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I.
1732


Erstes Kapitel.

Ein junger Mensch von etwa neunzehn bis zwanzig Jahren schlenderte lässig über den wüsten häßlichen Platz, welcher damals – es war im Jahre 1732 – das Louvre und die an dasselbe anstoßenden Häuserinseln von den Tuilerien trennte. Er war schlank gewachsen, mittler Größe, in seiner Haltung ein wenig vorgebeugt, und sein mehr runder als ovaler Kopf zeigte feine, weiche, Güte und Geist verrathende Züge, die ihn auffallend hübsch machten, obwohl diese Züge nicht gerade regelmäßig waren. Die Nase war ein wenig zu stark gebogen, der schön gezeichnete Mund ein wenig sinnlich geschwellt; das dunkle, schwärmerisch blickende Auge wurde oft von den Lidern halb bedeckt, wenn es einen Gegenstand fixiren wollte, ein Beweis, daß der junge Mann kurzsichtig war.

In seinem Gange war er lässig wie ein Poet. Auch strauchelte sein Fuß mehr als einmal über die kleinen Hügel oder in den Vertiefungen des unebenen, pflasterlosen Terrains.

Er war gut, aber sehr einfach gekleidet, in einen sorgsam gebürsteten Anzug von violettem Tuch; da ihm sowohl der Degen als die Manschetten fehlten, mußte man ihn für etwas weniger als einen Künstler oder Studenten und etwas mehr als einen Handwerker halten.

Offenbar aber war der junge Mann kein Pariser. Man sah ihm schon von weitem den Menschen aus der Provinz an, der zum ersten Male nach Paris kommt und Paris ein wenig unter seiner Erwartung findet. Seine Blicke flogen nach allen Seiten umher, ohne daß der Ausdruck von Mißvergnügen sich verminderte, der auf seinen Zügen ruhte. Das Schauspiel unmittelbar vor ihm war allerdings nicht sehr anziehend. Jenseits des wüsten Platzes, zu seiner Rechten, sprang eine alte verfallene Mauer vor, die einen Bau- oder Holzhof abzuschließen schien. Ein wenig weiter zurück erhoben sich ein paar kleine pavillonartige Bauwerke, die unter sich durch eine lange offene hölzerne Gallerie verbunden waren, unter welcher sich einzeln oder in Gruppen Soldaten umhertrieben; und in der Mitte dieser Gallerie standen zwei winzige Wachthäuser mit einer Einfahrt zwischen sich. Das Alles sah häßlich, kleinlich und schmuzig aus, und unser junger Mann kannte eine schönere Stadt als dieses Paris.

Er schlenderte durch das Einfahrtsthor, an dem Schildwachen von einem Schweizerregiment standen. Nachdem er mit einer besondern Aufmerksamkeit ihre Uniform und ihre Ausrüstung gemustert zu haben schien, wandte er sich mit einer Frage an einen der schildernden Söhne Helvetiens.

»Können Sie mir sagen, Landsmann, wo ich den Obersten Godard vom dritten Schweizerregiment finde?«

Der Soldat mußte nach dem Accent, womit der junge Mensch sprach, den Landsmann anerkennen, denn er antwortete sehr bereitwillig: »Der Oberst Godard vom dritten wohnt Rue des Saints Pères im Rebstock. Könnt ihn vielleicht auch drüben im Garten finden; er ist vorhin hier durch hineingegangen. Wenn Ihr ihn kennt, heißt das!«

»Nein, ich kenne ihn nicht.«

»Reisläufer?« fragte die Schildwache, den jungen Mann musternd.

Die Frage schien etwas zu haben, was diesen unangenehm berührte. Seine ausdrucksvollen Züge, über die ein Schatten flog, verriethen es.

»Nein«, sagte er, sich ein wenig in die Brust werfend, »ich bin kein Reisläufer, wenn ich auch in den Dienst treten will – als Offizier!«

Der Mann unter dem Gewehr warf einen zweifelnden Blick auf die Gestalt, die so wenig vom Cavalier in ihrer äußern Erscheinung zeigte.

»Nun, gratulire!« sagte er dann mit einem Tone, durch welchen etwas wie Spott klang, und wandte sich ab, um sein Geschäft, eine große und schwere Muskete spazieren zu tragen, fortzusetzen.

Der junge Mann aber schritt weiter; er befand sich jetzt im Hofe der Tuilerien und konnte sich nicht verhehlen, daß dieses französische Königsschloß, welches dichter und dichter vor ihm aufstieg, imposant und groß sei. Aber der Anblick fesselte ihn nicht; er hemmte seine Schritte seinetwegen nicht und wandelte weiter durch den mittlern Durchgang, das Vestibule, bis er jenseits den Garten der Tuilerien vor sich hatte.

Der Garten war damals noch ganz so, wie ihn Le Nôtre vor etwa einem halben Jahrhundert angelegt: große, unermeßlich breite Kiespfade, große Bassins mit Springbrunnen und Sandsteingruppen, große Parterres mit Schnörkelfiguren und wenig, verzweifelt wenig Schatten.

Dennoch lag etwas Grandioses in dieser mächtigen und über einen fast unbegrenzten Raum sich ausdehnenden Entwicklung eines falschen und verbildeten Geschmacks; auch imponirte das ihm neue Schauspiel, welches seine Augen überflogen, unserem jungen Fremdling in hohem Grade; er gab sich bald dem Schauen, dem Umherirren zwischen den Parterres, dem Betrachten der aufspringenden Wasserstrahlen, der Sandsteingruppen und nackten Göttinnen hin, daß er augenscheinlich darüber vollständig vergaß, sich nach dem Obersten Godard, den er suchte, umzusehen.

Ihn in dem Garten zu finden, wäre ja auch nicht möglich gewesen. Dazu war dieser viel zu groß, viel zu sehr von Menschen belebt, welche ihren Morgenspaziergang in demselben machten oder auch nur von ihren Geschäften hindurchgeführt wurden.

Zu jenen erstern offenbar gehörte ein alter, sehr alter Mann, der unter der Last der Jahre allerdings gebückt, aber sonst noch ziemlich federkräftigen Schrittes daher wandelte; seiner schlichten schwarzen Tracht nach ein einfacher Geistlicher; aber unserem jungen Fremdlinge fiel, als er an ihm vorüberschritt, der Mann auf wegen des feinen, vornehmen Gesichts und seiner zuweilen, wenn er den Kopf hob, stolz auffliegenden und die Menschen überschauenden Blicke. Er überholte den jungen Mann, indem er unbeachtet durch die Menge der Vorübergehenden wandelte; plötzlich aber blieb eine Gruppe von vornehmen jungen Herren, die plaudernd und lachend herankam, wie überrascht beim Anblick des alten Mannes stehen, wich auseinander, um ihm Platz zu machen, und indem sie die dreieckigen galonirten Hütlein von den gepuderten Köpfen rissen, machte jeder eine jener Verbeugungen, worin die Menschen des vorigen Jahrhunderts so beredt die Grenzenlosigkeit ihrer Unterwürfigkeit unter Alles auszusprechen wußten, was ein wenig mächtiger und vornehmer war als sie.

Hierdurch aufmerksam gemacht, blieben die zunächst Herankommenden ebenfalls stehen und rissen ihre Hüte ab; Viele blickten dem alten Männlein noch eine Weile nach und machten, wenn sie zu zweien waren, Bemerkungen über ihn.

Wer war das schlichte geistliche Herrchen? Unsern jungen Mann interessirte das und er folgte ihm, da es ihm völlig einerlei war, welchen Weg er durch den Garten einschlug, den er sich besehen wollte.

Der Alte aber schien nicht gekommen, sich so anstarren und begrüßen zu lassen, wie es jetzt von Zeit zu Zeit stattfand. Er wandte sich rechts ab, weniger belebten Theilen des Gartens zu. Je weniger der Begegnenden wurden, desto langsamer schritt er, desto freier blickte er um sich; er blieb jetzt von Zeit zu Zeit stehen, um eine Tabatière hervorzuziehen, um auf ein Blumenparterre zu schauen, und schritt dann weiter ganz mit dem Wesen eines Mannes, der sich Sorgen und Geschäften entzogen hat, um in einer vielleicht kurz zugemessenen Muße in heiterer, warmer Luft froh zu werden.

Dann suchte er den Schatten auf, den eine weite Baumpartie gewährte, ein wunderlich Stück Wald, wo die Bäume bis auf den Zoll gleich weit von einander abstanden, in Reih und Glied zu Alleen geordnet, aber doch Schatten gebend und im Bereiche dieser Alleen völlige Stille hütend. Diese Baumpartie lag da, wo jetzt die Rivolistraße ist. Der junge Mann verlor ihn dabei aus den Augen. Er hatte eine große Gruppe von Sandsteinfiguren, welche eine Nachbildung des Raubes der Sabinerinnen von Johann von Bologna darstellte, zu betrachten. Das schöne nackte Weib zuoberst in dieser Gruppe mit ihrem ringenden Körper schien ihn trotz der ziemlich rohen Nachahmung in rohem Material zu fesseln. Als er sich davon losriß, war das alte Herrlein seinen Blicken entschwunden. Nichtsdestoweniger schritt auch er in die Alleen hinein. Er wanderte kreuz und quer darin umher; er sah dem Sprudeln einer Fontaine zu; er lehnte sich an einen Baum und zeichnete mit der Fußspitze Figuren in den Kiessand. Er hatte offenbar den kleinen Geistlichen völlig vergessen.

Plötzlich vernahm er einen halb erschrockenen, halb zornigen Ausruf, dicht in seiner Nähe; er wandte sich und sah nicht zwanzig Schritte von sich entfernt den alten Mann stehen, in eine Querallee hinabblickend.

Der junge Mensch fuhr auf und trat an den Geistlichen heran.

»Kann man so brutal sein wie dieser Mann da!« rief der Geistliche in höchster Entrüstung aus. »Der lange ungeschlachte Mensch dort hat eben dem jungen Mädchen vor ihm eine Maulschelle gegeben!«

In der sonst menschenleeren Querallee, in welche der Geistliche hinabdeutete, nicht fünfzig Schritte weit, saß ein junges Mädchen auf der Bank, und vor ihm stand ein großer starker Mann, der eben heftig ein Papier in Stücke riß; nachdem er sodann noch einige laute Scheltworte ausgestoßen, die unverständlich blieben, noch einige zornige Geberden mit den Armen gemacht, ging er hastigen Schrittes davon.

»Er hat sie mißhandelt?« rief der junge Mensch aus.

»Aufs allergemeinste!« antwortete der alte Geistliche, ganz roth vor Aufregung. »Der Elende! Gehen Sie, zu sehen, was die Sache bedeutet; ich hätte Lust, ihm den Polizeilieutenant auf den Hals zu schicken.«

Die letzten Worte wurden zwischen den Lippen gemurmelt, sodaß sie dem jungen Menschen entgingen; bei diesem wirkte aber der erhaltene Befehl so sehr im Einklang mit der bei ihm selbst entstandenen Theilnahme, daß er sofort ging, das junge Mädchen anzureden.

Sie mochte etwa fünfzig Schritte weit entfernt sein; sie war auf ihrer Bank geblieben, den Ellbogen auf ihr Knie, das Kinn auf den Arm stützend; als der junge Mann näher kam, sah er, daß sie heftig weinte. Sie war groß und schlank gewachsen und hatte ein auffallend hübsches Gesicht, das jetzt sehr geröthet war, wohl unter dem Einflusse der eben stattgefundenen Scene.

Als der junge Mann auf sie zutrat, bemerkte er mit einem Blicke, den er auf den Herrn, welcher ihn gesendet, zurückwarf, daß der alte Mann ruhig davonging. Die erste Wallung des Zorns mochte sich in ihm gelegt, er mochte sich seitdem gesagt haben, daß es besser sei, sich in fremde Angelegenheiten nicht zu mischen.

Für den jungen Mann aber war es zu spät, dieser Regel der Lebensklugheit zu folgen, denn er stand schon vor dem jungen Mädchen, das bei seinem Nahen aufgeschreckt war und ihn überrascht anblickte.

Er mußte reden, um seine Annäherung zu erklären, aber er fühlte zugleich auch eine unbezwingliche Blödigkeit, sie anzureden. War es nicht furchtbar aufdringlich, wenn ein Fremder sie in diesem Augenblicke mit seiner Theilnahme belästigte, oder furchtbar taktlos und plump, wenn er ihr zeigte, daß er Zeuge der eben stattgefundenen Scene gewesen?

Der junge Mann war dunkelroth geworden; es kam über ihn ein Gefühl von Beschämung und zugleich, als er dem bitterlich weinenden Mädchen ins Auge blickte, ein so grenzenloses Mitleid mit ihr, daß er nur einige Worte stammelte, welche sie offenbar nicht verstand, und daß er dann selbst in Thränen ausbrach.

Erschrocken über die Annäherung und betroffen durch dieses seltsame Benehmen, rief sie aus:

»Was wollen Sie? Was ist Ihnen widerfahren, mein Herr?«

Er setzte sich ohne weiteres neben sie auf die Bank, trocknete mit dem Tuche die Augen und sagte dann: »Zürnen Sie mir nicht; ich fühle, daß ich Unrecht thue, mich Ihnen aufzudrängen, aber ich habe nun einmal eine Natur, die mich zu jeder Thorheit hinreißt, wenn ich sehe, daß ein Mensch dem andern ein Unrecht zufügt, daß der Starke seine Gewalt mißbraucht; eine Scene wie die, welche vorhin zwischen dem Manne, der von Ihnen ging, und Ihnen stattfand, bringt mich außer mir. Es wird Ihnen nichts helfen können, daß ich es Ihnen sage, und doch muß ich es Ihnen sagen, daß sich jeder Nerv, jede Fiber in mir empört hat, und daß ich mein Blut dafür gäbe, Sie rächen, Ihnen helfen zu können!«

Das junge Mädchen hatte ihre Thränen getrocknet und sah ihn mit großen Augen an, während er über und über roth und aufs heftigste bewegt so sprach.

