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Dreizehntes Kapitel.

Der Armenhaus-Martin und sein Wirken. – Eine Zeitungsnachricht. – »Wir wollen!« – Ein Festtag im Zoologischen Garten und ein Elefant als unseres Herrgotts Handlanger. – Von Spital und blauen Scheinen, einem Umzug und gewalttätigen Leuten. – Warum die Nähstubenfräulein nimmer über Lene Wepfer spotten und Madame Reimer in der Kutsche anfährt, um eine Krippe zu sehen. – Von roten Plüschschuhen, die eine Prinzessin bekommt, und einem Rückkehrenden, der sein Ziel nicht erreicht. – »Daheim, endlich daheim!«

 

Wo kommt die Zeit hin? Wohin ist das Jahr entschwunden? Es ist verflossen für Schorsch und Lene in Arbeit und Beruf rasch, dem Großvater, der immer mehr aufs Feiern angewiesen war, oft sehr langsam und trübe. Im Winter war's fast noch leichter, da freute er sich des warmen Ofens und des Unterschlupfs, wenn's auch einer im Armenhaus war. Schaute aber, wie jetzt im Frühjahr, das frische Grün aus Bäumen und Sträuchern, wehten die linden Lüfte und brachten Blütenduft und Grüße vom Wald, da kamen über den einsamen Mann in der dumpfen Stube die alten, schweren Gedanken und dazu neue Versuchungen. Immer wieder drangen die Kinder in ihn, er solle zu ihnen in die Stadt ziehen, und waren nun auch ganz bereit dazu, die Wohnung im vierten Stock zu verlassen und eine andere, passendere zu suchen. Aber des Großvaters Grundsatz: »Ausharren in der Pflicht, die Gott einem auferlegt,« hieß ihn bleiben.

Man sollte es kaum glauben, aber der Christian, der ihm keine Stunde bei Tag und Nacht Ruhe ließ, war ihm lieb geworden, und er wollte bei ihm ausharren, bis Gott ihn abrief. Die Kräfte des Stubengefährten schwanden auch langsam ohne eigentliche Krankheit.

Jedermann wünschte ein rasches Ende, der Großvater aber sagte: »So ein armer Trottel hat auch seine Seele, sie ist nur gebundener und unentwickelter als bei unsereinem. Keins von uns weiß, wie die sich sehnt und wächst da innen. Der Christian hat immer um sich geschlagen, und jetzt streichelt er einen und hört ganz stille zu, wenn man ihm was vorliest, und neulich hat er sogar die Hände gefaltet. Da möchte ich dabei sein, wenn die Erlösungsstunde kommt. Vielleicht, daß man ein bißchen durch den Spalt die himmlische Herrlichkeit zu sehen bekommt!«

Daß der Schuster-Martin vorderhand noch im Armenhaus zu belassen sei, das wurde auch in der letzten Gemeinderatssitzung beschlossen, denn es waren Stimmen laut geworden, er gehöre eigentlich nicht mehr hinein, da er Enkel habe, die für ihn sorgen könnten. Großvaters Wunsch und idealer Grund kam bei diesem Beschluß nicht in Betracht, wohl aber der, daß der blöde Christian verpflegt werden müsse und der Schuster-Martin der billigste Krankenwärter sei. Die Liese, die Dulderin, war inzwischen gestorben, und das andere Weib ging hausieren.

Es war Ende Mai. Draußen im Wald blühten die Brombeeren und Erdbeeren, die wilden Rosen setzten Schößlinge an, Birken und Buchen prangten im leuchtendsten Grün zwischen dem Dunkel der Tannen, und an sonnigen Rainen wuchs gelbes Johanniskraut, blaue Glocken und rosa Nelken.

In der Stadt war es schon dumpf und heiß, und schwül zu Mute war es auch den beiden Menschenkindern in ihrer Dachstube, die, nebeneinander am Tische sitzend, nach dem Nachtessen das Tagblatt zusammen studierten. Schorsch hatte zuerst die Entdeckung gemacht, und dann hatte auch Lene mit Entsetzen konstatieren müssen, daß hier, auf der dritten Seite, der Verkauf eines Hauses im Walde, nahe bei dem Dorfe Buchberg ausgeschrieben war: »drei Stuben und eine Kammer, ein laufender Brunnen, Garten, Wiese und Stall für eine Kuh. Spätester Termin Anfang August, Kaufpreis 3500 Mark – gegen Barzahlung,« hieß es am Schluß. Es konnte kein Zweifel bestehen, das Waldhaus, die liebe, alte, nie vergessene Heimat – es war nun wirklich ausgeboten. Jeder, dem es gefiel, und der das Geld dazu hatte, konnte es erwerben und konnte in den Räumen, den trauten, für immer bleiben und wohnen.

Zuerst sagten die beiden gar nichts. Es war zu überwältigend, so etwas schwarz auf weiß gedruckt zu lesen. Lene fand zuerst die Sprache wieder, und Schorsch wurde noch verwirrter, als sie ganz einfach sagte: »Wir kaufen's!«

»Wovon?« sagte er.

»Von dem, was wir haben, von dem, was wir noch erwerben!« Lene sprudelte das letztere ganz aufgeregt heraus, lief an den Schrank und holte ihr und des Bruders Sparkassenbuch.

Wieder zählten und rechneten und berechneten die beiden, und es wurde ihnen so heiß dabei, daß Lene sich den Schweiß von der Stirn wischte und aufstand, um das zugegangene Fenster wieder zu öffnen.

