Hedwig Schobert
Künstlerblut
Hedwig Schobert

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XXIV.

Vor dem schmalen Pförtchen, durch das die Bühnenmitglieder gingen und kamen, stand wartend Viktor Alten. Es trieb ihn, mit Martha ein Wort auszutauschen. Sie hatte sicherlich Graf Gilsach gesprochen, wußte nun, daß er – Viktor – freiwillig alle Schuld auf sich genommen hatte, um ihr selbst den kleinsten Tadel zu ersparen; einen warmen Händedruck, ein freundliches Wort hatte sie darauf hin sicher für ihn. Er sehnte sich darnach. Es kam ihm fast vor, als habe das Geschehene ein neues Band um sie gewoben, als hätte er sich wenigstens jetzt das Recht errungen, ihr Freund und Berater zu sein, da es der Welt gegenüber nichts mehr zu verheimlichen gab.

Er machte sich auf ein langes Warten gefaßt, denn die Möglichkeit, wie sonst, hinter die Kulissen zu gehen, hatte er sich nach dem heutigen bösen Auftritt mit Herbert geraubt.

Es dunkelte schon, die Gaslaternen brannten, nur wenige Leute gingen in dem schmalen Seitengäßchen an ihm vorüber, und so gelang es ihm ohne Aufsehen dicht neben dem Auto zu stehen, aus dem Martha stieg – früher, als er sie eigentlich erwartet hatte.

»Guten Abend!« sagte er und griff nur an die Hutkrempe, um sein Gesicht nicht unnötig zu zeigen. »Ich wartete auf dich, Martha!«

Sie warf den Kopf auf und sah ihn feindselig an; noch verrieten ihre Augen vergossene Tränen. »Völlig überflüssig,« erwiderte sie kurz, raffte ihren Mantel zusammen und machte Miene, an ihm vorüber zu gehen.

»Ich habe mich um dich gesorgt und beunruhigt,« sagte er rasch und hielt sie zurück. »Sage mir doch, wie alles abgelaufen ist.«

Sie sah ihn an, sie überlegte, ob sie überhaupt antworten sollte, er schloß das deutlich aus der Miene ihres Gesichts und begriff ihren Zorn nicht. Sie schob seine Hand von ihrem Arm weg und sagte dabei, jedes Wort betonend: »Einmal schon trat das Blut meiner Mutter zwischen uns, du riefst es als Zeuge gegen mich auf und deshalb verlorst du mich. Heute hast du es wieder getan, und heute – verliere ich mich selbst!«

Ungestüm stieß sie die Pforte auf und verschwand in dem schmalen, langen, halbdunklen Korridor, der zu den Garderoben führte, ohne sich noch einmal zurück zu wenden.

»Martha! Martha!« rief er hinter ihr her. »So höre doch ...«

Aber sie hörte nicht und wollte auch nichts hören. Jenseits der kleinen Tür blieb ihr vergangenes Leben zurück, das trotz aller Fehler, Schwächen und Irrtümer rein war, – das, was sie sich von heute abend an erwählen wollte, hatte mit der Vergangenheit nur noch wenig gemein.

Mit dem vollen, ausgereiften Entschluß war sie hergekommen, als aber Paul Herbert an ihr vorüberkam, durchzuckte es sie wie Widerwille.

Gegen seine Gewohnheit blieb der Direktor nicht vor ihr stehen, um sie mit irgend einem Scherz zu begrüßen, er nickte vielmehr kaum höflich mit dem Kopfe und sah sie gar nicht an. Erst, als sie schon einige Schritte voneinander entfernt waren, wandte er sich nachlässig um und rief ihren Namen.

Seine Art und Weise ärgerte sie; ohne zu antworten drehte sie nur den schönen Kopf über die Schulter. »Die Rollen der Hertha und Else sind noch in Ihren Händen, ich schicke morgen den Theaterdiener, um sie für Ihre Nachfolgerin abholen zu lassen,« sagte er kurz.

Sie drehte sich um und ging hastig auf ihn zu.

»Haben Sie denn schon Ersatz?« fragte sie aufgeregt.

»Natürlich! Es ist ja die höchste Zeit.«

Er ließ sie stehen und ging.

