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Fünftes Capitel.

Indessen schien der Doctor durchaus nicht neugierig, zu erfahren, um was es sich handelte. Um die Frau Mama nicht – so viel war klar. Also hatte die Uelzen das Geheimniß ausgeplaudert. Lebrecht hatte sich nicht umsonst gefürchtet, hatte nicht übertrieben: sie war empört über den Affront, so man ihren erlauchten Ahnen mütterlicherseits angethan, ihr selbst angethan, unter den Augen gleichsam der geborenen von Klüngel-Pütz, die ein vertracter Zufall nun herführte, der Schmach ihrer Tochter zu assistiren. Auch daß so urplötzlich ein alter Bekannter, ein langjähriger Freund des Hauses, sich eingestellt, schien sie sehr erschreckt zu haben. Natürlich! es war ja ein classischer Zeuge mehr der grausamen Unbill! Und jetzt wollte sie ihrem von Scham und Gram erfüllten Herzen Luft machen gegen den Freund, da sie es gegen den Gatten nicht wagte; es vielleicht nicht einmal der Mühe werth hielt, dem Verachteten ihre Verachtung zu zeigen; war sie doch während der ganzen vorhergegangenen Scene ein Muster ehelicher Kühle und Zurückhaltung gewesen! Aber sie mochte nur mit dem Doctor Adalbert Bertram anbinden! er verstand es, Teufel auszutreiben, er! unter anderen auch den Hochmuthsteufel! Sie sollte ihm nur kommen!

Während der Doctor mit jedem langen Schritte, den er auf und ab durch das Zimmer that, immer weiter in den Irrweg gerieth, auf welchen ihn freundschaftlicher Eifer und der felsenfeste Glaube an die Unfehlbarkeit seiner Beobachtungsgabe verlockt hatten, war dem armen Aennchen längst der Verzweiflungsmuth erloschen. Was hatte sie gethan? was gewollt? Dem finsteren, unheimlichen Manne die Qualen beichten, die sie erduldet, seitdem sie dieses Haus betreten – in immer steigendem Maße, daß ihr Herz die Angst nicht mehr zu fassen vermochte? Die gräßliche Angst vor einem Gräßlichen, das sie nicht zu denken wagte, das sie nicht dachte – nein! nein! das sie von sich rang wie ein Träumender den Alp, der sich auf ihn wälzt. Das ja auch gewiß nur ein entsetzlicher Traum war, aus dem sie erwachen würde, wenn sie nur einmal aufschreien, um Hilfe rufen könnte! Hilfe! Hilfe!

Aber es kam nicht über ihre zuckenden Lippen; statt dessen sagte Jemand – sie mußte es wohl selber sein, blos daß die Stimme wie eines fremden Menschen Stimme war und von dem Ende des Gemaches zu kommen schien:

Es ist nicht wegen meiner Mutter – es ist wegen Lebrecht, der so – eigen, so – verstimmt ist – die ganze letzte Zeit – und heute Abend – auf der langen Fahrt – und jetzt hier – eben noch – meine Eltern – mein guter alter Vater – er hat ihn immer so gern gehabt – so gern – sie haben so oft darüber gescherzt – warum – warum –

Die fremde Stimme schwieg vor einem Schluchzen; aber das Schluchzen kam aus ihrer Brust, und das waren ihre Thränen, die durch die Finger rieselten, welche sie, im Sessel sich vornüber biegend, gegen die brennenden Augen drückte.

Der Doctor betrachtete erstaunt die zusammengesunkene Gestalt. Wußte sie wirklich nichts? Das doppelte, zitternde Warum klang wahrlich nicht wie einer Wissenden, noch weniger wie einer Zürnenden. War die junge schöne Dame nur von der langen Fahrt so nervös? durch das wunderliche Betragen ihres Lebrecht verstimmt, beunruhigt? verlangte sie nur nach einer Erklärung, die ihr die Uelzen nicht gegeben? die er –

Aber er, der sich doch, wie es sehr den Anschein hatte, noch eben so stark geirrt, wollte diesmal einen sichereren Grund. Er sagte:

Warum Lebrecht Ihnen die scheinbar so geringfügige Gefälligkeit mit der Bowle nicht erwiesen? wünschen Sie das zu wissen, gnädige Frau?

Sie nickte: Ja, ja – auch das!

Auch das? also sonst nichts?

Nein! nein! sagte das geängstete Aennchen, die Finger krampfhaft ineinander pressend, mit starren Augen zu dem Doctor emporblickend.

Sollte er es ihr sagen? die Gelegenheit war günstig; sie schien weich, erschüttert; fürchtete vielleicht, daß Lebrecht seinen ihr unerklärlichen Mißmuth auch an den Eltern auslassen werde; die Eltern zu ihrem Staunen und Schrecken die junge Ehe bereits von geheimnißvollen Wolken getrübt finden möchten; und er konnte sagen: das ist es! und nun fliege deinem Lebrecht entgegen, wenn er zurückkommt, und flüstere ihm mit einem Kusse in die Ohren: ich weiß Alles! und du wirst sehen, wie er im Nu wieder der alte Lebrecht ist!

Nein! er konnte es nicht sagen! Hatte Lebrecht sich in dies Netz verstrickt wie ein täppischer Löwe: er mußte auch die Kraft haben, die Bande zu zerreißen, durfte seine Rettung keiner hilfreichen Maus verdanken. Das wäre ein schlechter Freundschaftsdienst, den er ihm da leistete! Die Liebe verzeiht viel, Feigheit verzeiht sie nicht. Und dies, das leider Gottes nah' genug an Feigheit grenzte oder schon Feigheit war, blieb es in den Augen dieser schönen jungen vornehmen Frau in alle Ewigkeit, wenn er Lebrecht die Chance nahm, den eklen Wurm mit dem eigenen Fuße zu zertreten.