»Sie sind ein seltsamer Mensch!« sagte sie dann. »Sie können mir freilich nicht helfen, aber da Sie so viel Theilnahme für mich empfinden, ist es mir lieber, daß Sie dieselbe mir aussprechen, als so vorübergehen und im Stillen Glossen über etwas machen, das von einem Menschenauge erblickt zu wissen ich mich um meines Onkels willen sehr schäme!«

»Er war Ihr Onkel, jener ungeschlachte rohe Mensch – Sie haben keine Aeltern mehr, und er mißbraucht seine Gewalt über Sie, um Sie zu mißhandeln –«

»Sie mögen Recht haben; er mißbraucht seine Gewalt über meinen armen Bruder und mich, die wir seine Mündel sind, ein wenig; und die nächste Folge ist, daß wir ihn zu hintergehen suchen, und wenn es uns mißglückt, ihn zu hintergehen, und er entdeckt es, so reißt ihn der Zorn hin! Es mag auch unrecht von mir sein, aber –«

»O klagen Sie sich nicht selbst an!« rief der junge Mann aus. »Der Zwang weckt immer die List und oft berechtigt er sie!«

»Freilich«, fuhr sie fort, »und ich kann ja auch nicht anders! Ich werde von meinem Verlobten nicht lassen; und da mein Onkel nicht will, daß wir uns sehen sollen, habe ich Marcel durch einige Zeilen hierher beschieden, und diese unglücklichen Zeilen, welche ich in des Onkels Dienstpapiere steckte, damit Marcel, der diese aufzubewahren hat, sie finde – diese Zeilen hat mein Onkel gefunden und ist statt Marcel's hierher gekommen – und die unseligen Zeilen liegen da!«

Sie deutete auf die zerrissenen Papierstücke, welche vor der Bank auf dem Sande lagen. Der Fremde hob eins davon auf; er sah, daß es mit einer auffallend schönen und klaren Schrift beschrieben war, die mehr die Hand eines Mannes als die einer Frau verrieth.

»Waren Sie aber darin nicht ein wenig unvorsichtig?« fragte der junge Mann.

»Ich glaube nicht es zu sein; die Papiere gehen an Marcel, der sie unmittelbar von meinem Oheim bekommt; ich konnte nicht vermuthen, daß dieser sie sich noch einmal zurückgeben lassen werde, bevor Marcel mein Billet gefunden! Aber reden wir nicht mehr davon; es ist an allem dem nichts zu ändern; am wenigsten kann ein Fremder daran ändern. Ich danke Ihnen für Ihre herzliche Theilnahme; wer sind Sie?«

»Wer ich bin? Es ist eine sehr unvollkommene Antwort auf diese Frage, wenn ich Ihnen blos meinen Namen nenne. Und doch kann ich Ihnen keine andere geben, weil ich sonst zu viel zu sagen hätte. Ich heiße Jean Jacques Rousseau.«

»Und was sind Sie denn, Herr Rousseau? Nach Ihrem Accent sind sie nicht aus Paris, sondern aus der Schweiz?«

»Sie haben Recht. Ich bin aus Genf. Ich war zuletzt Musiklehrer in Neufchatel.«

»Musiklehrer? Und als solcher sind Sie nach Paris gekommen?«

»O nein, nicht als solcher! Mit einer ganz andern Absicht. Ich will in das Heer des Königs eintreten. In der Nachbarschaft von Neufchatel lernte ich bei einem Ausfluge ganz zufällig einen griechischen Archimandriten kennen, der Europa bereist, um Gaben für das heilige Grab in Jerusalem zu sammeln. Er nahm mich, da ich ihm gefiel, als Secretär zu sich. In seinem Gefolge wurde ich dem französischen Gesandten in der Schweiz, dem Marquis von Bonac zu Solothurn bekannt. Ich hatte das Glück, ihm und der Frau von Bonac zu gefallen; ich sei zu gut für ein solch umherwanderndes Leben im Gefolge eines griechischen Priesters; ich müßte eine bestimmte Laufbahn einschlagen; wenn ich Lust habe, Soldat zu werden, wolle man mich in eine solche Laufbahn bringen. Ich nahm das Anerbieten mit Freuden an, schon deshalb, weil es mich nach Paris führte, das ich so sehr zu sehen verlangte, obschon ich es jetzt so häßlich und schmuzig im Vergleich mit dem schönen Turin finde, wo ich früher war. Der Marquis gab mir darauf Reisegeld, sein Gesandtschaftssecretär aber einen Brief, auf den hin man mich als Offizier in die Armee des Königs aufnehmen wird.«

»So, so! Und werden Sie gern Soldat?«

»Wie sollte ich nicht!« antwortete Jean Jacques Rousseau, indem sein weiches schwärmerisches Auge einen feurigen Glanz annahm. »Ich werde es mit ganzer Seele sein, und wenn man mit ganzer Seele bei etwas ist, so hat man darin auch Glück. Man kann als Offizier am raschesten steigen. Und ich werde steigen, ich werde die Gelegenheiten, mich auszuzeichnen, nicht vorüberlassen; ich werde bald an der Spitze eines Corps sein. Zwar bin ich kurzsichtig, aber auch der Marschall von Schomberg war kurzsichtig – und glauben Sie nicht«, wandte er sich mit einem gewissen eitlen Lächeln an das junge Mädchen, »daß mir die Cadettenuniform mit dem weißen Federbusch ganz gut stehen wird?«

»O gewiß!« gab sie gezwungen lächelnd zur Antwort. »Ich wäre auch gern ein Soldat, wenn ich ein Mann wäre; aber ich rathe Ihnen doch, Ihre Hoffnungen nicht gar zu hoch fliegen zu lassen; wenn man arm ist, steigt man nicht so rasch, wie Sie glauben; der arme Marcel, der auch Offizier ist, wird das inne; man muß Geld haben, um die höhern Stellen erkaufen zu können. Aber ich darf in der That nicht länger die Zeit verplaudern, der Onkel macht mir sonst noch eine Scene, wenn ich nicht zur rechten Stunde für sein Diner sorge. Leben Sie wohl, leben Sie wohl, Sie sind gewiß ein recht guter Mensch, Herr Rousseau; ich wollte, ich könnte Ihre Theilnahme vergelten, aber worin könnten wir armen jungen Leute uns beistehen!«

Mit einem tiefen Seufzer und mit Augen, die aufs neue feucht wurden, als ob plötzlich das ganze Bewußtsein ihrer drückenden Lage zu ihr zurückkehre, gab sie ihm flüchtig die Hand, wandte sich und eilte davon.

Rousseau blickte ihr eine Weile mit seinen dunklen Augen, welche jetzt wieder den gewöhnlichen Ausdruck schwärmerischer Schwermuth angenommen hatten, nach; dann erhob er sich und schritt in der Baumallee auf und ab, nach dem alten Geistlichen spähend. Der alte Mann war verschwunden; die augenblickliche Regung von Theilnahme hatte bei ihm, wie es schien, nicht lange vorgehalten und er hatte in diesem Augenblicke vielleicht die ganze Sache bereits vergessen. Rousseau, dessen Verlangen, zu erfahren, wer er sei, natürlich jetzt noch mehr geweckt war, gab ungern die Hoffnung auf, ihn wiederzufinden. Aber er mußte daran denken, den Weg zum Obersten Godard einzuschlagen, denn die Stunden des Vormittags waren beinahe dahin.

Er verließ also den Tuileriengarten und wanderte über den Pont royal in den Faubourg von St.-Germain hinein, wo er auf seine Fragen bald erfuhr, wie man die Rue des Saints Pères und wie man den Rebstock finde, das Zeichen des Hauses, in welchem der Oberst des dritten Schweizerregiments im Dienste König Ludwig's des »Gottergegebenen« wohnen sollte. Oberst Godard wohnte in der That in dem düstern hochgiebeligen Hause, im dritten Stock desselben, über sehr schmuzigen Treppen. Ein Soldat, halb in Uniform, halb in einer leinenen Hausjacke, öffnete dem jungen Manne auf sein Klingeln die Thür und führte ihn in das Zimmer des Obersten, ein Gemach, das sehr wenig von Eleganz und desto mehr Unordnung zeigte. Uniformstücke, Waffen verschiedener Art, Schreibereien lagen und standen umher; die Möbel von verschiedenster Form und Holzart schienen auf dem Trödelmarkt zusammengekauft. In der Mitte des Zimmers stand der Oberst, eine große, breitschultrige Gestalt mit einem großen Kopf und der richtigen derben Schweizerphysiognomie, beschäftigt, an einem zerbrochenen Stuhl ein Bein festzunageln. Er hatte dabei die Uniform abgelegt und stand in Hemdärmeln.

Dieses Alles machte Rousseau ein wenig das Herz schlagen; er hatte sich die Existenz eines französischen Obersten idealer gedacht und in dem Manne selber eine einnehmendere, ritterlichere und vor allem vertrauenerweckendere Gestalt, denn viel Ritterliches und Vertrauenerweckendes war nicht an dem Obersten Godard.

»Was wollt Ihr?« fragte dieser sehr barsch, seinen Stuhl in die Ecke stellend, den jungen Mann.

»Ich bin von dem Herrn von Merveilleux, Gesandtschaftssecretär zu Solothurn, geschickt, um Ihnen dieses Schreiben zu überreichen«, antwortete Rousseau, eingeschüchtert von dem Wesen des Mannes.

Der Oberst nahm und las den ihm überreichten Brief. Dann strich er mit der Hand über sein Gesicht, warf den Brief auf einen Tisch und musterte die Gestalt des Fremdlings mit scharfen Blicken.

»Sie hätten etwas gelernt, schreibt Herr von Merveilleux«, sagte er. »Was verstehen Sie? Fremde Sprachen?«

»Italienisch – ich lernte es in Turin.«

»Gut, und dann?«

»Geschichte ein wenig Latein, Zeichnen –«

»Zeichnen?«

»Ich habe es mit Vorliebe getrieben.«

»Auch das ist gut! Und Sie haben Talent zum Lehren, Sie waren Musiklehrer, bevor Sie Schreiber bei einem wandernden Archimandriten wurden?«

»Ja! Ich glaube, daß ich Befähigung zum Lehren habe!«

»So werde ich Sie brauchen können. Herr von Merveilleux hat Ihnen gesagt, daß ich ein Subject brauche, welches meinem Neffen, der mit sechzehn Jahren in den Dienst tritt, als Mentor dient und das sich zu dem Ende mit ihm in den Dienst begibt.«

»Er hat es mir gesagt und –«

»Gut denn. Begeben Sie sich zuerst in die Kaserne am Quai d' Orsay. Erfragen Sie den Regimentsadjutanten und bringen Sie ihm dieses Billet.«

Der Oberst setzte sich nieder und schrieb einige hastige Zeilen, die er versiegelte. »So. Uebergeben Sie das dem Adjutanten. Morgen, Schlag zehn Uhr, kommen Sie wieder zu mir. Ich will Sie dann meinem Neffen vorstellen. Sie werden von allem Dienst dispensirt bleiben, um sich ganz ihm widmen zu können. Adieu.«

Das Alles sprach der Oberst in so barschem, gebieterischem Tone, daß der eingeschüchterte junge Mann die Fragen nach den weitern Bedingungen und nach seiner weitern Laufbahn, welche auf seiner Zunge lagen, gar nicht zu äußern wagte. Er wandte sich zum Gehen und der Oberst holte seinen zerbrochenen Stuhl wieder aus der Ecke hervor.

Die Kaserne auf dem genannten Quai war bald erreicht. Von den Soldaten, die unter dem Thorwege lungerten, übernahm es einer, den Ankömmling ein paar Treppen hinauf und einen langen, dunklen, äußerst schmuzigen Corridor hinab in das Zimmer des Adjutanten des Regiments zu führen, das ganz im Gegensatz zu dem des Obersten sehr sonnig, sehr hell und sehr rein gehalten war und in seiner einfachen Einrichtung die höchste Ordnung zeigte. Der Adjutant, ein schlanker, blonder, junger Mann von fünfundzwanzig Jahren vielleicht, lag auf einer mit Rohrgeflecht überzogenen Bank, ein Buch in der Hand. Er erhob sich, und nachdem er das Billet gelesen, sagte er, Rousseau freundlich ansehend: »Ich soll Sie für unser Regiment einkleiden und in die erste Compagnie einstellen. Vorher müßte ich eigentlich den Feldscher kommen lassen, um Sie zu untersuchen. Der Oberst sagt aber nichts davon; hat er sich überzeugt, daß Sie gesund und diensttüchtig sind?«

»Nein. Aber ich bin gesund; und vom Dienst soll ich, da ich dem Neffen des Herrn Obersten beigegeben werden soll, ganz befreit bleiben. Mir ist das nicht lieb, ich möchte gerade im Dienst weiter kommen.«

Der Adjutant zuckte die Achseln.

»Dafür wird der Oberst später vielleicht sorgen, wenn sein Neffe Ihrer nicht mehr bedarf. Haben Sie jetzt die Güte, mir zu folgen.«

Rousseau folgte dem Adjutanten, der ihn über den Corridor zurück- und dann nochmals eine Treppe hinaufbrachte. Oben öffnete er eine Thür, welche in einen weiten, speicherartigen Raum führte, der ganz mit Kleidungsstücken und Ausrüstungsgegenständen angefüllt war; es waren mehrere Soldaten darin mit dem Ordnen dieser Gegenstände beschäftigt, und im Hintergrunde, auf einem großen, an ein Mansardenfenster gerückten Tische, saßen drei oder vier emsig arbeitende Compagnieschneider.

»Zeugwart von der ersten Compagnie!« rief der Adjutant eintretend.

»Hier!« antwortete eine Baßstimme, und ein kleiner dicker Mann wurde sichtbar, wie er hinter einer ganzen Reihe von Beinkleidern, die über ein ausgespanntes Seil geworfen waren, hervortauchte.

»Kleiden Sie diesen jungen Mann in die Uniform der ersten Compagnie – er tritt als Sergeant ein –«

»Als Unteroffizier?« rief Rousseau überrascht aus: »Sie irren, Herr Adjutant – Herr von Merveilleux –«

»Wer ist Herr von Merveilleux?«

»Gesandtschaftssecretär der französischen –«

»O«, fiel lächelnd der Adjutant ein, »die Gesandtschaftssecretäre haben nichts zu sagen im Regiment.«

Die Zeugwarte und andere Leute, welche herbeigekommen, den neuen Kameraden zu mustern, lachten.

»Aber der Oberst Godard«, fuhr Rousseau mit wachsendem Erschrecken fort, »kann Ihnen unmöglich geschrieben haben, daß ich als etwas Anderes wie als Cadet, als Offizier eingekleidet werden soll.«

»Mein lieber Freund«, versetzte der Adjutant, »Sie werden sehr bald lernen, daß man sich im dritten Schweizerregiment in Acht nimmt, etwas Anderes zu thun als genau das, was der Oberst befohlen hat.«

»Dann ziehe ich vor, gar nicht einzutreten«, rief Rousseau heftig und einen Schritt zurückweichend aus.