Welch ein Unterschied gegen sonst! Eine entthronte Königin also auch hier! – Das war schlimmer als alles! Das, fühlte sie, konnte sie nicht ertragen, jeder Preis war ihr recht. –

Außer sich trat sie in ihre Garderobe. Mantel und Schleier gingen fast in Stücke, so heftig riß sie daran. Eine andere sollte die Rolle der Hertha spielen, eine andere vom Publikum mit Beifall überschüttet werden, während sie vergessen in irgend einem Winkel des Theaters saß.

Die Zofe brachte einen Brief und Blumen. Weiße Blumen – mit abwesenden Augen starrte Martha darauf hin, in eigenartiger Ideenverbindung kam ihr plötzlich Sterben, Tod und Kirchhof in Erinnerung; dann erkannte sie auf dem Kuvert die Handschrift des Grafen. Sie riß es ab und las die wenigen Zeilen.

Der Absagebrief. Tote, nie mehr zu erweckende Liebe sprach aus jedem trüben Wort. – »Vergiß mich und suche so glücklich zu werden, wie du vermagst. Um dir das zu erleichtern, verlasse ich noch heute abend die Stadt, in der ich meine erste und einzige Liebe begraben habe,« lautete der Schluß.

Sie las mit unbewegtem Herzen. Diese Episode ihres Lebens war ausgelöscht, als wäre sie nie gewesen. – Wer war Graf Gilsach doch? Sie hatte das Gefühl, als dürfe sie so fragen! In ihrem Herzen lebte nur noch eins, der Wunsch beim Theater und in ihren Rollen zu bleiben, davor sank alles andere zu Nebensächlichkeiten herab. Aber auch Herbert schien sich von ihr abgewandt zu haben. War ihre Schönheit denn auf einmal nichts mehr wert? Hatte sie deren Macht selbst zerstört, dadurch, daß sie sie Einem ganz zu eigen geben wollte? Dieser eine aber hatte sie verlassen. Damit war sie zurückgewiesen worden auf die Bahn, die doch allein für sie die rechte war; das fühlte sie jetzt deutlich.

All ihre Leidenschaft für das Theater war wieder in ihr erwacht; sie öffnete die Lippen, blähte die Nasenflügel und atmete mit einem Gefühl von Befriedigung die heiße, aus so vielerlei Gerüchen gemischte, undefinierbare Luft der Garderobe. Noch stand sie ja hier auf der Stätte ihrer Triumphe, noch welkte der Lorbeer nicht zu ihren Füßen, noch war sie jung, begehrt und schön! –

Die Garderobiere hatte den weißen Pudermantel, dessen offene Ärmel bis zum Boden reichten, längst um Marthas Schultern gelegt, nun sah sie verwundert auf deren Tun. Langsam zerriß Martha den Brief des Grafen in Atome und warf die Fetzen im Zimmer umher. Sie war noch bleich, aber nicht mehr aus Angst und Unruhe; in dem liebreizenden Kindergesicht, das so unschuldig zu blicken verstand, hatten sich fremde, wunderliche Züge eingegraben, die es völlig veränderten. Als das letzte Papierfetzchen aus ihren Händen geglitten, hob sie diese langsam an die Schläfe.

»Babette, holen Sie mir Champagner aus dem Restaurant, eine Flasche; aber schnell!« sagte sie zur Garderobiere, und der Ton ihrer Stimme klang anders, als gewöhnlich.

Eilig kam Babette zurück, und gierig wie nach einem lang entbehrten Labetrunk, streckten Marthas Finger sich nach der goldhalsigen Flasche aus. Ein leichter Druck – mit scharfem Knall flog der Pfropfen in die Höhe, weiß und schäumend drängte sich das Naß aus dem engen Halse. Es überflutete Marthas Hände, es floß an den durstigen Lippen herab, benetzte Hals und Brust, und der sprühende Gischt lief zusammen in einigen klaren Tropfen, die wie helle Tränen auf der weißen Haut schimmerten, während sie trank und trank, als gälte es, sich vor dem Verschmachten zu retten.

Nach einer langen Weile setzte sie endlich die halb geleerte Flasche beiseite. Der Wein tat bald seine Schuldigkeit. In rosigem Schimmer lag das Leben wieder vor ihr; alle Hindernisse, die sich vor ihr aufgetürmt, schienen auf einmal klein und unbedeutend. Sie mußte lachen, wenn sie an ihren zähen Widerstand dachte. Warum denn? Warum? Das Böse wird im Leben nicht gestraft, das Gute nicht belohnt! Ammenmärchen – nichts weiter! –

Sie blickte auf ihre Gestalt, die der Spiegel voll zurückwarf. Das Glas schien ihr trüber als sonst, wie ein leichter Nebel lag es vor ihren Augen, aber trotzdem sah sie, wie schön sie war. – Nach Äußerlichkeiten hatte stets ihr Sinn gestanden, warum sollte sie nicht den geforderten Preis dafür zahlen, wenn ihr das dadurch Errungene doch begehrenswert genug erschien.