Aber das konnte er: ihr den eklen Wurm zeigen, wie er den Augen Lebrecht's erschienen war: ein greulicher Drache! er konnte versuchen, sie auf Lebrecht's Standpunkt zu stellen; ihr vor dem Ungethüm den nöthigen Respect einzuflößen! das konnte er und – das wollte er.

Er legte Hut und Stock wieder auf den Tisch, setzte sich Aennchen gegenüber in einen der niedrigen Fauteuils und sagte, sich die hochragenden spitzen Kniee langsam mit den flachen Händen reibend, die glitzernden Brillengläser starr auf die Geängstete gerichtet:

Ich weiß nicht, ob Ihnen aus der englischen Lectüre – Tauchnitz Edition, gnädige Frau – ein Ausdruck bekannt ist, der nicht selten vorkommt – besonders bei Thackeray – nebenbei auch einer meiner Heiligen: The Skeleton in the house – das Skelet im Hause?

Aennchen zuckte zusammen; aber der wunderliche Mann lächelte ja zu der unheimlichen Frage. Wie hätte er lächeln können, wenn es sich nicht um einen seiner seltsamen Scherze handelte? Sie antwortete auf gut Glück:

Ich erinnere mich, den Ausdruck gelesen zu haben, und daß ich keinen rechten Begriff damit zu verbinden wußte.

Das ist es eben, sagte der Doctor, noch entschiedener lächelnd; ein Begriff muß bei dem Worte sein; vorerst aber folgen wir Mephisto's Rath und halten uns am Worte. Skelet, Madame, Skelet – das tönt so schauerlich in Laienohren. Natürlich! Das Skelet ist das, was übrig bleibt, nachdem das schöne blühende Fleisch wieder Erde geworden; das Ende vom Liede, so zu sagen; und klingt das Lied auch nicht ergötzlich – vom Ende will man doch nichts wissen; und wenn ein genialer junger Wüstling seinen Champagner aus einem Todtenschädel trinkt, so ist es schließlich Renommage, oder ein prickelnder Reiz mehr auf der lebensgierigen Zunge. Meinen Sie nicht?

Es mag sein, flüsterte Aennchen.

Es ist, glauben Sie mir! Und übrigens ist die Sache ja so weit ganz einfach, dem Kinderverstand faßlich: der Tod ist eben nirgends und niemals ein willkommener Gast, und so liebt man denn auch sein grinsendes Conterfei nicht besonders; findet doch aber an ihm da, wo es hingehört, nicht weiter etwas Ungehöriges; macht höchstens, wenn man zufällig Hamlet ist und den Schädel Jorik's in der Hand hält, einige melancholische, den Werth des Lebens stark discreditirende Glossen.

Nehmen wir aber an, Madame, der witzige Prinz wäre am Leben geblieben und König und noch fetter und witziger geworden, sollte ihm der Humor doch wohl nicht ausgegangen sein, so oft er später eine gewisse Treppe im Schlosse zu passiren hatte, trotzdem ein bekannter geschwätziger alter Herr längst seine legitime Ruhestätte auf dem Père-Lachaise von Helsingör Le Cimetière du Père-Lachaise ist der größte Friedhof von Paris und zugleich die erste als Parkfriedhof angelegte Begräbnisstelle der Welt, mithin so etwas wie die »Mutter aller Friedhöfe«. - Auf Schloss Kronborg, einer Festung in Helsingør auf der dänischen Insel Seeland, siedelte Shakespeare die Handlung seines Schauspiels »Hamlet« an. gefunden? Ein Skelet auf dem Kirchhofe, Madame, ist so harmlos wie eine Ratte im Kellernest oder wie ein Degen in der Scheide; aber ein Skelet unter der Hintertreppe – das ist wie eine Ratte hinter den Tapeten; heraus den Degen und todt für einen Dukaten! Sie begreifen das, Madame?

Gewiß, gewiß! murmelte das arme Aennchen.

Wie sollten Sie auch nicht! Ihr Damen habt ja ein so feines Gefühl für das Schickliche; eine falsch placirte Schleife – ein Band, dessen Farbe zu der Eures Kleides nicht stimmt – dergleichen Kleinigkeiten können Euch schon zur Verzweiflung bringen, und nun gar ein Skelet unter der Hintertreppe – fi donc! Und noch ein Anderes wird Ihrem Scharfsinn nicht entgangen sein, nämlich: daß der Gegenstand des Schreckens in dem obigen Falle gar nicht mehr vorhanden war und, füge ich sofort hinzu: in keinem Falle mehr vorhanden zu sein braucht, wenn er nur überhaupt einmal da war; ja, ich gehe weiter: keineswegs immer ein osteologisches, vielleicht nicht einmal ein sinnenfälliges Object ist, so wenig wie der mathematische Punkt, den auch noch kein sterbliches Auge erblickt hat, und um den sich doch die ganze Welt dreht. Sie sind keine Mathematikerin, Madame? Nein? thut nichts, wir treiben ja hier keine Mathematik, sondern Moral, Aesthetik – wenn Sie wollen, in denen uns die Frauen immer über sind, wie sie denn auch in unserem Capitel eine große Rolle spielen. Halten Sie nur den Punkt fest, Madame, den Punkt, welchen wir durch ein einziges Epitheton zu qualificiren brauchen, um sofort, als Probe gleichsam zu unserem Exempel, die denkbar beste Uebersetzung des englischen Ausdrucks zu gewinnen: wir haben den dunklen Punkt.

