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Zehntes Kapitel.
Der Judenmord.

Nach des Schultheißen Tod nahm das Sterben noch drei Wochen lang ganz schrecklich zu. Man grub keine einzelnen Gräber mehr, man machte jeden Tag ein langes, großes Grab, darein wurden die miteinander gelegt, die an einem Tage gestorben waren, oft zwanzig bis dreißig Leichen. Die Menschen wurden hart. Mit herzzerreißendem Flehen riefen Kinder ihre Eltern, Väter und Mütter ihre Söhne und Töchter, ein Gatte den andern um Hilfe an. Vergebens! Da kam im Dezember kurz vor Weihnachten eine starke Kälte, die mehrere Wochen anhielt. Alsbald ließ auch das Sterben nach. Die Dauer der Krankheit bei den einzelnen Befallenen wurde länger, die Heilung trat häufiger ein. Der Februar brachte Tauwetter und milde, feuchte Witterung. Alsbald wuchs die Seuche wieder in unerhörter Weise.

Still hatte Else ihren großen Schmerz getragen. Sie ging noch häufiger zur Messe als früher, aber sie hörte auch gerne zu, wenn ihr Hildegard aus den Evangelien vorlas. Unter dem schweren Druck des allgemeinen Jammers und mit der tiefen Wunde im Herzen, seufzte Frau Else oft: »O, wenn mich doch unser Herrgott holen wollte aus dieser elenden Welt!« Ihr Mann wehrte ihr ernstlich solche Rede und fragte sie, ob sie denn gar nicht an die beiden übrigen Kinder und an ihn denke. Dann weinte Else. Eines Nachts wacht Hartmut auf. Sein Weib neben ihm stöhnt. Er macht Licht und lähmender Schrecken fährt ihm durch die Glieder, als er sieht, daß die Seuche bis in sein Ehebett gekommen. Er eilt hinaus aus der Kammer, weckt von der Galerie aus Hildegard, die alte Barbara, den Uz durch laute Rufe. Als Hildegard bleich und zitternd nur aufs notdürftigste angezogen ans Bett eilt, der Kranken beizustehen, ist es ihr ein Trost, zu finden, daß der Mutter Krankheit nicht zu der schlimmsten Art gehöre. Der Kranken Gesichtszüge waren nicht entstellt, ihr Gesicht war wohl auch aschfahl, aber sie atmete noch ohne Schmerzen der Brust, nur in den Weichen fühlte sie Schmerz, und über ihren trockenen Mund klagte sie. Hildegard hatte Übung bekommen, Pestkranken Erleichterung zu schaffen. Sie that, was sie nur wußte.

Dann, als die Mutter ruhiger geworden war, kleidete sie sich vollends an und wich nicht mehr vom Bett der Kranken. Meister Reinold billigte alles, was Hildegard gethan hatte und sprach auch die Hoffnung aus, die Kranke durchzubringen. Frau Else schlummerte viel. Drei Tage gingen so dahin. Noch waren keine Beulen bei ihr ausgebrochen, noch spuckte sie nicht Blut. So wuchs die Hoffnung der Ihrigen.

Am vierten Tag aber kam eine Wendung. Fieberglut verzehrte die Kranke, das Bewußtsein schwand. Sie redete viel irre. Mit starren, weit aufgerissenen Augen lag sie da und machte heftige Bewegungen mit den Armen. »Fort, fort, Du andere!« schrie sie. »Willst Du meinen Mann unversehrt lassen! Hat Gott vielleicht Dir erlaubt, meinen Mann zu treffen? Du nickst; Du lügst. Fort, fort, sag ich Dir!« Die Kranke wurde wieder ruhiger; sie schlief einige Zeit. Dann kam sie wieder zu sich und schaute um sich. Hildegard war allein an ihrem Bett. »O, das war aber fürchterlich, was ich gesehen habe.« – »Du sprachst im Traum, Mutter, denke nicht mehr daran!«

»Nein, nein, es war nicht bloß ein Traum. Die Pest sah ich, die Pest, von welcher der Vater erzählte, daß sie vor Gottes Thron gestanden. Sie kam von Gott zurück und ging ihren Weg und holte sich Unzählige, sie rief auch mir.« Hildegard schreckte zusammen. Die Mutter fuhr fort: »Du und der Vater, Ihr bliebet zurück. Dann kam aber eine andere Gestalt, die hatte ein noch viel ärgeres Gesicht als die Pest, das war so hart, so scharf, so spitzig, so grausam. Diese Gestalt griff nach dem Vater, sie packte ihn am Arm, sie nahm ihn mit, den armen, armen Vater. O, Hildegard, wenn ich gehe, nicht wahr, bleib beim Vater, schütze ihn!«

»Ach, Mütterlein, red' nicht so! Ich will ja gerne beim Vater bleiben, aber schützen kann ich ihn nicht, schützen kann ihn allein unser Gott.«

Ein heftiger Husten überfiel die Kranke, und nun drang auch bei ihr Blut aus dem Munde. Hildegard rief den Vater. Der Husten ließ nach; mit schwacher Stimme bat die Kranke: »Holt mir den Pfarrherrn Sifrit Busenhart!«

Wie schwer kam's Hildegard an, der Mutter zu sagen, daß der gute Mann im Sarge liege und noch diesen Abend hinausgetragen werde.