Was zögerte sie noch? –

Wie gebannt blickte sie auf ihr Spiegelbild. Diese halbgeschlossenen Augen mit den schweren Lidern, dieses blasse Gesicht mit dem roten Munde, waren ihr so fremd – aber nicht minder schön, als das großäugige Kinderantlitz, das ihr sonst entgegengeblickt hatte.

»Meinen Mantel!« rief sie plötzlich. »Schnell!«

Und ihn fest um sich ziehend, verließ sie ihre Garderobe, die Zofe bestürzt darin zurücklassend. Freilich war es noch früh genug, zum Ankleiden blieb hinreichend Zeit, vielleicht war sie zu einer Kollegin gegangen, um sich von der etwas zu borgen, vielleicht zum Direktor ... Babette machte sich daran, den Rest der Flasche zu trinken.

Eilig, ein Lächeln auf den Lippen, war Martha den Korridor hinabgegangen, der zu Paul Herberts Bureau führte. Die schwere Seide ihres Kleides strich knisternd über den Fußboden hin, der weiße, lockige Besatz ihres Mantels wehte kosend um ihren Hals. Ohne anzuklopfen öffnete sie die Tür. Mit einem Ruf des Unwillens fuhr derjenige, der hier Herrscher war, herum – aber diesem Ruf folgte kein weiteres Wort, als er Martha in der Türöffnung stehen sah.

Mit den mächtigen, dämonischen Augen, dem einzigen Schönen was er besaß, verschlang er das junge Weib, das langsam, bleich, aber lächelnd auf ihn zutrat.

Sie stand dicht vor ihm in dem hellen Lichtkreise, den die Hängelampe auf den dunklen Teppich warf, die seidenartig glänzenden, weißen Pelzlöckchen ihres Mantels hoben und senkten sich in zitternder Bewegung, kaum weißer und glänzender wie ihre schimmernde Haut. Ihr blasses Gesicht mit den halb geschlossenen Augen, dem glühenden Munde war unbewegt; und trotzdem sie kein Wort sagte, wußte er doch sofort, was ihr Kommen bedeutete.

»Du!« stammelte er tonlos vor Erregung und breitete ihr die Arme entgegen. »Endlich! Du!« –

Sie bog das Haupt ein wenig in den Nacken, es schien ihr, als sähe sie durch den Liderspalt hindurch alle Gegenstände sich bewegen, nicken, winken, als wären sie froh, daß sie bleiben wollte, als begrüßten sie in ihr nun ihre Herrin; sie mußte laut auflachen.

Mit einem Schritt war er neben ihr und umschlang sie stürmisch.

»Schönes, kaltes Weib!« flüsterte er in ihr Ohr hinein, und der Hauch seiner Lippen traf sie wie ein Feuerstrom. »Nun bist du mein! – Mein!« –

Mit gewaltigem Schwung hob er sie hoch empor. »Mein!« rief er noch einmal frohlockend. »Denkst du noch an jenen ersten Abend, da wir uns begegneten? Seitdem liebe ich dich. Nun gehörst du mir!« –

Er küßte die blonden Locken, Stirn, Augen, Mund mit rasender Leidenschaft, während sie still und unbeweglich an seiner Brust lag. Ihr war, als hätte sie nicht die Kraft, sich zu regen, während glühende Tropensonne auf ihren Scheitel schien und ihr Blut und Leben aus den Adern brannte.

»Ich mache dich groß – ich mache dich reich – ich will dein Held – dein Gott sein!« stammelte er wie berauscht, »und nie – nie sollst du es bereuen!«

Die Stehuhr auf Herberts Schreibtisch schlug; es war die höchste Zeit, an die Toilette zu denken. Noch einmal küßte er sie.

»Auf heute abend!« sagte er triumphierend.

Ja, Triumph war es, der seine Brust schwellte, nachdem sie gegangen. Auch sie widerstand ihm nicht länger!