Der Adjutant zuckte abermals die Achseln.

»Das ist zu spät«, sagte er; »wer angeworben ist für den Dienst des Königs, der ist und bleibt angeworben. Nur der Oberst, dem das Regiment gehört, kann Sie wieder entlassen. Es steht Ihnen frei, mit ihm darüber zu reden, fürs erste haben wir Sie einzukleiden. Wenn Sie fertig sind, Zeugwart«, wandte sich der Adjutant an diesen, »bringen Sie mir ihn her, daß ich ihn den Fahneneid schwören lasse und ihn in die Musterrolle eintrage!«

Der Adjutant ging und die Zeugwärter bemächtigten sich des unglücklichen jungen Mannes.

Wohl nie hat Jemand mehr jede ungerechte Gewalt gehaßt und mehr jeden persönlichen Zwang, jede Beschränkung unbedingter Freiheit verabscheut als Jean Jacques Rousseau. War es doch gerade diese Seite seines Charakters, die ihn wiederholt aus den besten Stellungen getrieben und zu dem wechselreichen, heimatlosen, unstät bewegten Leben geführt, das hinter ihm lag. So glich denn in der That nichts der grenzenlosen Niedergeschlagenheit, der hellen Verzweiflung, mit welcher nach einer Viertelstunde, in seine enge, häßliche Uniform von grobem weißem Tuche eingeknöpft, einen plumpen kurzen Degen an der Seite, der junge Mann vor den Adjutanten trat, geführt wie ein Gefangener von dem Zeugwart der ersten Compagnie.

»Man macht mich zum Sklaven«, rief er aus, »und Sie, Sie reichen die Hand zu dieser Infamie!«

»Still, still!« antwortete gutmüthig lächelnd der Adjutant; »lassen Sie das nicht so laut hören. Zeugwart, Sie können gehen; und Sie, junger Mann, Sie tragen jetzt den Rock des Königs, Sie müssen stolz darauf sein und müssen diesen Stolz doch mit der unbedingten Unterwürfigkeit gegen alle Vorgesetzten zu vereinigen wissen. Ich will Ihnen jetzt die Kriegsartikel vorlesen.«

»Lesen Sie immerhin, mein Herr Adjutant, aber ich werde Ihren Kriegsartikeln nicht anders und nicht weiter gehorchen, als der unmittelbare Zwang geht. Ich bin freier Mensch, Bürger einer freien Republik; man hat mich in der niederträchtigsten Schlinge gefangen; der Marquis de Bonac und Herr von Merveilleux haben mir die bestimmteste Aussicht, haben mir ein Versprechen gegeben, das Ihr Oberst bricht, ohne mich nur anzuhören! Ihr Oberst ist ein Tyrann, ein Despot –«

Der Adjutant winkte beschwichtigend mit der Hand. »Beruhigen Sie sich, ich darf solche Ausbrüche nicht anhören; versuchen Sie beim Oberst, ob er sich bewegen läßt, Sie in kurzer Zeit zum Cadetten zu befördern; jetzt sind Sie Unteroffizier und müssen –«

»Was kann er dawider haben, mich sofort zum Cadetten zu machen?«

»Nicht viel«, entgegnete der Adjutant. Es sind zwei Cadettenstellen vacant; in eine derselben tritt der Neffe des Oberst ein; und wenn Sie so viel Vermögen besitzen, sich die Offiziersequipirung anzuschaffen, dann –«

»Das habe ich nicht; der Marquis von Bonac gab mir hundert Franken zur Reise und davon ist kaum die Hälfte noch übrig.«

»Dann denken Sie auch nicht daran«, erwiderte der Adjutant, »daß der Oberst Sie als Cadetten einkleiden läßt, denn es würde dann ja Niemand anders als ihm Ihre Equipirung zur Last fallen! Sie wissen, was man uns Schweizern im Allgemeinen nachsagt – point d'argent, point de Suisse. Der Oberst besitzt – ganz unter uns – diesen Nationalfehler in höherem Grade als viele andere; und so können Sie sich erklären, weshalb er gedenkt, Sie als Mentor seines Neffen zu gebrauchen, während der König Sie als Soldaten kleidet, nährt und besoldet!«

Rousseau machte große Augen. Aber trotz seiner Ueberraschung über diese niederschlagende Erklärung entging ihm nicht, daß der Adjutant sie mit einem sarkastischen Ton gegeben, der verrieth, daß dieser Offizier selber nicht ohne einen innern Groll wider den Obersten war; und dies gab ihm eine Hoffnung. Er sah in dem Adjutanten etwas wie einen Verbündeten, dessen Wohlwollen er zunächst zu gewinnen beschloß.

»Also einer schmuzigen Finanzspeculation bin ich zum Opfer geworden«, sagte er, »und bin völlig hülflos gefangen! Es ist entsetzlich und könnte an der Welt und den Menschen verzweifeln lassen! Ich bitte Sie, geben Sie einem grenzenlos unglücklichen jungen Menschen einen Rath! Was soll ich thun? Was würden Sie in meiner Lage thun? Ich kann nicht Unteroffizier sein, ich kann es nicht, meine ganze Natur sträubt sich dagegen.«

Der Adjutant sah ihn mit einem Blicke aufrichtiger Theilnahme an und schien nachzudenken. Dann entgegnete er: »Es ist wahr, Ihrem ganzen Wesen und Ihrer Bildung nach passen Sie nicht in diesen Rock; wenn –«

Der Adjutant wurde in diesem Augenblick unterbrochen. Eine Ordonnanz trat ein; sie hatte einen Stoß Papiere, die sie auf den Tisch niederlegte.

»Die Rapporte von heute und das Parole-Befehlbuch; der Herr Oberst befehlen, daß der Bescheid auf die Eingabe vom zweiten Bataillon sogleich ausgefertigt werde.«

Der Adjutant warf sich, während die Ordonnanz abtrat, mit auffallendem Eifer auf die Papiere und blätterte sie, wie etwas suchend, rasch und genau durch, dann schob er sie wie enttäuscht von sich.

Rousseau fuhr ein Gedanke durch den Sinn. Er blickte den Adjutanten fragend an und dann rief er aus: »Sie suchen doch nicht etwa ein Billet an Marcel?«

Der Adjutant fuhr zusammen und sah erschrocken auf. Rousseau erwiderte seinen betroffenen Blick mit einem Lächeln und Kopfnicken.

»Ich sehe, so ist's!« sagte er.

»Aber ums Himmels willen, Herr, was wissen Sie –«

»Ich weiß Alles, wie Sie sehen; ich kann Ihnen auch sagen, daß ein Billet an Sie geschrieben war, daß es Ihnen ein Stelldichein im Tuileriengarten gab und daß es vom Obersten gefunden und zerrissen ist – aber mein Gott«, fuhr er mit ganz verändertem Tone plötzlich fort – »so war es Oberst Godard, der seiner Nichte die Scene in den Tuilerien machte! Welch ein Mann ist es, in dessen Hände ich gefallen bin!«

Der Adjutant war außer sich über die Nachricht; er bestürmte Rousseau mit Fragen nach dem Vorgang, dessen Zeuge er geworden, und nachdem dieser Alles berichtet, rief er in dumpfer Verzweiflung aus: »Es ist nicht mehr zu ertragen! Meine arme Margot kann sich diese Behandlung von ihrem Oheim nicht länger gefallen lassen! Er will sie an einen alten, häßlichen, aber reichen Fischhändler, der unten in seinem Hause wohnt, verheirathen, und beide alte Bösewichter quälen das arme Mädchen ganz entsetzlich! Wenn sie nur irgend eine andere Zuflucht hätte, wenn ich nur irgend einen Fleck auf Erden wüßte, wo ich sie in anständiger Weise bergen könnte! Ihre Lage vergiftet mir jede Stunde meines Lebens!«

Er begann heftig in seiner Stube auf und ab zu schreiten.

»Und«, wagte schüchtern Rousseau nach einer langen Pause zu erinnern, »was rathen Sie mir unterdessen?«

Marcel fuhr aus den halb zornigen, halb traurigen Gedanken, die ihn abgezogen hatten, auf und sagte stehenbleibend: »Ach Sie – ja, was rath' ich Ihnen? Versuchen Sie, dem Obersten die Stirn zu bieten, wenn Sie's wagen. Erklären Sie ihm, Sie würden, wenn er die Voraussetzung, in der Sie gekommen, nicht erfülle und Sie nicht als Cadet eintreten lasse, auch seinen Neffen nicht unterrichten. Vielleicht hilft das.«

»Der Rath ist gut!« rief Rousseau lebhaft aus. »Ich werde das Ihrem Obersten sehr fest erklären!«

»Wohl denn!« versetzte Marcel. »Jetzt aber müssen wir zu den Kriegsartikeln übergehen und dann müssen Sie schwören.«

»Muß ich das wirklich?«

»Darein müssen Sie sich fügen. Es ist befohlen und also nichts daran zu ändern!«

»Also um meine Freiheit ist's geschehen – ich bin wirklich gefangen und gefesselt!«

»Wer ist nicht gefesselt, mein junger Freund?« sagte der Adjutant bewegt. »Um Ihnen Ihre Lage für den Augenblick zu erleichtern, will ich Sie nicht in eine der Kasernenstuben mit Mannschaften Ihrer Compagnie zusammenlegen, sondern Ihnen ein Feldbett in meinem Schlafzimmer aufschlagen lassen.«

»O, ich danke Ihnen tausendmal für diese Güte!« rief Rousseau gerührt aus.

»Wir plaudern dann von Margot, die Sie doch nun einmal kennen! Jetzt aber hören Sie zu.«

Marcel nahm eine große Plankarte von der Wand, worauf die Kriegsartikel geschrieben standen, und begann sie Rousseau vorzulesen. Der erste Artikel enthielt die freundliche Versicherung, daß die Desertion von der Fahne mit dem Tode des Erschießens geahndet werde.

Am andern Tage um die bestimmte Stunde klingelte Rousseau an der Thür zur Wohnung seines Obersten. Derselbe Diener machte ihm die Thür auf und antwortete ihm auf sein Verlangen, dem Obersten gemeldet zu werden, mürrischen Tons und ihm den Rücken wendend: »Melden? Ein Soldat geht ohne anzuklopfen hinein, wenn er herbefohlen ist!«

Rousseau befolgte seinen Wink und trat ohne weiteres in das Zimmer des Obersten.

Das Zimmer war leer. Aber im Hintergrunde stand eine Seitenthür angelehnt, und aus dem Raume, in den sie führte, vernahm Rousseau einen heftigen Stimmenwechsel.

»Er ist ein Ehrenmann und er hat mein Wort!«

»Und ich sage Ihnen, daß ich eher den Tod wähle!«

Die erste Stimme war die des Obersten Godard und in der andern erkannte Rousseau die von Schluchzen unterbrochene Stimme Margot's.

»Possen, Heulereien einer Gans!« ertönte wieder des Obersten zornige Stimme. »Ich werde Dir zeigen, daß ich mir in meinem Hause ebenso gut Gehorsam zu verschaffen weiß wie in meinem Regiment!«

»Und wenn Sie mich behandeln wie einen Ihrer armen Soldaten, die Sie durch die Spießruthen schicken können, ich werde nicht gehorchen – ich werde mich in die Seine stürzen, ich werde –«

»Thu' das! Aber vorher wirst Du den Herrn Perelle heirathen! Und damit Du Dir Marcel, der an dieser ganzen bösen Hartnäckigkeit die Schuld trägt, aus dem Kopfe schlägst, sage ich Dir, daß ich gestern das Versprechen unseres Maréchal de Camp erhalten habe, ihn schon am ersten des folgenden Monats zum Regimente Bern, das in Lyon steht, zu versetzen; er soll Herrn Perelle keine Sorge machen. Und damit ist's genug; ich rathe Dir, mich durch keine Silbe Widerspruch mehr zu reizen, oder –«

Die Drohung, die der Oberst zwischen den Zähnen murmelte, wurde übertönt von dem Schluchzen Margot's.

Im nächsten Augenblick wurde die Thür ganz aufgerissen und zornroth, heftigen Schrittes trat der Oberst ein. Seine Stimmung wurde offenbar nicht milder als er sah, daß er einen Lauscher gehabt habe.

Er maß Rousseau mit einem Wuthblick vom Kopf bis zu den Sohlen.

»Er! Wie kommt Er hierher? Was zum Teufel steht Er hier und lauscht?«

»Ich bin um diese Stunde hierher befohlen; man hat mir gesagt, ich müsse ohne Meldung und ohne zu klopfen eintreten.«

Der Oberst wandte ihm den Rücken und ging, eine Klingelschnur zu ziehen; dem augenblicklich eintretenden Diener befahl er, seinen Neffen zu rufen. Dann sagte er, indem er sich zu einem mildern Tone zwang: »Nun, wie gefällt Er sich in der Uniform? Sie steht Ihm ja vortrefflich!«

Hätte Rousseau die geringste Scheu und Beklommenheit empfunden, sich offen gegen seinen Tyrannen auszusprechen, die grenzenlose Entrüstung, worein ihn die eben gehörte Scene versetzt hatte, würde ihm diese Scheu genommen haben. Er würde in diesem Augenblicke dem General-Obersten aller elf Schweizerregimenter, ja Seiner Majestät dem Könige Ludwig XV. selber furchtlos die Wahrheit gesagt haben.

»Ich habe die Uniform angezogen, Herr Oberst«, versetzte er, »deshalb, weil man mich dazu gezwungen hat und weil ich überzeugt war, daß ich sie nur infolge eines Mißverständnisses für wenig Stunden zu tragen haben würde.«

»Eines Mißverständnisses?«

»So sagt' ich. Man hat mir in Solothurn versichert, der Oberst Godard suche zum Lehrer seines sehr jung in Dienst tretenden Neffen einen jungen Mann von Bildung, der mit dem Neffen in die Offizierlaufbahn eintreten wolle. Dazu war ich bereit, in dieser Voraussetzung und in keiner andern bin ich gekommen, und da ich sie nicht erfüllt sehe, ziehe ich jetzt vor, überhaupt auf die ganze Sache zu verzichten.«

»Sie wollten als Cadet eintreten? Aber zum Teufel, wie hat man Ihnen das in Solothurn in den Kopf setzen können? Haben Sie das Kapital zu Ihrer Equipirung, das Vermögen, um als junger Offizier, dessen Sold so viel wie nichts ist, zu leben? Danken Sie Gott, daß als Unteroffizier Sie der König nährt.«

Die Thür hatte sich während dieser Rede des Obersten geöffnet und ein junger, langaufgeschossener, verschüchtert und blaß aussehender Mensch in Cadettenuniform war eingetreten.

