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Spartakiade

 

Die Dynamo schmilzt

Gegen Ende Mai war unsere bevorzugte Lage in Medgora ziemlich gefestigt, soweit bei dem wechselreichen Sowjetschicksal überhaupt davon die Rede sein kann. Ich begann sicher zu werden, daß unsere Flucht, mindestens die Flucht aus dem Lager, bestimmt gelingen wird. Eine Zeitlang drohte einige Gefahr von der Kultur- und Erziehungsabteilung, die ziemlich bald dahinterkam, daß Honigkocher nur eine dekorative Rolle spielte und daß es nicht rentabel sei, ihm dreihundert Rubel zu zahlen, wenn man mir nur dreißig zu zahlen brauchte. Diese jedoch beseitigte ich auf recht einfache Weise: ich verleitete die Dynamo zum Bau eines neuen Stadions, was nicht schwerfiel, da das alte nicht mehr zu gebrauchen war. Ich suchte einen Platz hinter dem Verwaltungsstädtchen aus und fertigte die Pläne an. Zum Bau selbst trieb man täglich aus dem Strafisolator hundertfünfzig bis zweihundert Urkis zusammen und beorderte von den Waldarbeiten drei Traktoren. – Jetzt begriff die KEA, daß die Dynamo mich auf keinen Fall abgeben werde. Kurzum, es gab an der Front nichts Neues.

Dann, im Laufe von ungefähr drei Tagen, war diese ganze Gemütlichkeit von allen Seiten erschüttert, und vor uns stand – zum wievielten Male schon! – die Gefahr einer völligen Katastrophe.

Das Ganze nahm von meinen Aufstellungen der Fußballspieler seinen Anfang. Chlebnikow hatte recht: außer den Terroristen war unter der Sportjugend des Lagers niemand ausfindig zu machen. Gollmann verlangte immer nachdrücklicher die Einreichung der Aufstellungen, weil die betreffenden Menschen in die WOCHR versetzt werden mußten. Nachdem ich alle Möglichkeiten erschöpft hatte, ging ich zu Honigkocher und sagte ihm, daß er mir eine Abkommandierung zu den anderen Abteilungen verschaffen solle, da ich hier alles herausgesucht hätte, was zu finden gewesen wäre.

»Ja, ja«, sprudelte Honigkocher hervor, »alles Kleinigkeiten … Über diese Aufstellungen sprechen Sie vorläufig mit niemand. Sie verstehen, damit diskreditieren Sie nur sich selbst. (Selbstverständlich verstand ich es.) … Fahre jetzt nach Moskau, bin in fünf Tagen zurück, und dann richten wir ein alles in bester Form.«

Auf welche Weise man »alles in bester Form« einrichten konnte, davon hatte ich keine Ahnung. Außerdem sah Honigkocher irgendwie spitzbübisch-zerstreut aus. Er fuhr ab, und nach drei Tagen kam aus Moskau das Telegramm:

»Nach Medgora komme nicht zurück stop sendet Sachen per Adresse Dynamo Moskau stop Honigkocher.«

So verschwand der Großkombinator vom Horizont Medgoras. Es verbreitete sich das Gerücht, daß die Spitze der Zentralverwaltung der Dynamo Schiebungen und Durchstechereien in astronomischen Ausmaßen betrieben hatte, man sprach über die völlige Liquidation der Dynamo in Verbindung mit der Einverleibung der GPU in das Volkskommissariat des Innern.

Nebenbei etwas über die Einverleibung. Im Lager kam sie nur durch ein einziges Ereignis zum Ausdruck. Auf einem Triumphbogen am Eingang zum Unterlager 1 prangten die aus Furnierholz ausgeschnittenen Buchstaben: BBK GPU. Es kamen Zimmerleute und nahmen die Buchstaben GPU ab und befestigten dafür die Buchstaben NKWD Volkskommissariat des Innern.. Die Lagerinsassen tummelten umher und versuchten, die neue Buchstabenkombination zu enträtseln. Doch war keine dieser Enträtselungen druckfähig. Sonst rief die Liquidation der GPU keinerlei Änderungen und Kommentar hervor: im Lager saßen nur vernünftige Menschen.

Fast gleichzeitig mit Honigkocher fuhr auch Radetzky nach Moskau ab; ich hatte den Verdacht, daß Honigkocher sich bei ihm einnisten wollte, da er ein neues Amt bekommen sollte. Ich blieb, sozusagen, von Angesicht zu Angesicht allein mit Gollmann. Ein nicht besonders angenehmes Tête à tête.

Die Frage mit den Aufstellungen stellte Gollmann in Form eines Ultimatums. Ich antwortete mit der Bitte um Abkommandierung nach Norden und zeigte meine Aufstellungen; es blieb auch nichts anderes übrig.

»Hat denn Honigkocher Ihnen darüber nichts gesagt?« fragte ich unschuldsvoll. Gollmann sah die Aufstellungen aufmerksam durch und richtete sein prüfendes, aktivistisches Auge auf mich.

»Sie haben Pech, Genosse Solonewitsch, mit der Politik im Sport. Lassen Sie lieber die Sache fallen!«

»Welche Sache?«

»Beide. Sowohl die Politik als auch den Sport.«

»Mit Politik befasse ich mich nicht.«

Gollmann sah mich mit einem tückischen Lächeln an und sagte dann trocken:

»Lassen Sie die Aufstellungen hier. Wir werden's schon aufklären. Ich rufe Sie später … Einstweilen!«

Die Worte: »aufklären«, »ich rufe« und »einstweilen« ließen nichts Gutes ahnen. Am anderen Tage wurde ich tatsächlich zu Gollmann gerufen. Die Unterredung war kurz und offiziell: die KEA bestehe auf meine Mitarbeit und er, Gollmann, sei damit einverstanden. In Anbetracht dessen werde ich zur Verfügung der KEA abkommandiert, allerdings müsse ich mich gleichzeitig mit der Arbeit bei der KEA verpflichten, den Bau des Stadions zu Ende zu führen.

Ich atmete erleichtert auf. Gollmann hatte zu mir dieselben aktivistischen »Gefühle« wie Starodubzeff, nur etwas mehr verfeinert. Er verstand immerhin, daß es sich kaum lohnen würde, mich besonders zu unterdrücken. Doch konnten diese Gefühle unerwartet auch anders zum Ausdruck kommen.

Über die Aufstellungen der Fußballer sprachen Gollmann und ich kein Wort.

 

Unterredung mit Genosse Korsun

Die Kultur- und Erziehungsabteilung des BBK war hier ungefähr dasselbe wie in der Freiheit die gleichen Abteilungen der Berufsverbände. Durch die Korridore der KEA pendelten mit äußerst geschäftigem Aussehen allerhand Bibarbeiter, Musarbeiter, Agitproparbeiter Abkürzungen für Bibliotheks-, Musik-, Agitations- und Propagandamitarbeiter. – pendelte auch ich. Und das mit gleichem geschäftigem Aussehen; denn etwas anderes zu tun gab es bestimmt nicht. Während eines dieser Spaziergänge von Zimmer zu Zimmer stieß ich im Korridor der KEA auf Korsun.

»Ach, Genosse Solonewitsch … Was wollte ich mit Ihnen besprechen? Ist mir entfallen, zum Teufel … Na, kommen Sie mit zu mir, vielleicht komme ich darauf.«

Wir gingen in sein Zimmer und setzten uns. Das Kabinett Korsuns war mit Photobildern behangen, die den Heroismus des Weißmeer-Ostsee-Kanalbaues darstellten, darunter auch Photobilder von den besonders gründlich umgeschmiedeten Oberudarniki, und unter diesen prangte das Bild jenes feierlichen Augenblicks, wo Genosse Korsun auf der Bühne des Klubs die Besten der Besten auszeichnete, dieselben, die nach der Feier sich zum Torgsin begaben, um »einen zu heben«, dazu schöne Sachen zu essen und etwas Valuta zu ergattern.

Ich wandte meine Augen von diesem Bild und begegnete dem ironisch-gutmütigen Blick Korsuns, der offensichtlich von meinem Rat wußte, den ich Smirnow neulich erteilte.

»Wie mir scheint, haben Sie eine gründliche Erfahrung auf dem Gebiete der Kulturarbeit.«

Ich antwortete bejahend.

»Sie wissen aber kaum, worin der prinzipielle Unterschied zwischen der Kulturarbeit in der Freiheit und hier besteht?«

»Ich glaube, daß es keinen prinzipiellen Unterschied gibt.«

»Doch, es gibt einen. In der Freiheit muß die Kulturarbeit das Bewußtsein eines durchschnittlichen Werktätigen bis zum Niveau des Bewußtseins eines Kommunisten heben. Hier müssen wir die Sozialinstinkte heben« – Korsun hob den Zeigefinger – »verstehen Sie: die sozialen Arbeitsinstinkte des deklassierten und konterrevolutionären Teiles der Bevölkerung müssen wir bis zum durchschnittlichen Sowjetniveau heben.«

»Hm«, sagte ich, »Umschmiedung?«

Korsun schaute mich etwas schief an:

»Alle umschmieden können wir nicht. Aber die wir nicht umschmieden können, die werden wir vernichten.«

Die Behauptung Korsuns war ein glatter Unsinn: im Lager wurde niemand »umgeschmiedet«, doch selbst das Lager war nicht imstande, die Millionen von »nicht Umgeschmiedeten« zu vernichten.

»Fürchte, daß zur Durchführung dieses Problemes die Schaffung eines mächtigen, sozusagen mechanisierten Vernichtungsapparates notwendig sein wird.«

»Und was ist dabei?« Korsun blickte mich klar, offen und intelligent an.

Nach diesem »Was ist dabei?« wurde ich etwas verlegen. Korsun sah mich mitleidig an.

»Erinnern Sie sich noch an die Stalinschen Worte über die Kakerlaken?« fragte er. Der Worte entsann ich mich selbstverständlich; denn so etwas vergißt man nicht. Aus dem ganzen Unsinn, den während der Revolution ihre Anführer daherredeten, gab es nichts Niederträchtigeres als eben diese Worte. Ein Teil der Partei blieb angesichts der auf dem Wege der Kollektivierung aufgehäuften Leichen, der Leiden und des Zornes des Volkes entsetzt stehen. – Ihnen warf Stalin verächtlich vor: »Ihr habt also Angst vor Kakerlaken!« Für ihn waren die »Werktätigen« nur Kakerlaken. Eine Million mehr oder weniger draufgehen zu lassen, das läßt ihn gleichgültig. Ich biß die Zähne zusammen und enthielt mich jedweder Kommentare; denn der einzige, in diesem Fall passende Kommentar war ein Galgen. Leider hatte ich aber im Augenblick keinen Galgen zur Hand.

»Ja«, fuhr Korsun fort, »deshalb ist Stalin auch Führer, weil er ein Mensch von absoluter Kühnheit ist, er bleibt vor nichts stehen. Verlangen die Interessen der Revolution, daß er zum römischen Papst geht, um ihm die Füße zu küssen, dann wird er hingehen.«

Daß er tatsächlich hingehen würde, daran war nicht zu zweifeln. Auch jetzt fühlte ich mich, wie es oft in den Unterredungen mit bedeutenden Kommunisten der Fall war, im Bann einer ruhigen, selbstsicheren, sehr klugen und grenzenlos frechen Macht. Einer so großen Macht, daß sie sich nicht einmal die Mühe nimmt, ihre Frechheit zu verbergen. Die ganze augenblickliche Unterredung war unsinnig, unnötig und vielleicht sogar gefährlich.