»Also!« sagte Lene und setzte sich wieder. »Anders ist's doch als damals! Da hatten wir 500 Mark zusammen. Jetzt hast du 415 und ich 637 Mark und 50 Pfennig dazu erspart, macht alles zusammen 1552 Mark und 50 Pfennig.«

»Aber das ist ja nicht die Hälfte! Wo soll das übrige herkommen?«

»Ach Schorsch, lieber Schorsch, es muß, es geht ja doch nicht anders, wir müssen's beschaffen!« Lene stützte die Arme auf und sah Schorsch an, als erwarte sie von ihm eine Offenbarung.

Der kraute sich am Kopf und sagte: »Ich weiß keinen Rat!«

Lene war aufgesprungen, es litt sie nicht mehr auf dem Stuhle, und im Zimmer auf und ab gehend, reckte sie ihre Arme, als ob sie messen wollte, wieviel Kraft darin sei. Dann sagte sie: »Hinaussehen tu ich auch nicht, aber wir müssen's versuchen.« Wieder setzte sich Lene. »Also so viel steht fest, Schorsch, von heute ab bis zu dem Tag, wo das Waldhaus verkauft wird, fangen wir eine neue Einteilung an, und gespart wird an jedem Pfennig!«

»Sehr üppig haben wir doch bisher auch nicht gelebt!« Schorschs Stimme klang fast kläglich.

»Nein,« sagte Lene, »aber alles irgendwie Entbehrliche wird jetzt weggelassen. Dem Großvater haben wir erst Geld geschickt, der braucht vorderhand nichts weiter. Unsere Kleider sind imstande, die müssen reichen. Du läßt das Rauchen und das Biertrinken, und ich kaufe mir keine neue Wäsche, wie ich wollte. Unser Gehalt ist jetzt ein schönes, und so müssen wir wenigstens die 2000 Mark voll zu machen suchen.«

»Aber das sind keine 3500!« wendete Schorsch wieder ein.

»Wenn wir nur erst einmal ernstlich unsere Pflicht tun, dann tut der liebe Gott vielleicht ein Wunder!« Lene faltete die Hände. Sie sah in diesem Augenblick dem Großvater gleich.

»Wunder geschehen nicht mehr!« sagte Schorsch niedergeschlagen. Aber dann kam doch auch etwas von der Schwester Unternehmungslust über ihn, und er sagte: »Ich führ's jetzt doch aus, was ich schon lange wollte. Ich gehe in der Morgendämmerung fort und hole Salamander und Frösche und derartiges. Und des Abends mach' ich kleine Terrarien und richte sie ein. Die kann man teuer verkaufen, das weiß ich, und gar viele Leute kommen in meinen Zoologischen und sehen's!«

Die Geschwister saßen noch lange beisammen, und auch Lene besann sich auf Extraverdienste. Als sie endlich zu Bett ging, gelobten sie sich zu tun, was sie könnten, sie wollten aber niemand ein Wort davon sagen, nicht einmal der Babette.

»Man lacht uns sonst aus! Ja, wenn wir auch wie andere Kinder einen Vater gehabt hätten, der einen versorgt, und zu dem man hätte kommen können, wenn's not tut!« klagte Lene und löschte dann sorgsam die Lampe, denn es war schon spät. So wie diese war längst alles Hoffen auf eine Rückkehr des Vaters und auf irgend eine Nachricht von ihm erloschen wie auch begreiflicherweise der letzte Rest von Liebe und Anhänglichkeit der Kinder zu ihm. Dieses Recht hatte der Gipser-Fritz verscherzt.

... Bei den Tieren im Zoologischen Garten spukte auch das Frühjahr. Ein Teil erwachte aus dem Winterschlaf, ein Teil wurde mutwillig, wieder ein Teil erregter und wilder als sonst. Zu diesen letzteren gehörte Jack, der Riesenelefant. Er liebte Schorsch zärtlich und wußte dies mit schmeichelnden Rüsselbewegungen und Trompeten auszudrücken. Gegenwärtig zeigte sich diese Liebe in Eifersucht, und er konnte mächtig die Stimme erheben und mit den Füßen trampeln, wenn irgend jemand ihm Schorsch entzog.

Heute war ein festlicher Tag für den Garten. Die Prinzessin Isabella war von neuem in Schömberg gewesen, und auf ihrer Rückreise in ihre Heimat benützte sie die wenigen Stunden Aufenthalt, die sie hatte, um sich den Zoologischen Garten einmal wieder anzusehen. Es war ein größeres Gefolge, das sie begleitete. Baronin Schlüter war auch dabei, und die Frau Prinzessin hatte bestimmt, daß Isa und Thereschen mitgenommen wurden. Der Herr Direktor führte die hohe Gesellschaft und erklärte. Schorsch war stets zur Hand und produzierte, wo es nötig war, die einzelnen Tiere.

»Was hat sich der Garten vergrößert, seit wir als Kinder hier waren, Resi!« sagte die Prinzessin und erzählte Thereschen, die immer an ihrer Seite sein mußte, wie man die Mutter, das einstige Reserl von Schömberg, am ersten Tage nach ihrer Ankunft von dort hierher geführt habe, damit es sein Heimweh vergesse.

»Ich hätte kein Heimweh bei Ihnen gehabt,« sagte die Kleine, die schwärmerisch an der fürstlichen Patin hing, und diese drückte fest die Kinderhand. Liebe tat dem sich oft einsam fühlenden Herzen so wohl. Bald nach ihrer Verheiratung hatte Prinzessin Isabella rasch nacheinander beide Eltern verloren, und der Bruder, der noch jugendliche Landesfürst, machte gegenwärtig große Reisen und weilte in der Ferne.