»Das ist mein Neffe«, fuhr der Oberst fort; »ich hoffe, Sie werden einen gelehrigen Schüler an ihm haben. Dies ist der Herr Rousseau, François, von dem Du weißt, daß –«

»Bitte, Herr Oberst«, fiel Rousseau ein, »ich hatte eben die Ehre, zu erklären, daß ich auf das ganze Verhältniß verzichte.«

»Daß Sie verzichten? Was soll das heißen?«

»Daß ich Ihren Herrn Neffen nicht unterrichten werde. Wenn man meine Voraussetzung nicht erfüllt, erfülle ich auch Ihre Voraussetzung nicht; ich glaube, ich habe das Recht dazu!«

»Pst!« rief der Oberst. »Sie sind kühn, junger Mensch. Sie werden sich das überlegen –«

»Es bedarf keiner Ueberlegung. Ich bin entschlossen, die Ehre, welche Sie mir zudachten, abzulehnen; ich verlange einfach meine Freiheit; und wenn Sie mir jetzt auch die größten Vortheile böten, ich würde Alles zurückweisen; ich bin als freier Mann gekommen und will als solcher wieder gehen.«

»Ich werde Ihnen nichts bieten, gar nichts«, herrschte der Oberst ihn an; »aber ich werde Sie wie jeden andern Unteroffizier Dienst thun lassen, Dienst von morgens früh bis in die späte Nacht, wenn Ihnen das besser behagt, als meinen Neffen überwachen und unterrichten. So ist's desto besser für Sie!«

»Ich werde auch nicht Dienst als Unteroffizier thun. Ich bin kein Unteroffizier, ich verstehe nichts vom Dienst und will nichts von ihm verstehen – ich will frei gehen, woher ich gekommen!« rief Rousseau mit kreideweißen Lippen.

Der Oberst maß ihn vom Scheitel bis zur Sohle; daß ein Mensch in der Uniform seines Regiments ihm in dieser Weise Trotz bot, schien ihm eine so merkwürdige Thatsache, daß sein Zorn in der Verwunderung darüber aufging.

»Sie haben Recht!« sagte er höhnisch. »Sie verstehen vom Dienste nichts; Sie müssen den Dienst erst lernen. Und das geschieht von der Pike auf. Damit Sie das können, degradire ich Sie zum Gemeinen. Melden Sie das dem Adjutanten. Rechtsum kehrt – marsch! In die Kaserne zurück!«

Der Oberst wandte ihm den Rücken, indem er murmelte: »Wir werden Dich mürbe machen.« Die Obersten der Schweizerregimenter hatten über die von ihnen angeworbenen Untergebenen eine unumschränktere Gewalt, als es in den französischen Regimentern der Fall war. In der Regel ward ihnen von ihren Cantonen das Recht über Leben und Tod übertragen; die französische Regierung hatte sich in ihr Gerichtsverfahren, ihre Disciplin u. s. w. nicht zu mischen.

Rousseau gehorchte dem Befehle nicht. Erschreckt stand er wie an den Boden gewurzelt; er wollte eine heftige Antwort geben, aber der Neffe François trat rasch an ihn heran, nahm ihn beim Arm und schob ihn der Thür zu, indem er flüsterte: »Um des Himmels willen, schweigen Sie, gehen Sie, gehen Sie! Gehorchen Sie jetzt!«

Rousseau folgte dieser Mahnung – und wahrscheinlich sehr zu seinem Glücke – ehe er weitere Maßregeln, um ihn mürbe zu machen, auf sich zog, Maßregeln, deren ja so viele und unbeschränkte in jener Zeit der Soldatensklaverei einem Obersten zu Gebote standen, dem Mann, dem das Regiment gehörte, der noch ein mittelalterliches Recht über Leben und Tod der Mannschaften übte, und dem nichts die Hände band, wenn er das unmenschlichste Martyrthum über einen seiner armen »Kerle« verhängen wollte.

Rousseau kam die Treppe im Hause des Obersten hinunter, er wußte selbst nicht wie; sein Herz pochte, sein Kopf schwindelte, vor seinen Augen tanzten rothe Sterne, er sah wie in einen schwarzen Nebel; er hielt sich am Geländer der Treppe fest, um nicht zu stürzen, denn seine Kniee versagten ihm den Dienst; er war nie in seinem Leben in solcher Aufregung, Erschütterung, Wuth und einer chaotischen Auflösung all seiner Gedanken und Sinne gewesen. Als er unten angekommen, dachte er nicht daran, dem Befehle des Obersten zu folgen und sich in die Kaserne zu begeben; er rang nach Luft, und der ersten gegen ihn anprallenden Menschenwoge sich willenlos hingebend, folgte er ihr, gleichgültig, nach welcher Himmelsgegend sie ihn zog; er schritt hastig mitten in diesem Menschenstrome, aber nichts von Allem, was ihn umgab, wahrnehmend, dahin.

So kam er weiter in das Quartier Latin hinein, irrte durch eine Straße nach der andern, bis er sich plötzlich vor dem Gitterthore eines großen schönen Gartens sah. Jenseits des Gitters winkten Luft, Licht, Stille – wie hätte er nicht eintreten, sich in die Gänge, in die grüne Heckenwelt solch eines französischen Gartens vertiefen sollen!

Und wie er weiter schritt in diesen Garten hinein – es war der des Luxembourg – löste sich ein wenig die Last von seiner Brust. Es war ja nicht möglich, daß die Worte des Obersten ernst gemeint seien; so konnte man einen freien Menschen nicht doch zum Sklaven machen; es gab doch noch Gesetze, Minister, einen König; es gab doch noch einen Gesandten der Schweiz, der die Verpflichtung hatte, sich seiner anzunehmen; er hatte noch Briefe an die Schwägerin des Herrn von Merveilleux, an einen Obersten außer Dienst, von Surbeck, und mehrere andere, welche ihm der Marquis von Bonac gegeben; nein, es war nicht möglich, daß diese Leute alle ihn hülflos in der Macht eines abscheulichen, ruchlosen Tyrannen ließen; gewiß, es mußte ihm gelingen, sich wieder von ihm frei zu machen, es konnte das nicht fehlschlagen. Wenn er nur ebenso gute Mittel gewußt hätte, die arme, arme Margot aus den Händen ihres Bedrängers und vor dem Schicksal, welches sie bedrohte, zu retten. Das arme Geschöpf hatte mit äußerster Entschlossenheit gerufen, sie werde sich in die Seine stürzen – wer stand dafür, daß sie es nicht wirklich that, daß sie nicht ihre letzte Zuflucht beim Tode suchte?

Rousseau schauderte bei dem Gedanken und Margot's Schicksal schnürte ihm plötzlich die Brust zusammen, mehr wie sein eigenes.

Wie es in seiner Natur lag, über Träumen die Wirklichkeit, über Zukunftsbildern die Forderungen der Gegenwart zu vergessen und sich vor dem Drange des Augenblicks in Luftschlösser der Phantasie zu flüchten, so lag es ebenfalls in Rousseau's eigenthümlich complicirtem Charakter, die eigene Noth über der fremden zu vergessen. Sein eigenes Leid stand nackt und bar und häßlich vor ihm, das fremde Leid aber wurde von seiner Phantasie umkleidet, ausgeschmückt, poetisch verklärt; so heftete seine schwärmerische Seele sich mit allen Trieben seines mächtigen Mitleidsdranges an das fremde Leid, das schöner, höher erscheinende. Und war Margot's Lage nicht die, welche am dringlichsten Hülfe verlangte?

Er warf sich auf eine Bank und saß lange da, nachsinnend, was Margot thun, was Marcel für sie aufbieten, was er selbst zu ihrer Rettung thun könne. Sollte er zu Frau von Merveilleux gehen, seinen Brief abgeben, ihre Verwendung für sich, ihren Schutz für Margot in Anspruch nehmen? Dabei war nicht die geringste Aussicht auf Erfolg. Ein junger Mensch konnte eine ihm fremde Frau nicht bitten, ein ihrem Vormund durchgehendes junges Mädchen bei sich aufzunehmen. Sollte er Marcel rathen und ihm beistehen, Margot zu entführen, um sich insgeheim mit ihr trauen zu lassen? Er würde Marcel um seinen Dienst bringen, um seine Aussichten, vielleicht um seine Freiheit; der böse Oberst fand gewiß Mittel, den Adjutanten dafür in die Bastille zu schicken. Nur ein Mann hätte vielleicht helfen können und auch helfen wollen, und dieser Mann war der merkwürdige alte Geistliche, den Rousseau in den Tuilerien gefunden, der Zeuge von Margot's erniedrigender Lage geworden; er würde sicherlich auch ihr Retter werden – wenn es nur möglich gewesen wäre, ihn ausfindig zu machen!

Rousseau machte sich die bittersten Vorwürfe, daß er sich gestern nicht nach dem Namen des Mannes erkundigt bei den Vorübergehenden; es hatten ja Viele ihn mit so auffallenden Zeichen der Ehrfurcht begrüßt, daß es leicht gewesen wäre, zu erfahren, wer er sei.

Rousseau sprang auf, um in seine Kaserne heimzugehen; er wollte Marcel Alles mittheilen und diesen zu Rathe ziehen, wie man den Namen des Geistlichen erfahren könne.

Als er in seiner Kaserne angekommen, fand er Marcel nicht. Er legte sich in dessen Zimmer auf sein Feldbett und suchte seine Spannung bis zur Rückkehr des Adjutanten zu beherrschen, indem er über die Worte nachdachte, womit er den alten geistlichen Herrn rühren, seine Theilnahme gewinnen, ihn zu einer Handlung der Großmuth bewegen wolle. Nach einer Viertelstunde kam Marcel von Dienstgeschäften zurück. Rousseau sprang auf und überschüttete ihn mit dem Bericht von allem Vorgefallenen; der Adjutant warf sich wie zerschmettert in einen Sessel; er hörte nur zerstreut, nur halb zu – es zeigte sich bald, daß er Alles wußte. Rousseau's Degradation zum Gemeinen war ihm schon dienstlich gemeldet, und was Margot anging, so schienen trotz aller Wachsamkeit des Obersten zwischen ihr und dem jungen Manne Wege der Verständigung zu bestehen, welche Marcel nicht lange ohne Nachrichten über Alles, was seine Geliebte betraf, ließen.

Als Rousseau damit geendet hatte, daß er die Hoffnungen ausgesprochen, welche er auf den Geistlichen des Tuileriengartens aufgebaut, antwortete Marcel mit schwermüthigem Kopfschütteln: »Das ist eine Chimäre, weiter nichts. Ich weiß nicht, wer der Geistliche sein kann, von dem Sie reden, aber ich weiß, daß kein Mensch in Paris ist, geistlich oder weltlich, der sich berufen fühlen könnte, ein ihrem Vormunde entflohenes junges Mädchen bei sich aufzunehmen, wenn dieser Vormund der Oberst Godard ist.«

»Aber so sagen Sie mir doch nur«, fiel Rousseau ein, »wer der alte Mann in Abbétracht gewesen sein kann?«

»Er war sehr alt?«

»Sehr, gewiß weit über siebzig hinaus, und doch blickten seine Augen voll Lebendigkeit und Feuer um sich. Er war allerdings gebückt von der Last der Jahre, aber sein Schritt war so unbehindert, als ob er noch ganze Tagereisen weit zu Fuß machen könne.«

»Und sein Erscheinen erregte die allgemeine Aufmerksamkeit?«

»Nicht die allgemeine; es schienen ihn viele der Vorübergehenden nicht zu kennen oder nicht zu erkennen; aber die ihn erkannten, blieben bei seinem Anblick betroffen stehen und legten eine außerordentliche Ehrfurcht an den Tag.«

»So wird es am Ende der Cardinal Fleury gewesen sein«, sagte Marcel; »er wohnt in einem Hotel der Rue Saint-Honoré, dessen hinterer Ausgang dem Tuileriengarten nahe ist, und erscheint in den Morgenstunden ganz ohne Gefolge in diesem. Er liebt überhaupt nicht, daß viel Aufhebens seinetwegen gemacht wird, und ich glaube, wenn er es könnte, würde er Frankreich incognito regieren.«

»Der Cardinal Fleury?« rief Rousseau überrascht aus.