»Nehmen Sie es mir nicht übel, Genosse Korsun; aber ich möchte dieses Thema nicht weiterentwickeln, besonders nicht hier, wo ich mich selbst in der Lage einer Kakerlake befinde.«

»Nicht doch. Sie befinden sich durchaus nicht in einer solchen Lage. Das wissen Sie auch selbst ganz ausgezeichnet. Doch müssen Sie verstehen, daß wir gezwungen sind, erbarmungslos zu sein. Und das, unabhängig von der persönlichen Schuld jener, die wir vernichten. Denn beispielsweise die Besprisorniki sind ohne irgendeine persönliche Schuld – und doch … Ach, Teufel nochmal, endlich komme ich darauf! Ich habe Sie gerade wegen der Besprisorniki gesucht. Sie haben sicher von unserer Besprisornikikolonie bei Wodorasdel gehört. Wir organisieren dort ein zweites Bolschewo Die größte Besprisorniki-Kolonie der Sowjetunion.. In unserer Kolonie sind zur Zeit etwa zweitausend Menschen (als ich die Kolonie erreichte, waren es bereits über viertausend). Also, wir haben beschlossen. Sie dorthin abzukommandieren – um den Sport dort einzurichten, Sie verstehen ja selbst, daß der Sport im Lager eine Mär ist, dort aber gibt es Sturmarbeit. Fahren Sie also los! Leben werden Sie dort als ein Freiangestellter. Die Aufenthaltsdauer wird Ihnen wie einem Udarnik angerechnet. Ich habe mit Gollmann diese Frage bereits besprochen. Er hat nichts dagegen.«

Ein schneidender Schmerz steigt in meiner Seele auf ob der Tücke des Schicksals. Wodorasdel. – Das sind etwa zweihundertfünfzig Kilometer bis zur Grenze, durch ganz unwegsame Sümpfe. Wenn ich dahin komme, Georg hierbleibt und Boris im Lodenfeld, wie werden wir uns dann verständigen können? Einstweilen haben wir noch keine Kompasse, keine Karten, keine Stiefel. An Proviantvorräten besitzen wir noch sehr wenig. In den Sümpfen bei Wodorasdel müssen wir im direkten und im übertragenen Sinne versinken. Was ist da zu machen?

Korsun fährt fort, die Schönheiten der Arbeit in der Kolonie auszumalen. Um Zeit zu gewinnen, nehme ich eine Zigarette, stecke sie an; das Streichholz zittert in meinen Fingern wie ein Sonnenreflex an der Wand.

Doch weigern darf man sich nicht. Mein Gott, mein Gott! Wieder muß man sich herauswinden – lange, qualvoll und erniedrigend. Aber wie?

Ich verließ Korsun in einem ganz benommenen Zustand. Es gelang mir, die Abkommandierung in die Kolonie um zwei Tage zu verschieben … bis übermorgen. Und dann? … Ich ging zum Fluß, setzte mich ans Ufer, rauchte und überdachte den Plan eines weiteren kleinen Aufschubes. Dann ging ich zu Gollmann, teilte ihm die Verabredung zwischen Korsun und mir mit und gab mir ein Aussehen, das besagen sollte: jetzt bin ich von Ihnen endgültig erlöst, Genosse. Doch Gollmann sah genau so aus.

»Und Ihre Dynamosachen übergeben Sie Batüschkow!« sagte er.

»Gut. Aber da Batüschkow sich in nicht ganz nüchternem Zustand befindet, möchte ich einige Sachen, den Stadionbau betreffend, Ihnen persönlich übergeben.«

»Was sind das noch für Sachen?«

»Die Produktionsabteilung hat die Erdaufschüttungen nicht richtig gemacht – an manchen Stellen sind sie abgesackt, man muß sie von neuem aufwerfen. Zweitens ist der Bauschutt, den man für die Tennisplätze angefahren hat, gar nicht zu gebrauchen. Sagen Sie es bitte Batüschkow, damit er besseres Material ausfindig macht.«

Gollmann sah mich gereizt an:

»Sie haben selbst nicht aufgepaßt und wollen es jetzt auf Batüschkow abwälzen. Nein, entschuldigen Sie schon, solange Sie das Stadion nicht fertig haben, lassen wir Sie in keine Kolonie. Nehmen Sie sich gefälligst des Baues an, bis alles fertig ist!«

Ich mache ein verhalten beleidigtes Gesicht:

»Gestatten Sie, Genosse Korsun hat schon Befehl gegeben.«

»Das geht Sie gar nichts an, kümmern Sie sich unverzüglich um das Stadion!«

 

Der Plan einer großen Chalture

Einen Aufschub hatte ich also erreicht. Wie soll es aber weitergehen? Ich erzählte Georg von der Sachlage. Er schlug eine unverzügliche Flucht vor. Ich schaute ihn nur an. Beschämt errötete er, was besagen sollte: das platzte ich nur so heraus. Vielleicht aber kann man Boris irgendwie Nachricht geben, daß er auch sofort die Flucht antritt.

Das Ganze war eine Utopie. – Die Flucht vor dem zwischen uns dreien verabredeten Tage zu ergreifen, würde bedeuten, Boris, wenn nicht der Gefahr der Erschießung, dann der Verschickung irgendwo hinter den Ural oder auf die Solowetzki-Inseln auszusetzen. Ihm Nachricht zu geben und von ihm die Antwort zu erhalten, daß er mit einer anderen Zeit einverstanden sei, war technisch fast unmöglich, ganz zu schweigen von dem Risiko, mit dem diese Verhandlungen verbunden waren.

Zwei Tage schlenderte ich durch den Wald im Zustande wütender Entschlossenheit: man muß doch einen Ausweg finden! Ich ließ vor meinem Gedächtnis das ganze Schema der sowjetistischen Wechselbeziehungen vorüberziehen. Es kam aber auf das eine heraus, daß man dringend eine himmelschreiende Chalture erfinden mußte, die jemandem von den höheren Vorgesetzten neue Perspektiven einer Karriere eröffnete. Ich ersann und verwarf nacheinander kulturerzieherische, produktionstechnische und manche andere Pläne – bis auf dem Wege der Auslese nur ein Plan, allerdings nur in allgemeinen Umrissen, blieb – der Plan der Durchführung einer allgemeinen Spartakiade des BBK.

Ich glaube, in diesen Tagen trug ich ein durchaus nicht gescheites Aussehen zur Schau. Jedenfalls sagte Georg, dem ich auf seinem Weg ins Technikum begegnete, besorgt:

»Na, weißt du, Wa, wenn's so weitergeht, dann schnappst du mir noch über!«

»Wieso?«

»Du gehst ja einher und denkst laut.«

Ich bemühte mich, nicht laut zu denken. Schon am nächsten Tage schlich ich in das Schreibmaschinenbüro der BBK-Verwaltung und schrieb unter Vorspiegelung falscher Tatsachen ein Exposé für den Chef des Lagers selbst – Uspenski. Das Exposé betraf die Organisation einer Spartakiade im Rahmen des gesamten BBK. Die Spartakiade sollte als ein dokumentarischer und unbestreitbarer Beweis der Richtigkeit des Erziehungssystems in den Lagern dienen; ferner mußte sie einen offensichtlichen Beweis der »Umschmiedung« und des Enthusiasmus erbringen und schließlich die bourgeoise Verleumdung über die Lager widerlegen, wonach diese als Orte der Menschenvernichtung hingestellt wurden, und dergleichen mehr. Durch einige technische Kniffe erreichte ich, daß das Exposé unmittelbar in die Hände Uspenskis kam – ohne Korsun und Gollmann zu berühren.

Man versprach mir, das Exposé entsprechend zu lancieren.

Ich pendelte in einer merkwürdigen Stimmung in den Wäldern um Medgora umher. Von diesem Exposé hing unsere Flucht ab oder mindestens die Aussicht auf deren erfolgreiche Durchführung. Manchmal erschien es mir, daß das ganze Projekt ein toller Unsinn sei, und daß Uspenski es bestenfalls in den Papierkorb werfen würde, mitunter schien es mir aber, daß es ein ideal durchdachter und genauer Plan sei.

Der Plan war selbstverständlich eine himmelschreiende Chalture, doch war er durchaus erfüllbar, und im Falle eines Erfolges hätte er ein großer Stein im Fundament der Karriere des Genossen Uspenski sein können. Zeitweise schien mir, daß Uspenski auf eine so freche und so offensichtliche Chalture nicht reinfallen würde. Nach reiflicher Überlegung kam ich doch zu der Ansicht, daß alle diese Befürchtungen unsinnig seien. Um anzunehmen, daß dieses Projekt durchfallen wird – nicht nur wegen seiner technischen Undurchführbarkeit, sondern nur infolge seiner unermeßlichen Frechheit – mußte man bei den Vorgesetzten wenigstens die geringsten Skrupel voraussetzen. Was habe ich für Gründe, diese Skrupel bei Uspenski zu vermuten, wenn ich ihnen selbst in der Freiheit nie begegnete! Von Uspenski sagte man, daß er ein sehr kluger, außerordentlich herrschsüchtiger und völlig erbarmungsloser Mensch sei, ein noch sehr junger Parteiadministrator, der seine Karriere mit allen Kräften – seinen eigenen und fremden – mache. Auf seinem Gewissen lasteten viele Zehntausende von Menschenleben. Sollte ausgerechnet er Skrupel haben? Sollte er auf diesen chalturefetten, Karriere versprechenden Wurm nicht anbeißen? Beißt er nicht an, dann verstehe ich von der ganzen Mechanik der sowjetistischen Kaschemme gar nichts. Er muß anbeißen! Unbedingt beißt er an.

Ich rechnete damit, daß man mich so nach zwei, drei Tagen ruft, wahrscheinlich erst zu Gollmann. Aber schon am Abend des gleichen Tages stürzte hastig und etwas fassungslos der Kolonnenführer in die Baracke:

»Wo ist Genosse Solonewitsch? … Senior … Iwan … Sie werden sofort zum Genossen Uspenski befohlen.«

Zum Kolonnenführer hatte ich eigentlich keinerlei Beziehungen. Er machte manchmal überhebliche, doch sinnlose und unschädliche Bemerkungen, wobei in seinen Augen stand: macht nichts, daß du die Brille trägst, passiert was, dann zeige ich dir, wer Herr ist.

Jetzt stand in den Augen des Kolonnenführers nichts dergleichen. Die Augen sahen mich fassungs- und verständnislos an. – Zu Uspenski »selbst«! Wo liegt hier der Hund begraben?

Diplomatisch und kaltblütig goß Georg noch mehr Öl ins Feuer:

»Also, Wa, auf Wiedersehen bis heute nacht.«

»Ich bitte also, Genosse Solonewitsch … Ich rufe gleich die Verwaltung an, daß ich es Ihnen bereits ausgerichtet habe.«

»Ja, ich gehe gleich.« In meiner Stimme liegt Ruhe, als ob der Spaziergang zu Uspenski für mich eine ganz alltägliche Sache in meinem Lagerleben wäre.

 

Der Napoleon des Lagers

Im Vorzimmer Uspenskis sitzt der Chef der Versorgungsabteilung und noch mehrere Männer. Ich werde also warten müssen.

Ich nehme Platz und schaue umher. Es sind lauter wohlgenährte, glattrasierte, mit neuen Tschekistenuniformen bekleidete Menschen – die Spitzen der Haupt-GPU des Lagers. Ich bin hier der einzige, der Lager-Sträflingsuniform anhat, und fühle mich wie ein waschechter Proletarier. Mir gegenüber sitzt ein behäbiger, strenger, alter Mann – der Chef der Medgoraer GPU-Abteilung: Pokkaln. Er schaut mich mißbilligend an. Zwischen ihm und mir steht eine ganze Leiter von allerhand Vorgesetzten, von denen jeder mich sehr weit bringen kann – noch weiter, als wo der Pfeffer wächst. Irgendwohin auf das Geviert 19 oder noch schlimmeres. Pokkaln kann an ähnliche Orte fast alle diese Vorgesetzten bringen, mich aber von der Erdfläche einfach wegblasen. Es sitzt sich unter den fragend mißbilligenden Blicken dieser ganzen tschekistischen Aristokratie doch sehr ungemütlich. Das Sitzen wird offensichtlich lange dauern. Im Lager sprach man davon, daß Uspenski in seinem Kabinett manchmal ununterbrochen vierundzwanzig Stunden arbeitet und ebenso lange im Vorzimmer seine Untergebenen warten läßt.