Der Doctor hatte die Brille abgenommen und putzte die Gläser mit seinem gelbseidenen Taschentuche. Das würde für das arme Aennchen eine große Erleichterung gewesen sein, da der unheimliche Mann so wenigstens die Hände von den Knieen lassen mußte; nur daß er mit den starrenden, graugrünen, an den Lidern gerötheten Augen noch entschiedener einem Wahnsinnigen glich. Hatte sie es mit einem wirklich Wahnsinnigen zu thun, der seine Tollheiten nur, um sich sprechen zu hören, vor ihr auskramte? war in diesem Unsinn ein schauerlicher Sinn, den er nicht gerade heraussagen mochte? den sie herausfinden sollte? Sie wollte ihm zurufen: sprich es aus! aber es war, als wenn ihr der Mund verschlossen sei; und da hatte der umheimliche Mann auch bereits wieder das gelbseidene Tuch in der Tasche und die Brille auf der Habichtsnase; die flachen Hände rieben wieder geschäftig auf den spitzen Knieen; um seinen Mund spielte wieder das diabolische Lächeln, und er fuhr fort zu sprechen mit jener wunderbaren Schnelligkeit, in der zwischen den sich überstürzenden Worten keine kleinste Pause für Besinnen, ja kaum für Athemholen zu sein schien:

Aber die beste Übersetzung, Madame, deckt selten das Original: es sagt bald zu viel, bald zu wenig; in unserem Falle zu viel. Unser liebes metaphorisches Skelet ist freilich immer ein dunkler Punkt; aber weitaus nicht jeder dunkle Punkt ein Skelet. Ein dunkler Punkt findet sich in jeder individuellen Existenz; ja, das betreffende Individuum kann froh sein, wenn es nicht mehrfach punktirt ist, und ich habe Leute gekannt, die so tätowirt waren wie ein neuseeländischer Häuptling; – da ist auch keine Familie, die nicht ihren dunklen Punkt hätte: einen Sohn, der durchaus Wechsel reiten muß; eine Tochter, die mit dem Musiklehrer durchgeht, und was dergleichen mehr ist; aber das Alles verhält sich zu dem eigentlichen Skelet wie acute Krankheiten zu chronischen. Das Skelet ist ein chronisches, conservatives, ja noch mehr: es ist ein ausschließlich aristokratisches Leiden. Ihm genügt, um völlig auszureifen, ein Menschenleben nicht; es braucht schlechterdings Generationen–Generationen, Madame, mit ununterbrochener historischer Tradition. Können wir uns nun noch wundern, daß die Krankheit zuerst in England beobachtet, studirt, classificirt und benamt wurde – in England, dem Lande der Erbweisheit und der traditionellen Narrethei, der Erbtugenden und Erblaster, der wurmstichigen alten Stammbäume und der alten, rattendurchrasselten Häuser? daß man in England die interessante Entdeckung machte: es müsse jedes Skelet ein altes Haus, und umgekehrt, jedes alte Haus ein Skelet haben?

Der Doctor hatte während dieser letzten Worte die Brillengläser so tief gesenkt, daß Aennchen's Gesicht für ihn über den Rändern auftauchte. Es war bleich, vielleicht noch ein wenig bleicher als zuvor; aber, wie es ihm in seinem Uebereifer schien, keineswegs mit dem Ausdruck der Angst, kaum der gespannten Erwartung. – Du sollst mich hören stärker beschwören, Verszeile aus Goethe, Faust I, Studierzimmer (Szene 3). dachte der Doctor und fuhr fort:

Es geht eine schauerliche Sage, Madame, daß es Zeiten gegeben, in denen man den zweiten Theil unserer These wörtlich nahm und ein unschuldig Kind in das Fundament eines neuen Hauses, das ein altes werden sollte, einmauerte. Obgleich ich nun dem grausam-bornirten Mittelalter alles mögliche Scheußliche zutraue, so will ich doch zur Ehre der Menschheit annehmen, daß sich dies nun und nimmer begeben, wir es vielmehr hier mit einem Stück der Poesie des Volkes zu thun haben, welches in seiner Weise für eine oft beobachtete Erfahrung einen symbolischen Ausdruck suchte.

Die Erfahrung aber war, daß selten oder nie ein Haus alt und – was in unserem Sinne gleichbedeutend ist – reich und mächtig wurde, wenn sich nicht zuvor Jemand fand, der ihm seine Unschuld zum Opfer brachte oder – es logischer auszudrücken – eine Schuld auf sich lud. Vielleicht nicht in seinem Sinne! Der biderbe Ritter, dem seine Cabane über dem Kopf zusammenfiel, mochte es für ganz in der Ordnung halten, daß er seinen Gaul sattelte und so lange in den Büschen an den Landstraßen herumklepperte, bis er sich aus den in das Burgverließ heruntergelassenen und dort in Goldbeutel verwandelten Pfeffersäcken ein zweifelsohne reinliches Grafenschloß in Gottes Namen erbauen durfte. – Der würdige Kämmerling, der seinem jungen feurigen Gebieter einen souveränen Einfall nur auf Kosten seiner Familienehre erfüllen konnte, that es gewiß nur in usum Delphini, das heißt: zu Nutz und Frommen seiner lieben Enkelchen, die doch auch leben wollten und, so Gott wollte, noch besser leben sollten wie der gute alte gefällige Großpapa!