Die Gesellschaft war inzwischen an den großen eingezäunten Platz gekommen, der Jacks Reich war, und in dem er nach Belieben herumstampfen konnte. Doppelte Schranken trennten das Publikum von dem mächtigen Tier, aber der lange Rüssel reichte doch so weit herüber, daß er die ihm gereichten Leckerbissen in Empfang nehmen konnte.

Nun war Schorschs Glanzpunkt gekommen. Die ganze Zeit über hatte er sich darauf gefreut, mit seinem großen Freund, der ihm fast immer aufs Wort gehorchte, Staat machen zu können. Er ging durch das Stallgebäude zu ihm hinein, und Jack drehte sich sofort um, als er die bekannte Stimme hörte, trottete auf den Eintretenden zu und gab ihm einen Kuß, d. h. er drückte die Öffnung seines Rüssels auf Schorschs Mund. Nun hieß dieser ihn ein Kompliment machen, worauf der eine der dicken Hinterfüße ganz regelrecht auf dem Boden scharrte. Dann mußte er »Bitte, bitte!« machen, aufwarten und durch einen kurzen, heiseren Ton seinen Dank bezeigen.

Das Tier folgte tadellos, und Schorsch stand voll Stolz neben ihm, als der gewaltige Koloß sich vom Totstellen, dem letzten der Kunststücke, wieder zu seiner ganzen Größe erhoben hatte. Schorsch wollte eben die Zuckerstückchen, die Jack stets zum Schlusse der Vorstellung als Belohnung spendiert wurden, ihm geben, als die Frau Prinzessin ihn zu sich vor die Balkenumzäunung rufen ließ. Thereschen hatte ihr eben erzählt, daß der nette junge Mensch da drinnen der Bruder von der Lene Wepfer sei, und die Frau Prinzessin sprach nun doppelt freundlich mit dem bescheiden seine Mütze in der Hand haltenden Burschen.

»Wie geht es Ihrer Schwester? Ist sie noch bei Madame Reimer? Wie haben Sie mit diesem Riesentier das alles zustande gebracht? Brauchte es viel Zeit? Ist der Elefant immer gutartig, oder hat er auch seine schlimmen Tage?«

Auf alle diese Fragen mußte Schorsch gebührend Antwort geben, aber es war ihm, als dies einige Zeit wegnahm, nicht ganz behaglich dabei, denn er kannte seinen Zögling – warten mochte der nie, das verstimmte ihn – und er hörte ihn auch ungnädig hinter sich hin und her trotten. Zum Glück war die Unterredung nun zu Ende. Da hatte Thereschen, stolz auf ihren geschickten Freund, die unglückselige Idee, ihm die Hand über die Barriere hinüberzureichen. Das aber ertrug Jack nicht. Ein zorniger Trompetenstoß aus seinem Mund, ein Senken des Rüssels, und ehe der entsetzte Schorsch oder irgend jemand es verhindern konnte, hatte der Elefant das Kind fest an seinen Kleidern in der Taille gefaßt und in die Höhe gehoben.

Es war ein Moment äußerster Gefahr. Kam die Kleine unter die Füße des Tieres, so war sie verloren. Der Direktor sprang hinzu und ergriff eine eiserne Stange, Schorsch aber rief gebieterisch: »Zurück!«

Das Tier stand, seine Beute hochhaltend, nah am Gitter und sah boshaft und mißtrauisch mit seinen kleinen Augen nach dem Wärter, der, eine dünne Gerte in der Hand, sich ihm näherte.

»Aufpassen – fassen da draußen!« rief Schorsch in höchster Erregung. Ein scharfer, sausender Hieb auf den Rüssel des Tiers, und dieses ließ los, was es gefaßt. Das Kind fiel in das weiche Gras zwischen den beiden Bohlenumfriedungen, und ein Dutzend hilfbereite Hände nahmen es in Empfang. Außer dem furchtbaren Schrecken hatte Thereschen keinen Schaden erlitten, während ihre Mutter sich kaum aufrecht erhalten konnte und die Prinzessin totenblaß Anordnungen traf, daß Belebungs- und Stärkungsmittel gebracht würden. Aber keiner der Befehle wurde für den Augenblick ausgeführt über dem, was sich jetzt in dem inneren Raum abspielte. Jack, in seinen tiefsten Gefühlen der Anhänglichkeit gekränkt wie auch über den empfindlichen Schlag – den ersten, den er von seinem Freunde erhalten – außer sich, wendete sich, ehe Schorsch hinausspringen konnte, und drückte ihn mit der Breitseite seines gewaltigen Körpers gegen die dicken, eichenen Schranken, so daß diese krachten und sich bogen. Zum Glück hatte er nur noch die linke Schulter und den Oberarm Schorschs, dem eine geschickte Wendung gelungen war, gefaßt, aber die heftige Quetschung genügte, um ihn ohnmächtig niederfallen zu lassen, nachdem der Direktor, der andere Wärter und einige herbeigerufene Knechte von außen durch Stangen und Eisenstücke das erzürnte Tier auf die andere Seite getrieben hatten. Ehe es wieder herüberhastete, konnte Schorsch herausgezogen werden. Ein zufällig im Garten anwesender Arzt war gleich zur Hand und erklärte, er könne auf seine flüchtige Untersuchung hin nicht sagen, ob etwas gebrochen oder ob die betroffenen Teile nur gedrückt seien. Der Verletzte müsse sofort ins Spital gebracht werden. Dort werde eine genaue Untersuchung gleich den Umfang der Verletzung feststellen.

