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21

Die Voruntersuchung galt noch nicht für abgeschlossen. Dem Richter lag zunächst an völliger Klärung der Waffenangelegenheit, und er ordnete kommissarische und nunmehr eidliche Vernehmung des Oberingenieurs Thiessen in Hamburg an.

Sie brachte nach Verlauf einer Woche die erwünschte Klarheit. Unter dem Druck des Eides hatte Thiessen in einigen Punkten seine bisherige Aussage geändert.

Als Karsten wieder vor dem Oberstaatsanwalt saß, war von der kleinen Unstimmigkeit in der Auffassung der beiden Herren nichts mehr zu spüren. Der Oberstaatsanwalt empfand es nicht als Niederlage, daß die Haftentlassung Hermsdörffers hatte verfügt werden müssen, und Karsten wertete die Bestätigung seiner Meinung nicht als Sieg über den Gegner, sondern als völlig unpersönlichen Erfolg der Justiz.

»Die Sache liegt jetzt klar vor uns, wenn sich auch die Fromann in weiteres Schweigen hüllt oder durch ärztlichen Schutz gehüllt wird.« Karsten hatte wieder das dicke Aktenbündel vor sich und blätterte in dem Sammelsurium von gehefteten und geklebten Bogen, ohne seine Augen ernstlich darauf verweilen zu lassen. Das alles hatte er durch seine Gedanken so oft hin und her gewälzt, daß er der Hilfe nicht mehr bedurfte. »Aus dem bei Eggebrecht vorgefundenen Browning ist der Schuß auf Thiessen abgegeben worden, und zwar vom Doktor. Die Schutzfrist für diesen ist mit seinem Tode abgelaufen. Die Sache muß ihm scheußlich unangenehm gewesen sein. Er hat die Waffe seitdem nicht wieder benutzt, sondern unverändert aufbewahrt. So wurde sie in seinem Schreibtisch gefunden. Daher also der fehlende sechste Schuß. Der Browning Thiessens ist mit sechs Patronen in die Hände der Schwester übergegangen; der fehlende sechste Schuß tötete den Doktor. Das geschah durch ihre Hand, dafür bedarf es nach ihrem Geständnis keines weiteren Beweises. Mag sein, daß sie ihn nicht hat töten wollen, ich nehme das sogar nach den vorliegenden Umständen an. Jedenfalls hat sie dann im ersten Schrecken nach der Tat die Waffe von sich geworfen. Unter ihren Sachen fand man das Etui, das zu der Pistole gehört und das dem des Doktors gleicht. Soweit ist die Rekonstruktion einfach und macht keinerlei Schwierigkeiten.«

»Und wo beginnen die Schwierigkeiten?«

»Wenn sie überhaupt vorhanden sind, liegen sie in der Vorgeschichte. Es wird Sache der Staatsanwaltschaft sein, diese dunkle Vorgeschichte bis zum tödlichen Schuß aufzuhellen. Auf Mithilfe der Täterin dürfte dabei allerdings kaum zu rechnen sein.«

»Und das Motiv?«

»Enttäuschte, meinetwegen auch verratene Liebe, wie Sie wollen, Eifersucht, was weiß ich. Das Frauenherz kennt keine Zwischentemperaturen; es steht auf dem Siede- oder auf dem Gefrierpunkt. Es opfert sich bis zum Letzten, oder – es tötet.«

»Also Anklage wegen Mordes«, warf der Staatsanwalt ein.

Karsten lächelte verbindlich. »Es tötet, aber es mordet nicht«, sagte er, und man merkte seine Bemühung, den Ton reibungsloser Unterhaltung beizubehalten. »Diesen Unterschied herauszuarbeiten, wird die Hauptaufgabe der Verteidigung sein.«

Der Oberstaatsanwalt nahm den Ton gern auf.

»Nein, es mordet nicht«, sagte er, »es geht nur mit scharfgeladener Waffe zum Stelldichein. Es erwägt bei aller Siedehitze recht kühl, wie man keine Spuren hinterläßt, und es versteht, seine Weißglut hinter bereit gehaltener Marmorkälte zu verstecken. Es hat auch auf dem Siedepunkt seiner Gefühle noch Scharfäugigkeit genug, sich vor mißliebigen Augenzeugen in acht zu nehmen. Wie nennt man das dann? Tat im Affekt und ohne Bewußtheit der Verantwortlichkeit?«

»Ganz so schlimm liegt die Sache nicht«, sagte Karsten und empfand es wie eine stille Freude, daß der Ton bei aller Tragik des Gegenstandes so leicht sein konnte, ohne daß ein Verdacht der Frivolität aufkam.