»So holt mir einen andern Pfarrherrn!« bat die Kranke.

Bruno eilte hinüber in die Präsenz; er fand niemand als den Kirchherrn, die anderen waren in der ganzen Stadt zerstreut und bedienten die Sterbenden. Bruno bat den Kirchherrn, zur Mutter zu kommen.

»Zu Deiner Mutter komme ich nicht,« gab er kalt und teilnahmslos zur Antwort.

»Ach, sie stirbt vielleicht, kommt doch, ehrwürdiger Herr!«

»Ich betrete Euer Haus nicht. Euer unabwendbar dem göttlichen Fluch verfallenes Haus!«

Bruno knickte zusammen. Er kam und meldete dem Vater, daß der Kirchherr sich weigere, zu kommen. Drinnen aber bat Else flehentlich um die heiligen Sterbesakramente.

Hartmut besann sich nicht lang. Er ging selbst in die Präsenz.

»Kirchherr, nicht ich, den Ihr ja hassen möget, mein Weib vielmehr, mein frommes Weib, bittet Euch um die heiligen Sterbsakramente«, sagte Hartmut, und seine Brust hob und senkte sich dabei mit schweren Atemzügen.

»Auch Eures Weibes Bitte rührt mich nicht. Sie ist dem Priester des Herrn ungehorsam gewesen!«

»Mein Weib den Priestern ungehorsam!« schrie hohnlachend der Ratsherr hinaus. »Gabs denn außerhalb des Klaraklosters eine gehorsamere Magd der Kirche als meine Else!«

»Sie folgte dem Wort des Priesters nicht, als er sie aufforderte, wegzugehen von dem Mann, der sie und die Kinder ins göttliche Gericht hineinziehe. Sie blieb bei ihrem Mann, so mag sie den Fluch ihres Hauses tragen!«

Kurt Hartmut sagte keuchend: »Ist dies Euer letztes Wort, Kirchherr?«

»Mein letztes!«

Der Ratsherr sprang auf den Kirchherrn zu, daß dieser schnell zurücktreten mußte, und stieß mit vorgehaltenen Fäusten die Worte heraus: »Mit diesen meinen Händen könnte ich Dich erwürgen, Pfaffe; verdient hättest Du es, daß Du jetzt alsbald zur Hölle führest. Aber warte nur, Du wirst noch mürbe werden!«

»Wenn nicht Dich, eitler Thor, unser Herrgott vorher so mürbe macht, daß Du wie Zunder auseinanderbrichst,« entgegnete der Kirchherr, der sich nicht mehr vor dem Zornausbruch Hartmuts fürchtete und selbst nun seinerseits den längst verhaltenen Groll losbrechen ließ.

Hartmut eilte heim. Wie wogten in ihm die Gefühle, die Wut über den Priester, das Mitleid mit seiner Frau, die Beschämung, jetzt erst zu erfahren, daß seine Else, die er der Kirche gegenüber für so nachgiebig gehalten hatte, um seinetwillen dem Priester ungehorsam gewesen war.

»Armes Weib, Du wartest vergeblich auf einen Priester, der Kirchherr will nicht kommen. Uz sucht einen anderen Pfarrherrn, ich weiß nicht, ob er einen findet.« Mit diesen Worten hatte sich Hartmut auf die Kniee am Bette niedergelassen. Else stöhnte, Hartmut weinte bitterlich. Was ihm sein Weib gewesen in Liebe und Treue von den Tagen ihres Brautstands an, das stand vor seiner Seele, und nun sollte er sie verlieren! Am Fußende der Bettstelle stand Bruno; er weinte, und in seinem Innern schrie er zu allen Heiligen, daß sie mit ihrer Fürbitte der armen Mutter beistehen möchten.

Hildegard aber, die neben dem knieenden Vater stand, fing mit ihrer sanften, wohltönenden Stimme an: »Mutter, der Priester kommt nicht, aber der Herr Jesus ist da. Du hast oft den Heiland gesucht und angebetet im Altarsakrament; er ist nicht bloß im Sakrament. Er ist bei uns alle Tage bis an der Welt Ende. Die Kirche will jetzt nichts von Dir, aber der Herr Jesus sagt zu Dir: Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht gebe ich euch, wie die Welt giebt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.«

»Hilde, was giebt der Herr Jesus? Sag's noch einmal!« lispelte die Kranke.

»Den Frieden giebt er. Mutter, sieh ihn an, er ist vor Deiner Seele. Er ruft: Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Mutter, Du darfst Frieden haben und darfst im Frieden abscheiden.«

»Hilde, sing mir etwas!« hauchte die Kranke.

Ach, die Bitte war schwer zu erfüllen. Aber Hildegard blickte nach oben, und sich zusammenraffend sang sie zuerst mit zitternder, dann aber immer festerer Stimme ihren Vers:

Wann einst ich sterbe, daß ich nicht verderbe,
Laß mich Dir befohlen sein!
Wanns Herz wird brechen, laß es dann sprechen:
O Jesu, Jesu, Jesu mein!

»O Jesu, Jesu, Jesu mein!« rief laut die Sterbende und hielt die Hände ausgestreckt gen Himmel.