Doch geht jetzt die Tür des Kabinetts auf, an der Schwelle erscheint in strammer Haltung ein Sekretär, und ich höre:

»Genosse Solonewitsch, bitte.«

Ich »geruhe« …

Die Mißbilligung auf dem Gesicht Pokkalns weicht dem Ausdruck völliger Fassungslosigkeit. Der Chef der Versorgungsabteilung, der sich beim Erscheinen des Sekretärs erhob und seine Aktentasche ergriff, bleibt mit dem Ausdruck maßlosen Erstaunens wie angewurzelt stehen. Ich betrete das Kabinett und denke: »Das ist ein Anbiß … Tief sitzt der Haken …«

Ein riesiges Kabinett, stilvoll und mit strengem Luxus eingerichtet. Hinter einem großen Diplomatenschreibtisch sitzt Uspenski »selbst«. – Ein verhältnismäßig noch junger Mann, Mitte dreißig, von kräftiger Gestalt, mit fast farblosen, hellen Augen. Ein kluges, herrschsüchtiges Gesicht. Auf den Solowetzki-Inseln nannte man ihn »Napoleon von Solowetz …« Der wird nicht so ohne weiteres auf den Leim kriechen. Aber ich hatte auch nicht vor, ihn auf einen simplen Leim zu locken. Er betastete mich nicht nur mit den Augen – es sah vielmehr so aus, als ob er mit einem Präzisionsinstrument jeden Teil meines Gesichts und meiner Gestalt abmaß.

»Nehmen Sie Platz!«

Ich setze mich.

»Ist das Ihr Projekt?«

»Ja.«

»Sind Sie schon lange im Lager?«

»Etwa ein halbes Jahr.«

»Hm … Keine große Praxis. Sind Sie mit den Lagerbedingungen vertraut?«

»Genügend, um von der Durchführbarkeit meines Projektes überzeugt zu sein. Sonst hätte ich es Ihnen nicht eingereicht.«

Das Gesicht Uspenskis spannt sich interessiert, aber nicht ohne den Anflug eines gewissen Mißtrauens.

»Ihre Referenzen sind gut … Wir haben aber wenig Zeit. Mit Rücksicht auf die klimatischen Verhältnisse können wir das Sportfest über die Augustmitte nicht hinausziehen. Ich empfehle Ihnen, sich die Sache reiflich zu überlegen!«

»Bürger Chef, ich habe bereits alle Details überlegt.«

»Na, dann erzählen Sie mal!«

Gegen Ende meines kurzen Vortrages sieht mich Uspenski mit vergnügten und sogar etwas lächelnden Augen an. Ich betrachte ihn ungefähr ebenso, und beide gleichen zwei spitzbübischen Auguren.

»Nehmen Sie doch eine Zigarette! Also Sie glauben, das Ganze durchführen zu können? Daß wir aber, ich meine Sie und ich, uns nicht dabei blamieren …«

»Genosse Uspenski, allein werde ich selbstverständlich nichts machen können, wenn aber die Unterstützung der Lagerverwaltung …«

»Darüber brauchen Sie keine Sorge zu haben. Machen Sie mir die Befehle für morgen zur Unterschrift fertig – in der Form, wie wir es eben besprochen haben. Pokkaln werde ich persönlich Anordnungen erteilen …«

»Genosse Pokkaln ist augenblicklich hier.«

»Ach so, um so besser!«

Uspenski drückt auf den Knopf:

»Pokkaln soll kommen!«

Pokkaln tritt ein. Eine stumme Szene. – Pokkaln steht vor Uspenski mehr oder minder stramm. Ich, ein Wurm vor den Füßen Pokkalns, sitze im Sessel, nicht gerade lässig, aber immerhin mit übergeschlagenen Beinen, eine Chefszigarette rauchend.

»Also, Genosse Pokkaln, wir werden eine BBK-Spartakiade durchführen. Mit deren Leitung ist Genosse Solonewitsch betraut. Sie haben für folgendes zu sorgen: Spezial-Proviantvorräte zur verstärkten Verpflegung für sechzig Mann und für die Dauer von zwei Monaten; eine Sonderbaracke oder ein großes Zelt für diese Menschen; das Dienstpersonal für diese Baracke zur Verfügung stellen und die Arbeiter für die Einrichtung der Trainingsplätze sofort beordern … Ich glaube, Genosse Solonewitsch, das wäre einstweilen alles?«

»Ich glaube auch.«

»Ja, die Einzelheiten können Sie Genosse Pokkaln selbst erklären. Geben Sie nur acht, Genosse Pokkaln, die Spartakiade hat eine große politische Bedeutung, und die Vorbereitungen dazu sind als eine Kampfaufgabe anzusehen!«

»Gehorsamst, Genosse Chef!«

Ich sehe, daß Pokkaln keinen Deut verstanden hat: weder von der Spartakiade, noch von der »politischen Bedeutung«. Er versteht auch nicht, warum es eine Kampfaufgabe ist, und warum ich – schäbiger bebrillter Arrestant – hier fast lässig, ungefähr wie zu Hause, sitze und er, Pokkaln, stramm steht. Das alles geht in seinen ehrlichen Lettenkopf nicht hinein.

»Genosse Solonewitsch wird die Durchführung der Spartakiade leiten, und Sie müssen ihm weitest gehende Unterstützung gewähren! Sollten Schwierigkeiten auftreten, wenden Sie sich direkt an mich! Sie auch, Genosse Solonewitsch! Sie können gehen, Genosse Pokkaln. Heute kann ich Sie nicht empfangen!«

Pokkaln macht kehrt und geht … Ich bleibe. Ich fühle mich etwas … sagen wir, in der Welt von Tausendundeiner Nacht. Pokkaln fühlt sich genau so, nur daß er noch nicht weiß, daß das Ganze Tausendundeine Nacht ist.

Uspenski und ich bleiben unter uns.

»Genosse Solonewitsch, ich habe hier noch einen nicht ganz klaren Punkt. Sagen Sie, was ist das für eine merkwürdige Paragraphenreihe bei Ihnen?«

Der Leser weiß bereits, daß die GPU jedem einzelnen Lager den Tatbestand nicht mitteilt, nur die Paragraphen und die Strafzeit werden angegeben. Daher kann Uspenski gar nicht wissen, worum es sich bei mir gehandelt hat. Er glaubt selbstverständlich nicht daran, daß ich mich mit Spionage (§ 58, Absatz 6) befaßte, daß ich in einer konterrevolutionären Organisation gearbeitet haben soll (§ 58, Absatz 11), auch nicht daran, daß ich mich solchem Laster wie der illegalen Überführung der Sowjetbürger über die Landesgrenze, und das gewerbsmäßig (§ 59, Absatz 10), hingab. Den Paragraphen, der den illegalen Grenzübertritt ahndete und worauf als Mindeststrafe drei Jahre standen, hat die GPU aus Bescheidenheit gar nicht hinzugefügt.

An diesen ganzen Unsinn glaubt Uspenski aus dem einfachen Grunde nicht, weil die Menschen, die nach solchen Paragraphen abgeurteilt werden, ein sogenanntes »Vögelchen« oder, wie es nach der offiziellen Terminologie heißt, »besondere Ordre« bekommen und darauf, ohne umzusteigen, nach den Solowetzki-Inseln fahren. Das Nichtvorhandensein des »Vögelchens«, dazu nicht einmal die übliche zehnjährige, sondern nur eine achtjährige Strafzeit, sind eigentlich ein offizielles Symptom der Unsinnigkeit der gesamten Anklage bzw. des Urteiles.

Außerdem weiß Uspenski bestimmt, daß die Paragraphen des Sowjetstrafgesetzbuches je nach Bedarf angewandt werden:

»Man braucht nur den Menschen, den Paragraphen findet man schon.«

Ich weiß, was Uspenski fürchtet. Er fürchtet nicht, daß ich ein Spion, Konterrevolutionär und noch anderes bin – für die Spartakiade hat das gar keine Bedeutung. Er fürchtet nur, daß ich ein nicht sehr gescheiter Chalturemacher bin, und daß ich irgendwo in der Freiheit mit einer großen Chalture durchfiel, und da eine solche Tat in dem Sowjetstrafgesetzbuch nicht vorgesehen ist, hat mir die GPU die nächstbesten Paragraphen aufgeknallt.

Das ist eine der Eventualitäten, die Uspenski beunruhigen. Wenn ich mit dieser Spartakiade-Chalture durchfalle, wird mich Uspenski bei lebendigem Leibe auffressen. Aber was hat er davon?

Deshalb beruhige ich Uspenski und sage ihm, daß ich hier für die »Verbindung mit dem Ausland« zusammen mit meinem Sohn sitze. Die letzte Tatsache fegt Reste des Verdachtes wegen mißratener Chalture fort:

»Also, Genosse Solonewitsch«, erhebt sich Uspenski, »ich hoffe, daß Sie die Sache tipptopp machen. Gelingt es, dann garantiere ich Ihnen die Verkürzung Ihrer Strafzeit um die Hälfte.«

Uspenski weiß natürlich nicht, daß ich nicht mal ein Viertel, geschweige denn die Hälfte meiner Strafzeit abzusitzen beabsichtige … Ich bedanke mich gemessen. Uspenski sieht mich wieder durchdringend an.

»Ach ja, nebenbei bemerkt« fragt er, »wie sind Ihre Lebensbedingungen? Brauchen Sie vielleicht etwas?«

»Danke, Genosse Uspenski. Ich bin zufrieden.«

Uspenski hebt etwas mißtrauisch die Augenbrauen.

»Ich ziehe vor«, erkläre ich, »keine Vorschüsse zu nehmen. Ich hoffe, daß nach der Spartakiade …«

»Wenn Sie sie gut durchführen, sind Sie glänzend gestellt. Wie es mir scheint, werden Sie die Sache schmeißen!«

Wieder betrachten wir uns mit den Augen spitzbübischer Auguren.

»Brauchen Sie aber etwas, dann sagen Sie es ruhig.«

Ich brauche aber nichts. Erstens, weil ich für Kleinigkeiten keine einzige Kopeke meines Kassenbestandes der »guten Beziehungen« ausgeben will, und zweitens, weil ich alles Notwendige jetzt auch ohne Uspenski bekomme.

 

Einführung in die Philosophie der Chalture

Jetzt möchte ich wiedergeben, worin der ausgesprochene und der nicht ausgesprochene Sinn unserer Unterredung bestand.

Es versteht sich von selbst, daß wir von der halbwegs ernsthaften Einführung des Sports im Zwangsarbeitslager gar nicht gesprochen haben, denn man kann doch nicht einen Menschen zum Fußballspielen auffordern, der zwölf Stunden täglich bei offensichtlich unzulänglicher Ernährung und noch dazu in der Polargegend arbeiten muß. Konnte ich denn mit ernsten Absichten meinen Sport auf dem Geviert 19 einzuführen versuchen? Gleich am Anfang unserer Unterredung deutete ich Uspenski an, daß mir diese Sache völlig klar war, und befreite ihn deshalb von der Notwendigkeit, auf die immerhin nicht besonders angenehmen Erklärungen einzugehen.

Ich hatte auch nicht vor, den Sport ernst aufzufassen und entsprechend aufzuziehen. Ich verpflichtete mich nur, die Spartakiade so durchzuführen, daß man einen Eindruck der Massen gewinnt, daß man Rekorde zeigt, daß die Spartakiade in der Moskauer und in der wohlgesinnten Auslandspresse ausführlich besprochen wird, daß man sie photographiert und verfilmt – kurzum, daß man urbi et orbi – in den Zeitschriften und Kinos sehen konnte, wie die Sowjetmacht sogar für die Lagerinsassen sorgt, sogar für die Banditen, Konterrevolutionäre, Schädlinge und dergleichen. Hier geht die richtige »Umschmiedung« vor sich, hier ist die Wahrheit und nicht in den niederträchtigen Bourgeoisie-Verleumdungen über die Lagerbestialitäten, über den Hunger, über das Aussterben.