Aber die lieben Enkelchen, Madame! Danken Sie, wie es sich gebührte, dem guten Großpapa das Opfer, das er Ihnen gebracht? Nun ja; sie bauen eine Kapelle über der Stätte, wo einst die Pfeffersäcke in die Modernacht des Burgverließes hinabgelassen wurden; aber die Schwachnervigen können in der Kapelle nicht trauen oder taufen lassen, ohne daran zu denken, daß unter den Steinplatten, auf denen sie knieen, das Skelet des Hauses liegt; – man nimmt auch vielleicht das Porträt des tochteropfernden Agamemnon aus der Reihe der Ahnenbilder, weil die Geschichte doch gar zu gräßlich geendet; aber so oft man in dem alten Saale tanzt – durch das Quinquiliren der Geigen und das Schnarren der Bässe klappert ganz vernehmlich das Skelet, das da hinter dem dicken Goldbrokat in die Wand eingemauert ist. Sie blicken nach der Uhr, Madame, es ist etwas über ein Viertel auf zehn, und da fährt eben Lebrecht erst aus dem Hofthor – es donnert immer fürchterlich in der engen Gasse – Lebrecht sollte sie wirklich macadamisiren Der Begriff Makadam bezeichnet eine spezielle Bauweise von Straßen, bei der drei Schichten mit jeweils unterschiedlich großen, gebrochenen und gut verdichteten Gesteinskörnungen den Straßenoberbau bilden. Diese Bauweise wurde von dem schottischen Erfinder John Loudon McAdam zu Beginn des 19. Jh. entwickelt; erst mit dem Aufkommen von Motorfahrzeugen wurde es durch den entstehenden Unterdruck nötig, die Schichten mit Teer zu binden. lassen – Sie sehen, wir haben einen Ocean von Zeit, und ich möchte Ihnen gar zu gern noch einige Exemplare aus meiner Skeletsammlung zeigen, die vielleicht die allerinteressantesten sind, obgleich sie sich an romantischem Schauder mit jenen ersten nicht messen können, vielleicht sogar eines humoristischen Anstrichs nicht ganz ermangeln. – Nehmen wir zum Beispiel folgenden Fall: da ist ein großes, großes Kaufmannshaus, das seine Verbindungen über alle Länder der bewohnten Erde spannt, dessen Schiffe auf allen Meeren segeln, das nur noch mit Hunderttausenden rechnet, und dieses große, große Haus hat in einem Seitenflügel – Sie meinen: ein Kaufmannshaus könne kein Skelet haben? Ich bitte Sie, das ist eine gänzlich falsche Ansicht, welche ich der geborenen Aristokratin zu Gute halte, und zu der ich vielleicht durch meine schiefe Darstellung der Sache Veranlassung gegeben. Denken Sie doch an die königlichen Kaufleute des Mittelalters, an die Fugger, an die Welser! und die anderen, die sich wahrlich in ihren Stadt-Palästen den adeligen Schnapphähnen auf ihren Raubnestern gleich achteten! Und so ein altes Haus braucht ja nicht einmal ein Palast zu sein; es braucht nur lange genug zu stehen und von einer und derselben Familie bewohnt zu werden, einer Familie von Aerzten, sagen wir, um ein Beispiel aus meinem Berufe zu nehmen. Schon der Großvater war Arzt gewesen, der Vater selbstverständlich, der Sohn ist es wieder. Aber der Urgroßvater, der das große Haus erbaute, war seines Zeichens Barbier, und weil er besagtes Haus gleichsam auf seinem Barbierbecken aufgebaut, hat er in seinem Testament verordnet, daß besagtes Becken nicht nur als Wahrzeichen an der sichtbarsten Stelle der Fronte auf ewige Zeiten prange, sondern auch, daß die Barbierstube niemals eingehe, im Gegentheil fortrasirt werde bis an das Ende aller Dinge, und daß jeder seiner Nachkommen und Erben, bei Strafe des Verlustes des ganzen reichen Hauses und seiner reichen Kundschaft, und wenn er zehnmal doctor medicinae und wenn er Aeskulap in Person wäre, das Barbiergeschäft in seinem Namen fortführen, ja eine Lehrzeit, und wäre es nur von vier Wochen, durchgemacht und das urgroßväterliche Messer geschwungen haben muß. Ahnen Sie wohl, Madame, wie dem Manne – einem der ersten seines Faches zu Muthe ist, mit einem Kopfe voll weltumfassender Speculationen und dem Barbierbecken im Wappen? – dem Becken, über das er in seinem Leben unzählige Stichelreden hat hören müssen, das ihm positiv den Zutritt zu gewissen ansehnlichen Corporationen, in die sein Ehrgeiz strebte, unmöglich gemacht, und in seine Seele – sonst die Offenheit und Bravheit selbst – das Gift des Mißtrauens, ja der Feigheit geflößt hat?

Zum ersten Male in seiner langen Rede machte der Doctor eine wirkliche Pause; er hatte sogar aufgehört, die Kniee zu reiben, und starrte, den langen Hals weit vornüber gebogen, auf Aennchen, einer Antwort harrend, irgend einer Aeußerung, die bewies, daß sie ihn verstanden, daß sie wenigstens ahnte, worauf er hinaus wollte.

Verzeihen Sie, stammelte Aennchen; aber ich glaube, ich werde mich einmal draußen umsehen müssen.

Dem Doctor war wie Jemand, der gegen eine verschlossene Thür rennt, wo er eine offene wähnte. – Er, der seinerseits verlangte, daß die junge Frau Alles begreifen solle – seine versteckten Anspielungen, seine tollkühnen Uebergänge, seine halsbrechenden Bilder – er begriff nicht, daß sie seine letzten Worte kaum noch gehört und ganz gewiß nicht verstanden; daß sie in diesem Augenblicke nur noch einen Wunsch hatte: aus einer Situation zu kommen, von der sie fühlte, daß sie dieselbe nicht länger ertragen könne. Für ihn war sie einfach die verwöhnte junge Dame, die stolze Prinzessin, die, in ihrem Siegeswagen auf glatter Bahn daherrollend, – man mag sagen, was man will, – sich keine Vorstellung von den Gruben machen kann, welche ein tückisches Geschick für andere Sterbliche gräbt, die auf der holperigen Erde herumlaufen müssen.

Und mit diesem Gedanken, der ihm blitzschnell durch die Seele schoß, stürzte eine heiße Blutwelle über sein Gehirn, und von dem Gehirn in's Herz; und aus dem Herzen wallte es auf wie feuriger Haß gegen dies junge, schöne, stolze Geschöpf, das nur hierhergekommen war, seinem geliebten Lebrecht Ruhe und Frieden für immer zu rauben, in dies alte Haus Unglück und Verderben für alle Zukunft zu bringen. Wenn er ihr das sagte?