Nach einer Weile rief sie noch einmal: »Die Kinder! die Kinder! Da kommen Anna und Diez! O, im Frieden! im Frieden.«

Noch einigemal bewegten sich die Lippen, dann setzten die Atemzüge immer länger aus; ein liebliches Lächeln glitt über das Gesicht, dann war Frau Else aus dem unendlichen Jammer einer Pestzeit erlöst, und Kurt Hartmut war Witwer.

Hildegard, die während der letzten Augenblicke der Mutter den Atem an sich gehalten hatte, sank nun auch laut aufschluchzend am Bett nieder und weinte bitterlich. Aber bei all ihrem Schmerz tönte in ihrem Herzen das Wort der Mutter wieder: »Im Frieden, im Frieden!« Hildegard wußte, daß die Mutter sterbend sie verstanden habe und sie war überzeugt, daß die Vollendete sie jetzt ganz verstehe.

Wenn einer ein Jahr zuvor gesagt hätte, Kurt Hartmut finde keine Leute, die sein verstorbenes Weib zu Grabe tragen, so hätte jedermann denselben für einen Narren erklärt. Aber der Tag, an welchem Else von hinnen schied, war der ärgste in der ganzen Pestzeit. Starben doch in der Präsenz noch am Abend dieses Tages drei Pfarrherrn jäh weg, nachdem sie von ihren traurigen, mühevollen Gängen zurückgekehrt waren, Ulrich Schnizer, Diez Schenck und Johannes Sontheim, der dickste der Priester. Es kam an jenem Tag eine Erstarrung über die Menschen; die sonst gehorsamsten Diener thaten, wenn ihnen etwas befohlen wurde, als hörten sie nicht. Sogar Uz starrte einigemale seinen Herrn an, ehe er Anstalt machte, auszuführen, was Hartmut befohlen hatte. Uz hatte eben auch noch nie an seinem Herrn ein so verweintes und verstörtes Gesicht gesehen.

So fehlte es, als Frau Else bestattet werden sollte, an Trägern. Da machte sich Hildegard auf in die Rappengasse. Beim Meister Vaihinger war die Pest auch nicht vorübergegangen; zwei seiner Kinder waren gestorben. Aber er selbst war aufrecht geblieben. Ihn bat Hildegard, ob er nicht mit einigen Brüdern die Mutter zu Grabe tragen würde. Er willigte gerne ein, und brachte den Schmied Büttinger und Weingärtner Bobach mit. So kam es, daß Frau Elses zerbrochene Leibeshütte von Uz, dem Knecht, und drei Ketzern zur Grabesruhe getragen wurde. Dem Sarge folgte niemand als Kurt mit Hildegard und Bruno. Die alte Barbara lag zu Hause und schickte sich an, ihrer Herrin im Tode zu folgen. Zu ihr kam noch der Pfarrherr Heinrich Waltz und gab ihr die letzte Ölung.

Nach der Bestattung saß Hartmut an seinem Tisch, ein gebrochener Mann. Die Thränen waren ihm vertrocknet. Er hätte so gerne weiter geweint, aber er konnte nicht.

Zwei Tage nach der Mutter Tod schlich Bruno aus dem öden Haus hinüber in die Präsenz und klopfte an des Kirchherrn Zelle an. Dieser saß am Fenster. Das schnelle Sterben seiner drei Pfarrherrn, das Leerwerden der Präsenz drückte ihn fast zu Boden. Düster sah er Bruno an, und mit hohler Stimme fragte er: »Was willst Du denn wieder?«

»Was muß ich thun,« fragte Bruno mit flehender Stimme, »daß ich dem Fluch entgehe?«

Der Kirchherr schaute den hochaufgewachsenen jungen Mann stechend an und sagte: »Ich habe für Dich keinen anderen Rat als den, den ich Deiner Mutter gegeben habe. Geh aus Deines Vaters Haus, geh weg von dem, der den ganzen Jammer verschuldet hat. Aber Du bist ein Hartmut. Deine Mutter hat mir nicht gehorcht. Du wirst mir auch nicht gehorchen!«

»Ehrwürdiger Vater, sagt, wohin soll ich gehen?«

»Geh in ein Kloster, geh zu einer Bruderschaft, aber vor allem geh, geh fort, soweit wie möglich weg von der Stätte des Fluches!«

»Glaubt Ihr, ehrwürdiger Kirchherr, daß ich mich für die Übrigen opfern, daß ich, wenn ich in ein Kloster gehe, den Fluch vom Hause wegnehmen kann?«

»Gott nimmt gerne Opfer an! Möge das Deinige Gnade vor seinen Augen finden!«

»Ich gehe, ehrwürdiger Vater; ich verlasse unser Haus. Sagt mir zum Abschied nur das eine, daß Ihr mir um meines Namens willen nicht mehr zürnet.«

Der Blick und die Stimme des Kirchherrn wurden freundlicher, als er sagte: »Ziehe mit Gott; mein Segen begleitet Dich.« Mit diesen Worten machte der Kirchherr das Zeichen des Kreuzes.