Die Baronin, die sich wieder gewaltsam gefaßt hatte, beteiligte sich beim Verbringen des noch halb vor Schmerz Betäubten auf eine Bahre und beruhigte ihn; sie werde selber nachher zu Lene gehen, sie von dem Geschehenen in Kenntnis zu setzen. Die Frau Prinzessin aber, das am ganzen Körper noch zitternde Thereschen fest an der Hand haltend, beorderte einen der anwesenden Herren, daß sie für die entstehenden Kosten eintreten werde.

Schorschs Verletzungen waren nicht ungefährlich infolge innerlicher Blutaustritte, auch hatte er heftige Schmerzen auszustehen. Lene war in den Tod erschrocken, als sie, vom Nähen hinausgerufen, ihre Baronin im Wartezimmer fand, die ihr möglichst schonend den Unglücksfall beibrachte. Lene mußte sich setzen, so zitterten ihr die Knie, und mit gerungenen Händen und tief gesenktem Kopf sagte sie: »Und gerade jetzt, gerade jetzt!«

Die Baronin wollte wissen, was das heiße, und Lene erzählte ihr schluchzend von all den Anstrengungen, die sie beide machten, um ihr geliebtes Waldhäuschen wieder zurückzukaufen.

»Es fehlen uns ja noch fünfzehnhundert Mark, und nur noch wenige Wochen sind bis zum Verkauf. Wir dachten, wenn wir noch tausend Mark zusammenbrächten, so würde der Ochsenwirt, obgleich er auf Barbezahlung dringt, mit den übrigen fünfhundert Mark warten.«

Baronin Schlüter drückte Lene voll Teilnahme die Hand und sagte, wie tief sie sich in Schorschs Schuld fühle, und wie die Geschwister ihr erlauben müßten zu tun, was in ihren Kräften liege. Aber Lene erschrak und wehrte ab. Wußte sie doch, daß Schlüters nicht reich waren und absolut kein großes Opfer bringen konnten.

Ein paar Wochen später – Schorsch lag noch zu Bett, aber die Schmerzen hatten nachgelassen, und die Gefahr war vorüber – saß Lene bei ihm und erzählte vom Großvater. Es war Sonntag. In der Frühe hatte sie einen Besuch bei ihm gemacht, und jetzt kam sie direkt von Buchberg. Vor einigen Tagen war der arme Blödsinnige gestorben, »heimgegangen,« wie der Großvater sagte. Und es hatte sich wirklich ein ganz kleiner Spalt des Verständnisses dabei geöffnet, denn er, der gänzlich Geistesschwache, hatte dem Großvater noch die Hand getätschelt und gesagt: »Brav!« und ganz zuletzt war er mit einem vernehmlichen »Abba« und gefalteten Händen zur ewigen Ruhe eingegangen.

»Gestern ist er beerdigt worden, und denk dir, Schorsch, jetzt hat der Großvater auch noch Heimweh nach ihm, wo man doch glauben sollte, daß er froh sein müsse über die Erlösung,« sagte Lene.

»Hast du nichts gehört vom Verkauf?« fragte Schorsch. Er und Lene wußten ja bestimmt, daß sie nicht mehr daran denken konnten, das Waldhäuschen zu erwerben, aber wie schwer ihnen dies fiel, gestand keins dem andern. Jetzt, wo den Großvater nichts mehr im Armenhaus hielt, trat die Frage wieder in den Vordergrund: Was mit ihm anfangen? Wohin mit ihm, wo er sich einigermaßen behaglich fühlen konnte?

Die pflegende Schwester kam und teilte die eingelaufenen Briefe aus.

»Hier ist ein ganz dicker für Herrn Wepfer. Und was für ein schönes Wappen ist drauf! Wahrhaftig, eins mit einer Krone!«

Lächelnd reichte sie das Schreiben dem Adressaten und ging weiter. Schorsch aber, der es zweifelnd, ob's ihm auch gehöre, herumgedreht hatte, gab es Lene zum Öffnen. Ein zweites Kuvert fiel heraus, in dem waren zehn blaue Scheine – schöne blaue, mit je einer deutlichen 100 darauf, und der Brief, auf großem, amtlichem Format geschrieben, lautete:

 

Geehrter Herr!

Ihre Königliche Hoheit die Frau Prinzessin von X. beauftragen mich, Ihnen beifolgend die Summe von Mark 1000.–

sage: Eintausend Mark

zu übersenden.

Sie haben aus Anlaß des bedauerlichen Zwischenfalls im Zoologischen Garten so viel Mut und Aufopferung bewiesen bei Rettung des Patenkindes Ihrer Königlichen Hoheit, der kleinen Baronesse Schlüter, daß die Frau Prinzessin Ihnen gern hierfür und für die Schmerzen, die Sie ausstehen mußten, eine Freude machen möchte, annehmend, daß diese Summe Ihnen vielleicht zur Erfüllung eines Wunsches dienen könnte.

Das Sekretariat
I. Kgl. H. der Frau Prinzessin von X.

 

Da saßen sie nun, die beiden Geschwister, er in seinem Bett, sie auf dem Stuhl, und starrten das Geld auf der Bettdecke und dann wieder den Brief an, und als es gleich darauf klopfte und Babette zu einem Sonntagsbesuch kam, da reichten sie dieser lautlos das Schreiben.