»Der Schießsachverständige bekundet, daß der betreffende Browning einen auffallend leichten Druckpunkt hat, so daß sich der Schuß schon bei äußerst geringem Zutun lösen mußte. Die Waffe ist offenbar nicht gesichert gewesen – was versteht auch so ein Frauenzimmer von diesen Dingen! Es besteht nach ihm die Möglichkeit eines sogenannten automatischen Schusses, abgefeuert ohne einen subjektiven Willen.«

Jetzt mußte der Staatsanwalt lächeln: »Das hat ja den Anschein, als wollte es nicht einmal zu einem Eröffnungsbeschluß ausreichen. Darf man inzwischen fragen, wie diese mysteriöse Vorgeschichte etwa zu rekonstruieren wäre?«

»In ihren tatsächlichen Begebenheiten kenne ich sie natürlich nicht, ich habe mir auch noch nicht den Kopf über die Einzelheiten zerbrochen. Aber Sie können mich schon danach fragen: ich habe mich mit den Gefühlsmomenten auseinanderzusetzen versucht. Eggebrecht und die Schwester hatten ein Verhältnis, wenigstens bestand es während ihrer gemeinsamen Tätigkeit in Hamburg. Man bedenke nun: dieses herbe Mädchen kam nach ernsten Lehr- und Arbeitsjahren in einem Alter, wo die anderen schon ein gutes Dutzend Jahre Frauen und Mütter sind, zu ihrer vielleicht ersten Liebe. Nach ihrer Wesensart ist sie reich beglückt und hält den Zustand für dauernd und für bindend. Sie wächst in ein neues Leben hinein; sie fühlt das tiefe Glück der liebenden Frau. Der ihr diese Jugend schenkte, ist ihr Abgott und findet sie bereit zu jedem Opfer. Sie weiß nicht, daß die Liebe von dem Augenblick an, wo sie ihre Erfüllung fand, den Keim des Todes in sich trägt. Ich will nicht sagen, daß Eggebrecht sie nicht auch geliebt hätte, daß sie ihm etwa nur ein Spielzeug gewesen wäre. Dafür gibt es in seinem Charakter keinerlei Beweise; seiner Natur war Oberflächlichkeit fremd. Aber ihr dauernder Besitz ist ihm eben doch keine Notwendigkeit. Sieht der Stellenwechsel von Hamburg nach hier einer Flucht nicht verzweifelt ähnlich?«

»Einer Flucht allerdings, auch ohne die Frau. Sollte es ihm nicht wünschenswert gewesen sein, zwischen sich und den Schauplatz seiner unglückseligen Schießerei ein paar hundert Kilometer zu legen?«

»Dann also eine Flucht aus doppeltem Antrieb. Uns interessiert jetzt nur der eine. Jedenfalls trennte er sich von ihr, ob heimlich, wie einst Goethe von Frau von Stein, oder ob nach der zwischen Mann und Frau üblichen dramatischen Szene – das weiß man bis jetzt noch nicht. Ich persönlich bekenne mich, nicht nur aus Gründen der Ähnlichkeit, zur ersten dieser Möglichkeiten.«

»Ähnlichkeit? Sie neigen zu kühnen Vergleichen, Verehrtester.«

»Lachen Sie mich nicht aus! Wir haben immer die gleiche Menschentragödie. Das Weib hat dem Mann gegeben, was es auch immer sei: Haltung, Bändigung, geliebte Nähe in der Einsamkeit, seelische Gemeinschaft bis zum körperlichen Besitz. Es kommt die Zeit der Sättigung. Der Mann löst sich los. Wie ertrug es Charlotte von Stein, als Goethe ihrer nicht mehr bedurfte? Sie war aus liebeleerer Ehe gekommen und hatte es tiefbeglückt dem Manne gedankt, daß er mit seiner Liebe ihrem alternden Leben Jugend und Schönheit gab. Sie glaubte nicht an eine Wandelbarkeit dieses Glücks, denn der Nachhall der gegenseitigen Hingabe ist im Weibe ja immer stärker als beim Mann. Sie suchte den Geliebten verzweifelt wieder; aber sie fand bei seiner Rückkehr nichts als den gehaltenen, kühlen Freund. Der Tempel stürzte zusammen. Sie litt unsagbar, wie es nur einem Weibe auferlegt werden kann. Aber sie war durch eine Ehe gebunden; ihr Schmerz wurde stille Bitterkeit und verhaltener Haß.«