– Die anderen Beweggründe, die mitgewirkt haben mochten, zog er kaum in Betracht. Mochte sie Graf Gilsach immerhin verlassen haben, mochte ihr Wunsch, der Stern seines Theaters zu bleiben, der Hauptgrund gewesen sein – was ging das ihn schließlich an! Aber noch war sie Altens Weib, noch trennte die beiden kein Richterspruch, und selbst der war nicht imstande das auszulöschen, was Viktor noch immer für sie fühlte. – Er verstand sich besser darauf, der gereifte Schauspieler, der von Welt und Menschen eine so ganz andere Seite zu sehen gelernt hatte; und weil er das wußte, deshalb war er auch sicher – ihn, in dem er jetzt seinen Feind sah, auf das tiefste zu treffen. Paul Herbert kannte keine Nachsicht, er war unversöhnlich wo er sich gekränkt glaubte, und das Bewußtsein, Marthas Liebe als bittersten Tropfen in Viktors Freudenbecher zu träufeln, war ihm ein diabolisches Behagen! Viktor würde es bald genug erfahren – dafür kannte er die Welt zu gut! –

Und während Paul Herbert das alles erwog und bedachte, vergaß er keine der vielfachen Verschönerungen an sich vorzunehmen, die er dem Charakter seiner Rolle schuldig war. Es dauerte heute lange; er wollte gefallen, nicht dem Publikum, nur Martha – seiner Martha! –

Der Regisseur hatte schon mehrmals ungeduldig gefragt, der Zeiger wies schon auf fünf Minuten nach der Anfangszeit, da endlich war Herbert mit sich zufrieden. Den Rock fester in die Taille herabziehend, begab er sich auf die Bühne; etwas Sieghaftes, Jupiterähnliches lag in den mächtigen Augen, der breiten Stirn. Im Publikum war man allmählich ungeduldig geworden, – er hielt es nicht der Beachtung wert; aber in die Loge der Kommerzienrätin sah er hinein, herausfordernd und dabei fast verächtlich kreuzten sich seine Blicke mit denen Viktor Altens.

So lebendig war der Ausdruck in dem Gesicht des Schauspielers, so beredt sein Mienenspiel, daß es den Dichter berührte, als träfe ihn die kalte Spitze eines Dolches. Irgend etwas war also vorgegangen, von dem er noch keine Kenntnis besaß, das ihn aber tief treffen mußte, um Herbert diesen Triumph zu bereiten. Welch Gedanke lag näher als Martha! – »Um Gott, nur das nicht!« dachte Viktor, der zur Genüge mit Paul Herbert vertraut war, um den Abgrund zu ermessen, der sich da für das unbefangene, vertrauende Weib auftat. »Ich habe zwar kein Recht mehr, mich in ihre Angelegenheiten zu mischen, aber vielleicht fällt ein warnendes Freundeswort auf fruchtbaren Boden.« Und währenddessen spielte er mit der langen Schleife, die von Rose Maries Bukett herabhing und war der aufmerksame Bräutigam, der für nichts anderes Sinn hatte, als für das Behagen seiner Braut.

Mit aller Gewalt hatte er sich zuerst einem Besuch des dramatischen Theaters am heutigen Abend widersetzt, er hatte das Empfinden, als dürfe er das Haus nicht mehr betreten, dessen Herrn er vor wenigen Stunden so schnöde mißhandelt hatte; aber Rose Marie bestand darauf.

»Es ist das einzige Mittel, um den Leuten den Mund zu stopfen,« beharrte sie. »Ich weiß, was es heißt, im richtigen Moment stolz aufgerichtet in der Öffentlichkeit zu erscheinen; mancher Riß ist dadurch schon verheilt. Wer die ›Morgenröte‹ gelesen und nun hohnlächelnd einen Bruch zwischen uns prophezeit – ist dadurch geschlagen. Wenn du mich lieb hast, Viktor, so folge mir.« Und Viktor gab nach.

Der zweite Akt begann, in ihm erschien Martha auf der Bühne. Noch immer lag es ihr wie Schwindel im Kopf und eine Mattigkeit in allen Gliedern.

»Das macht der Wein!« sagte sie zu sich und schüttelte ein wenig den Kopf.