»Was ist denn, daß ihr nicht sprecht und beide so geisterbleich ausseht? Was ist denn passiert?« Babette wollte lesen, aber sie brachte es nicht zu stande; Geschriebenes mochte sie nie gern leiden. So zeigte ihr Lene zuerst die Scheine, einen nach dem andern – es gab eine Reihe über die ganze Bettdecke hinüber – und sagte dann: »Das gehört dem Schorsch. Alles das hat er geschenkt bekommen!« Und dann las Lene den Brief noch einmal vor. Babette sah von einem zum andern, dann sagte sie: »Jetzt so was! Da ist's ja fast der Mühe wert, sich von einem Elefanten an die Wand drücken zu lassen. Doch das ist ein dummer Spaß, gelt, armer Kerl?« Babette schneuzte sich gewaltig. »Aber mich freut nur an der Sache, daß unser Thereschen so heidenmäßig viel Geld wert ist! Und dann – ja du meine Güte – jetzt habt ihr ja das Geld und könnt vor den Ochsenwirt hintreten und sagen: ›Was kost't das Waldhaus? Her damit, jetzt gehört es wieder uns! Wann können wir einziehen?‹«

Lene sah fragend Schorsch an, aber der schüttelte mit dem Kopf. »So weit sind wir noch immer nicht. Selbst mit diesem Geld, das da gekommen ist, fehlen uns noch die letzten fünfhundert Mark. Ein andrer wie der Ochsenwirt würde sie uns wohl stunden, aber ich fürchte ...«

Schorsch und Lene sprachen zusammen hin und her, ob man wohl den Mann, der ihnen einst solches Herzeleid zugefügt, um so etwas bitten wolle und könne, und wer von ihnen beiden diesen schweren Schritt tun solle.

Babette hatte sich inzwischen merkwürdig still verhalten, nur die Bänder ihres schwarzen Sonntagshutes hatte sie gewiß sechsmal immer wieder auf- und zugebunden, und sie war doch nicht nervös. Aber nun hätte man glauben können, daß sie's sei. Denn plötzlich schlug sie mit der Hand klatschend auf die Bettdecke, daß die kostbaren blauen Papiere nur so in die Höhe flogen, und sagte:

»Also das sag' ich euch, der Ochsenwirt wird um nichts gebeten! Das bin ich der Marie, eurer Mutter selig, im Grabe schuldig, daß ich's nicht leide! Und jetzt, erschreckt nicht, die fünfhundert Mark, die geb' ich! Aber halt« – Babette wehrte ab – »noch nichts reden! Umsonst ist der Tod! Für die müßt ihr mir die Stube oben geben und mich bei euch haben, wenn ich in meinem Alter nicht mehr meinen Dienst versehen kann. Zum Haushalten im Waldhäuschen wird die Kraft ja wohl noch eine Zeitlang ausreichen! Was meint ihr dazu, Herr und Frau zukünftige Hausbesitzer, wollt ihr's mit mir versuchen?«

Die zwei, an die diese Rede gerichtet war, meinten gar nichts, das heißt, sie konnten nichts sprechen, sie nicht, weil sie zuerst laut schluchzen und dann der Babette um den Hals fallen mußte, er nicht, weil ihn eine Schwäche überfiel und man ihm stärkende Tropfen geben mußte, was kein Wunder war bei dem Sonderbaren, das da alles so plötzlich geschehen war, und bei der Schwäche, die er noch in allen seinen Gliedern fühlte.

... Der Sommer verging für alle Beteiligten wenig anders als sonst. Lene nähte, Schorsch besorgte liebevoll seine Tiere, eingeschlossen Jack, mit dem er wieder Freundschaft geschlossen. Babette kochte, und der Großvater besohlte Stiefel und machte lange Ruhepausen, wie's gerade kam. Die Stube war nun für den Augenblick sein, aber wie lange? Und wer würde wohl hereinkommen? Das wußte noch niemand, und für jetzt war auch die Leere bedrückend, die Leere in der Stube und im ganzen Armenhaus, denn die Familie mit den vielen Kindern war auch fort, sie war von der Gemeinde weitergeschoben worden, und das alles gab eine große Einsamkeit für den alten Mann, einsam nach außen und innen. Grün und Himmelsbläue waren verbaut, und Mohrle kam auch nicht mehr, der verflossene Winter hatte ihn mitgenommen.

Da war es für den Schuster-Martin eine besondere Freude, daß die Kinder in der letzten Zeit öfter als sonst kamen, einmal sogar an einem Werktag, und sie blieben fast den ganzen Tag, und die Babette, die er hochachtete, war auch dabei. Wie das komme, daß sie frei hätten, hatte er gefragt, und sie sprachen etwas von schönem Wetter, und daß man's benutzen müsse, und man könne sich auch einmal einen freien Tag gönnen. Der Großvater meinte, das hätte man früher nicht gekannt, aber er machte sich dann weiter keine Gedanken über diese Extrafreude, auch nicht, als die drei nach Tisch sagten, sie müßten ein paar Gänge machen, und als gegen Abend der Schultheiß noch kam und Schorsch lange draußen irgend etwas mit ihm verhandelte. Nur als Schorsch beim Fortgehen sagte: »Großvater, jetzt paß auf, Ende der Woche, wahrscheinlich Samstag, kommen wir alle drei wieder. Was meinst du, wir wollen bei der Hitze auch einmal gründlich den Wald genießen, und mach' dich drauf gefaßt, wir nehmen dich mit!« da sagte der Großvater in strengstem Ton, so wie er schon lange nicht mehr gesprochen: »Was fällt euch denn ein, am hellen Werktag immer zu feiern? So was hätte man sich zu meiner Zeit nie erlaubt.«

Er schien ernstlich unzufrieden, aber Lene sagte: »Wir haben wirklich wieder frei, Großvater, und während Schorsch dich ein wenig in den Wald führt, wollen Babette und ich dann deine Stube und deine Sachen gründlich putzen. Es ist die höchste Zeit, daß wieder einmal ein Frauenzimmer drüber kommt!«

Am Samstag rückten richtig die drei schon in aller Herrgottsfrühe an, und der Großvater schüttelte wieder den Kopf, aber er freute sich doch. Nur fanden ihn die Besuchenden in großer Aufregung, und sie sollten bald erfahren, was er auf dem Herzen hatte.