Es fehlte nur ein Weniges, und der leidenschaftliche Mann hätte es gethan. Und nun schlug die Gewalt, die er sich anthun mußte, um nicht in Worten loszubrechen, welche keine Mißdeutung zugelassen haben würden, auf seinen Humor, wie ein Reiter im Unmuth dem Gaul die Sporen in die Flanken haut, daß der über Hecken und Gräben fortrast.

Nur einen Augenblick, Madame, rief er; nur so lange, bis ich Ihnen gesagt, welche Rolle denn die lieben Weiberchen in dieser Pathologie der Haus-Skelets spielen! Und so vernehmen Sie denn, Madame, daß sie, die Huldinnen mit den sammetweichen unschuldigen Rehaugen und den weißen beringten Nixenhänden – nur zu oft – fast immer – die Gelegenheitsursache zum Ausbruche des Leidens sind; daß sie vor allen Dingen das Moment sind, welches erst das Leiden bösartig und gefährlich macht – und, was sonst noch passabel leicht ertragen werden würde, bis zum Unerträglichen steigert. Denn für den ursprünglichen Besitzer umwittert das Skelet doch immer der Hauch des Altersgrauen, das dem Menschen bekanntlich heilig ist; und oft genug hat er's in seinem eigenen Blut und Knochen, und so mag's denn da bleiben, schon einfach deshalb, weil er's gar nicht wegbringen könnte, vielleicht nicht einmal missen möchte, wie Philoktet seine Wunde, an die er sich gewöhnt und auf die er sein Leben, Denken, Fühlen eingerichtet hat. Bon!

Und nun kommt die junge Frau in's Haus! Sie ist nicht unser Fleisch und Blut; sie weiß nicht, wie das Skelet an unserem Fleische zwackt, in unserem Blute rast; sie findet nur, daß es ein greulich oder lächerlich Ding ist, um so greulicher, je lächerlicher es ist. Sie hat keine Pietät vor dem Skelet – sie fürchtet sich nur vor ihm; sie hat kein Mitleiden mit dem Skelet – sie schämt sich seiner nur.

Und das, Madame, ist noch der beste, der allerbeste Fall, und wohl dem jungen Manne, der klug genug und beherzt genug war, vor der Hochzeit zu sagen: unter der und der Treppe, hinter der und der Tapetenwand liegt das Skelet meines Hauses; und so und so ist es beschaffen, und nun heirathe mich, wenn du den Muth hast!

Minder loyal, aber immer klug genug, wird der schlaue Blaubart handeln, der in einer Schäferstunde, so en passant, auf das Skelet zu sprechen kommt. Es habe freilich nicht so viel auf sich, doch wolle er immerhin die reizende Phyllis, wenn sie erst Frau Blaubart sei, bei Gefahr ihres süßen Lebens warnen, ihr neugieriges Näschen in das betreffende Zimmer zu stecken, das übrigens in dem und dem Thurme liege, und dies sei der Schlüssel dazu und der Schlüssel sei von achtzehnkarätigem Gold! Denn sehen Sie, Madame, wenn nun die junge Dame nicht hören will und spielt so lange mit dem goldenen Schlüssel, bis die Thür eines schönen Tages aufspringt, und sie fängt in ihrem Schrecken an über den greulichen Anblick zu lamentiren und dem lieben Manne das Leben sauer zu machen – ei nun! Blaubart hat seinen Hegel studirt: die Strafe ist das Recht des Unrechts, und – herunter mit dem hübschen unvorsichtigen Köpfchen!

Aber, Madame, der tausend-, zehntausendmal schlimmere, der allerschlimmste und geradezu tödtliche Fall ist, wenn die gute Phyllis nichts weiß, nichts ahnt, weil sie nicht Augen hat, zu sehen, nicht Ohren, zu hören, und bittet nun den lieben Mann, ihr doch den Silberschatz zu zeigen, den famosen Silberschatz in dem alten Wandschrank, zu dem er den Schlüssel verloren. Und der liebe Mann, der sich ganz richtig sagt, daß die Sache doch einmal zur Sprache kommen muß, sperrt den Schrank auf: und nun! der Schatz des Hauses, er ist wohl da und funkelt und glänzt! auf dem Schatze aber sitzt das Skelet und klappert und grinst: Viel schönen Gruß, herztausiges Lieb! Du und ich, wir gehören fein zusammen, denn du weißt doch wohl, daß du mich mit dem alten Hause geheirathet hast.

Und wie der Doctor, plötzlich aufspringend und mit der dürren, weit ausgestreckten Hand deutend, also in seinen greulichsten Kehltönen schrie, fuhr ein Windstoß um das Haus, der es in seinen Grundfesten zu erschüttern schien. Der Sturm mochte eine Spalte in einem der klappernden Fenster gefunden haben: ein fürchterlicher, heulender, wimmernder Ton schmetterte durch das Gemach, und in den schmetternden Ton gellte ein Schrei –

Aennchen hatte ihn ausgestoßen; sie stand – ein Bild des Entsetzens – mit zuckenden bleichen Lippen und gerungenen Händen vor dem Doctor. Um Gottes Barmherzigkeit! was ist in dem Schrank?

Je nun, sagte der Doctor; ich hatte bereits die Ehre zu bemerken: die famose Bowle et cetera, inclusive des Skelets.

Er machte eine seiner grotesken Verbeugungen und bewegte sich nach Hut und Stock an der Thür, als er sich plötzlich von einer zitternden Hand am Arme ergriffen fühlte.

Ich – ich – vorhin die Frau Uelzen – und dann dort durch die Thür – Ihre letzten Worte: er solle mir Alles sagen – es ist – handelt es sich um Hans Fliederbusch?