»Er war wohl nicht immer so still und verhalten, man kennt ja ihre Äußerungen. Sie schmecken arg nach Galle.«

» Ein Ventil muß ein übervolles Herz haben, sonst bricht es. Hier trennen sich übrigens die Wege. Auch Magda Fromann findet den Geliebten wieder, weil sie ihm einfach nachreist. Ihr Stellenwechsel nach hier ist ohne Zweifel so zu deuten. Auch er ist nicht mehr, der er war; er ist nur Mitarbeiter, Vorgesetzter. Aber sie ist durch keine bürgerlichen Verhältnisse gebunden, sie kämpft ihren schweren Kampf ohne die Fesselung einer Ehe. Ob sie ihm Vorhaltungen gemacht hat? Ob sie ihn zu zwingen versuchen will, ihre, wie sie meint, verletzte Ehre zu retten? Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber sie wäre die erste gewesen, die sich stumm darein gefügt hätte. Sollen alle Brücken zum Glücke abgebrochen sein, die Tore zu einem neuen Leben zugeschlagen für immer? Die Frau gibt nicht so leicht auf, wenigstens die, die wahrhaft geliebt hat. Je tiefer die Liebe war, je schwerer errungen das Liebesglück und je größer das dargebrachte Opfer, um so schwerer führt es zur Gleichgültigkeit gegen den Geliebten und zur Entsagung.«

Der Staatsanwalt lächelte still: »Ein guter Anwalt, dieser Karsten!«

»Nicht vor dem Abend loben! Ich bin gleich am Ende. Was fordert das Schicksal von dieser Frau? Sie sieht die neue Liebe aufkeimen, spürt mit qualvoller Hellsichtigkeit alle die kleinen Merkmale, die ihr Erwachen bedeuten, sieht sich überflüssiger und hoffnungsärmer mit jedem Tag. Frau von Stein konnte die Frau hassen, von der sie verdrängt wurde, – diese Magda Fromann muß sie lieben, denn sie nennt sich ihre Freundin und stattet sie mit allem Guten aus, das die glückliche soziale Stellung ihr ermöglicht. Und sie muß schweigen. Sie fühlt den Mann, der ihr alles war und fürs Leben alles bleiben sollte, immer fremder werden und sich entgleiten. Sie sieht ihn blind für ihre Qual. Und sie schweigt. Der stumme Schmerz steigert sich zur Verzweiflung. Hier endet meine Vorgeschichte. Wer erwartet nun ein normales Handeln?«

»Die Moral fordert es, das Gesetz, die menschliche Gesellschaft.«

»Selbstverständlich«, sagte Karsten, »ganz meine Meinung! Daß ich nicht falsch verstanden werde: das ist nur eins der vielen Paradoxa, über die wir nicht hinweg können. Je tiefer eben die Liebe war und auf je reineren Höhen sie sich bewegte, um so näher lag der Sturz zum Verbrechen oder wenigstens zu dem, was die Menschen Verbrechen nennen.«

»Nennen müssen«, fügte der Staatsanwalt hinzu. »Ohne Zweifel.«

Die Herren schwiegen. Dann hörte man Karsten plötzlich durch die Stille:

»Wissen Sie, was Goethe an dieser Stelle sagt?«

»Der sagt vieles. Der sagt sogar manchmal, was gegen Goethe ist.«

»Hier nicht. An dieser Stelle sagt er: Ihr laßt den Armen schuldig werden.«

»Also doch: schuldig.«

Karsten steht auf. Er verschließt sein Aktenbündel umständlich in die Tasche. Der Staatsanwalt gibt ihm stumm die Hand. Schon unter der Tür, hört er noch die Frage:

»Wer wird sie verteidigen?«

»Doktor Hiller«, ruft er zurück.


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