»Denkt euch nur, die Frau Wegmann und der Waschbärbel ihr Sohn haben beide behauptet, das Waldhaus sei in der letzten Woche verkauft worden, der Ochsenwirt habe es nicht mehr halten können. Und jetzt kämen Fremde herein, irgendwoher – es müßten sehr reiche sein, denn sie hätten alles bar bezahlt, und schon dieser Tage komme der Hausrat!«

So viel hatte der Großvater schon lange nicht mehr gesprochen, und Schorsch wendete alle Mühe an, ihn auf dem Gang, den er mit ihm im Wald machte, zu beschwichtigen. »Die Leute,« so sagte er, »sprechen von allerhand, was sie nicht wissen.« – Der Schuster-Martin wollte durchaus zum Bänklein am Wiesenrand geführt sein, um hinunterschauen zu können, ob irgend etwas verändert sei, und er war ordentlich ärgerlich, als Schorsch ihn auf die andere Waldseite drängte, weil es dort schattiger sei. Ihm habe die Sonne noch nie geschadet, sagte der Großvater fast verstimmt. Aber er mußte nachgeben, heute war ja doch alles anders wie sonst.

Währenddem waren Babette und Lene schnell um die andere Ecke gegangen und hatten einem dort harrenden Fuhrmann ein Zeichen gegeben. Der hielt gleich darauf mit einem Pritschenwagen an der hinteren Seite des Armenhauses. Ein Mann aus der Nachbarschaft, mit dem Lene vorher gesprochen, half, und so unauffällig als möglich wurde der kleine Hausrat des alten Mannes auf den Wagen geladen: Sofa, Tisch, Kommode, Kasten, der Arbeitstisch, und das Handwerkszeug nebst den kleinen Gegenständen legte man in Körbe, und die Kiste mit der Krippe wurde auch nicht vergessen. Den Bauer mit dem Vöglein trug Lene in der Hand, und nun ging's sofort dem Wagen nach die Chaussee eine Strecke abwärts. Dann bog dieser ein auf den schmalen Weg zum Waldhaus.

War denn dieses wieder das alte geworden?

Läden, Zaun und Bänke waren frisch gestrichen wie einst, die Grotte mit den Kaninchen war wieder aufgerichtet, der Garten sauber hergerichtet und all das Unkraut um den plätschernden Brunnen her entfernt. In den Stuben standen schon etliche der früheren Möbel und harrten nun der angekommenen, damit es gerade so würde wie damals.

Die Männer schafften, daß ihnen der Schweiß herunterlief, und die Frauen desgleichen. Ein reichliches Trinkgeld erhielt jeder, als alles an seinem Platz war, und Lene sagte tief aufatmend: »Also jetzt! – Drüben in der Kiefernwaldung sind sie! Ihr hebt mir den Großvater fein sacht herauf auf die Kissen – mein Bruder ist ja dabei – und dann fahrt ihr langsam über die Wurzeln im Walde. Und geschwiegen wird bis zum letzten Moment, das sag' ich euch!«

Die Sonne stand schon etwas schräg, und der Großvater war unruhig geworden. Er meinte, gar so viel zu putzen habe es doch wohl nicht gegeben, er sei doch selber von jeher für Reinlichkeit gewesen. Und als Schorsch ihm vorhielt, er habe sich doch immer gewünscht, wieder einmal in den Wald zu kommen, er solle es jetzt auch genießen, da meinte der Alte schließlich energisch: »Jetzt hab' ich's genossen, und jetzt möchte ich heim und einen Kaffee trinken!«

»Das sollst du auch, Großvater, paß nur auf!« sagte Schorsch, der zu seiner Erleichterung eben die Räder des Wagens rollen hörte.

Der Großvater wollte nicht fahren, als das Fuhrwerk vor ihm hielt und er den für ihn bereiteten Platz sah. Schorsch sagte: »Jetzt mußt du einmal tun, Großvater, was wir für gut finden,« und von kräftigen Armen gehoben, wurde der Alte auf ein weiches Plätzchen gesetzt. Es gefiel ihm nun doch.

»Du Tausendsassa!« scherzte er nun, und Schorsch ging lachend nebenher.

»Aber ihr fahrt ja falsch, da geht's doch nicht ins Dorf!« rief der alte Mann, als das Gefährt eine entgegengesetzte Richtung einschlug.

»Nicht ins Dorf, Großvaterle, aber doch heim,« sagte Schorsch, der nun vor innerer Erregung kaum reden konnte. Der Großvater bemerkte mit bangem Herzen, daß es dem Waldhaus zuging, und als gar der Wagen um die Straßenecke einbog, da hätte er am liebsten gerufen: »Kehrt um, ich mag's nicht sehen, es ist mir zu schwer!« Aber, was war das?

Sah es denn nicht gerade so aus wie früher, ehe der Ochsenwirt all die Veränderungen vorgenommen? Und dann, – der Großvater rieb sich die Augen – Herr du mein Gott, war denn das nicht seine Marie, die da oben am Zaun stand, und die »Vaterle, liebes Vaterle!« rief? Nein, es war Lene, die dastand, der Mutter so ähnlich, und die sagte:

»Großvater, lieber Großvater, komm, jetzt sind wir alle wieder für immer daheim!«

Sie hoben ihn herunter. Dann faßte ihn ein jedes von den Kindern unter einem Arm und führten ihn am hellichten Nachmittag durchs Gärtchen und über die Schwelle, die er einst in Dunkelheit und Nacht zum letztenmal überschritten hatte.