Der Doctor fuhr sich mit der flachen Hand an die Stirn.

Was hatte er gethan? die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit, daß die Uelzen mittlerweile geplaudert haben könne – den Factor, welchen er vorhin Lebrecht als einen sehr wesentlichen selber vorgerechnet, – aus seiner eigenen Calculation weggelassen, als wäre er nicht vorhanden! Und seine letzten so verrätherischen Worte hatte sie auch gehört! War das Geheimniß verrathen? Unmöglich; sie hätte ihre Frage anders gestellt, hätte sie nicht in dieser ungeheuren Angst gethan. Der Himmel mochte wissen, mit welcher abenteuerlichen Geschichte die alte Schwätzerin ihr den Kopf verrückt! War es klug gethan, ihr den Kopf zurecht zu rücken? war es nicht klüger, sie in dem Dunkel, das über des Hans' Flucht lag, noch eine Zeit lang weiter tappen zu lassen? das Dunkel wo möglich noch zu verdichten, so daß ihr die Entdeckung des wirklichen Geheimnisses hernach wie ein Sonnenstrahl erschien?

Ja, ja! sagte er, der Hans Fliederbusch, der tolle Junge – da Sie es doch einmal wissen, er hat uns rechte Sorge gemacht – macht sie uns noch. Das Genick wird er sich nun wohl schwerlich gebrochen haben; aber wer ertrinkt, ist gleichfalls todt. War freilich eine Katze, – junge Katzen ersaufen nicht so schnell. Wir müssen es eben abwarten, wir müssen es abwarten!

Und der Doctor streichelte, da er nicht an die Kniee gelangen konnte, zur Abwechselung das lange hagere Kinn mit den langen hageren Fingern.

So ist Hans Fliederbusch nicht – nicht das Skelet?

Ich habe ihn noch nicht darauf hin untersucht – indessen – was nicht ist, kann ja noch werden; ich sagte Ihnen bereits: so ein richtiges Skelet braucht Zeit, viel Zeit.

Was ist es denn?

Ja, gnädige Frau, wenn ich Ihnen das sagen dürfte oder wollte, hätte ich es Ihnen schon längst gesagt. Ein Arzt, wissen Sie, muß in diesen Dingen sehr entschiedene Grundsätze haben; ich mische mich niemals in Familienangelegenheiten; und so viel muß Ihnen doch aus meinem Vortrag klar geworden sein, daß ein Skelet eine allerintimste Familienangelegenheit ist. Dazu sind Sie – ich meine Sie und Lebrecht – in dem zuletzt erwähnten, allerschlimmsten, allerdelicatesten Fall, der durch das unbefugte Hineintappen eines Dritten leicht einen verhängnißvollen Ausgang nehmen kann. Ich werde mich hüten, dieser Dritte zu sein. Lebrecht wird die Vorstellung schon selbst übernehmen. Vorläufig hat ihm mit dem Schlüssel zu dem alten Schrank da auch noch der rechte Muth gefehlt. Hoffen wir, daß er Beides – Schlüssel und Muth – im rechten Augenblicke wiederfindet.

Ich – ich habe den Schlüssel!

Sie – Sie haben – und das sagen Sie jetzt? sagen Sie mir? haben Sie Lebrecht verschwiegen? Und Lebrecht macht Ihnen ein Geheimniß aus einer Sache, zu der Sie den Schlüssel – meiner Treu, das ist die lustigste Geschichte, die mir in langer Zeit vorgekommen!

Und der Doctor lachte, lachte laut – nur daß es mehr wie das heisere Krähen eines alten Hahnes als wie Menschenlachen klang.

Eine hohe Gluth schoß in Aennchen's Wangen bis hinauf in die feinen Schläfen, und, die langen Wimpern tief auf die brennenden Wangen senkend, mit leiser zitternder Stimme, die erst allmählig fester wurde, sagte sie:

Es ist sehr unrecht von mir – ich weiß es; aber es sollte ein Scherz sein – ich schwöre es Ihnen – in Verona – ich glaube, es war in Verona – vor der Abreise – Lebrecht war noch einmal ausgegangen – ich wollte aus seinem Koffer – ein Reisehandbuch, das wir vermißten und von dem ich meinte, er müßte es im Koffer haben. Ich konnte es nicht finden, nahm zuletzt alle Sachen heraus und auf dem Grunde – fand ich den Schlüssel – in ein Taschentuch geschlagen. Ich schwöre Ihnen: es sollte ein Scherz sein – ich wollte ihn fragen – gelegentlich – ob –

Ob das der Schlüssel zu seinem Herzen sei? fragte der Doctor mit einem theilnahmvollen Blick in das schöne junge verschämte Gesicht.

Ja – ja –

Und daß er den Schlüssel künftig besser hüten solle?

Ja – ja –

Sie sehen, ich verstehe mich auch ein wenig auf Herzensangelegenheiten; weiter! aber setzen wir uns wieder! es spricht sich wirklich besser.

Er bot der Zitternden mit einer wunderlichen Grandezza den Arm und führte sie zu dem Sessel am Kamin, seinen alten Platz ihr gegenüber einnehmend. Seine Stimme war nicht mehr höhnisch,

wie bisher; seine Miene nicht mehr sarkastisch; auch ließ er die Hände ruhig auf den Knieen.

Sie wollten ihm den Schlüssel wiedergeben, sobald Sie hierher kamen?

Ja, ja – und hatte ihn deshalb in mein Köfferchen gelegt, ihn gleich bei der Hand zu haben, und ihn dann vergessen – ich war während der ganzen letzten Zeit – Lebrecht's Wesen machte mir so viel Sorge – er war oft so düster, so zerstreut, wie abwesend – ich glaubte, er –

Ein paar große Thränen quollen unter den dunklen Lidern hervor –

Liebte Sie nicht, wie Sie es wünschten; wie – Sie es verdienten?