»L'Humanité«, die von der Mechanik dieser Chalture nichts versteht, wird diese Spartakiade über ganz Frankreich ausbrüllen – ich nehme an, daß sie es sogar ganz aufrichtig tun wird. Maxim Gorki, der ungefähr gerade so wie Uspenski diese Mechanik kennt, wird einen salbungsvoll-gleisnerischen Artikel in der »Prawda« schreiben und dem BBK einen Gruß schicken. Von diesem Gruß werden die Lagerinsassen in Ausdrücken sprechen, die in keine ausländische Sprache zu übersetzen sein werden: in Ausdrücken, die das Höchstmaß von Verachtung zum Ausdruck bringen werden, denn der Lagerinsasse weiß, wo der Hund begraben liegt, und weiß, daß es auch Gorki nicht weniger wie ihm selbst bekannt ist. Von den tatsächlichen Zusammenhängen dieser Chalture werden alle wissen, die davon wissen müssen – die GPU, die GULAG und der Oberste Rat des Sportwesens. In den Augen dieser Institutionen wird Uspenski jener Mann sein, der diese ganze Kombination ausgedacht hat – eine zwar schurkenhafte, doch offensichtlich dem höchsten Ruhme Stalins dienende Kombination. Uspenski wird bei diesem Geschäft ein gewisses administrativ-politisches Kapital verdienen. Mußte denn Uspenski auf diese Kombination nicht anbeißen? Mußte er über unsere Unterredung nicht zufrieden sein, wo solche prosaischen Ausdrücke wie Kombination und Spitzbüberei selbstverständlich gar nicht ausgesprochen wurden und wo alles klar war?

Noch zufriedener war ich, denn in diesem Spiel wird nicht Uspenski mich ausbeuten und nasführen, sondern ich ihn … Denn ich weiß, was ich will, und Uspenski wird ohne es zu ahnen, alles tun, was von ihm abhängt, um die größte Sicherheit meiner Flucht zu garantieren.

 

Administrativer Wirbelsturm

Im Laufe der nächsten Tage wurden folgende Befehle herausgegeben:

1. Für das ganze BBK wird die allgemeine Spartakiade mit der Verpflichtung einer entsprechenden Veröffentlichung in der »Umschmiedung«, spätestens bis zum 12. Juni, angesetzt.

2. Allen Abteilungschefs ist die Zusammenstellung von Instruktoren, Sportriegen und dergleichen auferlegt – unter persönlicher Verantwortung jedes einzelnen Abteilungschefs und mit der Verpflichtung, alle fünf Tage über den Verlauf der Arbeiten unmittelbar dem Chef des BBK, Genossen Uspenski, zu berichten.

3. Alle Glieder dieser Riegen werden von der Lager- und Gemeinschaftsarbeit befreit, ihre Versetzung von Unterlager zu Unterlager wird eingestellt.

4. Eine Sonderbaracke wird im Sowchos »Witschka« für sechzig Teilnehmer an der Spartakiade bereitgestellt, die Ernährung während des gesamten Trainings und der Kämpfe wird verstärkt.

5. Fünfzigtausend Rubel werden zum Einkauf von Sportinventar bereitgestellt.

6. und 7. enthielten Geheimbefehle für die WOCHR und die dritte Abteilung, mir weitgehendste Unterstützung zu gewähren.

Nachdem alles unterschrieben und den zuständigen Stellen zugeleitet war, stellte ich fest: feci quod potui! Weiter konnte man nichts tun. – Es sei denn, ein Auto bis zur Grenze anzufordern.

Übrigens, obwohl es ganz dumm klingt, ein solches Auto war gar nicht so utopisch: Fünfzig Kilometer weiter westlich von Medgora lag eine Siedlung für die »administrativ« Verbannten. Georg und ich haben das Projekt einer Fahrt nach dieser Siedlung als »abkommandiert« in Erwägung gezogen. Das wäre nicht bis an die Grenze, aber immerhin fast der halbe Weg in dieser Richtung. Doch zog ich vor, fünf Tage mehr zu Fuß über die Sümpfe zu gehen, als uns dem Zusatzrisiko einer Autoreise auszusetzen.

 

Wie die Büchse des Enthusiasmus aufgemacht wird

Irgendeine gewöhnliche BBK-Spartakiade ist natürlich eine Kleinigkeit. Sie ist kein »Fünfjahresplan in vier Jahren«, kein Dnjeprostroj oder dergleichen – »doch die Größe Allahs zeigt sich in dem kleinsten seiner Geschöpfe …« Die Chalturemethoden der BBK-Spartakiade wendet man auch bei den Moskauer Spartakiaden, bei den verschiedenartigsten »Großbauten«, bei den literarischen und nicht literarischen Dnjeprostrojs an, bei den druckfähigen und völlig undruckfähigen Daten, und sie ergeben schließlich und endlich die unübersehbaren Bergmassive der allunionistischen Chalture – ganz fett und gesperrt gedruckt.

Der Schlüssel zu der Büchse, in der alle Erfolge der, o weh, nicht zustande gekommenen BBK-Spartakiade verschlossen lagen, wird viele sowjetistische Chalture-Büchsen aufmachen können. Ich weiß nicht, ob es interessant ist, lehrreich aber auf jeden Fall. Die Spartakiade wurde auf den 15. August angesetzt, und der Leser, der durch die Sowjettechnik nicht gewitzigt ist, könnte mich fragen, wie ich es eigentlich einrichten wollte, um in anderthalb bis zwei Monaten aus dem Nichts die Massen, den Enthusiasmus, die Rekorde und anderes mehr hervorzuzaubern; ich werde diesen Lesern antworten und für meine Offenheit nicht mal um Entschuldigung bitten:

»Genau so, wie ich all dies bei der allunionistischen Spartakiade hervorgezaubert habe, genau so, wie die notwendigsten Dinge für das tägliche Leben in der ganzen Sowjetunion im allgemeinen hervorgezaubert werden.«

In der Freiheit verfügt man über mehrere Hundert gut bezahlter und ernährter Berufssportler (Rekorde!), mehrere Tausend halbwegs gut ernährter, dafür aber gut trainierter Leute, in »organisatorischer Beziehung« Komsomolzen (Enthusiasmus!) und mehrere Zehntausend allerhand Gelichter, das nach dem entsprechenden Befehl im beliebigen Augenblick und aus beliebigem Anlaß die Masse verkörpern kann: eine Spartakiade, einen Schädlingsprozeß, die Ankunft Gorkis, den Empfang des Königs Aman Ullah. Der Anlaß spielt keine Rolle – wichtig ist der Befehl.

Für meine Rekorde suche ich mir fünfzig bis sechzig Männer aus, die, in der Kurortbaracke in Witschka untergebracht, so futtern werden, wie sie es sich selbst in der Freiheit nicht träumen ließen (Uspenski wird diese Fressalien geben, und kein Proviantmeister wird mir auch nur für eine Kopeke was klauen können). Schließlich werden sie nur essen, schlafen, trainieren und weiter nichts. In ihren Reihen werden etwa zwanzig ehemalige Sportinstruktoren sein, d. h. Spezialisten ihres Fachs.

Es gab aber noch etwas, was mit der Chalture nichts zu tun hatte, wie es manchmal auch bei dem Fünfjahresplan der Fall war. Die Sache ist die, daß unser heiliges Rußland bei seinen ungeheuren Weiten Sporttalente von großem Format aufweist. Wie oft, noch vor der Revolution, wurde ich, ein Mensch von außergewöhnlichem Körperbau und langjährigem Training, geschlagen, und das sogar auf meinem ureigenen Gebiet. Ganz beliebige Menschen, die mit dem Sport nicht das geringste zu tun hatten, schlugen mich: Dorfhirten, Monteure, Gymnasiasten. Tempi passati, doch damals war es sehr kränkend.

Sucht man, so wird man solche Menschen auch im Lager finden. Menschen, wie der sibirische Riese im Geviert 19. Mehrere, zwar etwas schwächer, doch vom Hunger noch nicht ganz ausgemergelt, fanden sich bereits im Unterlager 5. In sechs Wochen werden sie schon wieder zu Kräften kommen. Noch zehn Mann dazu werde ich unbedingt finden.

Wenn mir aber wider Erwarten die Rekorde nicht genügend zahlreich und hoch erscheinen, was kann mich dann bei Allahs Gnade stören, mit diesen Ziffern so zu operieren, wie es das Volkskommissariat der Schwerindustrie mit den Ziffern der Kohlenförderung macht!? Welcher Weise wird imstande sein, dahinterzukommen, wieviel Tonnen Kohle aus den Schächten des Dongebietes und wieviel aus dem Büro des Volkskommissariats gefördert wurden?

Welcher Weise wird überprüfen können, ob der Lagerinsasse Iwanow beim Hundertmeterlauf 11,2 Sekunden lief, und wer wird erfahren, ob er tatsächlich zu den Insassen gehörte? Die Stoppuhren werden in meinen Händen sein und die Schiedsrichter durchweg aus »unserer Mitte« ausgesucht. Für Uspenski aber ist wichtig, daß die Zahlen gut ausfallen und außerdem alles Drum und Dran auch gut aussieht und keinen Verdacht hervorruft – auf jeden Fall keinen nachweisbaren Verdacht. Das alles wird gemacht, das heißt nur die Vorbereitungen dazu; denn die Spartakiade soll am 15. August stattfinden und die Flucht am 28. Juli.

Die Rolle der Tausende von Enthusiasten werden ein paar hundert WOCHR-Männer, Operateure und Mitarbeiter der GPU übernehmen – lauter wohlgemästete, trainierte und auf allerhand enthusiastische Ausbrüche abgerichtete Männer. Sie werden den allgemeinen sportlichen Hintergrund abgeben, sie werden Applaus spenden und Bravo rufen und runde, lächelnde Gesichter zeigen. – Günstige Stellungen für eine Staffage!

Für die Masse endlich werde ich ein Drittel der »Bevölkerung« von ganz Medgora mobilisieren. Dieses Drittel wird in »mächtigen Kolonnen« marschieren, schreiende Plakate auf seinen Buckeln tragen. Sie erhalten eine Extraration Brot und zwei bis drei arbeitsfreie Tage. Wenn die Spartakiade erfolgreich verläuft, dann könnte ich für diese Massen noch je ein Weißbrot aushandeln. Uspenski wird dann schon splendid sein.

Die Ration und die Weißbrote, das wird das einzige sein, was ich für diese Massen tun kann. Aber auch das ist relativ; denn dieses Brot wird anderen Massen abgenommen, für die ich gar nichts tun kann. Nur eines kann ich tun: Uspenski bis zum Schluß ausnutzen, nach dem Ausland entfliehen und von dort über die ganze christliche und unchristliche Welt hin das grausame Schicksal dieser Massen laut ausrufen. Hier aber kann ich nicht rufen, nicht einmal flüstern, ich werde sonst in dem nächsten tschekistischen Verließ wie ein Ferkel abgestochen, und das ohne jegliche Veröffentlichung in der »Prawda«, nicht einmal in der »Umschmiedung«; man sticht mich so ab, daß sogar mein Bruder nicht dahinterkommen wird, wohin ich verschwunden bin.

 

Sprungbrett zur Grenze

Bei all dem werde ich natürlich mit meinem Gewissen einen Kuhhandel treiben. Aber was soll man machen? Erstens habe nicht ich dieses System erfunden – das System des allgemeinen allunionistischen Pflichtkuhhandels, und zweitens – Paris veut la messe.

Stets werde ich die Freiheit des Handelns, der Bewegung, der Aufklärung und praktisch unbeschränkte Schmuggelmöglichkeiten haben. Jetzt kann ich zur administrativen Abteilung gehen und dort in einem freundlichen, doch allen Zweifel ausschließenden Ton sagen:

»Machen Sie mir für heute abend ein Kommandoschreiben da und dahin fertig,« und das Kommandoschreiben wird mir außer der Reihe ausgestellt, und keine dritte Abteilung wird es wagen, den Stempelaufdruck anzubringen:

»Reist unter Bewachung«, wie es auf meinem ersten Kommandoschreiben stand. Auch kein WOCHR-Mann wird meinen mit Lebensmitteln vollgepfropften Rucksack untersuchen, wenn ich mit ihm zu einem Versteck im Walde gehen werde. Denn er wird bestimmt von meiner großen »Nummer« wissen – ich sorge schon dafür, daß es die WOCHR erfährt. Sie wird auch noch andere, später erwähnte Möglichkeiten erfahren.