»Sagt mir nur, was ist denn? Leb' ich eigentlich noch, oder bin ich im Himmel?« fragte der Großvater mit ganz schwacher Stimme, als die Kinder ihn in die alte Stube zogen.

»Freilich lebt Ihr, Schuster-Martin, und die Babette ist auch noch dabei, die absolut keine Lust hat, abzuscheiden, – jetzt gerade schon gar nicht,« sagte eine nichts weniger als überirdische Stimme. Auf dem Tisch dampfte Kaffee in einer braunen Kanne. Wie kam nur auch die daher? Der Großvater wurde feierlich auf sein Kanapee gesetzt, das doch eigentlich im Armenhaus stand. Aber da hing ja auch sein Hansel, und dort drüben war die liebe alte Arbeitsecke, und zu allen Fenstern schaute der Wald herein, der grüne, frische, erquickende Wald.

»Jetzt wirst du wieder jung, Großvaterle,« sagte Lene innig und stellte sein eingeschenktes Schüsselchen vor ihn. Vier Stück Zucker hatte sie hineingetan, denn er liebte das Süße. Und als der Großvater ein paar Schlücke genommen hatte, – es war nötig, denn ihm war sehr schwach geworden –, da kam endlich das Erklären und Erzählen. Babette aber schlich sich leise dabei hinaus und sah sich oben ihre Stube an; zu so was gehörten nach ihrem Gefühl nur die Eigenen.

... Tack, tack, tacktack!

Wieder erklangen diese Töne aus dem Waldhause, vielleicht etwas weniger kräftig und in langsamerem Tempo als sonst, aber sie erklangen. Das erste, was der Schuster-Martin in der alten, heimischen Ecke in Arbeit nahm, das waren – man mochte ihm dagegen sagen, was man wollte – ein Paar Schuhe für die Frau Prinzessin.

»Da laß ich mir nichts dreinreden! Ich weiß auch, was Dankbarkeit ist, und ich werd's schon noch fertigbekommen. In Straßburg damals hab' ich doch gesehen, was fein ist!«

Und er brachte sie fertig, die schönsten Hausschuhe, die man sich denken konnte, aus rotem Plüsch und innen ganz weich mit getüpfeltem Flanell gefüttert, – »daß sie warme Füße kriegt, wenn sie vom Spazierenfahren heimkommt.« Und wie triumphierte der Großvater, als später ein Schreiben eintraf mit Dank für die so hübschen, praktischen Pantoffel!

Nach jeder Arbeit gibt's nun auch wieder lange Ruhepausen, und der Schuster-Martin sitzt am Fenster und sieht zur Wiese hinauf oder zum Waldweg hinunter, oder er feiert im bequemen Stuhl am Ofen. Draußen gackern wie einst die Hühner, ein Kätzlein schnurrt hinter ihm am Kanapee herum, und ein Mohrle – freilich nicht mehr das alte, aber ein ähnliches, junges – erhebt ein Freudengebell, wenn Schorsch und Lene in Sicht sind. Täglich wandern die Geschwister wie in der Kinderzeit frühmorgens den alten Weg in die Stadt, und des Abends nach getaner Arbeit holt Schorsch seine Lene, der der Gang in der frischen Luft nach dem langen Sitzen eine wahre Wohltat ist, zum gemeinsamen Rückweg ab.

In der Nähstube wird längst nicht mehr über Lene Wepfer gespottet, die sich zwar immer noch unbegreiflich einfach trägt, trotzdem sie die oberste Leitende nach Madame Reimer geworden ist. Im Gegenteil, manches der Mädchen hat sich jetzt auch ein Sparkassenbüchlein angelegt, ob mit großem Erfolg, weiß ich nicht. Aber das ist sicher, daß alle ohne Ausnahme mit Wonne kommen, wenn Fräulein Wepfer alljährlich zur Osterzeit sämtliche Insassen der Nähstube ins Waldhaus einladet. Da gibt es Most und selbstgebackenes Brot, frische Butter, Honig und Eier. Und die Fräuleins mit den hellen Sonnenschirmen, den zum Teil schleppenden Röcken und den bunten Hüten schauen voll Vergnügen in den Stall, wo statt der einstigen Bleß eine Ziege einträchtig mit Hühnern und Kaninchen haust, sie holen sich auf der Wiese Blumen, die noch schöner sind als die auf ihren Hüten, und sie scherzen mit Babette, die trotz aller leiblichen Fürsorge für die Gäste es nicht lassen kann, sich über die jeweiligen Moden, die sie immer gräßlich findet, auszulassen. Für den Großvater aber, der den Ehrenplatz am Tische hat, schwärmen sie alle. Und wenn er vor und nach dem Essen sein Käppchen herabnimmt, die Hände faltet und sagt: »Lieber himmlischer Vater, segne uns und unser täglich Brot!« da überkommt auch die Leichtfertigste unter ihnen eine Ahnung von einem Frieden, der im Ewigen wurzelt, und von einer unvergänglichen Heimat im Himmelsland.

* * *

Stück eines Briefes von Lene an Baronin Schlüter.

Waldhaus, den 8. Januar 19..