Der Doctor hatte Aennchen's Hand ergriffen und gedrückt.

Ich habe so große Qualen ausgestanden, sagte Aennchen schluchzend; ich fragte mich immer, was ich gethan haben könne, seine Liebe zu verscherzen. Nein, nein – er liebt mich ja – nicht wahr? er liebt mich? aber er war nicht glücklich, und ich war es, die ihn unglücklich gemacht! Noch vorhin, als ich drüben war, ehe die Uelzen kam – ich saß am Kamin, wie hier – da habe ich mir Alles, Alles wieder durchgedacht und immer nur der eine schreckliche Gedanke: du machst ihn nicht glücklich! du wirst es nie vermögen! Dann kam die Frau Uelzen – und sprach und sprach – ich hörte kaum hin, bis sie – ich weiß nicht, wie es geschah – von dem Abend erzählte vor Lebrecht's Abreise; wie sie aus der Küche –

Den Streit gehört und so weiter; ich kann mir denken, wie die Alte das Püppchen geknetet und zugerichtet. Und dabei fiel Ihnen der Schlüssel ein?

Sie hatte so viel von dem Schranke gesprochen und –

Dem Unsinn, welchen die Leute davon fabeln. Sie glaubten das doch nicht?

Nein, aber ich fand es so häßlich – so gräßlich; und ich wunderte mich, daß mir Lebrecht so gar nichts mitgetheilt, gewiß nur, um mich nicht zu ängstigen; aber es wäre doch besser gewesen. Ich wollte mich darüber freuen, daß ich nun einen Grund zu seiner Verstimmung hätte, aber ich konnte mich nicht freuen; mein Herz blieb beklommen – ich wußte nicht warum. Ich nahm den Schlüssel heraus, ihn Lebrecht zu geben – die Uelzen hatte gesagt, daß er den Schlüssel zu dem Wandschrank verloren, und ich war überzeugt, daß es eben dieser Schlüssel war. Dann kam ich durch die Zimmer da – an jene Thür – Herr Doctor, Herr Doctor, haben Sie Mitleid mit mir! was soll mir Lebrecht Alles sagen? was ist in jenem Schrank?

Sie war von ihrem Sessel herabgeglitten zu seinen Füßen, die Hände über dem schönen Busen gefaltet, die großen, braunen, thränenüberströmten Augen flehend zu ihm aufgehoben. Durch des seltsamen Mannes leidenschaftliches Herz fluthete ein heißer Strom. Sie war so schön, so traumhaft schön, wie der Gestalten eine, die sein trunkenes Auge sah in nächtlichen Stunden, wenn die Muse mit leichter Götterhand seine pochenden Schläfen berührte! War es nicht wirklich eingetroffen, was er noch eben erst Lebrecht gesagt: sie wird in ihren Herzensnöthen sich zu anderen Männern wenden! – Sollte er den Thoren in sein Verderben rennen lassen? sollte er –

Er hatte längst die Hingesunkene aufgehoben, in ihren Sessel zurückgedrückt und trat nun, nachdem er mit seinen allerlängsten Schritten durch das Gemach gegangen, zu ihr.

Sehen Sie, vielschöne Frau, ich wollte diesen meinen Finger – nein, das kann ich nicht – von Berufs wegen – aber ich wollte viel, sehr viel darum geben, wäre Lebrecht der kluge Mann aus Nummer Eins meiner Liste gewesen und hätte Sie zur rechten Zeit von seinen Geheimnissen unterrichtet. Ich fürchte, diese rechte Zeit ist vorüber. Wie dem aber auch sei: er und er allein muß es Ihnen sagen; ich darf es nicht, und Sie sind viel zu klug und fein, um die täppische Rolle der neugierigen Blaubarts-Frau zu spielen. Was das Skelet selbst betrifft, so gehört es allerdings zu der letzten, durch ihre Lächerlichkeit greulichsten Kategorie. Und was den dummen Hans angeht –

Es handelt sich für mich nur um ihn, sagte Aennchen schnell und ängstlich. Wenn Sie mich versichern können, daß nichts daran ist – die Leute reden ja so furchtbare Dinge –

Geschwätz, gnädige Frau, Geschwätz!

Aber daß sie es dürfen! und sie dürfen es, so lange der junge Mann verschwunden bleibt. O, mein Gott, wenn er es bliebe! wenn er todt wäre! die gräßliche Begebenheit nie aufgeklärt würde, der entsetzliche Verdacht – man verdächtigt ihn ja! ich habe es herausgehört aus den wirren Reden der Haushälterin –

Die alte dumme Person!

Und als Sie vorhin von Herrn von Frank gesprochen – Sie thaten es nicht absichtslos – Sie wollten Lebrecht warnen –

Aber, gnädige Frau, warnen? wovor?

Vor den Machinationen des Mannes, der – den ich tödtlich beleidigt habe, der mir, der Lebrecht Rache geschworen hat, und der sich rächen wird, wo und wie er kann.

Das wußte ich nicht, sagte der Doctor, aber es erklärt mir Manches – Manches. Was ist es, wenn ich fragen darf? oder lassen Sie's auch; ich sehe, daß es Ihnen peinlich ist.

Nein, nein! rief Aennchen, Sie müssen es wissen; ich bin vielleicht – gewiß zu hart gewesen, aber der häßliche Mensch – sie waren Lebrecht Alle so feindlich gesinnt – mein Vetter Arthur und die Anderen, und besonders Herr von Frank – und Lebrecht – er ließ sich nichts merken – er ist zu stolz dazu; aber ich sah es doch, wie er wohl wußte, daß sie hinter seinem Rücken sich Scherze erlaubten – über seinen Namen, der ja auch nicht schön ist – und ich fürchtete stündlich, er würde doch einmal losbrechen – denn er kann sehr zornig sein – und man sagte mir, daß ein Gedicht existirte – von Herrn von Frank – eine Freundin –

Natürlich! sagte der Doctor.

