Umgangssprache ist klar und präzis. Diese Klarheit und Präzision suchen wir auch in unserer Kunst zu erreichen. Trotz der grenzenlosen Bewunderung, die wir für die deutsche Kunst und die Tiefe ihres Genies bekennen, wird es uns schwer, uns für gewisse ihrer modernen Ausdrucksformen zu begeistern. Wir finden sie oft schwer und überladen. Gewiß, der skandinavische Komponist hat fast immer Studien in Deutschland gemacht; es wäre also begreiflich, wenn die unsterblichen Meisterwerke dieses Volkes – Meisterwerke, die aus der großen klassischen Epoche stammen und so reine Linien von einem so edlen Aufbau zeigen – während ihres ganzen Lebens vor den Augen unserer Musiker eingeprägt blieben; aber diese klassische Epoche gehört der Vergangenheit an; die Jungen verfolgen ein modernes Ideal, das die Eigenheiten und die Fehler der Gegenwart aufweist.« In allen nichtdeutschen Ländern wird man oft die gleichen Vorwürfe hören, zumeist aber mit anderer Begründung. Im allgemeinen findet man nur deshalb die neuere deutsche Musik so schwer, überladen und redselig, weil es ihr an verfeinerter Sinnlichkeit fehlt. Sie will zu viel ausdrücken, verlangt zu viel Einfühlung, und bietet dem Ohr (besonders dem Ohr des Romanen) nicht genug Entschädigung für die geforderte geistige Anstrengung. Sie liebt es, Leidenschaften fortissimo, mit Hilfe großer Klangmassen auszudrücken, und leistet sich Längen, denen die Aufnahmefähigkeit der Durchschnittshörer nicht gewachsen ist. Verfeinerte Sinne dagegen meiden alles Laute und ziehen Intensität des Ausdrucks jeder Extensität der Form vor. (Dem mit deutschem Wesen nur oberflächlich bekannten Ausländer erscheint eine Schöpfung wie Mahlers Symphonie der Tausend als das »deutscheste« Werk und Schumanns Träumerei etwa als das »undeutscheste«.)

Mac Dowell war einer von Griegs Lieblingskomponisten. Vielleicht spricht dabei unbewußt mit, daß auch Mac Dowells Vorfahren aus Schottland stammten. Grieg schätzte an den Werken des Amerikaners besonders die prägnante Form, die harmonische Feinheit und den poetischen Inhalt. Charakteristisch für beide Komponisten ist die Verbindung von kraftvoller Männlichkeit und träumerischer Zartheit. Im Technischen hat Grieg auf seinen amerikanischen Kollegen, der ihm zwei seiner Sonaten widmete, zweifellos einen großen Einfluß ausgeübt. (Mac Dowell starb 1908 in geistiger Umnachtung.)

Dvoøák gehört (wie auch Tschaikowsky) zu den Komponisten, die mit Bewußtsein nationale Musik schufen, und genoß schon deshalb die Zuneigung Griegs. Beide hatten die gleiche Vorliebe für Septimen- und Nonenakkorde, für symmetrische Formgebung und für die Mischung von Heiterkeit und Schwermut. Ihr Briefwechsel ist leider noch nicht veröffentlicht, zum Teil wohl auch verlorengegangen.