Am andern Morgen war die Kammer Brunos leer, sein Bett war unberührt. Auf demselben fand Hildegard ein zusammengefaltetes Papier. Mit einem schmerzlichen Aufschrei las sie dasselbe: »Bruno verläßt für immer das verfluchte Haus; er opfert sich für Vater und Schwester.« Den Zettel dem Vater zu geben, das war dem armen Mädchen noch bitterer, als der Augenblick, da sie der Mutter die Augen zudrückte. Hartmut las; mit eisiger Ruhe zerknitterte er den Zettel in seiner Hand und warf ihn ins Kamin. Ohne ein Wort zu sprechen, ging er im Zimmer auf und ab. Plötzlich aber sank er mit einem Schrei auf die Bank am Fenster. Hildegard eilte herzu; sie glaubte nicht anders als der Vater sei nun auch ein Opfer der Pest. Aber nein, Hartmut sprang wieder auf, riß das Fenster gegen die Klostergasse auf und schrie hinüber zur Präsenz: »Seid denn Ihr da drüben unser Herrgott? Nein, nein, Ihr seid's nicht! Fluchet so lange Ihr wollet, ich bin immer noch der Mann, Euren Fluch zu tragen!«

Dann warf er das Fenster zu, daß es klirrte.

Hildegard erbebte vor dem Trotz, vor dem Ungestüm des Vaters. Ihm selbst aber war es eine Erlösung, daß ihn eine Botschaft aufs Rathaus rief. Es war ein Scharwächter gekommen und sagte, es rotten sich vor dem Hause Abrahams, den sie den Würgengel heißen, die Leute zusammen und bedrohen den Juden mit dem Tode.

Hartmut eilte aufs Rathaus. Mit Mühe gelang es ihm, einige Scharwächter zusammenzubringen und hinüberzuführen in die Judengasse. Da tobten allerdings etliche Männer, hinter denen Weiber standen, vor dem Hause des Juden. Als Hartmut mit der Schar näher kam, traten etliche alsbald auf die Seite. Andere warfen noch große Steine gegen die Hausthüre.

»Weg und gebt Ruhe!« rief der Ratsherr gebieterisch.

»Der Jud muß heraus, dem Würgengel wollen wir die Flügel und die Krallen beschneiden!« schrieen etliche der Männer.

»Hat Euch der Jude Unbill zugefügt,« sagte Hartmut, »so bringet es vor dem Gericht an, wie es sich gebührt. Aber in dieser Zeit des Jammers darf nicht auch noch Aufruhr in unserer Stadt sich erheben.«

Die Männer machten keine Anstalt zu weichen. Da gebot Hartmut den Scharwächtern vorzugehen und jeden niederzustechen, der Widerstand leiste. So wurden die Aufrührerischen auseinandergetrieben, nicht ohne daß sie beim Zurückweichen Drohworte gegen den Juden und gegen Hartmut ausstießen. Es war ein schöner heller, warmer Märztag, an dem dies alles geschah. Hartmut hielt sich noch längere Zeit im Rathause aus. Durch die massenhaften Sterbefälle waren der Verwirrungen in den Familien unendlich viel entstanden. Da gabs Erbstreitigkeiten, da kamen Leute und machten Anspruch auf ausgestorbene Häuser, und doch wußte keiner von denen, die Recht suchend aufs Rathaus kamen und Hinterlassenschaften sich aneignen wollten, ob er frei von der Pest auch nur vom Rathaus auf den Marktplatz hinabkommen werde.

Endlich kehrte Hartmut heim; ihn hatte den Tag über beim Treiben und Gebaren der habsüchtigen Menschen ein Ekel erfaßt; er haßte heute die Menschen. So nähert er sich seinem Haus. Er blickt auf; sein Auge muß am steinernen Wahrzeichen des Hauses haften bleiben. Es steigt ihm eine neue Erkenntnis auf, eine entsetzliche. Aber wie klar steht das Erkannte vor ihm! Der Pardel ist die unbarmherzige Gottheit, ist das grausame Schicksal, ist das unvermeidliche Verhängnis. Der Kopf zwischen den Pratzen ist sein Kopf, alles, alles ist ihm ja genommen vom entsetzlichen Untier, nur der Kopf ist ihm gelassen, all das Furchtbare zu fühlen, zu verstehen. O warum zerschmettert das Untier nicht auch noch seinen wissenden, fühlenden Kopf! Aber hat er nicht früher immer vom Steinbild aufgeschaut zum blauen Himmel, an dem die weißen Tauben schwebten? Er blickt hinauf zum Himmel; da schwebt keine Taube. Ja, am äußersten Rand des Firsts sitzt ein weißes Täubchen, zusammengedrückt, krank. Sind doch die Tiere längst auch krank; sind doch seine beiden Pferde gefallen, sein Hühnervolk ist ausgestorben. Er schaut noch auf zum kranken Täublein. Es bewegt sich, will es doch noch auffliegen und ihm helfen, wieder Hoffnung zu fassen? Nein! es zuckt und stürzt tot vor die Füße des Ratsherrn.