Es war abscheulich – nach Heine's Loreley und endigte:

»Das hat Herr Lebrecht Nudel, der König von Woldom gethan –«

ich war außer mir – ich benutzte die erste Gelegenheit – auf dem Dampfschiff – ich trat auf ihn zu und sagte –

Nur zu, gnädige Frau! ich gönne es ihm im Voraus.

Ich sagte: man soll sich vor dem Gezeichneten hüten, aber auch der Gezeichnete mag sich hüten – die Könige haben einen langen Arm –

Prachtvoll! und der so doppelt Gezeichnete?

Ich hatte ihm keine Zeit zu einer Antwort gelassen; aber durch die Freundin erfuhr ich, daß er einen schrecklichen Eid gethan, es mir heimzuzahlen, und nun muß ihn das Unglück hierher führen – in diesem Augenblick, wo meine Eltern – meine armen Eltern – mein guter Papa – wenn er davon erführe – und der Assessor wird dafür sorgen – es wird einen so häßlichen Eindruck auf den Papa machen, daß Lebrecht den Schrank nicht öffnen will – wird er es nicht thun, wenn ich sage, daß ich den Schlüssel habe? wird er es nicht?

Der Doctor rieb sich die Kniee.

Es ist eine bedenkliche Frage, sagte er; Lebrecht hat unzweifelhaft Ihren Herrn Vater schon darauf vorbereitet, daß heute Abend nicht mehr aus der Königsbowle getrunken werden kann; er würde in eine arge Verlegenheit gerathen, und ich möchte seine Verlegenheit, die ohnehin nur schon zu groß ist, nicht noch vermehren. Auch Sie, gnädige Frau, haben – aus einer Scheu, die ich begreife – den rechten Augenblick verpaßt. Wenn wir den Schlüssel verloren sein ließen, der überdies – nach meiner innigsten Ueberzeugung – in dieser fatalen Angelegenheit, moralisch genommen, nur eine symbolische Rolle spielt. Der wahre Schlüssel ist ein ganz anderer, und den kann Lebrecht – und ich hoffe zu Gott! – er wird ihn – spät, aber für die wahre Liebe, die ja Alles duldet und Alles verzeiht, nicht zu spät finden. Sie haben den Schlüssel bei sich?

Ja, sagte Aennchen zögernd.

Ich will Ihnen einen Vorschlag machen: geben Sie ihn mir!

Hier ist er.

Aennchen griff in die Tasche und zog den Schlüssel in dem Tuche hervor; der Doctor, der nur den Schlüssel wollte, schlug das Tuch auseinander und war im Begriff, dasselbe an Aennchen zu geben, als er plötzlich die bereits ausgestreckte Hand wieder zurückzog und das Tuch hastig zu dem Schlüssel in die Seitentasche seines Rockes steckte.

Ist das Blut?

Aennchen hatte es so leise gesagt; es schien ein Wunder fast, daß es der Doctor gehört; auch hatte er es ihr wirklich nur von den bleichen, zitternden Lippen ablesen können, weil in demselben Moment dieselbe Frage durch seine Seele zuckte.

Das könnte nur eine chemische Analyse feststellen, sagte er, den Rock zuknöpfend und sich erhebend.

Es ist Blut! sagte Aennchen, wie gebrochen in ihren Stuhl zusammensinkend.

Der Doctor blickte von seiner Höhe mitleidsvoll auf die zusammengesunkene Gestalt.

Und wenn es wäre, sagte er langsam, und was auch geschehen, das vielleicht niemals ganz aufgeklärt wird, weil selbst Lebrecht – ich hoffe es, so wahr ich sein Freund bin – nur den Anfang, aber nicht das Ende kennt – der böse Wille ist es, der den Verbrecher macht, nicht die That – so kann denn in den Augen der Freundschaft Lebrecht niemals ein Verbrecher sein – wäre er es – könnte er es jemals in den Augen der Liebe werden?

Nie! nie! nie! rief Aennchen, die Finger ineinander pressend.

Was auch geschehen?

Ich liebe ihn! ich liebe ihn!

Und Gott segne Sie!

Der Doctor machte einen Schritt und blieb wieder stehen. Ich weiß, er wird es. Fassen Sie Muth. Die Ehe war im Mittelalter denen versagt, die sich dem Teufel ergaben, denn »die Liebe«, sagt Wolfram von Eschenbach, »ist allenthalben, außer in der Hölle«; die Ehe aber ist der Liebe höchste Reinheit, und wer in ihrem Lichte wandelt, geht den Weg zur Heiligung. Nur, daß Gott seine Heiligen oft wunderbar führt. Der Liebende möchte die Maienluft noch sänftigen für die Geliebte, und sie trotzt um seinetwillen dem herbstlichen Sturm und geht für ihn, wenn's sein muß, durch Feuer und Wasser. Noch einmal: ich hoffe, es wird nicht sein müssen. Und noch einmal: Gott segne Sie!

Das Geräusch der Thür mahnte Aennchen erst daran, daß der Doctor sie verlassen. Sie fuhr in die Höhe; sie hätte ihm den Schlüssel nicht geben sollen! – Sie wollte ihn zurückrufen, sie stürzte nach einer Thür, aber die führte in den Speisesaal; und als sie die nach dem Flur erreicht und geöffnet, war es zu spät. Eben schlug unten die Hausthür mit einem Krachen zu, das wie dumpfer Donner in dem weiten Raum wiederhallte. Dann wurde es still. Und sie, mit wankenden Knieen an den Pfosten sich lehnend, horchte, klopfenden Herzens, athemlos, in die Stille hinaus und murmelte noch einmal: Ich hätte ihm den Schlüssel nicht geben sollen!



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