Als sie die Tür ihrer Garderobe aufstieß, kam ihr ein eigentümlich brenzliger Geruch entgegen, so daß sie verwundert tief aufatmete. Nur einen Augenblick war's, dann roch sie nichts mehr; wohl aber lag auf der schweren, seidenen Schleppe ihres Kleides ein kleiner, glühender Punkt, der rauchend erlosch, als sie seiner ansichtig wurde. Der Wein hämmerte in ihren Schläfen, kreiste in ihren Adern und dies war schuld, daß sie an den kleinen, erloschenen Funken nicht weiter dachte. –

Der zweite Akt ging zu Ende, die Lässigkeit in ihren Sinnen, ihren Bewegungen hatte eher zu, wie abgenommen. Sie hatte die unbestimmte Empfindung, daß sie gar nichts dachte, gar nichts fühlte, daß eine andere – die außer ihr da war, die Rolle der Hertha spielte, und daß sie nur zuweilen mechanisch die Hand hob, wenn diese andere es verlangte. Aber Paul Herberts Gegenwart empfand sie deutlich und mit Bewußtsein. Sie sah seine dämonischen Augen, hörte den berückenden Klang seiner Stimme – und sie wußte, daß sie jetzt zu ihm gehörte. Über allem anderen lag es wie Nebel, aus dem sich nichts mehr heraushob.

Der Vorhang war noch nicht völlig gefallen, als Herbert auf seine Partnerin zutrat und ohne Rücksicht auf die neugierigen Augen ringsum, den Arm um ihre Schultern legte. »Ist Ihnen nicht wohl, Martha?«

Sie lehnte den Kopf an seine Brust.

»Der Wein!« flüsterte sie. »Ich glaube, es ist der Champagner!«

»Ruhe ein wenig aus,« flüsterte er ebenso leise zurück. »Komm, ich werde dich begleiten.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, laß mich allein gehen. Was denken sie alle hier!«

Er lachte. »Laß sie denken, was sie wollen,« sagte er in seiner gewohnten Selbstüberhebung, »was geht das uns an! Sie beneiden einfach dich und mich!«

Aber sie ging trotzdem allein, warf sich in ihrer Garderobe auf die Chaiselongue und starrte zur Decke auf.

Pfui, der abscheuliche Geruch! Da kam er wieder und erregte ihr Ekel und Erstickungsgefühl.

Hinter den Kulissen war inzwischen ihr Name in aller Mund. Man hätte ja blind sein müssen, wäre ihnen die Veränderung nicht aufgefallen, die zwischen dem Direktor und dem ›Stern‹ so plötzlich vorgegangen war. Eigentlich war sie bereits allen eine abgetane Größe gewesen. Gerüchte ihrer baldigen Verheiratung waren fast zu jedem Ohr gedrungen, und der Artikel in der ›Morgenröte‹, den man einander lachend zeigte, hatte es bestätigt. Im allgemeinen waren die Kollegen ein tolerantes Völkchen, das jeden auf seine Manier selig werden ließ. Sie fanden es nur köstlich, daß der Dichter des Zugstückes: ›Im Zeichen der Zeit‹ und die schöne, so schnell beliebt gewordene Schauspielerin – Mann und Weib sein sollten, obgleich beide vor den Augen aller stets fremd und gleichgültig getan hatten.

»Fremd und gleichgültig nun eigentlich doch nicht,« Meinte die Naive. »Etwas Besonderes lag doch immer in der Luft, wenn sie sich begegneten.«

Und nun des Direktors auffallendes Benehmen heut abend gegen die Norden! – Da steckte mehr dahinter; es war ja geradezu herausfordernd.

Sie standen zu zweien und dreien zusammen, Kolleginnen und Kollegen, um die wichtigen Ereignisse zu besprechen, die sich unter ihren Augen abspielten. Keiner ohne ein Fünkchen Neid im Herzen. Die Herren insgesamt wären gern an Stelle des Direktors gewesen – sie war begehrenswert, die Norden. – Die Damen sahen mit Unbehagen einer neuen Ära entgegen, in der es sich nicht allein mehr um die Gunst des Direktors, sondern auch noch um diejenige einer Frau handelte. Aber trotzdem – übel wollte ihr eigentlich niemand. – Sie war gar so herzig, wenn sie lachte, und immer heiter, gefällig, liebenswürdig, gegen die Damen, wie gegen die Herren. – Man war nur gespannt, wie sich die Sache noch abwickeln würde. – Und in der Loge der Kommerzienrätin saß Alten, der Gatte der schönen Norden, neben seiner jetzigen Braut! – Wahrhaftig, die Welt jenseits der Bretter war noch viel krauser und wunderlicher als diejenige, die sie verkörperten.