Hildegard kommt dem Vater entgegen; sie war so besorgt, daß er so lange nicht heimgekommen, sie bittet ihn, daß er etwas genießen, daß er mit einem Becher Weins sich laben möge. Hartmut giebt der Tochter keine Antwort. Er geht hinauf in die Stube; dort wirft sich der große Mann auf den Boden und fängt an, Schmähungen auszustoßen und zu fluchen dem Tag seiner Geburt, zu fluchen der Macht, die Menschen werden läßt, damit sie elend werden und im Elende untergehen. Hildegard weiß sich nicht zu helfen. Es ist niemand mehr im Hause als der alte Eberhard und Uz. Denn auch den andern Handelsdiener hat die Pest weggerafft. Sie holt den Eberhard, der sieht und hört den Herrn in seinem Wahnsinnsausbruch und rät dann das einzig Richtige, ihn austoben zu lassen und nur aufzumerken, daß er sich nicht schade. Nicht allzulange mußte das arme Mädchen warten. Sie konnte sich dem Vater nähern, konnte, neben seinem Haupte knieend, bitten, er möge sich erheben. Er thut's endlich; langsam, wie träumend und mit unsicheren Schritten läßt er sich an sein Bett führen. Angekleidet fällt er auf dasselbe, und in wenigen Augenblicken ist er eingeschlafen. Wie dankbar ist die Tochter für die ruhigen Atemzüge des Vaters! Sie holt sich einige Kissen und legt sie in die Ecke der Bank; sie will in bequemem Sitz wachen über des Vaters Schlaf. Aber auf einmal ist auch sie eingeschlafen, und nach den furchtbaren Erlebnissen der letzten Tage senkt sich auf ihre müde, matte Seele ein tiefer Schlaf. Der alte Eberhard zieht sich auch zurück in seine Kammer, Uz schließt das Hofthor und legt sich, wie ein treuer Hund, vor der Thüre, die von der Galerie in die Wohnstube führt, auf den Boden. Auch er schläft bald ein.

Schon kam die Morgendämmerung, da fuhr Hildegard fröstelnd zusammen und erwachte. Sie wußte zuerst nicht, wo sie war; sie konnte, durch die unnatürliche Lage steif geworden, kaum ein Glied rühren. Aber sie raffte sich auf und wurde klar; sie freute sich, den Vater immer noch ruhig atmen zu hören. So sehr sie alles Geräusch zu meiden suchte, der Vater wurde doch durch ihre Bewegungen geweckt. Er schaute verwirrt um sich, dann aber kehrte das klare Bewußtsein wieder. »Kind, ich war gestern krank, sehr krank; meine Seele war am Sterben. Aber ich muß weiter leben. Ich bin hungrig; bereite mir ein Frühmahl!« O wie gerne hörte das Hildegard! Wie beeilte sie sich, unter der Beihilfe von Uz dem Vater eine Labung zu schaffen! Wohl war der Vater noch matt, und tiefe Schatten lagen noch um seine Augen, als er sich aufmachte, zum Rathause zu gehen. Aber er war doch ruhig; eine stille Trauer breitete sich über seine Seele aus. Hartmut gürtete sich heute sein Schwert um. Wehmütig lächelnd sagte er zu Hildegard: »Die Pest macht die Menschen wahnsinnig. Gestern schon drohte ein Aufruhr. Es ist nur für alle Fälle.« Hildegard legte sich nach des Vaters Weggang noch einige Zeit auf ihr Bett, bat aber Uz, ihr zu rufen, wenn es Zeit sei, das Mittagsmahl zu rüsten.

Am Nachmittag ging der Meister Reinold in das Haus des reichen Nathan in der Judengasse. Dort hatte die Pest keinen Eingang gefunden. Längst fiel das den Leuten auf, daß von den Juden niemand starb. Schon munkelte man allerlei darüber; mehr und mehr wuchs die Erbitterung gegen die Juden. Als man den Meister in des Juden Haus gehen sah, glaubte jedermann, es sei jetzt die Pest dorthin gedrungen. Aber dem war nicht so. Der Jude hatte dem Arzt einen Boten gesandt, er solle jetzt seine Schuld zahlen; er habe in der letzten Zeit so viel verdient, daß er gut zurückzahlen könne. Das hatte den Meister Reinold wütend gemacht. Wenn einer, so hatte er eine furchtbar anstrengende Zeit gehabt und hatte immer noch bei Tag und Nacht keine Ruhe. Das Vertrauen auf seinen guten Stern hatte ihn nicht getäuscht. Er war immer aufrecht geblieben. Sein Einkommen war natürlich auch größer geworden, aber so lange noch die Pest währte, so lange man ihn von einem Haus zum andern rief, konnte er sich doch nicht, wie der Jude meinte, mit Geldeinnehmen befassen. Je länger aber der Meister Reinold selbst von der Pest verschont blieb, um so mehr hatte der reiche Nathan Angst, der Arzt könne doch noch wegsterben, und sein Geld sei verloren. Darum drängte er den Arzt, und darüber grimmig betrat dieser das Haus des Juden.

Aber an der Treppe stand Rebekka, des Juden Weib, und schrie mit kreischender Stimme: »Nichts da, Meister, nicht Ihr sollt kommen herein in unser Haus, das reine; Euer Geld schicket, Ihr selbst bleibet bei Euren Kranken!«

Auf das Geschrei der Mutter lief auch Rahel herbei und wehrte in ihrem Teile dem Arzte.