Über französische Musik äußerte sich Grieg in einem Briefe an den Figaro: »Gestatten Sie mir, daß ich die Gelegenheit benutze, laut und deutlich ein Wort von der Dankesschuld zu sagen, in der die Komponisten des Nordens zu der französischen Tonkunst stehen. Es ist ja gewiß, daß dies auch bei allen übrigen Nationen der Fall ist; aber wir Völker im hohen Norden nehmen darin noch eine ganz besondere Stellung ein. Wir sind Nordgermannen und haben als solche einen besonderen Hang zur Schwärmerei und Melancholie mit den Germanen gemeinsam. Doch fühlen wir nicht wie dieser Volksstamm den Drang, uns in breite Wortströme zu ergehen; wir haben immer nur das geliebt, was klar und präzis ist.« (Das Folgende deckt sich mit dem Ausspruch über die deutsche Musik.) »Darum ist es kaum vorteilhaft, daß die jungen Komponisten sich an den Farbenorgien von Deutschlands moderner romantischer Schule berauschen und sich deren technisches Rüstzeug sowie deren recht dehnbare Architektur anzueignen suchen. Sie werden dadurch nur um so größere Schwierigkeiten haben, sich von alledem wieder loszureißen, um den charakteristischen Ausdruck für ihre individuelle und nationale Persönlichkeit zu finden. Und gerade in diesem kritischen Augenblicke soll ihnen das Studium der französischen Musik helfen, sich selbst zurückzugewinnen. Mit ihrem leichten, anmutigen, lebendigen Satze, mit ihrer kristallhellen Klarheit ist es die französische Kunst, welche den nordischen Tondichter rettet … Der nordische Künstler, der das Geheimnis gelernt hat, das, was er auf dem Herzen hatte, auszudrücken, möge nie vergessen, daß er von Frankreich dieses Geheimnis lernte. Und eben darum hegen wir eine so echte und tiefe Sympathie für die Künstler Frankreichs.« Man könnte fast glauben, dieses Schreiben sei gefälscht. Denn unwürdige Kriecherei war sonst nicht Griegs Art. (Vgl. sein Verhalten in der Dreyfusaffäre.) Unwürdig ist auch in dem ganzen Zusammenhange die Herabsetzung der deutschen Musik. Wenngleich Grieg auf dem Leipziger Konservatorium nicht viel gelernt hat: der deutschen Musik verdankt er unendlich viel. Und seine Werke zeigen unverkennbar vom ersten bis zum letzten Heft, wie stark und nachhaltig der Einfluß war, den die deutschen Romantiker von Schumann bis Wagner auf sein Schaffen ausgeübt haben. (Dagegen wird man Spuren französischer Einflüsse in seinen Kompositionen schwerlich entdecken.) Ist es wieder die alte Geschichte? Wieder die typische Undankbarkeit des Ausländers, der von den Deutschen lernt, sich an ihren Tischen sättigt und sie dann geflissentlich herabzusetzen sucht, um sich bei ihren Neidern und Feinden Liebkind zu machen? Künstler sind Stimmungsmenschen; und meistens große Kinder. Man soll deshalb gelegentliche Entgleisungen nicht tragisch nehmen. Aber immerhin: Dieser Brief bleibt ein Flecken auf dem sonst so makellos sauberen Gewande des nordischen Meisters.

Über Humperdinck sprach sich Grieg wiederholt voller Sympathie aus. In einem Briefe heißt es: »Hänsel und Gretel ist zwar kein sehr eigenartiges Werk und zu dick instrumentiert. Aber über dem Ganzen liegt sowohl Poesie wie Märchenzauber. Und das Werk bedeutet auch einen Schritt gegen das Volksmärchen in Tönen, ja einen sehr großen Schritt, und da dies immer mein Ideal gewesen, bin ich für einen Versuch in der Richtung, der so gelungen ist wie dieser, sehr eingenommen. Man darf nicht die Abhängigkeit von Wagner zu kritisch hervorheben, denn wo ist die nicht zu finden?« Die letzten Worte gelten auch für ihn selbst. Man vermißt in den zur Verteidigung Humperdincks geschriebenen Worten einen Hinweis auf die kontrapunktische Meisterschaft dieses Komponisten, der ein Dutzend Stimmen zu gleicher Zeit singen zu lassen versteht und dabei einen so klaren und reinen Zusammenklang erzielt, wie er bei schlichter Homophonie nicht vollendeter sein kann. Dazu gehört doch noch mehr Kunst und ehrliche Arbeit als zu dem seit Strauß im Orchester üblichen Ameisengekribbel.