... Und weil die Frau Baronin vor Ihrem Wegzug von St. mir erlaubten, auch von Zeit zu Zeit von uns zu berichten, so tue ich's jetzt wieder einmal. Es ist mir immer eine große Freude, mit der Frau Baronin sprechen zu dürfen, die ja unsre Mutter noch gekannt hat und gegen uns Kinder von klein auf so gütig war. Drum ist mir's ein steter Schmerz, daß die Herrschaften so weit fort versetzt wurden, und ich tröste mich nur damit, daß ich Frau Baronin so glücklich weiß, wieder in nächster Nähe der Frau Prinzessin zu sein. Ich hoffe, daß der Herr Baron als Herr Hofmarschall nicht mehr so strengen Dienst hat wie seither. – Unsre Babette und ich zehren noch immer von den schönen Tagen, wo wir das liebe Thereschen mit Fräulein Susanne während des Umzugs bei uns im Waldhaus haben durften, und Großvater ist stolz darauf, daß sie beim Gehen rötere Backen hatte als beim Kommen. Sie war ganz glückselig, als der Brief kam mit der Nachricht, daß die Patin nun wieder ein Prinzeßchen habe, und hofft nur, daß sie trotzdem noch ein bißchen deren Liebling bleibt. Daß Baronesse Isa so umsichtig und geschickt geholfen, hat mich gar nicht gewundert. Darf ich bitten, sie von uns allen zu grüßen? –

Im Walde hat's jetzt viel Schnee, aber trotzdem ist's herrlich schön, wenn Schorsch und ich zusammen unsern Weg machen. Ich bin viel gesünder, seit ich wieder mehr gehe. Der Großvater hat wohl manche Altersbeschwerden, aber im ganzen macht ihn das Glück, wieder »daheim« zu sein, eher frischer. Er fügt jeden Tag dem Morgen- und Abendsegen den Vers bei:

Ist es schon so schön auf Erden,
Ei, wie wird's im Himmel werden!

und dann sagte er – bis vor wenigen Tagen noch – jedesmal:

»Und jetzt laßt uns auch noch in der Stille für euren Vater beten, Kinder!«

Wir haben das ja immer getan, obgleich wir nicht wußten, ob er noch lebe. Da ist nun vorgestern früh der Schultheiß mit einem großen Amtsschreiben gekommen, in dem steht, daß der Gipser Friedrich Wepfer aus Buchberg am 3. Oktober mit dem Schiff »Union«, das von Brooklyn nach Hamburg fahren sollte, untergegangen sei. Also einen Zug nach der Heimat und vielleicht nach uns hat er doch noch gehabt, das ist tröstlich, und der Großvater hofft, daß unser aller Gebete auch für seine Seele nicht verloren sind.

Was wir an Babette haben, ist nicht zu sagen, denn wenn wir zwei den Tag über fort sind, so sorgt sie für den Großvater, der oft scherzt und mit schmunzelndem Gesicht sagt: »Hätte nie gedacht, daß ich in meinem Leben noch eine Mieterin bekommen würde, die mich in meinen alten Tagen noch zum Schlecker macht!« Das ganze Dorf hat aber auch die Babette gern, die jedermann kennt und hilft, wo sie kann, besonders auch der Krämerin, die nun wieder besser dran ist und manchmal des Abends ein Stündchen zu uns kommt. Ihrer Rosa geht's schlecht. Sie hat einen Sergeanten geheiratet, und da sie absolut nicht arbeiten und nur Staat machen wollte, so kam das ganze Hauswesen zurück. Sie näht nun Unterrockrüschen für unser Geschäft, und ich bin froh, daß ich ihr den kleinen Verdienst verschaffen konnte. – Wir haben in unserm Häuschen überhaupt manchen Besuch. Schullehrers mit ihren Kindern kommen immer am Sonntag nachmittag, und unser lieber alter Herr Doktor fährt nie vorbei, ohne geschwind nach dem Großvater zu sehen und einen Träubleswein von Babette zu trinken. So viel Gäste aber wie heuer an Weihnachten hat das Waldhaus wohl noch nie beherbergt. Großvater hat sich wie ein Kind darauf gefreut, wieder nach Jahren die ganze Krippe aufstellen zu dürfen. Allein hätte er es aber nicht mehr gekonnt, Schorsch hat ihm dabei geholfen. Und da ist es so schön geworden, daß selbst der Herr Direktor mit seinen Kindern in den Feiertagen kam, es anzusehen, und Madame Reimer in der Droschke anfuhr, weil die Nähfräulein, die wir an einem der Feiertage eingeladen hatten, ganz begeistert davon gesprochen.

Der Großvater meinte fast verlegen: »Jetzt tät' mich's fast nicht mehr wundern, wenn der König selber noch zu mir altem Armenhäusler käme!«

Verdienen täte der Großvater alles, so viel ist gewiß. Und wenn ich überdenke, wie er gelebt, und was er getan hat, so versteh' ich immer mehr, was die Mutter am letzten Tag noch zu uns gesagt hat:

»Hört nur immer auf das, was euch der Großvater sagt, und glaubt mir, der ist besser und gescheiter als viele andere! Er hat Gott in seinem Herzen und deshalb den Frieden. Und wer den hat, der kann aushalten, auch wenn's ihm nicht zum besten geht. Und Aushalten ist doch das Beste!«

Und nun läßt Babette und er herzlich grüßen. Sie wird das nächste Mal schreiben. Jetzt bäckt sie eben Anisbrot. Fuhrmann Buller, bei dem Schorsch einst gewesen, hat ein Herz- und Magenleiden und ist oft ganz allein, da will sie ihm was bringen.

In Dankbarkeit und Verehrung
Ihre gehorsame

Lene Wepfer.


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