»Weg, Ihr Judengeschmeiß!« schrie der Arzt außer sich und zog ein Tuch aus seiner Tasche. »Weg, sag ich, oder ich fahre Euch mit diesem Tuche ins Gesicht, mit dem ich vorhin einem Pestkranken den letzten Schweiß abgewischt habe!«

Das hatte nun zwar der Arzt mit dem Tuche durchaus nicht gethan. Aber die Jüdinnen gaben unter grillendem Geschrei den Weg frei, und der Arzt konnte auf die Thüre zur Geschäftsstube des Nathan zugehen. Das Geschrei von Weib und Tochter hatte Nathan unter die Thüre getrieben. Hinter dem Arzte schrie jetzt Rahel: »Vaterleben, Vaterleben! geh weg vom Meister, er bringt die Pest!«

Der Jude wollte vor dem Arzt die Thüre zuziehen, aber dieser hatte sich schon gegen die Thür gestemmt und drängte sich neben dem entsetzten Nathan in die Stube hinein. Dort streckte der Wucherer beide Arme abwehrend weit aus und schrie: »Bleibt mir weg vom Leibe! Da auf den Tisch legt Euer Geld, mein gutes Geld, aber von mir bleibt weg!«

»Könnt Ihr nicht warten, Jude?« schrie jetzt zornglühend der Arzt. »Müßt Ihr mir den Schimpf anthun und einen Boten schicken?«

»Wie soll ich sonst kommen zu meinem Geld? Weiß doch keiner in dieser Zeit, ob sein Schuldner nicht stirbt an der Pest?«

»Kann nicht auch der Gläubiger sterben? Und was hat er dann von seinem zusammengescharrten Geld?«

Trotz der Angst zog bei der Frage des Meisters einen Augenblick ein triumphierendes Lächeln über das Gesicht des kleinen Juden. Er murmelte vor sich hin: »Die Gläubiger sterben nicht an der Pest, der Gott Israels schützt sein armes Volk.« Dann fuhr er lauter fort: »Ich will jetzt mein Geld, und wenn ich es nicht bekomme, so gehe ich auf das Rathaus und lasse pfänden Euer Roß.«

»Das wirst Du nicht thun, Nathan, wenn Dir Dein Leben lieb ist,« sagte mit schneidendem Ton der Arzt und fuhr fort: »Nathan, ich will Dir etwas sagen. Ich setze alle Tage und alle Stunden mein Leben aufs Spiel, um in diesen schrecklichen Zeiten den Menschen zu helfen und damit das Geld zu verdienen, das ich Dir zurückzahlen soll. Dein Haus ist von der Pest verschont geblieben. Du darfst wohl froh sein. Gut, so gieb Dich zufrieden damit, daß ich Dir soviel zurückzahle, als Du mir gegeben hast, Zins aber zahle ich keinen. Wäre ich gestorben – jedermann dachte, daß ich sterben werde – Du hättest ja keinen Pfennig bekommen. Bist Du damit zufrieden?«

»Nein, nein! ich armer Mann, ich geschlagener Mann! Wie kann ich das thun, ich würde mich ja versündigen an meinen Kindern!«

»Jude, ich frage zum letztenmal, willst Du Dich begnügen mit dem, was ich Dir anbiete?« rief mit rotem Gesicht und zornfunkelnden Augen der Arzt.

»Weh, Meister, weh geschrieen! Ich kann es nicht!«

»Du wirst's bereuen!« sagte Meister Reinold und verließ die Stube des Wucherers. Isaak, der Sohn, der dem Vater gerne zu Hilfe geeilt wäre, wenn er sich nicht vor dem Tuche gefürchtet hätte, von dem Mutter und Schwester ihm sagten, schaute zum Fenster hinaus, als der Arzt auf die Gasse trat. Drunten standen viele Leute, aufgeregte Männer, aber auch Weiber und Kinder.

»Meister«, ruft laut der Schuhmacher Eyrer, der dem Juden ziemlich viel schuldete und in der letzten Zeit von ihm auch gedrängt worden war, »Meister, sagt, ist's wahr, daß der Nathan die Pest hat?«

»Nein,« lachte voll Hohn der Arzt, »Juden bekommen die Pest nicht!«

»Warum nicht? warum nicht?« rufen viele Stimmen. Der Arzt wird in unheimlicher Weise umringt. »Wir wollen wissen, warum der schwarze Tod zu den Juden nicht kommt, Meister, Ihr wißt es, heraus damit!« Drohender umgiebt ihn die Menge. Er zuckt mit den Achseln. Da leuchtet es in ihm auf wie ein Schwefelfaden, in der Hölle entzündet. Er bleibt stehen, wehrt die Drängenden ab und sagt auf das Haus Imlins, der zuerst an der Pest gestorben war, deutend: »Dort wohnte Imlin, das da ist des Nathan Haus, und hier steht der Brunnen, aus dem Nathan niemals trinkt, Imlin aber sein Wasser holte.«

Das dreimalige Deuten des Meisters sah Isaak, und das Wutgeheul, das jetzt von der Menge ausgestoßen wurde, es scholl nicht bloß dröhnend an Isaaks Ohren, es erfüllte das ganze Judenhaus, daß es zitterte.

»Hört Ihr's, der Meister hat es gesagt. Die Juden haben die Brunnen vergiftet! Die Juden haben die Brunnen vergiftet! Schlagt sie tot, die Giftmischer, schlagt sie tot, die Halsabschneider! Keiner darf am Leben bleiben!«

Wie das Volk so brüllt, hätte Meister Reinold gern seine rechte Hand sich dafür abhauen lassen, daß er seine ihm entfahrenen Worte wieder hätte zurücknehmen können. Aber diesen Sturm kann ein einzelner Mensch nicht mehr stillen. Und hätte er auch alles zurückgenommen, niemand hätte es ihm geglaubt. Der Volkswahnsinn war entfesselt.