Über Kjerulfs Lieder schrieb Grieg 1879 einen längeren Aufsatz für das Leipziger »Musikalische Wochenblatt«: Mit Nordraak zusammen sei Kjerulf der Begründer einer norwegischen Schule gewesen; als erster habe er die Bedeutung des norwegischen Volksliedes für die nationale Musik betont. Wohl im Gedenken an eigene Leiden erwähnt Grieg, daß seelische Not und körperliche Schwächlichkeit vielen der Kjerulfschen Lieder den Stempel der Entsagung aufgedrückt habe. Der Schwerpunkt seines Schaffens liege im Elegisch-Erotischen; das Leidenschaftliche sei ihm fremd gewesen. Überall lasse er den Gesang wundervoll ausströmen, während das Klavier die jeweilige Stimmung mit den zartesten Farben wiedergebe. Oft treffe er den Volkston sehr glücklich, doch gleite er zuweilen auch ins Salonmäßige. Grieg war, wie wir früher gesehen haben, mit Kjerulf befreundet; als Schaffender fühlte er sich ihm in mancher Hinsicht verwandt. Daß er die Bedeutung Kjerulfs als Komponist etwas überschätzte, ist daher leicht erklärbar.

Lehars beispiellose Erfolge, auch im hohen Norden, haben Grieg manches Kopfzerbrechen verursacht. Nach der zweihundertsten Aufführung der »Lustigen Witwe« in Christiania äußerte er nachdenklich: »Ich glaube wohl sagen zu können, daß auch meine Kompositionen in der ganzen Welt gespielt werden. Aber ich habe an allen meinen Kompositionen nicht viel mehr verdient wie Herr Lehar mit seiner ›Lustigen Witwe‹ in Christiania allein.« (Münchener Zeitung 1907.) Als ein Unbekannter seine Meinung über die neuen Wiener Operetten hören wollte, schickte ihm Grieg den Brief mit ein paar Noten auf der Rückseite zurück; es war ein Zitat aus Lohengrin: »Nie sollst du mich befragen …«

Von Mozart handelt ein Artikel Griegs für »The Century Illustrated Monthly Magazine (New York und London 1897). Wie alle seine literarischen Arbeiten, so ist auch dieser Aufsatz eine Art Verteidigungsschrift. Grieg spricht also weniger über als für Mozart, und zugleich gegen die, welche den Salzburger Meister zu verkleinern trachten. Nur einiges wenige aus dem Inhalt: Die Leichtigkeit, mit der Mozart in wenigen Jahren eine Fülle von Werken schuf, beweist nach Grieg, daß er einen göttlichen Instinkt besessen und technische Schwierigkeiten überhaupt nicht gekannt hat. Höchstens Schubert ist mit ihm in dieser Beziehung zu vergleichen. Dann werden Mozarts Opern Wagners Musikdramen gegenübergestellt. Wieder weist Grieg auf die starke Produktivität Mozarts hin: Wagner habe in dem Alter, da Mozart starb, seine Hauptwerke überhaupt noch nicht begonnen. Und nun geht's frisch los gegen die Wagnerianer. Ihre Geringschätzung Mozarts sei so lächerlich, daß man sich nicht darum zu kümmern brauche, wenn nicht so viele Opernleiter einseitige Wagnerianer wären. Mozarts Opern würden in Deutschland oft elend verpfuscht, während man auf die Einstudierung von Wagners Werken stets die größte Sorgfalt verwende. Aber eines Tages müsse die Reaktion sich geltend machen. Dann bekäme Wagner, was Wagners sei, und Mozart, was Mozarts sei. Auch Wagners Werke würde man einst aus der Ferne betrachten und historisch beurteilen. Alsdann werde sich zeigen, ob Wagner trotz der wechselnden Zeiten so aufrecht stehen bleibe wie Mozart. – Ein zweiter Artikel über denselben Meister findet sich 1906 in der Wiener »Neuen Freien Presse«, betitelt »Mozart und seine musikalische Bedeutung für die Gegenwart«. Der Inhalt ist im wesentlichen der gleiche wie in dem englischen Aufsatz.