Mit Feldherrnblick überflog der Regisseur zum letztenmal die Anordnungen auf der Szene, alles stand und lag wie gewöhnlich. Das Fell des Eisbären schimmerte auf der Chaiselongue wie alle Abende, und wie alle Abende kam Martha in ihrer prächtigen Gesellschaftstoilette nach dem Klingelzeichen aus ihrer Garderobe. Sie hatte die erste Szene allein zu spielen, und während sie mit rauschender Schleppe von rechts auf die Bühne trat, blickte sie ganz zufällig in die Höhe, zu der Decke des Prunkzimmers, in dem sie sich befand. Was war das? – Sie fuhr mit der Hand über die Augen, und sah noch einmal empor. Es hatte ihr geschienen, als zucke von dort eine lange, schmale, bewegliche Flamme hervor, glühend wie die Zunge eines feurigen Drachen. Diesmal sah sie nichts. Augentäuschung Blendwerk des Weines und der heißen Leidenschaft, die sie, von Paul Herbert ausgehend, fast körperlich wahrnehmbar umtoste. – Der Vorhang hob sich, sie begann zu spielen. – Immer noch diese häßliche Mattigkeit in den Gliedern, die Schwere in Ton und Blick, und dabei eine Schwüle um sie, als raube die Hitze ihr den Atem.

Ausdrucksloser als sonst, hielt sie ihren großen Monolog.

Aus den Kulissen heraus drangen plötzlich Töne an ihr Ohr, verworrenes Rufen, Laufen, Poltern, es störte sie allmählich. Sonst war es still gewesen, kein Laut hinter der Bühne, kein Laut im Publikum. Nun sah sie auch dieses unruhig werden; die Köpfe wandten sich, einzelne unterdrückte Rufe wurden hörbar. War eine Kabale gegen sie in Szene gesetzt?

Wie ein feiner, feiner, zitternder Nebelschleier kam es auf einmal durch die Löcher und Fugen des Schnürbodens herab und hüllte sie ein, atemraubend, wieder durchsetzt mit dem häßlichen, brandigen Geruch, der sie schon den ganzen Abend narrte. Aber sie sprach weiter, wie alle Abend.

Da stob es plötzlich von oben herab, ein sprühender, blitzender Funkenregen, mitten auf das Fell des Eisbären, das unter dieser Berührung zu qualmen begann. Entsetzt starrte Martha darauf hin, sie vergaß ihre Rolle, sie hörte nur noch auf das immer stärker werdende Geräusch hinter den Kulissen, und da – ohne sein Stichwort abzuwarten, stürzte Paul Herbert auf die Szene, blaß, mit verstörtem Gesicht und ergriff sie am Arm:

»Rette dich – das Theater brennt!«

Und dann plötzlich ein einziger, markdurchdringender Schrei aus dem Publikum, dem jetzt mit Gewißheit klar wurde, was vor sich ging.

Herbert zog Martha nach sich, dem Ausgang der Schauspieler zu. In dem engen Gange, angefüllt mit immer dichter und dichter werdendem Qualm, drängte sich eine kopflose, aller Überlegung bare Masse. Die Frauen kreischend und wimmernd, die Männer mit roher Gewalt sich den Vortritt erzwingend. In diese Menge stürzte Paul Herbert sich nicht, er zog Martha abseits, zu einem anderen Pförtchen, an das in der Verwirrung niemand gedacht hatte. Sie stolperte über Versatzstücke, ihr Fuß verfing sich in Stricken, die Schleppe ihres Kleides hing in Fetzen. Willenlos wie ein Kind, außer sich von Schreck und Entsetzen folgte sie ihm.

Aber hier, gerade hier mußten sie dem Herde des Feuers unmittelbar nahe sein. Der entsetzliche Qualm hüllte ihren beschwerlichen Weg in dichte Finsternis, wie ein rotglühender Punkt leuchtete eine einzige, armselige Öllampe daraus hervor. Ein unheimliches Knistern und Knacken ringsum, ein erstickender Dunst, glühend wie der Atem der Hölle, und außerdem nichts anderes als Paul Herberts keuchender Atem, der mit der Kraft der Verzweiflung alle Hindernisse überwand.