»Äxte her, wir schlagen die Hausthüre ein!« schrieen die einen; »Leitern her! wir steigen oben ein!« brüllten die andern.

Isaak hat den Seinigen noch zugerufen, sie sollen sich flüchten. Während unter den Axthieben der Wütenden die Hausthüre mit Krachen hereinbricht, entkam Isaak durch den Hof. Erstarrung aber läßt seine Eltern und seine Schwester nicht von der Stelle kommen. Im Augenblick sind die ersten, die ins Haus gedrungen sind, oben und zerren die Schreienden die Treppe herab, hinaus vors Haus.

»Schlagt sie tot! Schlagt sie tot! Wie schäbige Katzen schlagt sie tot!« schreien alle zusammen.

Eine Axt blinkt in der Luft und blutüberströmt sinkt mit eingeschlagenem Schädel des Juden Weib zu Boden und ist nach wenigen Zuckungen eine Leiche. Nathan und Rahel fallen über die Tote her, aber schon haben sie rohe Fäuste wieder aufgerissen, schon werden über ihren Häuptern die Äxte geschwungen.

Da brüllt ein riesengroßer Weingärtner, Fritz Bruße: »Halt, nur nicht so schnell! Hat uns denn der Halsabschneider da unser Geld auf einmal abgenommen? Herausgepreßt hat er uns das Geld, langsam herausgepreßt. Darum in die Kelter mit dem Judenpack, in die Kelter, zu Tod müssen sie gequetscht werden, ausgepreßt müssen sie werden!«

Wie wenn alle Teufel aus der Hölle losgelassen worden wären, so tobte, so johlte die Menge Beifall zu diesem Vorschlag. »Unter den Kelterbaum mit ihnen, unter den größten, in den Adelberger Hof! Judenbrühe muß einmal laufen, anstatt des Weins. Heiah! Was gilt die Maß?!«

Nathan war ohnmächtig zusammengesunken, deshalb schleiften ihn die Rasenden an den Beinen über die Straße. Dem Judenmädchen hatten sie schon die Kleider halb vom Leibe gerissen. Unter Stoßen, Puffen, Zerren wurde sie hinter dem Vater drein getrieben.

Das greuliche Schreien, Toben und Lärmen war bis in die Rappengasse gedrungen. Dort war Hildegard in dem Hause des Meisters Vaihinger, dessen Frau am Tage nach der Mutter Beerdigung von der Pest befallen worden war. Hildegard pflegte sie und freute sich, daß bei ihr es der Heilung entgegengehe. Wie sie das Geschrei hört, denkt sie an das, was der Vater ihr vom drohenden Aufruhr gesagt hat, und erschrickt. Aber wenn es so ist, daß die Leute sich empören und der Vater im Kampf ist mit der Menge, will sie ihm zur Seite sein. Sie nimmt Abschied von der Kranken und ihrem Mann und ist in wenig Augenblicken in der Sülmergasse. Sie kommt in dem Augenblick dort an, als die Menge mit ihren Opfern in die Adelberger Gasse einbiegt. Eines Jünglings Wagemut erfüllt plötzlich ihr Herz. Sie drängt sich durch. Das jüdische Mädchen erkennt sie. »Hildegard, Hartmuts Tochter, helft! rettet!« schreit diese mit der Kraft der Verzweiflung.

Der Name Hartmut macht, daß die Menge einen Augenblick still hält.

»Welchen Frevel beginnt Ihr! laßt ab, laßt dieses Mädchen los!« ruft Hildegard. Hoch aufgerichtet steht sie da, ihre Augen blitzen.

»Was geht Dich das an, Dirne«, schreit sie der Weingärtner Bruße an. »Es ist des Hartmuts Tochter!« sagen einige. »Was frage ich nach Hartmut?« brüllte der rasende Weingärtner. »Warum hat er uns nicht vor der Pest behütet? Warum hat er uns nicht vor den Händen des Halsabschneiders bewahrt? Fort, zur Kelter mit den Juden!«

»Zur Kelter, zur Kelter!« tobte die Menge.

Hildegard suchte sich gegen den Strom zu stemmen, aber sie wurde mitgedrängt und mitgeschoben, hinein in den Adelberger Hof. Dort war eine große Kelter. Schon stürmten jüngere Leute hinein und rissen die Kufen und Fässer, die auf der feiernden Kelter das Jahr hindurch lagerten, weg. Schon drehen mit Johlen und mit Brüllen andere durch die Spindel den Baum in die Höhe. Nathan war zu sich gekommen; sie hatten ihn emporgerissen. »Hinein mit ihm in die Kelter!« schrieen die Rasenden.

Hildegard drängte sich noch einmal vor. Man suchte sie zurückzuhalten; man packte sie unsanft. Ihr Haargeflecht wurde aufgelöst. Aber sie kam doch bis zur Kelter. Auf den Vorsprung eines der Balken, auf denen die Kelter ruhte, steigt sie. Marmorweiß war ihr Angesicht, umrahmt von den dunklen aufgelösten Haaren, ein ergreifender Anblick!