Ich werde über solch unerreichbare Schätze wie Trainingsschuhe verfügen, und man wird sie von mir bekommen können oder auch nicht. Und so wird, wie ich will, ein WOCHR-Mann entweder in zentnerschweren Dienststiefeln laufen müssen oder sogar barfuß oder aber in leichten, höchst eleganten und höchst eigenen Sportschuhen.

Schließlich werde ich, wenn nötig, beispielsweise zum Proviantverwalter Awedissjan gehen und ihm für die Dauer von anderthalb Monaten gute Verpflegung, Ruhe und ein süßes Nirwana in meinem Witschka-Kurort vorschlagen. Auf die Verpflegung wird Awedissjan womöglich pfeifen. Doch der Erholung, der einzigen Erholung während der langen sechs Jahre Haft im Lager, der wird er nicht standhalten, von ihr träumt er auch sechs Jahre. Er klaut natürlich nicht so sehr für sich als für die Vorgesetzten. Er zittert ebenso auch nicht für sich, sondern für die Vorgesetzten – fällt er rein, dann ist es eine Kleinigkeit; denn die Vorgesetzten ziehen ihn heraus – brauchst nur zu schweigen und nichts zu verplappern. Aber wenn die Vorgesetzten reinfallen? Dann ist es aus; denn die Vorgesetzten werden, um mit heiler Haut davonzukommen, alles auf Awedissjan abwälzen – niemand wird da sein, um ihn zu stützen, und so wird er irgendwo am Faulen Fluß vermodern.

Von meinem Vorschlag wird Awedissjan das Wasser im Munde zusammenlaufen. Er wird träumerisch durchs Fenster auf den für ihn unerreichbaren blauen Himmel schauen – zwar kein kaukasischer, sondern nur ein karelischer, aber immerhin ein blauer Himmel – und resigniert wird er sagen:

»Anderthalb Monate? Anderthalb Tage täten schon gut! Aber, Genosse Solonewitsch, daraus wird nichts. Man läßt mich nicht los.«

Ich weiß, ihn frei zu machen, wird sehr schwer sein, ohne ihn werden die Vorgesetzten von neuem und mit einem neuen Menschen das ziemlich komplizierte System der Diebereien wieder aufziehen müssen. Das bringt Sorgen und ist nicht ungefährlich.

Aber ich werde Awedissjan lässig und zuversichtlich sagen:

»Das überlassen Sie mal mir, Genosse Awedissjan.«

Dann werde ich zu Doroschenko, dem Chef des Unterlagers, gehen.

Hier gibt es zwei Möglichkeiten:

Erstens, wenn der Chef des Unterlagers ein kluger Mensch ist und eine gute Nase hat, dann gibt er mir Awedissjan ohne viel Federlesen ab, oder ich werde, wenn die Beurlaubung Awedissjans tatsächlich schwierig ist, hören:

»Wissen Sie was, Genosse Solonewitsch, es ist mir sehr schwer, Awedissjan zu beurlauben. Sie wissen ja selbst warum, sind ja ein erfahrener Mensch! Gehen Sie lieber zum Chef der dritten Abteilung, dem Genossen Pokkaln, und sprechen Sie mit dem.«

Zweitens, wenn er ein dummer Mensch ist und keine gute Nase hat, wird er mich nach meiner phantastischen Bitte zur Teufelsgroßmutter schicken, was ihm aber sehr teuer zu stehen kommt. Nicht deshalb, weil ich rachsüchtig bin, sondern weil ich mir in meiner gegenwärtigen Lage den Luxus, zur Teufelsgroßmutter geschickt zu werden, nicht leisten kann.

Da aber Doroschenko ein vernünftiger Mensch ist und außerdem über meine »große Nummer« bei Uspenski unterrichtet ist, so wird er es wahrscheinlich ohne Sperenzien tun. Widrigenfalls werde ich zu Pokkaln gehen und meine Bitte wiederholen müssen.

Pokkaln wird zerknirscht die Achseln zucken, mir sein beschwichtigendes Zigarettenetui hinhalten und sagen:

»Ja, Sie wissen aber, Genosse Solonewitsch, wie schwer das ist, Awedissjan von seinem Proviantmagazin loszueisen, und dazu noch auf anderthalb Monate …«

»Freilich, ich weiß, Genosse Pokkaln; aber eben deshalb habe ich mich an Sie gewandt. Sie verstehen doch, wie es für uns politisch wichtig ist, unsere Spartakiade durchzuführen.

Politisch. Hier wird jeder stürmische Anlauf eines Vorgesetzten sofort in der Pfütze landen. Po–li–tisch! Das riecht nach solchen niemand verständlichen Dingen, wie Generallinie, Komintern, Interessen der Weltrevolution und allem möglichen Teufelsbrei – auf jeden Fall aber riecht es nach »Unterschätzung«, »Abstumpfung der Klassenwachsamkeit«, nach dem »Gehen an der Leine des Klassenfeindes« und nach anderen, noch weniger verständlichen Dingen. Um so mehr als auch Uspenski seinerzeit das Wort »politische Bedeutung« betonte … Pokkaln wird den Teufel verstehen, aber Awedissjan gibt er ab.

Sollte jedoch der völlig unwahrscheinliche Fall eintreten, daß auch Pokkaln sich weigert, dann werde ich zu Uspenski gehen und ihm sagen, daß Awedissjan die Glanznummer der künftigen Spartakiade sein könnte, daß er den Hundertmeterlauf in 0,1 Sekunden mache, daß aber nach »wohlverständlichen Erwägungen« die Verwaltung des Unterlagers ihn nicht abgeben wolle. Für Uspenski wird es immerhin beruhigender sein, richtige und keine frisierten Ziffern der Spartakiade zu haben, und außerdem pfeift er darauf, ob der Lagerzucker mit oder ohne Awedissjan geklaut wird.

Auf ähnliche Weise konnte ich den »Kantinenwirt« aus der ITR-Kantine und noch viele andere herausziehen. Sogar der voreingenommene Leser wird verstehen, daß ich keinen Mangel an Zucker leiden und daß ich die gute Kohlsuppe aus der ITR-Kantine bis zum Überdruß löffeln werde. Auf alle Fälle habe ich in meinem Kurort zwei Dutzend von Stellungen bereits vorgesehen, die mir im Notfall nützlich sein könnten, beispielsweise im Falle des Mißlingens der Flucht wegen plötzlicher Erkrankung.

Doch werde ich weder Doroschenko noch Pokkaln noch Awedissjan mit seinem Zucker beunruhigen. All das brauche ich nicht.

Das war nur hypothetisch und keine Wirklichkeit. Was aber wirklich vorkam und jedem von uns einen Kompaß, ein Paar Stiefel, einen Umhang, einen Ausweis und die Hauptsache: eine Karte, zwar eine schäbige, doch immerhin eine Karte verschaffte, kann ich aus erklärlichen Gründen nicht berichten. Doch entwickelte es sich ungefähr so, wie ich es theoretisch dargestellt habe. Denn nicht nur, sagen wir, dem Küchendienst, sondern jedem beliebigen WOCHR-Mann oder dem »Operateur« war die Aussicht eines sechswöchigen Aufenthaltes im »Kurort« angenehmer als die gleiche Zeit auf irgendwelchen Kordons, Geheimpatrouillen oder Streifen durch Moraste, Sümpfe und Mücken …

Hier ein nicht hypothetischer Vorfall.

Ich gehe durch einen Korridor und höre das donnernde Geschimpfe von Pokkaln und zugleich das jämmerliche Gelispel der Rechtfertigung aus dem Munde des Genossen Lewin – meines Kolonnenführers.

Von Pokkaln will ich nichts, doch will ich einen gebührenden Eindruck auf Lewin machen. Deshalb betrete ich das Kabinett Pokkalns, selbstverständlich ohne Anmeldung und ohne zu warten, gehe behutsam um den vorbildlich strammstehenden Lewin herum, setze mich bequem in einen Sessel am Tisch Pokkalns, schlage die Beine übereinander und betrachte Lewin mit einem mitfühlend gönnerhaften Blick: »Was machst du bloß für Sachen, Brüderchen?«

Vorerst noch einige Erklärungen:

Ich wohnte in der Baracke Nummer 15 und hatte in dieser eine ganze Reihe von Vorgesetzten: den »Statistiker«, den Barackenältesten und zwei vom Stubendienst, ganz zu schweigen von den »Wahl«vorgesetzten, dem Bevollmächtigten im Kampf gegen Drückeberger, der Trojka für den Kampf gegen die Fluchtversuche, den Trojkas für Wettkämpfe, Sturmarbeit und anderes mehr. Unter all diesen Vorgesetzten war ich wie ein vom Wirbelwind erfaßtes Blatt. – Der Stubendienst könnte beispielsweise plötzlich ein Interesse dafür zeigen, warum ich bei der Abkommandierung für nur zwei Tage einen achtzig Pfund schweren Rucksack mitnehme, und er könnte sogar darin zu wühlen versuchen. Tut er das, dann sind die Folgen nicht auszudenken! Die Trojka gegen Fluchtversuche kann zur beliebigen Zeit bei mir eine Durchsuchung vornehmen. Der Barackenälteste könnte mich auf irgendeine »Udarnikarbeit« zur Reinigung der Abtritte mitschicken oder mich sonst auf der »administrativen Linie« in Schwulitäten bringen. Der Kolonnenführer kann mich auf die Gemeinschaftsarbeiten verschicken, kann mich auch in irgendeine besonders durchlöcherte und mit Urkis überfüllte Baracke stecken oder meinen Sohn irgendwohin versetzen – mich unter die Drückeberger einreihen oder mich als »Anti-Gemeinschafts«- und »Anti-Sowjet-Element« hinstellen und überhaupt mir einen direkten Weg nach dem Faulen Fluß bahnen. Über dem Kolonnenführer steht der Chef der RVA, der mit ihm mehr machen kann, als er mit mir, ganz zu schweigen von meiner Person.

In Gedanken steige ich höher und sehe die monumentale Gestalt des Chefs des Unterlagers, der mich und Lewin einfach zu Pulver verreiben kann … Noch höher – der Chef der Lagerabteilung, bei dessen Namensnennung jedem Lagerinsassen der Atem stockt.

Bildlich gesprochen bedeuten die Vorgesetzten bis hinauf zum Kolonnenführer große Unannehmlichkeiten, bis hinauf zum Chef des Unterlagers – die Möglichkeit, lebendig begraben zu werden: beim Flößen an der Meeresküste, auf dem Faulen Fluß, der Popeninsel oder dem Geviert 19 … Chef der Lagerabteilung aber, das bedeutet Gewalt über Leben und Tod, das bedeutet Recht auf Erschießung.

Und all diese Vorgesetzten muß ich umgehen und irreführen. Dazu kommt noch, daß ich auf der administrativen Linie nicht nur unter Pokkaln, sondern auch Lewin stand und auf der Linie der Schiebung, weiß der Teufel unter wem. Über die Köpfe all dieser niederschmetternden Vorgesetzten habe ich Zutritt unmittelbar zu Uspenski selbst, dessen Name allein schon dem Chef des Unterlagers kalten Schweiß auf die Stirn treibt. Können denn der Chef des Unterlagers, der Chef der RVA und der Kolonnenführer vorausahnen, was ich dort wegen Diebereien, Saufgelagen, Wodka-Erpressungen, blinder Passagiere in den Lagerkantinen und vieler, sehr vieler anderer Dinge gelegentlich auspacken könnte? …

So sitze ich, wippe mit den Beinen, rauche eine Zigarette und sehe, wie auf Lewins Stirn bereits die Schweißtropfen hervortreten.

Pokkaln besinnt sich plötzlich, daß das unflätige Geschimpfe offiziell unerlaubt ist, stockt etwas und sagt mir, als ob er sich entschuldigen wollte:

»Da sehen Sie, Genosse Solonewitsch, was soll man mit diesem Volk machen?«

Teilnehmend zucke ich die Achseln:

»Freilich ist nichts zu machen, Genosse Pokkaln. Die Frage der Kader, wir alle kranken daran.«

»Raus mit Ihnen!« sagt Pokkaln zu Lewin.