Über Schumann schrieb Grieg in dem schon genannten Magazine 1894 einen gegen die »Bayreuther Blätter« gerichteten Aufsatz. In dieser Wagnerianischen Zeitschrift hatte Joseph Rubinstein heftige, offenbar von Wagner selbst inspirierte Ausfälle gegen Schumann gerichtet. Griegs Empörung darüber kannte (wie im Falle Dreyfus) keine Grenzen; stellenweise kämpft er mehr mit Ausdrücken (»Klavierlakai«, »Pamphletist«, »Lohnknecht«) als mit Gründen. Die Wagnerianer werden diesmal in Böcke und Schafe geschieden: Von den aufrichtigen Bewunderern des Meisters wird eine »heulende Horde« abgesondert, eine »Armee von unverschämten arroganten Scharen«, die dann den heiligen Zorn des nordischen Streiters kräftig zu fühlen bekommt. Die Erörterung beginnt mit persönlichen Vergleichen: Welch ein Unterschied zwischen dem Charakter Schumanns und dem Wagners! Dann wird bemerkt, daß Wagner doch wohl mancherlei von Schumann gelernt habe, so z. B. die Einheit von Wort und Ton aus den Schumannschen Liedern. Es folgt eine Analyse der großen Chor- und Orchesterwerke des Zwickauer Meisters, wie man sie ganz ähnlich schon öfter gelesen hat, zuerst wohl bei Kretzschmar, dann in den populären Führern und in den Programmheften. Schumanns Lebensschicksale werden anschaulich geschildert. Anerkennung habe er erst gefunden, als er körperlich und geistig zusammengebrochen sei. (Als Grieg 1883 Clara Schumann in Frankfurt a. M. besuchte und ihr von der Beliebtheit Schumanns in einem so fernen Lande wie Norwegen erzählte, habe sie nur bitter geantwortet: ›Ja, jetzt!‹) Den Schluß bilden allgemeine Betrachtungen über den Stil Schumanns und die unzulängliche Interpretation seiner Werke. Der Schumannspieler müsse am Klavier orchestrieren, und ohne den warmen, echten Herzenston sei auch eine sonst vortreffliche Wiedergabe völlig ungenießbar. – Wenn man von dem polemischen Teil des Aufsatzes absieht, muß man zugeben, daß er nicht nur vieles Positive enthält, sondern auch mit aufrichtiger Begeisterung geschrieben ist. Der Verfasser sandte ihn später an Clara Schumann, die sich sehr diplomatisch dazu äußerte: »Mit vielem war ich einverstanden, mit vielem aber auch nicht.«

Griegs Meinung über Richard Strauß ist in einem vom Berliner Lokal-Anzeiger 1907 veröffentlichten Interview enthalten: »Richard Strauß' ›Tod und Verklärung‹ liebe ich außerordentlich, und seinen ›Till Eulenspiegel‹ habe ich mit vielem Interesse gehört … Aber ich glaube, zu den letzten Konsequenzen werde ich Strauß nicht folgen können … Ich meine, die deutsche Musik muß nach der Erscheinung Richard Wagners nun einmal ruhen – wie ein Feld eine Weile ruhen muß, ehe es von neuem beackert wird.« Das Feld hat jetzt wohl lange genug geruht, ist auch inzwischen mit mancherlei Mist reichlich gedüngt worden; doch wird keine neue Ernte zu erwarten sein, wenn vorher nicht die Aussaat schöpferischer Gedanken erfolgt ist. Die Atonalität allein tuts nicht.

Ein Artikel über Svendsen wurde bereits bei der Schilderung von Griegs Erlebnissen in Christiania erwähnt. Jeder der beiden Freunde hat sich ständig für die Werke des andern eingesetzt. Und Grieg konnte sehr unangenehm werden, wenn man Svendsen nicht dieselben Ehren zuerkennen wollte wie ihm. Sehr hübsch hat er einmal gesagt: »Svendsen führt die deutsche Kompositionsweise bei uns ein, und ich bringe norwegische Art nach Deutschland.«