»Nun ja, der Minister. Sie sehen, daß nach der Seite hin für uns keine Hoffnungen liegen!«

»Es ist wahr – und doch –«

»Was meinen Sie?«

»Es ist ein Gefühl in mir, als ob ich mit diesem Manne, und zwar in wohlthuender Weise, doch noch einmal in Berührung kommen würde! Wenn ich Jemand zum ersten Male sehe, so habe ich ein Vorgefühl, ob ich mit ihm in weitere Berührungen kommen werde oder nicht, und ob diese Berührungen freundlich sein oder mir Verdruß oder Verlegenheiten bereiten werden.«

Marcel zuckte die Achseln – es schien eine Gewohnheit des jungen Mannes. »Das sind leere Hoffnungen«, sagte er. »Aber ich bin gerührt von Ihrer tiefen und aufrichtigen Theilnahme, lieber junger Freund. Das Schicksal scheint uns verketten zu wollen, indem es uns zu gleicher Zeit den Druck einer furchtbar grausamen Lage auf die Seele wälzt. Es freut mich wenigstens, daß ich nicht so ganz machtlos bin, etwas zu Ihrer Erleichterung zu thun, wie Sie es sind, mir zu helfen. Ich muß Sie in die Uniform eines Gemeinen stecken lassen –«

»Müssen Sie das wirklich?« rief Rousseau, jetzt plötzlich ganz zu seinem eigenen Elend zurückgeführt, aus. »Können Sie es vor Ihrem Gewissen verantworten, einer solchen niederträchtigen Tyrannei zum Werkzeug zu dienen?«

»Im Dienste habe ich kein Gewissen«, antwortete der Adjutant, »ich habe nur Gehorsam. Ich muß Sie einstellen lassen und Ihr Hauptmann wird Sie einexerciren lassen. Daran ist nichts zu ändern. Ihre Lage ist nur zu erleichtern, wenn es Ihnen nicht an Geld fehlt, um Ihre Unteroffiziere in guter Laune zu erhalten; und ich werde dafür sorgen, daß es Ihnen an einigem geringen Gelde nicht fehlt.«

»Aber«, fiel Rousseau ein, »kann ich denn noch Geld von Ihnen annehmen, nachdem –«

»Beruhigen Sie sich! Nicht von mir sollen Sie Geld annehmen, ich besitze dessen selber nicht genug, um es verschenken zu können! Aber ich will Ihnen Geld zuwenden, indem ich dafür sorge, daß Sie viel auf Posten kommen –«

»Auf Posten?«

»Nun ja!«

»Zum Schildwachstehen doch nicht?«

»Das eben meine ich.«

»Bringt denn das Geld ein?«

»Wenn es das nicht thäte, wovon sollten unsere armen Burschen leben? Sobald Sie nur ein paar Tage an die ersten Exercitien gewendet haben, will ich dafür sorgen, daß Ihnen einträgliche Posten werden.«

»Einträgliche Posten sucht alle Welt; daß aber solche dazu gehören, wobei man mit der Muskete auf der Schulter nur die Zeit todtzuschlagen hat, höre ich zum ersten Male, und ich begreife das nicht!«

»Es ist sehr einfach«, versetzte der Adjutant. »Diese Posten sind nichts als eine kleine Speculation auf die menschliche Eitelkeit, die den Soldaten zu machen vergönnt ist. Das Platzcommando von Paris meldet den Regimentern, welche den Garnisonsdienst haben, alle vierundzwanzig Stunden die Namen der sämmtlichen Fremden von Auszeichnung an, welche in Paris eingetroffen sind, sowohl aus Frankreich wie aus dem Auslande, nebst den Quartieren, welche sie bezogen haben. Je nach diesen Quartieren hat das eine oder das andere Garnisonsregiment das Recht, diesen Herren Schildwachen als Ehrenposten vor ihre Wohnung zu senden, und für diese Ehre zeigen sich die Herren dankbar, indem sie bei der Abreise der Mannschaft, welche bei ihnen schilderte, ein Geldgeschenk hinterlassen, das gewisse Sätze hat, wonach auf den einzelnen Mann auch beim kürzesten Verweilen nicht unter sieben Livres kommen. »Sehen Sie da«, fuhr der Adjutant bei dieser Erklärung fort, »da ist eine solche Liste eingetroffener Fremden.«

Er nahm ein in Colonnen getheiltes und mit gedrucktem Kopf versehenes Blatt von seinem Tische und reichte es Rousseau.

Dieser überflog es; er fand den Namen eines italienischen Fürsten, dreier regierenden Grafen aus dem deutschen Reich, eines Bischofs aus Sicilien, eines dänischen Gesandten und las ganz zuletzt: »Monseigneur Chiropylos, archimandrite grec de Jérusalem, rue des Petits Augustins.«

»Ach«, rief er überrascht aus, »da ist ja mein Archimandrit!«

»Ihr Archimandrit?«

»Er, Niemand anders als der Archimandrit Chiropylos, der Gaben für die Grabeskirche sammelt, dessen Dolmetscher und Secretär ich war, für den ich eine glänzende Rede vor dem versammelten Rath des Cantons Bern hielt –«

»In der That? Und hoffen Sie etwas von ihm, da Sie so erfreut das ausrufen?«

»Hoffen? Ich weiß nicht, aber in der That, wäre es thöricht, von diesem Manne, der mir wohlwill, obgleich ich ihn verließ, etwas zu hoffen? Er hat Empfehlungen an einflußreiche und hochstehende Personen; er selbst ist eine so imponirende Persönlichkeit – o lassen Sie mich ihn jetzt aufsuchen; nicht wahr, ich darf es?«

»Solange Sie noch nicht in die Compagnie eingereiht sind, sind Sie noch Herr Ihrer Zeit. Gehen Sie, versuchen Sie Ihr Glück!«

»Das will ich augenblicklich«, rief Rousseau aus, und indem er zu seinem schweren dreieckigen Hute griff, eilte er von dannen.

Rousseau machte in der Rue des Petits Augustins sehr leicht die Wohnung des Archimandriten ausfindig. Eine Erscheinung wie die des griechischen Prälaten in violetter Bischofstracht, aber mit einem nach abendländischen Begriffen höchst unbischöflichen langen weißen Barte, der bis über das goldene Pectoralkreuz niederfloß, und mit einer schwarzseidenen Toque wie ein Präsident à Mortier auf dem ehrwürdigen Haupte – dazu begleitet von einem alten maronitischen Diener in Landestracht – solch eine Erscheinung war den Bewohnern der Straße viel zu auffallend gewesen, als daß sie nicht die volle Aufmerksamkeit derselben auf sich gezogen und ihre ganze Neugierde geweckt hätte. Der Archimandrit hatte eine passende, für Fremde möblirte Wohnung im Hause eines Hutmachers gefunden, das ein Einfahrtsthor und einen Hof und ein Hintergebäude hatte; den ersten Stock in diesem Hintergebäude hatte der griechische Priester zu seinem Quartier auserlesen.

Rousseau fand den maronitischen Diener im Vorzimmer des Prälaten. Der alte Mann blickte den jungen Schweizersoldaten höchst befremdet an und fragte, was er wolle; sogar als Rousseau sich genannt, hatte Procop Mühe, den ehemaligen Reisegefährten wiederzuerkennen; dann meldete er ihn eilig seinem Herrn, nachdem er Rousseau versichert, daß der Archimandrit unzählige Male seinen Verlust beklagt habe.

Procop kam zurück, um Rousseau einzuführen, er trat aber zugleich mit ihm in des Herrn Wohngemach, begierig, Rousseau's Erzählung seiner Schicksale mit anzuhören und dahinter zu kommen, wie der junge Mensch, den er bei dem kurzen Zusammenleben in der Schweiz in sein Herz geschlossen, in diese Unteroffiziersmontur gekommen. Des alten graubärtigen Morgenländers Neugierde wurde denn auch bald befriedigt; denn der Archimandrit, dessen hohe Gestalt mit den braunen, tiefgemeißelten Zügen, mit den hochaufgezogenen Brauen, die auf der Nase zusammenliefen wie zwei Arkadenbogen auf einer Säule, dem Eintretenden rasch und wie freudig bewegt entgegenschritt, dieser leibhaftige, in der Apsis einer byzantinischen Kirche an die Wand gemalte heilige Basilius hatte ebenfalls nichts Eiligeres zu thun, als Rousseau zur Erklärung seiner seltsamen äußern Erscheinung aufzufordern.

»Eh, Signore Russo«, rief er in seinem schlecht betonten Italienisch aus, »wie kommt Ihr in diesen Rock eines Kriegsknechtes? Habt Ihr dazu so schnell und hinterlistig Euren Freund Chiropylos verlassen, der Eures Beistandes so sehr bedurfte?«

Der Prälat streckte ihm die Hand hin, die Rousseau, der vorlängst zum Katholicismus übergetreten war und dessen Gebräuche kannte, ehrfurchtsvoll küßte.

»Sie haben Recht, mir Vorwürfe zu machen, hochwürdiger Herr«, versetzte er dann, »aber Sie sehen auch, daß ich bestraft bin. Ich folgte dem Zureden des Marquis von Bonac und glaubte recht daran zu thun, denn aus allen seinen Aeußerungen sprach die wärmste Theilnahme für mich; ich blieb gleich in seinem Hotel und nahm nicht einmal Abschied von Ihnen; der Marquis rieth es mir, weil er fürchtete, Ihr Einfluß über mich werde meinen Entschluß wieder wankend machen und mich wieder an Ihr wanderndes Leben ketten, an dessen Ende für mich keine Hoffnung und keine Aussicht stand.«

»Nun ja, nun ja; Jeder sucht seine Wege durchs Leben, so gut er's einsieht, und schlägt doch nur den ein, auf welchem Gott ihn führen will. Erzählt weiter, mein Sohn.«

Rousseau erzählte seine Erlebnisse in geflügelten Worten, wie der Marquis von Bonac, der im Anfang solches Gefallen an ihm gefunden, doch wohl bald im Stillen eine Last in ihm gesehen und ihm gerathen, mit einem Schreiben an den Obersten Godard, den Freund des Herrn von Merveilleux, nach Paris zu gehen, und wie es ihm sodann in Paris ergangen.

»Das ist ja eine traurige, bejammernswerthe Lage für Euch, mein armer Sohn«, sagte der Prälat, als Rousseau zu Ende war. »Und kommt Ihr in der Hoffnung zu mir, daß ich etwas für Euch thun könnte?«

Rousseau schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Ihr, hochwürdiger Herr? Nein, ich darf es nicht hoffen.«

»In der That«, fuhr der Archimandrit fort, »ich fürchte, daß es mir völlig unmöglich wäre. Ich habe wenig Anknüpfungspunkte in Paris; Empfehlungsschreiben an den Cardinal, an den Erzbischof, an einige hochstehende Priester; aber Ihr wißt, ich komme, um zu betteln, und ein Bettler ist nie der Aufnahme gewiß, welche er findet. Auch weiß ich, daß, wer dem Soldatenthum eines dieser Könige des Abendlandes verfallen ist, in einer Sklaverei schmachtet, deren Ketten zwar minder schwer sind als die der Sklaven in den Ländern Anatoliens, aber nicht minder fest!«

»Es ist so, wie Ihr sagt, hochwürdiger Vater; leider so! Auch kam ich nur um der Freude willen, Euch wiederzusehen!«

»Sonst würde ich Alles, Alles thun«, sprach der griechische Prälat weiter, »um Euch wiederzugewinnen, denn beim Pantokrator und Heiland, Ihr fehlt mir täglich und fehltet mir nie mehr als in dieser Stunde. Zwar bedarf ich Euch nicht mehr als Dolmetscher wie in jenem Schweizerlande, dessen rauhe Sprache mir fremd war. Ich mache mich mit meinem Italienisch, meiner Lingua Franca und meinem wenigen Französisch hier schon verständlich.«

»Und wozu bedürftet Ihr denn meiner so sehr in Paris?« fragte Rousseau.

»Zum Schreiben meiner Briefe«, fiel der Archimandrit ein; »ich habe Hunderte von Leuten zu besuchen und kann doch nicht unangemeldet zu ihnen kommen; ich muß sie unterrichten, wer ich bin, muß sie mit der Absicht meines Kommens bekannt machen, muß sie um eine Stunde, worin sie mir eine Audienz geben wollen, bitten; ich habe immer gefunden, daß diejenigen, welche in dieser Weise auf mein Kommen vorbereitet waren, mir dreifach das gaben, was ich von den ohne vorherige Ankündigung Besuchten erhielt. Und dann sind die Behörden, die Genossenschaften und Innungen, die Convente und die Capitel der Stiftskirchen da – an alle muß ich mein Gesuch schriftlich machen, um der Würde meiner Angelegenheit und meiner Stellung nichts zu vergeben, oder schon deshalb, weil der Geschäftsgang es bei diesen Leuten fordert. Ihr wißt ja selbst, wie viel Schreiberei ich mit dem hohen Rath des Freistaats Bern hatte.«

»Es ist wahr«, sagte Rousseau, »und ebenso wahr, daß es schwer halten mag, ohne viel Zeitverlust eine passende Persönlichkeit für diese Beschäftigung zu finden. Zuverlässige und gewandte Leute von der Bildung, deren es hier bedarf, um Ihrer mangelhaften Kenntniß des Französischen zu Hülfe zu kommen, finden sich in festen Stellungen, in Amt und Brod, und die sich gerade auf der Straße befinden, ohne weiteres in seine unmittelbare Nähe zu nehmen, daran darf ein Herr, der wie Sie mit großen Geldsummen reist, nicht denken.«

»Das ist es eben«, antwortete der griechische Prälat; »darin liegt meine ganze Verlegenheit! Was rathet Ihr mir zu thun, Signore Russo?«

»Ich rathe Ihnen, hochwürdiger Herr, gar keinen Schreiber zu nehmen, sondern eine Schreiberin!«

»Eine Schreiberin?«

»Ja; ich kenne ein junges Mädchen, das eine wundervolle Handschrift besitzt und alle Bildung, welche eine gute Erziehung, wie sie ein Mädchen in einem vornehmen Bürgerhause erhält, nur geben kann. Sie würde sich nebenbei mit Hingebung der persönlichen Sorge für Sie widmen und sich mit Procop darin theilen.«

»Wer ist dieses Mädchen?« fragte der Archimandrit mit einem kleinen Auf- und Abrollen seiner buschigen Augenbrauenbogen, worin Rousseau etwas von aufsteigendem Mißtrauen erblickte.

»Sie heißt Margot Godard und ist die Braut des Adjutanten meines Regiments. Sie befindet sich augenblicklich in einer Lage absoluter Verlassenheit, da sie gänzlich verwaist ist, auch ihr Bräutigam keine Verwandten hat, bei denen sie eine Zuflucht finden könnte. Ich glaube, daß Sie, hochwürdiger Herr, an ihr den trefflichsten Secretär haben und zugleich ein Werk christlicher Barmherzigkeit üben würden, wenn Sie dieses Mädchen statt eines jungen Mannes als Ihren Schreiber zu sich nähmen.«

»So, so!« sagte der Prälat, nachdenklich Rousseau ansehend.

»Sie haben mich um meinen Rath gefragt. Ich habe ihn gegeben. Weiter geht mein Interesse an der Sache nicht«, schloß Rousseau, den Blick des geistlichen Herrn fest erwidernd und mit einem leisen Achselzucken darauf antwortend.

»Und ich glaube, daß mir der Rath gefallen darf« versetzte jetzt der Archimandrit. »Bringen Sie mir eine Probe der Handschrift des jungen Mädchens.«

»Wäre es nicht besser, ich sendete Ihnen das junge Mädchen selber, hochwürdiger Herr, Sie zeigte Ihnen selbst ihre Handschrift, und Sie entschlössen sich dann, ob Sie Margot in ihr Haus aufnehmen wollen oder nicht?«

Der Archimandrit war damit einverstanden, nachdem er noch Procop zu Rathe gezogen, der wider die Aussicht, daß ein junges Mädchen sich mit ihm in die Pflege des Gebieters theilen solle, nichts einzuwenden fand. Und so eilte Rousseau, der voll freudiger Aufregung über seinen ganzen Plan war, den Besuch abzukürzen, um wieder in die Kaserne zu seinem Gönner und Freunde Marcel zu kommen und ihm hastig zu melden, was er eingeleitet.