Wie ein Sektpfropfen fliegt Lewin zur Tür hinaus. Im Korridor gelandet, wird er doppelt und dreifach seinem Schöpfer dafür danken, daß er mir weder gestern noch vorgestern, auch nicht vor drei Tagen einen Stein in den Weg legte. Wäre ein solcher Stein da, dann hätte ich nicht wie eben zu Pokkaln gesagt:

»Ist nichts zu machen. Frage der Kader.«

Sondern ich hätte gesagt:

»Was wollen Sie denn, Genosse Pokkaln – bei diesen Menschen stehen Diebereien an der Tagesordnung, und gesoffen wird auch täglich.«

Es versteht sich von selbst, daß Pokkaln über diese Diebereien und über die Saufgelage genau so gut wie ich unterrichtet ist. Vielleicht wollte er auch etwas machen, aber, wie kann er damit fertig werden, wenn die gesamte Verwaltung im Lager ebenso wie in der Freiheit klaut. Setzt man einen in den Strafisolator, wird an seiner Stelle ein anderer genau so klauen. Ein System! Deshalb drückt Pokkaln ein Auge zu. Wenn ich aber in seiner Gegenwart laut über die Diebereien etwas gesagt hätte, so könnte ich über die gleichen Diebereien auch vor Uspenski, so nebenbei, etwas sagen. Dann fliegt aber nicht nur Lewin, sondern auch Pokkaln, denn zu den Funktionen Uspenskis gehört auch das »Angsteinjagen«. Hätte ich dem Genossen Lewin das Bein gestellt, dann wäre er nicht in den Korridor, sondern in den Strafisolator, vor Gericht, an den Faulen Fluß geflogen, um lebendig zu vermodern. Denn außer meinen sonstigen Eigenschaften bin ich ein lebendiger Zeuge, der zu Uspenski selbst Zutritt hat.

Zu Hause angekommen und seine Saufkumpane und Mithelfer um sich versammelt, wird ihnen Genosse Lewin im Interesse der allgemeinen Sicherheit sagen:

»Gehen Sie um diesen bebrillten Teufel in einem Bogen von fünfundzwanzig Kilometer herum! Weiß der Kuckuck, was er für einen Stein im Brett bei Pokkaln und Uspenski hat!«

Und so werde ich glückselig dahinleben, und niemand wird in meinen Taschen und in meinem Rucksack herumschnüffeln.

 

Ergebnisse

Als Ergebnis dieser ganzen Schiebung verfügte ich zum 28. Juli:

über zwei Kommandoschreiben für verschiedene Richtungen auf meinen Namen, was verhältnismäßig einfach war,

zwei Kommandoschreiben für die gleiche Dauer und ebenfalls für verschiedene Richtungen auf Georgs Namen, was bei unseren Paragraphen und gleichlautenden Namen sehr kompliziert und schwierig war,

je zwei Passierscheine für uns beide – so auf alle Fälle.

Außerdem hat diese ganze Schiebung uns einfach das Leben gerettet. Wie ich auch alle Einzelheiten der Flucht vorher überdacht hatte, wie ich auch alle möglichen Kombinationen mir vorstellte, eins habe ich doch übersehen. – Den Weg zum »verborgenen Ort« im Walde, wo unser Gepäck verstaut war, bin ich für die Zwecke der Aufklärung mindestens zehnmal gegangen. Kein einziges Mal habe ich auf diesem Wege eine Seele getroffen, und so dachte ich, daß dieses Gelände nicht überwacht würde. Als ich zum letzten Male hinging – bereits auf der Flucht – mit einem hundertzwanzig Pfund schweren Rucksack und mit Kompaß und Karte in der Tasche, stieß ich auf eine Patrouille von zwei Operateuren … Kismet!

Eine nette Perspektive: Verhaftung und Erschießung oder Kampf mit zwei bewaffneten Menschen, mit sehr schwacher Aussicht auf Sieg.

Doch ging die Patrouille vorbei und erkühnte sich nicht, ein Interesse für meinen Rucksack und für meine Papiere zu zeigen.

 

Wenn …

Wenn ich aus irgendeinem Grunde im BBK geblieben wäre, hätte ich die Spartakiade genau so durchgeführt, wie sie projektiert war. »L'Humanité« wäre vor Enthusiasmus geborsten, und von Gorki wären über die ganze Welt salbungsvoll-speichelleckerische Ergüsse geflossen. Ich aber hätte besser leben können als in der Freiheit. Bedeutend besser als die hochqualifizierten Spezialisten in Moskau, und hätte im übrigen keinen Finger krumm gemacht.

Wäre das nicht schön?

Nein, all das ist ganz und gar widerlich! Das ist aber das Sowjetleben, so wie es ist …

Millionen Menschen krepieren vor Hunger und aus anderen Ursachen, man darf sich aber die Sache nicht so vorstellen, daß diese Menschen vor dem Krepieren keine Versuche machen zu protestieren, sich aufzulehnen und zu lavieren.

Das Lavieren füllt den bolschewistischen Alltag aus, denn Proteste oder offene Widerstände sind eine hoffnungslose Sache.

Man soll sich diesen Alltag nicht als ein Schema vorstellen. Man darf nicht die Vorstellung haben, daß auf der einen Seite erbarmungslose Henker und auf der anderen geduldige Opferlämmer stehen. Die Henker sind auch Sklaven. Uspenski ist ein Sklave vor Jagoda und Jagoda vor Stalin. Mit der Psychologie des Sklaventums, des Lavierens, des Klauens und der Chalture sind diese Alltage ausgefüllt. Es gibt keinen Gott außer der Weltrevolution, und Stalin ist ihr Prophet. Es gibt kein Recht, sondern revolutionäre Zweckmäßigkeit, und Stalin ist ihr einziger Deuter. Es gibt keine menschlichen Persönlichkeiten, sondern unpersönliche Einheiten der »Masse«, die man dem Weltbrand opfert.

 

Polargurken.

Der administrative Wirbelwind, geboren im Kabinett Uspenskis, machte auf die Lagerverwaltung aller Rangstufen den erforderlichen Eindruck. Nach etwa drei Tagen rief mich Pokkaln zu sich. Die Aufforderung erfolgte in einer äußerst diplomatisch-höflichen Weise: zu mir kam der Chef des Unterlagers, Genosse Doroschenko, sagte mir, daß Pokkaln mich zu sehen wünsche, und daß ich, wenn ich Zeit habe, vielleicht so liebenswürdig sein möchte, bei Pokkaln vorbeizukommen.

Selbstverständlich war ich so liebenswürdig. Pokkaln war ausgesucht höflich: in einem der Befehle wurde allen Abteilungschefs zur Pflicht gemacht, alle fünf Tage persönlich und unmittelbar Uspenski über die geleistete Arbeit zur Durchführung der Spartakiade zu berichten. Was konnte aber Pokkaln eigentlich berichten?

Auch ich war ausgesucht höflich. Gemeinsam knobelten wir den ersten Bericht an Uspenski aus, und ich sagte Pokkaln, daß es für ihn notwendig wäre, für die Abteilung Medgora einen Spezialmitarbeiter ausfindig zu machen. Ich deutete an, daß ich selbst im Maßstabe des ganzen BBK arbeiten mußte und mich mit Kleinigkeiten nicht abgeben konnte. Pokkaln hätte selbstverständlich einen solchen Spezialisten nirgends auftreiben können. Deshalb nahm ich auf die administrative Schwäche Pokkalns Rücksicht und schlug ihm vor, einstweilen die Dienste Georgs zu beanspruchen. Die Dienste wurden auf der Stelle mit Erkenntlichkeitsbeteuerungen angenommen, und Georg wurde als Sportinstruktor der Medgora-Abteilung des BBK »bestallt«. – Das war außerordentlich wichtig für unsere Flucht.

Dann suchte ich mit Pokkaln den Wohnort für die künftigen Spartakiade-Teilnehmer zu bestimmen. Ich schlug vor, das sechs Kilometer westlich von Medgora liegende Unterlager Witschka zu wählen. Witschka bot eine ganze Reihe technischer Vorzüge zur Durchführung der Flucht, die später allerdings nicht in Frage kamen. Pokkaln rief sofort den Chef des Unterlagers Witschka telefonisch an, teilte ihm mit, daß dorthin ein gewisser Genosse Solonewitsch unterwegs sei, der mit politischen Aufgaben betraut sei und auf persönlichen Befehl des Genossen Uspenski handele. Deshalb wurde ich bei meiner Ankunft in Witschka von dem Chef des Winterlagers genau so empfangen, wie seinerzeit »Genosse« Chlestakow von dem »Genossen« Skwosnik-Dmuchanowski empfangen wurde Gestalten aus dem »Revisor« von Gogol..

Witschka selbst war eine nicht uninteressante Schöpfung des sowjetistischen Aufbaues. – Auf einem Gelände von acht Morgen war der Wald gerodet, die Steine wurden abgefahren, die Gruben zugeschüttet und darauf Treibhäuser errichtet. In ihnen wurde das Gemüse für den Bedarf der tschekistischen Kantinen und Verteilungsmagazine gezogen.

Um in Moskau eine Fensterscheibe einzusetzen, mußte man einen großen Vorrat an gewandtem Lavieren und Glück haben. Hier aber waren acht Morgen unter Glas gesetzt, und man zog unter diesem Glas Gurken, Tomaten, Wassermelonen und Melonen. Aus dem ganzen BBK wurde hierher zugweise Pferdemist zusammengefahren, die WOCHR-Kommandos suchten in den Dörfern jeden Winkel nach Kuhmist ab. Man vergeudete für diesen Bau eine unglaubliche Menge von Volksarbeit und Volksgeld.

Ich kam nach Witschka so ziemlich als Ehrengast, doch immerhin zugleich als sehr verdächtiger Gast. Der Chef des Unterlagers konnte selbstverständlich nicht glauben, daß all diese Befehle wegen irgendeines Fußballspieles erlassen waren; in seinen Augen stand es: auf den Leim krieche ich nicht, kennen wir schon … Deshalb hat man mir gleich am Anfang den Ober-Agronom Witschkas beigeordnet. Er war ebenfalls ein Insasse und schleppte mich gleich mit, um mir seine Gemüseerrungenschaften zu demonstrieren.

Zu demonstrieren war eigentlich nichts. Es gab verkümmerte, blutarme Gurken und ebensolchen Salat; Tomaten waren noch nicht da, die Melonen und Wassermelonen sollten noch kommen. Im großen und ganzen – Polar-Gemüsewirtschaft. »Zueigenmachen der Polarmassive.« Anwendung der sozialistischen Agrikultur am Polarkreis: für Bolschewiken gibt es nichts Unmögliches.

Unmögliches gibt es tatsächlich nicht. Bei dem bolschewistischen Verhältnis zur Arbeit kann man auch auf dem Nordpol Kokospalmen großziehen: warum auch nicht? Aber mit dem Aufwand nur eines Hundertstels all dessen, was in die Witschka-Treibhäuser hineingesteckt wurde, konnte man ganz Medgora mit Tomaten überschütten, die in der Ukraine ohne jegliches Glas, ohne jegliche Errungenschaften und ohne jegliche Experimente sonst im Überfluß wuchsen. Allerdings haben die Tomaten infolge von analog liegenden Experimenten in der Ukraine zu wachsen aufgehört.

Der Agronom erwies sich als ein Enthusiast. Wie bei allen Enthusiasten, dominierte bei ihm das Futurum überwältigend über das Präsens.

»All das, verstehen Sie, ist nur der Anfang. Nur die ersten Schritte in der Sache des landwirtschaftlichen ›Zueigenmachens‹ des Nordens. Sobald das Elektrizitätswerk an der Kumsa fertiggestellt ist, werden wir diese Treibhäuser elektrisch heizen.«

Wahrscheinlich wird man sie elektrisch heizen. Denn das Projekt der Errichtung eines gigantischen achtzig Meter hohen Dammes und des Baues eines Wasserelektrizitätswerkes an dem Nachbarflüßchen Kumsa war fast ausgearbeitet. Selbstverständlich projektierte man diesen Bau unter Ausnützung von Zuchthäuslerarbeit und auf den Zuchthäuslerknochen. Irgendein Akulschin wird, statt bei sich zu Hause Hunderte von Tonnen Tomaten ohne jegliche Wasserelektrizitätswerke zu ziehen, hier irgendwo unter diesem Damm verwesen. Doch Tomaten wird es nach wie vor weder hier noch dort geben.