»Gedanken über Verdi« veröffentlichte Grieg im Todesjahre des italienischen Meisters. (Zuerst in der Londoner Zeitschrift »The Nineteenth Century«; der Artikel wurde dann mehrmals, so z. B. in der Zeitschrift »Bühne und Welt«, nachgedruckt.) »Mit Verdi ist der letzte der Großen fortgegangen«, ruft er emphatisch aus. »Wenn man künstlerische Größe vergleichen könnte, würde ich sagen, daß er größer war als Bellini, Rossini oder Donizetti. Ja, ich würde sagen, daß er neben Wagner der erste Operndramatiker war.« Die nationale Eigenart des italienischen Komponisten wird natürlich hervorgehoben. Seine Instrumentation findet gebührende Würdigung. (Erwähnt ist u. a. ein vom vollen Orchester wiedergegebener Pianissimo-Effekt und das Lokalkolorit in der Aida.) Nach mancherlei interessanten Bemerkungen weist dann Grieg noch darauf hin, daß Verdi gleich Rossini und ihm im Alter bei der Kirchenmusik anlangte. (Daß er Liszt nicht erwähnt, ist seltsam.) Dabei bekommen, ganz gegen Griegs sonstige Gewohnheit, die Theologen etwas ab: »Es würde mich nicht wundern, wenn gewisse von unsern theologischen Gelehrten darin die Reue eines gepeinigten Gewissens sehen würden für die abscheuliche Sünde, sein Leben der Bühnenkunst gewidmet zu haben.« Daß Grieg die von Wagners Stil beeinflußten Werke des alten Verdi am höchsten stellt, ist insofern nicht konsequent, als die Werke des jungen Verdi eine ungleich stärkere nationale Eigenart aufweisen. Auch eine weit größere musikalische Potenz offenbart sich in ihnen; die letzten Schöpfungen zeigen dafür allerdings ein reicheres Können und einen reiferen Kunstverstand.

Den Virtuosen geht Grieg oft energisch zu Leibe. So heißt es z. B. in einem Briefe an Andreas Winding: »Frau Careño spielte Chopins E-moll-Konzert und Liszts ›Ungarische Phantasie‹ mit Orchester vorzüglich. Aber der Teufel steckt in diesen Virtuosen mit ihrem Bessermachen. Im ersten Teil des Konzertes beliebte es ihr, in den Passagen langsamer zu spielen, so daß das Tempo heidi ging, und im Finale beliebte sie plötzlich das zweite Thema viel langsamer zu nehmen. Auf so etwas müßte Strafe stehen. Und dann tat sie noch groß damit, das war das Schlimmste. Aber da sagte ich ihr meine Meinung und fügte hinzu: ›Nun, Chopin ist ja tot, er hört es nicht!‹ Wenn Weingartner von Tempo-rubato-Dirigenten spricht, so gilt dies im selben Maße für die ausführenden Künstler. Sie leiden alle an der Virtuosen- oder Wichtigkeitskrankheit.«

Wagner ist von Grieg zum ersten Male bei dessen früher erwähntem Besuch in Bayreuth kritisiert worden. »Ohne Wagnerit zu sein, war ich doch schon damals, was ich jetzt bin: ein Anhänger, nein mehr, ein Bannerträger des mächtigen Genius.« In seinen späteren Aufsätzen über Mozart und Schumann äußert sich Grieg sehr viel weniger enthusiastisch über den großen Bayreuther Meister. Der Herausgeber der Zeitschrift, in der diese Artikel erschienen, sah sich deshalb zu der Bemerkung veranlaßt, daß »Grieg in seinen künstlerischen Überzeugungen und Grundsätzen, am ausgeprägtesten aber im patriotischen Gefühl, sich notwendigerweise der Wagnerianischen Propaganda feind befunden« habe. Das wollte nun Grieg nicht auf sich sitzen lassen; er sandte deshalb der »New York Times« eine Erwiderung auf diese Erklärung, in der es heißt: »Meine künstlerischen Überzeugungen und Grundsätze sind in keiner Weise ›der Wagnerianischen Propaganda feind‹. Ich habe die mißlungenen Feldzugspläne der Wagnerianer inbezug auf Schumann und Mozart gebührend beleuchtet, doch ich für meinen Teil mache Propaganda für Wagner, wo immer ichs kann, ohne deshalb ein Anhänger des sogenannten Wagnerismus zu sein. Ich bin, das ist Tatsache, allerdings kein Liebhaber irgendeiner Art ›-ismus‹. Ich bin nichts mehr und nichts weniger als ein Bewunderer Wagners – ein so glühender Bewunderer aber freilich, wie's wohl schwerlich einen größeren geben dürfte.« – Den Tannhäuser hatte sich Grieg in seiner Jugend vierzehnmal angehört; es ist daher nicht erstaunlich, daß wir Erinnerungen an dieses Werk in seinen Kompositionen ziemlich oft finden. Auch alle anderen Musikdramen Wagners lernte er im Laufe der Zeit kennen, und er bedauerte oft, in Norwegen so wenig für ihre Verbreitung tun zu können. Es fehlte an Bühnen, die fähig gewesen wären, Wagners Schöpfungen aufzuführen. So hat denn Grieg wenigstens Bruchstücke aus den ersten Wagnerschen Bühnenwerken zuweilen in seine Konzertprogramme aufgenommen. Die Partituren Wagners bildeten den wichtigsten Bestandteil seiner musikalischen Bibliothek. Zu Troldhaugen befanden sie sich nicht im Musikzimmer seiner Villa, sondern in dem weitab gelegenen Arbeitsraum; Grieg hat sie also beim Komponieren offenbar nicht gern vermißt Besser konnte er die Bedeutung Wagners für sein Schaffen nicht kennzeichnen; besser auch nicht beweisen, daß es keineswegs immer die französische Musik ist, »welche den nordischen Tondichter rettet«.