Und nun sperrte plötzlich ein glühendes, kohlendes Versatzstück den Weg. Auf Herberts Stirn lag kalter Schweiß er wußte, Rückweg war sicherer Tod. Hinter sich hörte er das Brüllen der Menschen, ein Röcheln, Schreien, Wimmern, aber es klang wie aus weiter Ferne, erstickt und verworren. Über und neben sich das Prasseln des rasend um sich greifenden Feuers.

Mit der Kraft der Verzweiflung suchte er den Durchgang zu erzwingen, er sprang, kletterte, aber wie eine Last von Blei hing Martha an seinem Arm und hemmte ihn in jeder Bewegung.

Die Haare begannen ihm zu sengen, die Augen schmerzten von der entsetzlichen Hitze, dem Rauch, er glaubte zu ersticken; und da kam der ganz brutale Egoismus des Mannes zutage, der wohl leidenschaftlich zu begehren wußte, aber nie und nimmer imstande war, ein heroisches Opfer zu bringen.

Rücksichtslos schleuderte er die Hand des ihn umklammernden Weibes beiseite, ja, als sie, – ihn nicht begreifend – nach einem Zipfel seines Rockes haschte, um sich festzuhalten, stieß er sie so kraftvoll zurück, daß sie taumelnd in die Knie sank. – Und jetzt plötzlich wußte Martha, daß es nicht allein einen Kampf auf Leben und Tod mit den Flammen galt! Er, der sie hierher geführt, an einen ihr unbekannten Ort, war entschlossen, sie um der eigenen Rettung willen grausam im Stich zu lassen. Er, dem sie vertraut hatte, überlieferte sie ohne Gewissen dem Untergange, wenn nur er sich rettete.

Mit einer Kraft, die sie sich selbst kaum zugetraut, klammerte sie sich stöhnend an ihn, mit ihren Zähnen verbiß sie sich halb ohnmächtig in das Zeug seines Rockes.

Mit stieren, blutunterlaufenen Augen sah Herbert auf das schöne Weib, das ihm zum Verderben zu werden drohte; unmöglich konnte er mit dieser Last über das sperrende Hindernis hinwegkommen; und nun entspann sich ein lautloser, grausiger Kampf, wie er fürchterlicher nicht gedacht werden konnte, zwischen dem Manne und dem Weibe, die sich vor einer kurzen Spanne Zeit erst von Liebe gesprochen hatten.

Endlich siegte der Stärkere, mit einem Fluch riß Paul Herbert den Rock vom Leibe, und so befreit, verschwand er eine Sekunde darauf in Rauch und Finsternis.

Wankend, betäubt vom Fall lehnte Martha einen Augenblick an der Wand; sie versuchte zu denken – – ein Rückweg in das brodelnde, glühende Feuermeer, oder hier einsam und hilflos ersticken ... sie fühlte, es dauerte nicht mehr lange – und unter all dem Heulen, Brüllen, Schreien, das jetzt auf einmal mit schrecklicher Deutlichkeit an ihr Ohr schlug, regte sich der Selbsterhaltungstrieb, die Lust zum Leben wieder mit ganzer Gewalt.

Sie tappte sich zurück, wieder kletterte sie und drang vorwärts mit der Angst der Verzweiflung, und wenn es auch in den Tod ging, nur vorwärts – vorwärts! Beide Hände vor den Mund gepreßt, taumelnd, halb bewußtlos, kam sie Schritt um Schritt weiter. Ihr Kleid glimmte, sie hatte keine Kraft mehr, die lange Schleppe zu tragen, ihre feine Haut war zum Bersten von der Hitze gespannt, glühende Funken sengten ihr Haar und Stirn.

War es denn möglich, daß sie sterben sollte? Jetzt schon – in der Blüte ihrer Jahre – mit der ganzen pochenden Lebenslust und Lebenskraft in den Adern, die ihr eigen war? Einen so schrecklichen Tod – hilflos? – Nein – sie wollte nicht sterben! Weitauf riß sie die Augen, und blindlings stürzte sie vorwärts in der sinnlosen Todesangst, die sie erfaßt hatte.

»Hilfe!« schrie sie mit der Kraft der Verzweiflung.

»Hilfe!«

Da hatte sie die Vision, als käme durch den wirbelnden, rotdurchglühten Rauch, der sie umgab, ein Mann auf sie zu.

»Hilfe!« schrie sie noch einmal und breitete ihm ihre nackten, von Brandwunden bedeckten Arme entgegen.