Das ist ein weiteres der unsinnigen und lasterhaften Bilder von der sowjetistischen Wirklichkeit. Es genügt eine kleine Sammlung von diesen Bildern irgendwo einzeln herausgerissen, um sich einen Eindruck über das Ganze bilden zu können. So auch mit Witschka. Einen Monat später wurde ich als Dolmetscher einer ausländischen Delegation beigeordnet; die Delegation besah sich alles, sagte ach und oh, ich fühlte mich aber so dumm und so angewidert, daß mir sogar jetzt die Beschreibung dieses Vorfalles schwerfällt.

Prüfend sah ich den Agronom an, wer kann sich da auskennen? Organisiere ich doch, um meine Haut zu retten, meine völlig idiotische Chalture mit der Spartakiade! Vielleicht rettet auch der Agronom seine Haut mit seiner Witschka-Chalture? Wohl wird Witschka um ein Vielfaches teurer als meine Spartakiade sein, aber wenn es sich um die eigene Haut handelt, dann genieren die Menschen keine Ausgaben, besonders wenn diese Ausgaben auf fremde Rechnung gehen.

Ich habe sogar versucht, diesen Agronom verständnisvoll anzuzwinkern, wie es die vernünftigen Sowjetmenschen untereinander oft tun. – Keinen Eindruck! Seine Polartomaten nahm er ganz ernst. Mir wurde etwas bange: ich habe Angst vor Enthusiasten! Und da steht vor mir einer von diesen. Für diese Tomaten wird er seinen Kopf nicht schonen. Das sieht man gleich, aber in noch geringerem Maße wird ihn mein Kopf kümmern.

Mir wurde vor dem Agronom widerlich und bange. Ich versuchte eine Andeutung zu machen, daß man diese Tomaten am Dnjepr, am Don, im Kubangebiet in Millionen Tonnen, ohne jegliche Elektrifizierung großziehen kann, und Platz hat man dort, Gott sei Dank, noch Hunderte von Jahren. Der Agronom sah mich verächtlich an und verstummte, als ob er sagen wollte, es lohnt sich nicht, Perlen vor die Säue zu werfen … Doch hat er mich reichlich mit Gurken versorgt.

 

Kurort Witschka

Eine Baracke für die Teilnehmer der Spartakiade zu bauen, erwies sich als unnötig. In Witschka war soeben ein großes Holzgebäude für das Kontor des Sowchoses beendet, und dieses belegte ich einstweilen für Wohnungen meiner Sportsleute. Übrigens nisteten sich dort nicht nur Sportsleute ein: ich hatte sowieso nicht vor, die Spartakiade durchzuführen, und suchte mir allerhand Publikum zusammen, vorwiegend nach dem Gefühl persönlicher Sympathie – sozusagen »Protektionismus«. Georg und ich kamen in die Lage von Harun al Raschid: wir hatten die Möglichkeit, auf dem allgemeinen Hintergrund eines Zuchthauslebens um uns herum Wohltaten zu spenden – zwei Monate eines satten und freien Lebens im »Kurort« Witschka. Wir waren freigebige Spender, am Ende steht sowieso die Flucht: was riskieren wir da auch? Wir legten uns ins Gras und hielten Ausschau: wen nehmen wir noch? Unterkunft war also da, die Verpflegungsfonds dazu für eine gute Verpflegung waren bereitgestellt – es wäre schade, die Kurortplätze leerstehen zu lassen. Für medizinische Überwachung der teuren Gesundheit der Trainierenden zog ich aus der tschekistischen Zentralambulanz einen bejahrten Chirurgen heraus, der vom Lagerleben völlig zerrüttet war; als Gegenleistung hierfür, obwohl ich damals an eine Gegenleistung gar nicht dachte – bekam ich die Möglichkeit, meine Nerven mit Charkeau-Brausen, Massage, Elektro-Therapie, Höhensonne und mit übrigen Dingen zu behandeln, die sonst unter europäischen Bedingungen wahrscheinlich sehr ins Geld gelaufen wären. Ungefähr auf gleiche Weise waren zwei Stenotypistinnen der BBK-Verwaltung »befreit« – eine hatte bereits sieben, die andere sechs Jahre abgesessen. Kurzum – es wurden nach Witschka Menschen versetzt, die in gar keinem Verhältnis zu der Spartakiade standen, auch nicht stehen konnten.

Alle meine Anweisungen bezüglich dieser Versetzungen führte Pokkaln strikte und ohne viel Reden aus. Ich habe allen Grund anzunehmen, daß ich in diesen Wochen Pokkaln zum Halse hinaushing, und daß er von meiner Spartakiade wie von einem achtarmigen Polyp, mit einer Brille auf jedem Arm, träumte. Und wenn sich jemand über unsere Flucht aus dem Lager freute, so war es Pokkaln: es fiel ihm bestimmt ein großer Stein vom Herzen. Es gab auch ein kleines Quidproquo. Georg machte durch Chlebnikow einen siebzigjährigen Geologieprofessor ausfindig, dessen Name auch im Ausland nicht unbekannt war. Ich nahm auch dieses Risiko auf mich und ging zu Pokkaln. – Sogar das lettische Phlegma des Genossen Pokkaln kam aus dem Gleichgewicht:

»Na, wissen Sie, Genosse Solonewitsch, das geht doch über die Hutschnur. Wozu brauchen Sie ihn denn? Der ist doch weit über sechzig, soll er bei Ihnen Fußball spielen?«

»Aber, Genosse Pokkaln, Sie verstehen doch selbst, daß die Spartakiade im Grunde genommen nicht eine sportliche, sondern eine rein politische Bedeutung hat.«

Pokkaln sah mich gereizt an, tat aber so, als ob er die politische Bedeutung völlig erfaßte. Mich genau zu befragen und folglich das Gegenteil zugeben zu müssen – wäre unschicklich: ein sonderbares Parteimitglied wäre er dann.

Völlig erstaunt packte der Professor seine Habseligkeiten zusammen, wurde nach Witschka übergeführt, saß dort in der Sonne und angelte Forellen. Später fragte er mich immer noch entgeistert:

»Hören Sie mal, Sie sind hier so etwas Ähnliches wie ein Leiter … Erklären Sie mir um Gottes willen, was dieser Traum bedeutet?«

Ihm eine Erklärung abzugeben, hatte ich aber gar keine Möglichkeit. Aber als Belohnung für das Kurortleben bat ich den Professor, mir das Forellenangeln beizubringen. Der Professor versuchte es zwei Tage lang und ließ es dann sein:

»Entschuldigen Sie, ich habe mich mit Autodidakten niemals abgegeben … Sie müssen schon entschuldigen, einer ähnlichen Talentlosigkeit bin ich noch nie begegnet. Ich empfehle Ihnen dringend, niemals eine Angel in die Hand zu nehmen. Es wäre eine Entweihung!«

Georg, in dem neuen Rang des Sportinstruktors der Abteilung Medgora des GPU BBK, klapperte die Unterlager ab und sagte mir gelegentlich: »Dort, auf dem Unterlager 6, ist eine Buchhalterin« … Die Kandidatur dieser Buchhalterin wurde in Erwägung gezogen, und die Frau kam aus der Umwelt eines hungrigen zwölfstündigen Arbeitstages, aus verwanzten Baracken und allerhand Drangsal – ohne ihren eigenen Augen zu trauen – nach Witschka.

Ich wäre heute gern bereit, eine Menge Geld zu bezahlen, um sehen zu können, wie Uspenski nach unserer Flucht meine Spartakiade auslöffelte und wie Pokkaln – meinen Kurort in Witschka. Auf jeden Fall war es eine selten fröhliche Periode meines Lebens.

 

Auf dem Olymp

Meine Beziehungen zu Uspenski – wenn sie auch einige Züge der Menschlichkeit vermissen ließen – litten auf jeden Fall nicht an Mangel an Originalität. Aus der Lage eines inhaftierten Zuchthäuslers wurde ich auf den Wink einer Vorgesetztenhand in die Lage eines Mitwissers gewisser Spitzbubenkombinationen versetzt – in die Lage sozusagen eines Mitbesitzers eines gewissen Spitzbubengeheimnisses. Uspenski hatte genügend Mut oder etwas Ähnliches, um bei all dem keine ehrliche Miene vorzutäuschen, ich auch. Es war eine gegenseitige Verständigung vorhanden, zwar nicht ganz hundertprozentig, sie war aber da.

Uspenski rief mich mehrere Male in einer Woche zu sich, zur unpassendsten Tages- und Nachtzeit, hörte meine Berichte über den Lauf der Dinge an, bestellte und zensierte die Artikel, die für die »Umschmiedung«, für Moskau und für die »brüderlichen kommunistischen Parteien« jenseits der Grenzen bestimmt waren, beriet die Projekte des Szenariums der Spartakiade und dergleichen mehr. Manchmal kam es zu kleinen Mißverständnissen. Das eine wurde durch den Geologieprofessor herbeigeführt.

Uspenski ließ mich kommen. Er sah gereizt aus:

»Wozu, zum Teufel, brauchen Sie diesen alten Knaben?«

»Ich will ihm Korbball beibringen.«

Uspenski wandte sich mir zu mit dem Gesicht, auf dem ziemlich deutlich stand: machen Sie hier gefälligst keine Narrenpossen; das könnte Ihnen sehr teuer zu stehen kommen. Laut fragte er:

»Ist es Ihnen bekannt, was er für ein Amt in der Produktionsabteilung bekleidet?«

»Freilich weiß ich es.«

»Und nun?«

»Sehen Sie, Genosse Uspenski, ich habe Professor X sozusagen als eine Glanznummer der Spartakiade betrachtet … Das größte Udarniki-Moment. Professor X ist ein berühmtes Gesicht und nicht nur in Rußland, sondern wohl auch im Ausland. Ich bringe ihm Korbballspiel bei – natürlich ist es bei seinen Jahren nicht so einfach. Er hat so ein patriarchalisches Gesicht! Wir füttern ihn etwas an. Dann machen wir eine Kinoaufnahme: ein gebräuntes Gesicht, umrahmt von Silberhaar, ehrwürdiger Greis, der alle seine Schädlingsverirrungen von sich schob und nun, umkreist von der mit Enthusiasmus erfüllten Jugend, Korbball spielt oder in den Sportkolonnen mitmarschiert … Sie verstehen doch – all diese umgeschmiedeten Urkis, das ist alt und nicht überzeugend, wer kennt sich da aus bei diesen Urkis? Hier aber ein berühmter Mann, in ganz Rußland bekannt.«

Uspenski nahm sogar seine Papyros aus dem Mund:

»Gar nicht – dumm ausgedacht«, sagte er, »gar nicht dumm. Haben Sie aber daran gedacht, daß der Alte sich vielleicht weigern wird? Ich hoffe, daß Sie ihm von … hm, im allgemeinen von der Spartakiade nichts erzählt haben.«

»Das versteht sich von selbst. Davon, daß er photographiert wird, darf er bis zum letzten Augenblick keine Ahnung haben.«

»S–o–o … Werschbitzki (Chef der Produktionsabteilung) hat mir mit seinem Alten sämtliche Türen eingelaufen. Na, Werschbitzki soll der Kuckuck holen! Nur sehr alt ist Ihr Professor bereits. Soll man ihm vielleicht Sonderdiät verordnen?«

Dem Professor wurde eine Sonderdiät verordnet. Phantastisch!