Marcel wäre ihm vor Freude bald um den Hals gefallen über den Vorschlag, den Rousseau ihm machte. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß Margot diesen Ausweg ohne alle Zögerung ergreifen und die ihr dargebotene Zuflucht annehmen werde, um der Gewalt ihres Vormundes zu entkommen. Man überlegte, daß es am besten sein werde, den Archimandriten nicht darüber aufzuklären, daß Margot, um in seine Dienste zu treten, heimlich ihrem Vormunde, einem Obersten in der Armee des Königs, durchgehen müsse; man fürchtete daß der geistliche Würdenträger es ablehnen würde, ihr einen Schutz angedeihen zu lassen, der ihm, dem Fremden, einen Zusammenstoß mit einem so angesehenen und durch seine Stellung vielleicht einflußreichen Manne zuziehen könne. Und dann machte sich Marcel auf, um Margot zu verständigen, um mit ihr die Art und Weise zu verabreden, auf welche sie ungesehen und mit den nöthigsten Sachen ihres Oheims und seines verhaßten Fischhändlers Haus verlassen könne, und zunächst, um sie zu bewegen, den ersten Schritt zu thun und sich dem Archimandriten vorzustellen, versehen mit einer Probe ihrer schönen und kunstreichen Handschrift.

»Wissen Sie aber«, sagte Marcel, seinen Degen umschnallend, »daß ich nicht länger aufschieben darf, Sie in die Soldatenmontur stecken zu lassen, mein armer Rousseau?«

»O mein Gott, ist es in der That so?« rief Rousseau erbleichend aus. Er hatte in seiner Begeisterung für die Rettung Margot's mit jenem schönen Sichselbstvergessen, das ihm sein ganzes Leben hindurch eigen blieb, fast völlig den Gedanken an seine eigene Lage verloren, und das Bewußtsein derselben kehrte jetzt mit solcher Schwere plötzlich zurück, daß ihm alles Blut zum Herzen schoß. »Ist es in der That so?« sagte er. »Bleibt mir kein Ausweg, keine Hülfe, keine Zuflucht? Steht denn über diesem Unmenschen von Oberst kein General, über dem General kein Marschall –«

Marcel zeigte einmal wieder jenes Achselzucken der Resignation, das ihn seine in passivem Gehorsam schulende Laufbahn gelehrt.

»Sie würden Ihr Schicksal ganz bedeutend schlimmer machen«, sagte er, »wenn Sie die unerhörte Kühnheit hätten, Ihren Oberst anklagen zu wollen, Sie könnten sich Dinge dadurch zuziehen, welche Ihnen das Leben für die nächste Zeit zu einer wahren Hölle machten. Um Gotteswillen, denken Sie nicht daran, etwa zu unserm Generaloberst gehen zu wollen.«

»Aber dann denke ich ja am besten daran, woran Margot heute Morgen in ihrer Noth dachte – mich in die Seine zu stürzen –«

»Dazu ist immer noch Zeit, mein armer junger Freund. Fürs erste habe ich dafür gesorgt, daß sich Ihre Lage nicht gar zu grausam gestaltet. Ich habe mit dem Hauptmann der Compagnie, in welche ich Sie einstellen werde, geredet. Er wird Sie nur wenig mit Exerciren quälen, nur so viel, daß Sie das Allernöthigste lernen, und das wird die Sache weniger Stunden sein. Im Uebrigen wird er Sie mit den Schreibereien seiner Compagnie beschäftigen. Und wenn Sie Posten zu beziehen haben, so wissen Sie, daß diese Beschäftigung weniger unfruchtbar als langweilig ist.«

»O wie danke ich Ihnen für Ihre Güte!« erwiderte Rousseau mit einem tiefen Seufzer. »Hätte ich Sie nicht gefunden, so wäre ich in der grenzenlosesten Verzweiflung, der ein Mensch anheimfallen kann.«

»Kommen Sie, kommen Sie«, sagte der Adjutant, seinen federumsäumten Hut auf die gebräunte Stirn drückend. »Verzweiflung ist kein Wort, das ein ehrlicher Soldat im Munde führen darf, und Sie thun am besten, den Umstand, daß Sie nun einmal ein Soldat sind, von jetzt an keinen Augenblick mehr zu vergessen. Wenn man das, was man einmal ist, ganz ist, fühlt man sich nie unglücklich!«

Zweites Kapitel.

Es waren acht Tage verflossen.

In dem Hofe des Hauses der kleinen Augustinerstraße vor dem Hintergebäude, in welchem der griechische Prälat wohnte, hielt eine schlichte, schmucklose Equipage, auf deren Bock ein alter Kutscher mit dem gepuderten Haupte nickte, während ein ebenso einfach grau gekleideter Lakai sich müßig harrend an den Schlag lehnte. Die Treppe zu der Wohnung des Prälaten war mit einem Teppich belegt; in dem Vorraum, aus welchem eine mit Vorhängen verhüllte Glasthür in das eigentliche Vorzimmer führte, schritt eine Schildwache in der Uniform des dritten Schweizerregiments auf und ab.

Die Zimmer waren sämmtlich erhellt; es war acht Uhr abends.

Im Vorzimmer befanden sich Procop und Margot. Procop saß auf einem der Thür, die in seines Herrn Wohnzimmer führte, nahgerückten Stuhle, um bei der Hand zu sein, wenn die Klingel seines Gebieters tönte. Margot stand vor ihm und sagte: »Haben Sie eine Ahnung, Herr Procop, wer dieser kleine, uralte Mann sein kann, der drinnen bei dem Archimandriten ist und den er bereits an der Treppe empfangen hat? Es muß ein vornehmerer Mann sein, als sein Aufzug vermuthen läßt!«

»Weshalb sollte es nicht ein vornehmer Mann sein?« versetzte Procop, sich in die Brust werfend und in einem Margot kaum verständlichen, aus Französisch und Italienisch gemischten Rothwelsch. »Wir empfangen oft vornehme Herren, die dem Archimandriten ihre Aufwartung zu machen kommen. Weshalb sollte es nicht Monsignore von Paris selber sein?«

»Der Erzbischof von Paris? Nein, der ist es nicht«, sagte Margot kopfschüttelnd, »der fährt nur in der Staatscarosse mit sechs Pferden und seine zwei Läufer voraus; auch kenne ich ihn, weil ich ihn oft in Notre-Dame pontificiren sah. Der Erzbischof ist es nicht, Herr Procop; aber gewiß ist, daß der Archimandrit in offenbare Aufregung gerieth, als er am heutigen Mittag das Billet erhielt, das er sofort in kleine Stücke zerriß, um uns dann zu sagen, daß er am Abend einen Besuch erhalten werde, während dessen wir jede Störung fern zu halten hätten. Was ist das? Ach, die Wache wird abgelöst!«

Man hörte draußen im Vorraume, jenseits der Glasthür, Klirren von Gewehren, militärische Schritte, halblaute Commandorufe, dann wurde Alles wieder still.

Noch ein paar Sekunden, und die Glasthür wurde leise geöffnet, der Kopf eines Soldaten streckte sich spähend herein.

Margot wandte sich erstaunt zu ihm um. Procop stand auf mit dem unwilligen Ausruf: »Was will dieser Mensch?«

»Fräulein Margot!« sagte der Soldat, jetzt ganz in die Stube tretend.

Margot stieß einen kleinen unterdrückten Schrei der Ueberraschung aus.

Sie kannte die Stimme. Sie trat rasch auf den Soldaten zu. Seine Züge ins Auge fassend, sagte sie: »Mein Gott, Sie sind Niemand anders als –«

»Als Rousseau, der unglückliche Rousseau«, antwortete der Soldat, »der Sie im Tuileriengarten sprach und der –«

»Ach«, fiel das junge Mädchen hastig ein, »der liebe, gute, junge Mensch, dem ich so viel verdanke, der Freund Marcel's –«

»Derselbe Rousseau«, unterbrach sie mit ebenso hastigem Flüstern der junge Mann. »Aber sprechen Sie nicht von Dank. Mit jenem Fluche des Unheils, der auf so Vielem liegt, was ich mit dem besten Willen und der edelsten Absicht beginne, habe ich Sie nur in eine noch grausamere Lage gebracht. Erschrecken Sie nicht zu sehr über die fürchterliche Nachricht, welche ich Ihnen mitzutheilen habe – der Oberst Godard, der Sie eine ganze Woche lang unablässig gesucht, hat Ihren Aufenthalt entdeckt.«

»Meinen Aufenthalt entdeckt? Großer Gott, wie ist das möglich?« rief Margot, tödtlich erbleichend.

»Er hat am heutigen Nachmittage irgend ein dienstliches Geschäft bei dem Kriegsminister gehabt; er hat auf dessen Schreibtische einen Brief des Archimandriten liegen sehen und hat sofort Ihre Handschrift erkannt; der Kriegsminister hat ihm bestätigt, daß solche Briefe in den letzten Tagen von einem Gaben für das heilige Grab sammelnden griechischen Geistlichen bei allen Grands Seigneurs und hochgestellten Leuten eingelaufen. Oberst Godard hat nun genug gewußt, denn er weiß von mir, daß ich früher im Gefolge dieses griechischen Geistlichen war; er weiß es aus dem Briefe, den ich ihm von Herrn von Merveilleux überreichte!«

»Aber woher wissen Sie –« fragte Margot, in ihrem Schrecken kaum eines Wortes mächtig.

»Ich hörte ihn vorhin in der Kaserne mit Marcel toben. Er war außer sich. Er schwur, daß er dieses höllische Complot, wie er es nannte, uns allen grausam eintränken werde. Marcel hat er in seiner Wuth gedroht, als Regimentsadjutanten cassiren zu wollen, gegen mich wird er Maßregeln ergreifen, die mir nichts Anderes übrig lassen, als mich vorher todt zu schießen. Ein Mensch von Ehre wählt tausendmal lieber den Tod als die Schande!«

»O ewiger Gott!« rief Margot aus. »Dazu darf es, darf es nicht kommen! Was thun wir, Herr Rousseau, was thun wir nur?«

»Wir haben kaum eine Viertelstunde Zeit, bis er hier ist. In der Kaserne wird heute ein Kriegsgericht über einen Deserteur abgehalten; der Oberst hat den Vortrag des Auditeurs darüber anzuhören und das Urtheil dann zu bestätigen; dadurch bekam Marcel Zeit, mich zu unterrichten und, da ich zur Wache gehörte, mich gerade jetzt auf diesen Posten zu schicken. Ist aber der Oberst mit seinem Dienstgeschäfte zu Ende, so wird er auch hier sein, Sie von dem Archimandriten zu reclamiren.«

Margot rang die Hände. »Mir bleibt nichts Anderes übrig, als davonzulaufen –«

»Doch«, sagte Rousseau, »ich habe, während ich der Ablösung hierher folgte, etwas Anderes erdacht; willigen Sie darein, so kann noch Alles gut gehen!«

»Und was, was? Sprechen Sie!«

»Der Archimandrit wird unsertwegen keine Unwahrheiten sagen wollen; er wird dem Obersten erwidern, eine junge Dame sei allerdings als Secretär in seinem Dienste. Es bleibt also für uns nichts Anderes zu thun übrig, als dem Obersten eine ganz fremde Person vorzustellen, damit er getäuscht abzieht.«

»Aber meine Handschrift, die ihm verrathen hat, daß ich hier sei?«

»Handschriften können sich ähnlich sehen; ich würde auch nötigenfalls Ihre Handschrift schon nachzuahmen verstehen.«

»Wer sollte denn die fremde Person sein? Woher sie nehmen?«

»Ich werde sie spielen; ich denke, ich bin völlig im Stande dazu, wenn Sie mir Ihre Kleider geben.«

»Sie – in meinen Kleidern? Aber –«

»Aber, wollen Sie sagen, Sie dürfen ja nicht von Ihrem Posten fort! Das ist richtig; aber Sie haben meinen Plan nicht zu Ende gehört. Sie, Margot, müssen unterdeß in meine Uniform schlüpfen und an meiner Statt Schildwache stehen!«

»Um Gotteswillen!«

»Der Oberst wird die Schildwache nicht fixiren, wenn er an ihr vorüberstürmt; auch ist es durchaus nicht hell im Vorraume und wir können die Lampe noch mehr verdunkeln. Sie können da draußen völlig sicher sein; Gefahr droht bei der Sache nur mir und freilich eine große, aber ich bin voll Zuversicht und ich sehe keinen andern Ausweg, durchaus keinen!«

»Aber der Archimandrit?« rief Margot aus.

»Der Archimandrit will mir wohl; bin ich erst in Ihrem Costüme, sind wir erst mitten in unserer Scene, so bin ich überzeugt, er verräth mich nicht; der Oberst wird durch sein unverständiges Wüthen das Beste thun, den Archimandriten auf meine Seite zu bringen. Also entschließen Sie sich, Margot, aber rasch, rasch, in jeder verzögerten Minute steigt die Gefahr, die Gefahr, daß wir grenzenlos elend werden.«

Rousseau's Plan war abenteuerlich genug, aber hätte Margot auch Zeit zur Ueberlegung gehabt, der Schrecken, die Aufregung, der Aufruhr, in welchem sie sich befand, hätten ihr alle Ueberlegung unmöglich gemacht; sie hätte auch noch Kühneres, noch Hoffnungsloseres in diesem Augenblicke gethan, falls sie dazu gedrängt worden wäre, und wenn auch nur, um überhaupt etwas zu thun in dieser entsetzlichen Lage.

Dabei war die Aussicht auf den Umstand, daß sie mit einem jungen Menschen ihre Kleider wechseln sollte, das, was am wenigsten ihre Bedenklichkeit erregte. Margot war Französin, und die französische Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts war nicht prüde.

Während Rousseau sein Gewehr, seinen Degen, seinen Hut auf den Boden legte, begann sie mit zitternden Händen ihre Oberkleider abzuwerfen; Rousseau war nicht weniger eilig, sich seiner Montur zu entledigen. Dabei sagte er:

»Procop, ich bitte Sie um Gotteswillen, uns beizustehen. Gehen Sie hinaus in den Vorraum; wenn der Oberst kommt, bevor wir fertig sind, so halten Sie ihn auf – Sie retten uns das Leben, indem Sie ihn aufhalten.«

Procop, der von der ganzen Scene nicht die Hälfte verstand, war doch ganz bereit, den geängstigten jungen Leuten zu Hülfe zu kommen.