Mit ausgestreckten Armen und mit aller Kraft ihrer Stimme rief sie: »Um Eurer ewigen Seligkeit willen, laßt ab von diesem Frevel!«

Mit hervorgequollenen Augen, mit aufgedunsenem Gesicht schrie Bruße: »Hinein mit den Juden, und wenn die Hexe nicht weggeht, so schmeißt sie mit hinein!«

Sie wälzen schon den Leib Nathans in die Presse sie drücken und drängen, heben und stoßen die Tochter hinein, und schon strecken sie ihre Hände aus nach Hartmuts Tochter, da ruft diese so laut, daß es alles Toben übertönt: »Herr Jesu, bewahre die, welche sich Christen nennen, vor solch unsagbar schmachvollem Frevel!«

Ihrem Aufschrei folgte hinten in der zuschauenden Menge ein anderer, ein Schmerzensschrei.

Kurt Hartmut hatte das Toben in der Judengasse drüben auf dem Rathause gehört. Er hatte die Scharwächter zu sich genommen. Bis er in die Judengasse kam, war diese beinahe leer; nur etliche Kinder standen mit neugierigen und doch entsetzten Gesichtern um die blutige Leiche der Jüdin. Hartmut folgt dem Geschrei und Toben der Menge. Er langt am Adelberger Hof an; er begehrt, daß man ihm Platz mache; man hört ihn nicht, oder man will ihn nicht hören, lüsterne Grausamkeit will jetzt befriedigt werden.

»Macht Platz!« ruft Hartmut noch einmal. Niemand weicht, da schlägt er mit dem Schwert einen toll johlenden jungen Menschen über die Schulter. Dieser stieß den wütenden Schmerzensschrei aus.

Nun weicht die Menge; Hartmut sieht, in welcher Gefahr seine Tochter schwebt. Durch, durch zu ihr! Hinter ihm drein, nach rechts und links mit den Schäften der Hellebarden stoßend, die Scharwächter.

Bruße, der Weingärtner, einem wütenden Stiere ähnlicher als einem Menschen, drängt sich, eine Hebelstange in den Händen schwingend, zwischen seine Opfer und den, der sie befreien will. »Weg, Ratsherrlein! Heute thun wir, was wir wollen!«

»Da hast Du die Antwort,« rief Hartmut, unterlief mit rascher Wendung den Wütenden und stieß ihm das Schwert in den Hals, so daß er auf der Stelle blutüberströmt umsank. »Wer nicht alsbald umkehrt und heimgeht, folgt dem Bruße nach!« schrie Hartmut.

»Schlagt ihn tot mit samt seiner Tochter, der Hexe!« war die Antwort der Menge. Aber nur wenige hatten Äxte; andere Waffen hatten die so schnell Zusammengelaufenen nicht. Die Widerspenstigen wurden überwältigt, nachdem noch einige die Schärfe des Schwerts des Ratsherrn und der Hellebarden der Scharwächter am eigenen Leibe erprobt hatten.

Als sich Hartmut endlich zu seiner Tochter wenden konnte, war diese ohnmächtig über den Rand der Kelter gesunken und lag so nun wirklich neben denen, die sie hatte retten dürfen. Bald waren alle drei wieder zum Bewußtsein gekommen.

»Nathan«, sagte Hartmut, »bei der unsinnigen Wut der Menge giebt es für Euch keine andere Rettung, als daß Ihr von der Stadt weg fliehet, soweit als Euch die Füße tragen. Kommen die Rasenden bewaffnet wieder, so kann ich Euch nicht mehr schützen.« Hildegard eilte zu Meister Vaihinger und bat dort um einige Kleidungsstücke für Rahel. Bald darauf wankte der noch völlig betäubte Jude mit seiner halb ohnmächtigen Tochter auf der Weinsberger Straße dahin. Kurt Hartmut hatte die Unglücklichen mit seinen Scharwächtern bis vor das Sülmerthor geleitet.

Nach einer Stunde aber tobte in der Judengasse ein Aufstand, dem gegenüber die Obrigkeit völlig machtlos war. Sämtliche Judenhäuser wurden gestürmt. Die Weingärtner, die Handwerker, sie trugen alle Wehr und Waffen. Die Scharwächter weigerten sich, gegen die Menge vorzugehen; sie hätten am liebsten bei der Verfolgung mitgeholfen. Alle Juden, deren die Menge habhaft werden konnte, wurden in das Haus, das an der Ecke der Sülmer- und Judengasse stand, in welchem die Juden ihre Schule hatten, geschleppt. Dann, als die, welche Henker auf eigene Faust waren, glaubten, alle zu haben, ließen sie Reisach und Holz um das Haus her aufschichten und zündeten es an. Oben schrieen, dem Flammentod preisgegeben, die Opfer unmenschlichen Wahnglaubens, und unten tanzte, wie wenn das Geschrei der Sterbenden eine lustige Musik wäre, eine rasende Menge.

Am Abend dieses Greueltages war kein lebendiger Jude mehr in Heilbronn. Die Judenhäuser waren alle geplündert, die Schuldscheine alle verbrannt. Der Arzt, Meister Reinold, brauchte sich nicht mehr zu besinnen, wie er dem »reichen« Nathan sein Geld heimzahlen könne.


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