 

Strandbad

Am Ufer des Onega-Sees lag das Strandbad »Dynamo«. In Moskau, in Petersburg und auch in Medgora waren die Strandbäder der »Dynamo« für die höchste, vornehmlich tschekistische Aristokratie vorbehalten. Hier gab es ein Büfett mit den Preisen des GPU-Kooperativs, d. h. mit den Preisen, die unter der Annahme festgesetzt wurden, daß ein Sowjetrubel ungefähr einem Goldrubel gleich ist – mit anderen Worten, man bekam dort alles fast umsonst. Man bekam hier Kaviar, Butter, gutes Brot, allerhand Leckereien, Wodka und Bier. Auch Ruderboote standen zur Verfügung. Weder freies Publikum, noch weniger Lagerinsassen, ließ man auf Schußweite herankommen. Sogar die örtliche Parteiaristokratie, die mit dem Lager nichts zu tun hatte, kehrte hier schüchtern ein, verdrückte sich in die Winkel und schaute kriecherisch zu den monumental-gemästeten Gestalten der Tschekisten auf. Im Rahmen meiner Tätigkeit war dieses Strandbad mir unterstellt.

Hierher kam manchmal auch der Sekretär des Parteikomitees des freien Bezirkes Medgora, sozusagen der örtliche Adelsmarschall. Er kommt hierher, um wenigstens Tuchfühlung mit den Größen dieser Welt zu nehmen und denkt lange nach: soll er riskieren, ein Gläschen Wodka zu trinken, oder vernünftigerweise sich auf ein Glas Bier beschränken. All diese Radetzkys, Jakimenkos, Korsuns und andere – »Zentralen« – d. h. nach hier von Moskau abkommandierten – Mitarbeiter sind wohlgenährt, sich selbst bewußt – tschekistische Fürsten und Barone. Er aber ist ein schäbiges Sekretärchen aus der Provinz, für den es hier im Bereich des Lagers eigentlich nichts zu tun gibt. Obwohl er im Besitz des Ordens der Roten Fahne ist, wahrscheinlich für irgendwelche Verdienste in der Vergangenheit, dafür aber ein ziemlich zuchthäuslerisches Leben in der Gegenwart führt, ist er doch von den Massiven, von der tschekistischen Residenz-Selbstsicherheit und von den aristokratisch-lässigen Manieren irgendeines Jakimenko beeindruckt, der an ihm vorbeischwebt und für den er ungefähr soviel wie Luft ist. Und gar ich – sozusagen der Abschaum der sozialistischen Gesellschaft – laufe im Strandbad nur mit Badehose bekleidet einher und tausche mit Jakimenko Händedrücke, der sich neben mir in den Sand wirft. Wir führen endlose Gespräche. Ich lehre Jakimenko schwimmen, erteile ihm touristische Ratschläge, mit mir kann man sich im allgemeinen nett unterhalten, und außerdem habe ich eine dicke Nummer bei Uspenski. »Der Adelsmarschall« fühlt, daß alle ihn irgendwie unbegreiflicherweise umgangen haben: ich – der Konterrevolutionär, Jakimenko – »ein Revolutionär« und noch viele andere.

Den Hals abschneiden werden ihm aber irgendwelche »Kulaken«, irgendwo auf der Reise von einem entlegenen Dorf Kareliens in das andere – und sein Nachfolger auf dem Parteiposten wird seine Familie aus der Dienstwohnung in vierundzwanzig Stunden hinauswerfen.

An einem dieser heißen Junitage liege ich auf der Holzanlegestelle des Dynamostrandbades, lasse mich von der Sonne bräunen und lese eine englische Ausgabe von Longfellow. Die Geschichte dieses Buches ist lehrreich und unsinnig genug, um erwähnt zu werden.

Die BBK-Verwaltung hatte eine auserwählte Bücherei – ausschließlich für die Administration und für die Insassen des Unterlagers 1. Diese Bücherei war bedeutend besser als die größten Berufsverbandbibliotheken Moskaus: erstens gab es dort keine Büchermarder, zweitens unterlagen hier die Bücher keinen immer weitere Kreise ziehenden Verboten, so daß man sie in Moskau lediglich auf illegalen Wegen von Hand zu Hand bekommen konnte; schließlich wurde diese Bibliothek mit ausländischer technischer Literatur und Zeitschriften sehr gut versorgt, so daß man daraus einiges über das Auslandleben im allgemeinen erfahren konnte. Ich hatte seinerzeit gebeten, mir aus London Longfellow zu bestellen.

Ein Moskauer Professor muß, um sich aus dem Ausland das von ihm benötigte wissenschaftliche Werk kommen zu lassen, fünfundfünfzig Instanzen durchlaufen, und das mit sehr geringen Aussichten auf Erfolg: Es gibt keine Valuta! Hier aber die GPU? Die GPU hat Geld. Schatzmeister ist Uspenski. Ich habe bei ihm eine dicke Nummer.

So liege ich und lese Longfellow. Georg tummelt sich irgendwo im Wasser, ein halbes Kilometer vom Ufer. Plötzlich höre ich Uspenskis Stimme:

»Klären sich wohl auf?«

Ich drehe mich auf die andere Seite. Vor mir steht Uspenski, angezogen wie immer nach Lagerart, nicht ganz saubere Rotarmisten-Reithosen, aufgemachter Rockkragen: »Ne tolle Hitze.«

»Ziehen Sie sich doch aus!«

Uspenski setzte sich, zog die Stiefel und alles übrige aus. Zwei seiner Leibwächter schlenderten in der Nähe am Ufer und taten so, als ob sie gar nicht hierhergehörten. Uspenski klopfte sich auf den eingefallenen Bauch und sagte:

»Ich magere ab, hol's der Teufel …«

Ich empfahl ihm eine Ruhestunde nach dem Mittagessen.

»Wo denken Sie denn hin mit Ihrer Ruhestunde? Nicht mal zum Verschnaufen habe ich Zeit! … Ach, wie ich sehe, können Sie auch englisch?«

»Einigermaßen.«

»So 'n Burschui!«

»Nicht ohne …«

»Ne tolle Hitze!«

Georg ließ sein Getümmel sein und schwamm in klassischem Kraul ans Ufer – in diesem Kraul durchschwamm er hundert Meter in einer Zeit, die fast einen Rekord für ganz Rußland bedeutete. Uspenski richtete sich etwas auf:

»Kann der aber schwimmen, der Hundesohn … Wer ist das?«

»Das ist mein Sohn.«

»Aha! Ihren Bruder habe ich auf den Solowetzki-Inseln gekannt – das war ein Bär …«

Noch in vollem Schwung erfaßte Georg den Steg der Anlegestelle und sprang in sportlicher Eleganz heraus. Von seinem Haarschopf floß Wasser, so daß er keinen freien Blick hatte, außerdem sah er ohne Brille nicht gerade viel.

»Schwimmen können Sie, man kann wohl sagen, in bolschewistischem Tempo«, sagte Uspenski.

Georg schielte auf den ihm unbekannten nackten Körper:

»Ja, sozusagen, habe mich spezialisiert.«

»Das war ungefähr die Geschwindigkeit eines allunionistischen Rekordes«, fügte ich erklärend hinzu.

»Im Ernst?«

»Sie haben ja selbst gesehen!«

»Nehmen Sie an der Spartakiade teil?« fragte Uspenski Georg.

»Die Glanznummer«, antwortete ich unbedacht.

»Die Glanznummer wird Professor X. sein«, antwortete Georg.

Uspenski sah mich unzufrieden von der Seite an: Wie konnte ich auch nur meine Zunge nicht im Zaum halten?

»Georg ist ganz im Bilde. – Mein nächster Stellvertreter. In Moskau hatte er im Kino als stellvertretender Spielleiter bei Romm gearbeitet. Er wird hier die Verfilmung der Spartakiade organisieren.«

»Georg heißen Sie also? Na, da wollen wir Bekanntschaft machen. – Ich heiße Uspenski.«

»Sehr angenehm«, lächelte Georg gezwungen. »Ich kenne Sie, Sie sind der Chef des Lagers, ich habe viel von Ihnen gehört.«

»Was Sie nicht sagen?« staunte Uspenski ironisch.

Georg drückte das Wasser aus seinem Haar, setzte die Brille auf und ließ sich in der Pose nieder, die eine völlige Ungezwungenheit markieren sollte.

»Sie wissen wahrscheinlich, daß ich aufs Technikum gehe?«

»Auch das«, sagte Uspenski ebenso ironisch.

»Das Technikum ist natürlich eine Chalture. Dort, müssen Sie wissen, sitzen nur Urkis. Ein sehr romantisches Volk! – Über Ihre Person hat man da ganze Balladen geschrieben. Das heißt nicht geschrieben, sondern so gedichtet. Aufschreiben, das tue ich.«

»Sie sagen ganze Balladen?«

»Balladen, Poeme, Couplets und alles, was Sie wollen.«

»Sehr interessant«, sagte Uspenski. »Sie haben sie also aufgeschrieben? Können Sie mir etwas davon vorlesen?«

»Das schon, aber ich habe es in der Baracke.«

»Wozu, zum Teufel, wohnen Sie in der Baracke?« wandte sich Uspenski mir zu. »Ich habe Ihnen doch vorgeschlagen, in die Gemeinschaftswohnung der WOCHR umzuziehen.«

Die Gemeinschaftswohnung der WOCHR paßte mir aber in keiner Weise.

»Ich wollte eigentlich nach Witschka umziehen.«

»Können Sie vielleicht etwas von diesen Balladen auswendig?«

Georg deklamierte einiges: Couplets, die man in die übliche russische Sprache nicht übersetzen kann und die völlig undruckfähig waren.

»Ja, es gibt dort talentierte Menschen«, sagte Uspenski. »Doch wird man fast alle erschießen müssen, nichts zu machen!«

Dem Gespräche über die Erschießungen wollte ich ausweichen:

»Sie sagten, daß Sie meinen Bruder von den Solowetzki-Inseln her kennen. Haben Sie auch dort gedient?«

»Ja, ungefähr so, wie Sie jetzt dienen.«

»Doch nicht etwa als Lagerinsasse?« fragte ich erstaunt.

»Ja, auf zehn Jahre. Und wie Sie sehen – nichts. Glauben Sie mir, so nach fünf Jahren machen Sie auch eine Karriere!«

Ich wollte ihm genau so wie seinerzeit Jakimenko antworten: mich interessiert die Moskauer Karriere nicht, geschweige denn eine hier im Lager. Doch fiel mir ein, daß es nicht am Platze war.

»He, Grischuk!« brüllte plötzlich Uspenski.

Einer der Leibwächter lief zur Anlegestelle.

»Geflügelsalat auf Eis, fünf Portionen! Kognak auf Eis – ein Liter. Drei Gläser. Fix!«

»Ich trinke nicht«, sagte Georg.

»Ist auch nicht nötig! Sie sind noch klein. Sie müssen was Süßes haben. Wollen Sie Schokolade?«

»Ja, gern.«

Und so sitzen wir mit Uspenski, alle drei im Adamskostüm, zwischen allerhand parteitschekistischem Publikum am hellichten Tag da und trinken Kognak. All das war sogar nach tschekistischen Maßstäben unanständig, doch durfte Uspenski bei seiner Macht auf den ganzen Anstand pfeifen. Er versuchte, mir zu beweisen, daß ein kluger Mensch nirgends soviel Raum für eine Karriere hätte wie gerade hier im Lager. Hier ist alles sehr einfach: man muß nur ein vernünftiger Mensch sein und vor nichts, aber auch vor gar nichts haltmachen. Dieses Thema beginnt bei mir einen Brechreiz zu erregen.

»Was wollte ich sagen? Ach ja, wegen Ihres Bruders. Wo ist er jetzt?«

»In der Nachbarschaft. Im Swirlager.«

»Paragraphen, Strafzeit?«

»Die gleichen wie bei mir.«

»Unbedingt hole ich ihn hierher. Was, zum Teufel, soll er dort machen? Über die GULAG mache ich es im Handumdrehen … Der Salat ist aber gut!«

Die Leibwächter sitzen unter der sengenden Sonne im Sand, etwa fünfzehn Schritt von uns. Näher wagte sich niemand heran. Der örtliche »Adelsmarschall« hat Jacke und Schlips an, trinkt langsam sein Bier und schwitzt wie ein Bär. Die Rosette seiner »Roten Fahne« schimmert rot wie geronnenes Blut, das geflossen ist, das eigene und auch das fremde; der Adelsmarschall fühlt, daß dieses Blut umsonst vergossen war.


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