»Gern, gern«, sagte er; »unser Herr will ja auch in der That nicht gestört sein.«

»Sagen Sie ihm das«, versetzte Rousseau, eben Margot's Kleid überwerfend, »und hören Sie, sagen Sie ihm, er könne höchstens das junge Mädchen, die Annette – nennen Sie mich Annette – sprechen, die alle Geschäfte des Herrn besorge; er wird begierig diese Annette zu sehen verlangen. Und dann rufen Sie mich hinaus – ich spreche ihn draußen sicherer, weil es draußen dunkler ist; auch wäre es ein großes Glück, wenn wir so sein Zusammentreffen mit dem Archimandriten ganz vermeiden könnten!«

Procop eilte hinaus, die beiden jungen Leute halfen sich in höchster Geschäftigkeit bei ihrem Kleiderwechsel, der zum Glücke von Margot's Gestalt unterstützt wurde. Die Uniform paßte ihr ganz gut, sie hatte sich sehr bald hineingefunden; als Mündel und Nichte eines Soldaten fand sie nichts daran fremd; sie behielt volle Zeit übrig, Rousseau, der bei Frau von Warrens, seiner frühern Beschützerin, mehr als einmal bei Gesellschaftsspielen und Aufführungen in Frauenkleidern gewesen war und Frauenrollen gespielt hatte, bei seiner Ausstaffirung zu helfen.

Sie waren endlich fertig; trotz all ihrer Angst glitt ein Lächeln über beider Züge, als sie sich ansahen.

»Halten Sie es für möglich, daß er mich erkennt?« fragte Rousseau.

Margot schüttelte mit dem Kopfe. »Nein«, sagte sie; »Sie sehen so vollkommen schüchtern, wehmüthig und mädchenhaft aus Ihren sanften Augen, daß Niemand einen Soldaten des dritten Schweizerregiments in Ihnen erkennt. Dabei ist es Abend –«

»Ich werde suchen, im Schatten zu bleiben«, fiel Rousseau ein.

»Und wenn Sie Ihre Stimme ein wenig verstellen –«

»Gewiß werde ich das.«

»So hoffe ich, er erkennt Sie nicht!« fiel Margot ein, indem sie das Gewehr aufnahm und schulterte.

»Gehen Sie jetzt an Ihren Posten.«

»Muß ich präsentiren, wenn er vorüberkommt?« fragte Margot.

»Gewiß müssen Sie das – verstehen Sie es?«

»Er wird nicht in der Stimmung sein, zu beobachten, ob es ein wenig ungeschickt gemacht wird oder nicht.«

»Nein, und mir fällt ein, Sie werden gar keine Notiz von ihm zu nehmen brauchen; denn er ist im Civil wie gewöhnlich, wo er es kann – er schont die Uniform, sagt Marcel –«

»Da – ist er das nicht? In der That, ich höre Procop's Stimme!«

»Fort, fort an Ihren Platz«, rief Rousseau erschrocken aus.

Drittes Kapitel.

In dem Wohn- und Empfangszimmer des Archimandriten saßen unterdeß zwei alte Männer in belebtem Gespräche sich einander gegenüber. Der weitaus ältere und an Gestalt kleinere von beiden hatte sich bequem in einem Armsessel ausgestreckt, der an den Kamin geschoben war, in welchem ein kleines Feuer trotz der noch warmen Jahreszeit brannte. Er trug die einfache schwarze Tracht eines Hofabbés mit dem seidenen, über den Rücken niederfallenden Mäntelchen. Ihm gegenüber saß in steiferer Haltung, in seinem violetten Gewande, auf einem Taburet der weißbärtige Kalogeros der anatolischen Kirche.

»In Ihrer Erscheinung hier liegt schon das beste Argument für meine Bemerkung«, sagte in fließender italienischer Sprache der kleine alte Herr. »Sie gestehen durch die That, daß die byzantinische Kirche sich in einer Lage befindet, welche es ihr unmöglich macht, aus eigenen Kräften für das zu sorgen, worüber sie so eifersüchtig Eigenthumsrechte vertheidigt.«

»Das heilige Grab gehört dem ganzen Christenthume an, Eminenz«, erwiderte in demselben Idiom der Archimandrit. »Ich komme nicht im Namen der byzantinischen Kirche, die Beihülfe der lateinischen zu suchen; ich komme im Namen des Klerus von Jerusalem, um den Christen im Abendlande zu sagen: das heilige Grab zerfällt in Trümmer –«

»Des Klerus von Jerusalem«, fiel die Eminenz ein, »ja, aber des griechischen! Und wir Christen des Abendlandes antworten: Weshalb betrachtet Ihr das, worum es sich in Jerusalem handelt, als Euer ausschließliches Privateigentum?«

»Wir thun das nicht, Eminenz; ein Theil der Grabeskirche ist den Lateinern eingeräumt.«

»Freilich, der schlechteste und geringste Theil; und die Folgen dieser Theilung sind die Scharmützel, die sich die Confessionen am Osterfeste an der heiligsten Stätte der Christenheit liefern.«

Der Archimandrit zuckte die Achseln. »Die Menschen!« sagte er blos.

»Die Menschen sind Kinder«, fiel der Andere ein. »Sie haben Recht; und Kindern muß man die Ursache zum Streite nehmen. Das ist, was ich beabsichtige, wozu ich uns Ihre Mitwirkung in Jerusalem sichern möchte. Stellen Sie Ihrem Patriarchen die unendlichen Vortheile vor, welche die Religion davon haben würde, wenn die Absichten, welche die Regierung meines Königs in Uebereinstimmung mit dem heiligen römischen Stuhle gefaßt hat, zur Ausführung kämen. Die griechische Kirche ist arm, gedrückt und hülflos unter dem brutalen Scepter des Islam; ihre Schwester, die russische, ist fern und gleichgültig auf sich beschränkt; wer soll helfen, wenn nicht die mächtige lateinische Kirche, und wer kann für sie eintreten, wenn nicht Frankreich, das mächtigste Reich des Abendlandes?«

»Eben daß es das mächtigste Reich des Abendlandes ist«, fiel der Archimandrit ein, »entschuldigt unsere Behutsamkeit, Eminenz.«

»Willigen Sie ein, daß die Grabeskirche und die sämmtlichen heiligen Orte in Jerusalem und Bethlehem als ein gemeinschaftliches, ungetheiltes, ideelles Eigenthum der beiden Kirchen betrachtet werden, daß aller christliche Besitz unter der gemeinschaftlichen Verwaltung, alles christliche Leben unter der gemeinschaftlichen Disciplin des griechischen und lateinischen Patriarchen daselbst stehe, so wird der König zur Herstellung der Grabeskirche und zur bessern Dotirung der beiden Patriarchate eine Million Livres bewilligen.«

»Niemand ist bereitwilliger als ich, für den schönen Gedanken zu wirken, den Eure Eminenz anregen«, antwortete der Archimandrit, »und für die blutarme Kirche von Jerusalem ist eine Million ein eindringlicher Beweis, dessen Gewicht ich nicht verkenne. Auf der anderen Seite aber kann ich die Hindernisse und die Widersprüche, auf welche dieser Gedanke stoßen wird, nicht verschweigen. Jede Kirche hat keinen andern Besitz als einen anvertrauten, den sie nicht veräußern darf; und dürfte hier die anatolische um eines großen irenischen Zweckes willen verzichten, so würde sie fürchten müssen, daß damit nur das erste Zeichen zu weiterem Zurückweichen vor dem Einflusse eines Elements gegeben wäre, das Eure Eminenz selbst als so mächtig anerkennen. Ein Uebergewicht des Lateinerthums in Jerusalem würde bald auf die Kirche von Antiochien zurückwirken und –«

»Wir verlangen kein Uebergewicht; schon seit vielen Jahren verlangt der römische Stuhl die bloße Gleichberechtigung und nichts als sie, und für diese gerechte Forderung will Frankreich eintreten; das ist Alles!«

»Die Sache hat eine ganz politische Seite«, antwortete der Archimandrit.

»Aber mein Gott, wer stört uns da?« rief hier plötzlich die Eminenz geärgert aus.

»Ich begreife diese Störung nicht!« sagte der griechische Prälat, sich rasch erhebend; »ich habe die gemessensten Befehle gegeben –«

Im Vorzimmer hörte man lautes zorniges Sprechen, heftigen Stimmenwechsel, endlich einen wahren Sturm von Rufen, Fluchen und Toben.

Der Archimandrit eilte zum Tische, um die Schelle zu rühren, der kleinere Geistliche aber war erregt und zornig aufgestanden und eilte zur Thür, die Procop in diesem Augenblick von außen aufwarf.

Als der alte, mit Eminenz angeredete Geistliche und hinter ihm der griechische auf die Schwelle traten, ward ihnen ein empörender Anblick. In der Mitte des Vorzimmers stand ein hoher, breitschultriger Mann in bürgerlicher Tracht, mit einem wuthentflammten Gesicht, in der einen Hand einen zweiarmigen Leuchter haltend, womit er einem jungen Mädchen ins Gesicht leuchtete, dessen Hals er mit der andern Hand umfaßt hielt, so daß er es unter seinem eisernen Griffe erdrosseln zu wollen schien, während er eine Flut von Flüchen und Drohungen aussprudelte.

»Margot, Margot, ums Himmels willen, was bedeutet dies?« rief der Archimandrit aus und sagte dann in seiner Landessprache einige rasche Worte zu einem Diener, der zitternd und hülflos dastand.

»Margot!« schrie höhnisch auflachend der Fremde, Niemand anders als der Oberst Godard. »Also ist sie doch hier. Verdammtes Pfaffencomplot das! Aber diese Margot hier, dieser Schuft von einem Deserteur, der mir in den Weiberkleidern glaubt einen Streich spielen zu können, soll dafür büßen.«

Der Archimandrit trat rasch hinzu, um den unglücklichen Rousseau, der kein Wort hervorbringen konnte, vom Tode des Erstickens zu retten.

»Aber Sie erdrosseln ja Margot!«

»Margot?« rief, mit den Zähnen knirschend, der wüthende Schweizer. »Rousseau heißt der Schuft, der mit mir Spott treibt; wenn ich ihn erdrossele, desto besser, dann ist Pulver und Blei an ihm gespart.«

Der Archimandrit faßte jetzt mit beiden Händen den Arm des Obersten, um Rousseau's Hals frei zu machen, während Procop davonstürzte, die Lakaien der Eminenz aus dem Hofe zu Hülfe zu rufen.

Der Oberst aber, der sich in seiner Wuth nicht mehr kannte, ließ Rousseau fahren und faßte den Archimandriten an der Brust.

»Schurkischer Pfaffe«, schrie er, ihn schüttelnd und dann von sich schleudernd, »mit Dir werde ich sogleich reden«, und dann rief er mit einer wahren Stentorstimme, sich der Thür nach außen zuwendend:

»Schildwache! Wache! Zum Teufel, weshalb kommt die Wache nicht?«

»Dies wird zu viel!« sagte jetzt zornig die Eminenz, in die Mitte des Zimmers tretend. »Ich kenne diesen Menschen; es ist derselbe, den ich vor einiger Zeit in den Tuilerien ein junges Mädchen ohrfeigen sah. Man muß diesen Wütherich unschädlich machen!«

Unterdessen war die Schildwache eingetreten, hielt sich jedoch sehr schüchtern im dunklern Hintergrunde des Zimmers, der Thür nahe.

»Hund von einem Kerl, weshalb hört Er, weshalb kommt Er nicht?« schrie der Oberst sie an.

Aber schon war die Eminenz vor sie getreten und sagte, sich zwischen sie und den Obersten Godard stellend: »Weiß Er, wer ich bin?«

Die Schildwache brachte etwas hervor, das einem Schlucken mehr als einem Worte glich, aber gleich nein lautete.

»Nun wohl, so hör' Er: Ich bin der Cardinal Fleury, der Premierminister des Königs; ich befehle Ihm, diesen Menschen da in Arrest zu nehmen. Er hat mit seinem Kopfe für ihn einzustehen, bis ich ein Commando sende, welches ihn in die Bastille abführen wird, wo ich ihm Zeit lassen werde, darüber nachzudenken, wie man sich gegen einen Würdenträger der Kirche beträgt! Antoine«, wandte sich der Cardinal dann an seinen eben herbeieilenden Lakaien, »helfen Sie der Schildwache dort, wenn der Arrestant ihr sollte Widerstand leisten wollen.«

Die Wirkung dieser Worte war schlagend.

Der Oberst war zwar ein Tyrann, aber dennoch nicht gerade feig. Die Entdeckung jedoch, vor dem Cardinal Fleury, vor dem Manne zu stehen, in dessen Händen das Schicksal Frankreichs mehr wie in denen seines Königs lag, diesen Mann sich zum Feinde gemacht zu haben und infolge davon in die Bastille wandern zu müssen, diese Entdeckung, diese Aussicht wirkte geradezu zermalmend für ihn.

Sein gebräuntes und eben noch so entflammtes Gesicht ward von einem fahlen Gelb überzogen; er ließ die Arme schlaff herabfallen und stand wie eine Bildsäule so regungslos, nur den Cardinal anstarrend.

Der Cardinal winkte, daß man ihn abführe, und wandte ihm den Rücken. Antoine erfaßte des Obersten Arm und leitete ihn in den Vorraum, wo der Posten seine Aufstellung hatte; Margot folgte ihnen dahin.

Draußen wies Antoine den Arrestanten in eine Ecke auf einen dort stehenden Stuhl; dann zog er sich zu der auf den Treppenraum führenden Thür zurück, während Margot jetzt höchst entschlossen ihr Gewehr schulterte und vor dem Oberst auf und ab zu schreiten begann.

Im innern Vorzimmer hatte der Cardinal unterdessen mit dem Archimandriten noch einige Worte gewechselt.

»Das Incognito, mit welchem ich unsere Verhandlungen verhüllt wünschte, ist nun doch gebrochen«, sagte er in unwilligem Tone; »wir können dieselben deshalb in meinem Hotel zu Ende führen; kommen Sie dahin zu mir, Monsignore, ich werde zu jeder Zeit für Sie zu Hause sein.«

Er reichte seine magere kleine weiße Hand, auf der ein großer Smaragd glänzte, dem Archimandriten und litt nicht, daß dieser, wie er versuchte, sie an die Lippen führte.

»Auf Wiedersehen also«, schloß er; »und was dieses junge Mädchen da oder diesen jungen Menschen angeht, so untersuchen Sie die Sache; wir werden Ihnen die Handhabung der Justiz in Ihrem Hause und über Ihr Gefolge ohne alle Behinderung zugestehen.«

»Ich danke Ihnen, Eminenz«, versetzte der Archimandrit.