Hugo Wolf hatte gewiß einen ganz anderen Liederstil als Grieg; das hinderte diesen aber nicht, dem genialen Tonpoeten aufrichtige Anerkennung zu zollen. »Ich kenne Sachen von ihm, welche ich hoch verehre«, schrieb er an seinen Verleger, als dieser ihm die Übersendung einiger Liederhefte in Aussicht stellte. Bei anderen Sachen »konnte« er »nicht mit«. (Der Ausdruck stammt von Ole Bull, der schon bei Beethoven »nicht mitkonnte« und von Wagner sagte, er gehöre wegen seiner fürchterlichen Musik ins Zuchthaus.) An dem tragischen Schicksal Wolfs nahm Grieg wärmsten Anteil, obgleich er ihn nicht persönlich kannte.

Hatte er die Werke eines jungen Komponisten schätzen gelernt, so mühte er sich stets redlich, auch den Menschen liebenswert zu finden, und zeigte ihm, wo er nur konnte, seine Anteilnahme durch die Tat. Sinding, Halfdan Cleve, Borgström und viele andere hat er in selbstloser Weise gefördert. Unzugänglich war er nur unbegabten und zudringlichen Dilettanten gegenüber. Ein solcher überreichte ihm einst sein »Album« mit der Bitte, ihm seine Begabung zu bestätigen. Grieg blätterte in dem Buch und fand einen Ausspruch, in dem der junge Herr über Ole Bull gestellt wurde. Wütend schrieb er darunter: »Ganz meine Meinung, siehe Pred. 9, 4.« Der violinspielende Jüngling eilte hochbeglückt nach Hause, schlug in der Bibel nach und fand dann zu seinem Entsetzen die Worte: »Ein lebendiger Hund ist besser als ein toter Löwe.«

Sich selbst charakterisierte Grieg einmal mit den oft zitierten Worten: »Ich habe die Volksmusik meines Landes aufgezeichnet. In Stil und Formgebung bin ich ein deutscher Romantiker der Schumannschen Schule geblieben; aber zugleich habe ich den reichen Schatz der Volkslieder meines Landes ausgeschöpft und habe aus dieser bisher noch unerforschten Emanation der norwegischen Volksseele eine nationale Kunst zu schaffen versucht.«

Hierzu eine kleine Anekdote: Einst, bei einer Kahnfahrt, schöpfte Grieg ein neues, originelles Motiv aus den Volksgesängen, die um ihn herum erklungen waren. Er nahm schnell ein Blatt Papier, schrieb die Noten nieder und legte das Blatt dann auf die Ruderbank. Ein hinter ihm Sitzender stibitzte es, studierte die Noten und sang dann die Melodie. Grieg drehte sich heftig um und sagte: »Was ist denn das?« »Och, bloß eine Melodie, die mir eben einfiel«. Der Meister schüttelte nachdenklich, fast traurig den Kopf: »Verdammt, grad' eben hatt' ich denselben Gedanken.«


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