Der Cardinal machte eine leichte Verbeugung und ging. Der Archimandrit folgte ihm bis an seinen Wagen im Hofe.

Als der griechische Prälat zurückkam und, während man den Wagen des Cardinals davonrollen hörte, durch den Vorraum schritt, in welchem der Oberst Godard noch immer halb betäubt in der Ecke saß, sprang der letztere plötzlich auf und stellte sich dem Archimandriten in den Weg.

»Herr«, sagte er mit einer Stimme, die, hohl und gebrochen, sich zu einem Tone von Drohung aufraffte: »Sie wissen nicht, wer ich bin. Ich bin Oberst Schweizer-Oberst, ich stehe nur unter dem General-Oberst der Schweizer und nehme von Niemand anders Gesetze an.«

Der Archimandrit sah ihn zweifelnd an und sagte dann: »Sie haben sich nicht so betragen, mein Herr, daß ich mich in Ihre Versicherung, Sie seien ein Mann von Erziehung und Rang, sogleich finden könnte. Auch fürchte ich, daß die Befehle Seiner Eminenz gegen Jedermann in diesem Lande mit gleicher Strenge durchgeführt werden, möge er Oberst oder Bauer sein. Ich bin ohne Einfluß darauf.«

Damit schritt er weiter, um vor allem zuerst den verkleideten Rousseau zu verhören und zu untersuchen, wo Margot sei.

Als er die Thür zum innern Vorzimmer hinter sich geschlossen hatte, sagte die Schildwache mit einer befangenen Stimme, aber, wie um sich Muth zu machen, klirrend den Gewehrkolben aufstoßend:

»Sie sehen, Sie sind gefangen, mein theurer Colonel.«

Der Oberst wandte sich wie elektrisch berührt der Schildwache zu. »Welche Stimme ist das! Das ist ja Margot.«.

»Möglich, daß ich vor einer Stunde noch Margot war, dieselbe Margot, die Sie so mißhandelten, daß ich genöthigt war, mich aus Ihrem Hause durch die Flucht zu retten. Jetzt aber bin ich für den Augenblick Freiwilliger im dritten Schweizerregiment, stehe hier im Namen des Königs, und Sie sind mein Arrestant.. Wenn Sie mir Widerstand leisten, oder sich ungeberdig stellen, darf ich Ihnen mein Bajonett in die Brust stoßen. Sie wissen das selbst am besten.«

Der Oberst versuchte ein höhnisches Lachen. »Die Komödie wird immer toller«, sagte er, »und Du Thörin glaubst –«

»Daß die Komödie auch den richtigen Ausgang nehmen wird, Abführung des bösen und tyrannischen Vormundes in die Bastille!«

»Elende Posse!« rief der Oberst aus.

»Wenn Sie Ihre Lage für possenhaft halten, so werden Sie bald enttäuscht sein. Da Alles gut und geschlichtet ist, und da ich Marcel heirathen kann, sobald Sie sicher und wohlbewahrt in der Bastille sitzen, die ihre Gefangenen nicht sobald wieder herausgibt, so müßte ich sehr thöricht sein, wenn ich nicht Alles aufböte, Sie hier arretirt zu halten, bis das Commando kommt, welches Sie abholen wird. Könnten Sie mich trotz meiner Waffen überwältigen, so könnten Sie doch nicht Herr über Antoine und die drei Männer drinnen werden, und könnten Sie das, so könnten Sie nicht als Deserteur aus Frankreich fliehen! Ist Ihnen das klar?«

»Du meinst doch nicht etwa, ich soll mich bei Dir aufs Bitten legen?« rief der Oberst wüthend.

»Ich fürchte das eigentlich ein wenig«, versetzte Margot; »denn wenn Sie sich aufs Bitten legten, so bin ich meines thöricht-gutmüthigen Herzens nicht ganz sicher; vielleicht ließe es sich rühren, Alles würde in Frieden und im Stillen beigelegt, wir ließen Sie entschlüpfen, bevor das Commando kommt, und um die Genugthuung, Sie auf zehn Jahre in die Bastille wandern zu sehen, wären sowohl ich wie der gute arme Rousseau, dem Sie so empörend mitgespielt haben, gebracht! Muß ich nicht wirklich fürchten, daß Sie kleinlaut werden und vernünftig?«

Der Oberst murmelte einen Fluch zwischen den Zähnen, dann sagte er, mit offenbarer Anstrengung seine Wuth bezähmend: »Nun gut, so laß mich entschlüpfen; ich will dann Rousseau nicht bestrafen und Dir diese ganze tolle Aufführung nicht nachtragen.«

Margot lachte. »Ich glaube gar, Sie wollen die Bedingungen vorschreiben; nein, mein lieber Onkel, die Bedingungen würden wir stellen.«

»Und welche?«

»Habe ich gesagt, daß ich überhaupt welche stellen will?«

»Jämmerliche Heuchelei! Glaubst Du mich täuschen zu können? Du verlangst nichts dringender, als mit mir Frieden zu schließen, denn Du weißt wohl, daß ich Dein Vermögen in Händen habe, daß ich allein weiß, wie es angelegt ist! Du bist viel zu klug, um das nicht zu bedenken!«

Die letzte Karte! dachte Margot und sagte dann spöttisch: »Das kümmert mich nicht viel. Ich denke, wir beerben Sie, ich und François, wenn eine Lettre de cachet Sie in der Bastille begraben hat, lieber Onkel!«

»Nun, zum Teufel«, rief der Oberst, dem seine Lage immer unerträglicher wurde und bei der letzten Drohung die ganze Angst des Geizhalses kam, der fremde Hände in der Nähe seines Schatzes sieht, »sag' endlich Deine Bedingungen!«

»Meine erste Bedingung ist, daß Sie in meine Verbindung mit Marcel einwilligen und Marcel in seinem Posten lassen, auch mein Vermögen ihm herausgeben, ohne alle Winkelzüge!«

Der Oberst zuckte die Achseln. »Willst Du in Dein Verderben stürzen – meinethalben denn!«

»Meine zweite Bedingung, daß Sie Rousseau vom Regiment entlassen.«

»Er mag laufen, wohin er will, der Landstreicher!«

»So können wir Frieden machen.«

»Darf ich nun gehen?«

»O nein, nicht so rasch, der Frieden muß erst unterschrieben und untersiegelt werden; eher traue ich dem Frieden nicht. Und da ist Marcel, ich höre ihn kommen, er wird uns dazu beistehen!«

Man hörte rasche Schritte auf der Treppe und dem Treppenflur draußen. Margot's Ohr mußte besonders geübt sein, gerade diese Schritte zu erkennen, denn in der That trat hastig im nächsten Augenblicke Marcel ein.

Marcel hatte die Spannung und die Ungeduld auf die Entwicklung der Dinge im Hause des Archimandriten nicht länger draußen gelassen, wo er seit mehr als einer Viertelstunde auf und ab geschritten, er hatte sich ein Herz gefaßt und kam hereingestürmt.

Als er den Oberst und zwar allem Anschein nach als Gefangenen des Postens erblickte, fuhr er betroffen zurück und rief erschrocken: »Rousseau, was sehe ich! Sie haben den Oberst arretirt?«

Margot nahm den schweren, dreieckigen Hut mit der großen Cocarde ab und hing ihn lächelnd auf die Spitze ihres Bajonetts. »Nicht Rousseau, aber ich, Marcel!«

»Was? Margot – Du – ums Himmels willen, was bedeutet dies?« Marcel rief dies in einem Tone ganz unbeschreiblicher Verwunderung.

»Dies bedeutet, daß Du einmal eine sehr gute, hülfreiche Frau an mir haben wirst, eine echte Soldatenfrau«, entgegnete das junge Mädchen. »Du siehst, daß, wenn Du einmal krank oder verhindert bist, den Dienst zu thun, ich in die Uniform zu schlüpfen und ihn statt Deiner zu thun verstehe!«

»Margot«, rief Marcel, »das ist wirklich unglaublich.«

»Weshalb?« sagte Margot in demselben heitern Tone. »Unglaublich ist hier nur, wie gütig und liebreich der Onkel geworden ist; er wird Dir sogleich schriftlich geben, daß er nichts wider unsere Verbindung einzuwenden hat!«

Marcel wandte sich zum Obersten, aber bevor er sprechen konnte, öffnete Procop vor dem Archimandriten die Thür. Der Prälat trat ein, hinter ihm Rousseau, noch immer in den Kleidern Margot's.

»Ich habe von Herrn Rousseau vernommen«, sagte er, sich zum Obersten wendend, »daß Sie wirklich der Oberst Godard vom dritten Schweizerregiment sind, und habe ferner von ihm erfahren, welche Gründe Sie verführten, in meinem Hause eine so unwürdige und rohe Scene aufzuführen, nachdem die Angst vor Ihnen diese jungen Leute zu der Thorheit solcher Verkleidungen greifen lassen. Da der Cardinalminister mir die Justiz in meinem Hause überlassen hat, will ich sie dahin ausüben –«

»Ehrwürdiger Herr«, fiel hier Margot ein, »mein Oheim bereut sein Betragen, verzichtet auf allen Widerstand wider Marcel's und meine Verbindung und bittet, daß Sie nicht Justiz an ihm üben, sondern Gnade –«

»Ich sollte Justiz an Euch allen üben, weil Ihr mich getäuscht habt, weil Ihr mir die Wahrheit verhehltet«, versetzte der Prälat. »Aber sei es drum, ich will Gnade üben und«, fuhr er zum Obersten gewendet fort, »dieser tapfern Schildwache hier befehlen, Sie zu entlassen, nachdem Sie Herrn Rousseau hier einen Schein ausgestellt haben, daß er frei und ledig von Ihrem Regimente ist. Wollen Sie das?«

Der Oberst blinzelte scheu und verwirrt den alten stattlichen Priester an. »Ich habe auch das bereits zugestanden«, versetzte er halblaut.

»Procop, bringe Schreibzeug herbei«, befahl der Archimandrit.

Procop brachte das Verlangte auf einen zwischen den Fenstern stehenden Tisch und der Oberst setzte sich, um mit raschen, ein wenig zitterigen Zügen den Freischein zu schreiben.

»Seine Eminenz, den Herrn Cardinalminister, werde ich zu beruhigen wissen, falls derselbe mit dieser Schlichtung der Sache unzufrieden sein sollte«, sagte der Archimandrit dabei.

»Wäre es nicht besser«, fiel hier Margot, sich flüsternd zu Rousseau wendend, ein, »wenn wir, Marcel und ich, auch etwas Schriftliches bekämen?«

Der Archimandrit schien diese Worte gehört zu haben, er sah forschend in die Züge Marcel's und dann Margot's. »Was wünscht Margot?« fragte er dann Rousseau.

»Sie wünscht eine Bürgschaft, daß der Oberst ihre Verbindung mit Marcel nicht dennoch hindert, wenn er in Freiheit ist. Ich weiß nicht, ob ein schriftliches Versprechen des Obersten da so ganz genügen und ausreichen wird.«

Der Archimandrit nickte mit dem Kopfe. »Diese Bürgschaft«, sagte er dann lächelnd, »kann ich Euch geben, meine Kinder. Procop, bringe mir mein Ritualbuch und nimm ein Licht. Margot, geben Sie Rousseau Ihr Gewehr zu halten und dann knieen Sie mit Ihrem Verlobten vor mir nieder.«

Während der Oberst und Rousseau den Archimandriten überrascht ansahen, gehorchten Margot und Marcel ihm ohne Weigerung.

»Trauen kann ich Euch nicht, meine Kinder«, fuhr der Prälat fort, »dazu habe ich in diesem Lande nicht das Recht. Aber ich kann als christlicher Priester Eure Verlobung mit dem Segen der Kirche besiegeln und das will ich!«

Procop war unterdessen mit dem verlangten Buche und dem Lichte herangetreten. Der Prälat schlug das Buch auf, und während sein Diener hinter ihm stehend das Licht hielt, las er Gebetsformeln aus dem Buche, fügte die Hände der beiden jungen Leute zusammen und legte segnend seine Rechte auf ihre Häupter.

»Amen!« sagte er dann lächelnd, das Buch zuschlagend und Procop zurückgebend. »Jetzt sind diese beiden Schweizersoldaten, Regimentsadjutant und Schildwache, mit einander verbunden und weder ihr Oberst noch alle Cantone der Schweiz vermögen es, sie zu trennen. Stehen Sie auf, Herr Adjutant, und gehen Sie dem Militärcommando, das ich kommen höre, entgegen, um ihm zu sagen, daß ich kraft der mir von Seiner Eminenz verliehenen Gewalt bereits Gericht in meinem Hause gehalten und den Arrestanten entlassen habe!«

* * *

Rousseau hatte, nachdem er wieder in seine Uniform geschlüpft, noch etwa eine Stunde zu schildern, dann kam die Ablösung. In der Kaserne angekommen, eilte er, seinen Freischein geltend zu machen, und am andern Morgen verließ er, glücklich, sich wieder in seinem Tuchröcklein zu fühlen, nach einem herzlichen Abschiede von Marcel das Gebäude, welches ihn so lange zu seiner Verzweiflung gefangen gehalten. Er ging zunächst zur Schwägerin des Herrn von Merveilleux, die ihn mit großer Theilnahme und Freundlichkeit empfing und gastlich für mehrere Tage bei sich aufnahm. Diese Tage brachte er damit zu, Paris zu sehen und zu durchstreifen und ein langes, satirisches Gedicht auf den Obersten Godard zu schreiben. Dann entschloß er sich, Paris zu verlassen und aufs neue eine Zuflucht bei seiner geliebten Beschützerin, Frau von Warrens in Chambery, zu suchen. »Aus meinen Versen«, erzählt er uns, »machte ich ein Paquet, und weil es damals in Paris noch keine Stadtpost gab, steckte ich es in die Tasche und gab es an den Obersten auf die Post, als ich durch Auxerre kam. Ich lache noch zuweilen, wenn ich mir die Grimassen vorstelle, welche er beim Lesen dieses Lobgesangs hat machen müssen, in dem er Zug für Zug abgeschildert war. Der Anfang lautete:

»Tu croyais, vieux penard, qu'une folle manie
D'élever ton neveu m'inspirerait l'envie!«

Aber außer diesem Anfange ist leider nichts von diesem Werke auf die Nachwelt gekommen. Der Oberst Godard wird dafür gesorgt haben, daß das Manuscript nicht wie Margot's Billetdoux unter seine Dienstpapiere oder sonst zu weiterer Verbreitung gekommen ist.

* * *


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