In diesem Augenblick sauste ein glühender Balken herab und streifte Martha, die mit einem entsetzlichen Schrei zu Boden stürzte.

Aber mitten durch den Qualm, mitten durch die lohenden Flammen drang jetzt wirklich jemand bis zu der Regungslosen hindurch, hob sie auf und stürzte mit ihr vorwärts. – –

Auf der Bühne hatte sich das Feuer zuerst bemerkbar gemacht. Dann schrie man von der Galerie! »Feuer!« – »Feuer!« – kreischte es nun auch von allen Seiten. Die Zuschauermenge warf sich im Nu wie eine gewaltige Woge gegen die Ausgänge und hinter ihr wälzte es sich gierig heran, das furchtbare Element, dessen verborgenes Wüten niemand geahnt hatte! Die Menschen waren zu Bestien geworden, brüllend, sich zerfleischend in wütender Todesangst.

Rose Marie war bei dem ersten Schreckensruf aufgesprungen, zum erstenmal in ihrem Leben verließ sie die überlegene Ruhe, die ihr sonst eigen. Totenbleich umklammerte sie Viktors Arm.

»Feuer!« wiederholte sie tonlos den Schreckensruf und schloß die Augen vor der blendenden Helle, die auf einmal in grellem Scheine von der leeren Bühne strahlte.

Viktor fühlte weder ihr schutzsuchendes Anschmiegen, noch hatte er einen klaren Gedanken für die Gefahr, in der sie sich befanden. Seine großen, dunklen Augen starrten wie entgeistert auf das Innere des Prunkzimmers, das sich noch immer allen Blicken darbot, nur daß die Kulissen allmählich anfingen zu zittern, als bewege sie ein Sturm, sich aufbauschten und gegen die Rampenlichter dehnten, während wieder ein feiner Funkenregen vom Schnürboden herabstob. Und dann schoß plötzlich eine schmale, züngelnde Feuerschlange nach, die auf die kostbaren Fensterdraperien herabsprang, daß sie auflohten und prasselten. Ein dicker, atemraubender Qualm, schwer und schwarz, wälzte sich in den Zuschauerraum.

Grete hatte sich mit aller Kraft gegen die verschlossene Logentür geworfen, aber diese wankte nicht, und niemand war da, der sie von außen öffnete.

Immer heißer, immer beklemmender wurde die Luft, immer schrecklicher das Schreien und Stöhnen der um den Ausgang Kämpfenden.

Da stürzte Grete zu den beiden vor Entsetzen Starren und rüttelte sie heftig am Arm:

»Die Logentür ist verschlossen – wir können nicht hinaus!«

Rose Marie preßte ihr Tuch vor den Mund, sie hatte plötzlich all ihre Ruhe wiedergefunden.

»Versuche du zu öffnen, Viktor! Schnell! Ich will nicht in diesem Massengrab mit umkommen.«

Mit irren Augen sah er sie an. All sein Fürchten, Denken, Grausen galt in diesem Augenblick ja einer anderen – Martha – die er in diesem glühenden Höllenrachen wußte. Warum hatte er nur so viel Zeit verloren? Warum stand er noch immer hier und tat nichts zu ihrer Rettung? Was kümmerte ihn eigentlich Rose Marie. – – – Jede Fiber in ihm spannte sich, er fühlte weder Rauch noch Hitze – mit einem Sprunge war er über die Logenbrüstung in das Parkett, mit einem zweiten auf die Bühne gestürzt ... Martha! – Immer nur Martha sah er vor sich, brennend, verzweifelnd, allein! –

Ein einziger scharfer, schriller Schrei folgte ihm, kurz und schneidend. Rose Marie hatte ihn ausgestoßen.

Hoch aufgerichtet, blaß wie eine Tote, mit harten, schimmernden Augen stand sie dicht an der Logenbrüstung und starrte in die Flammen, als sähe sie ein neues Schauspiel. Ein verkohlter, glimmender Stoffetzen kam von der Logenbrüstung des ersten Ranges geflogen und fiel dicht vor ihr nieder, der erstickend brandige Geruch nahm ihr fast den Atem, aber sie regte sich nicht.

»Rose! Rose! Um Gottes willen, komm!« flehte Grete, »willst du hier sterben?«

Rose Maries Finger schlossen sich krampfhaft um das prachtvolle Bukett gelber Marschall Niel-Rosen, ein Geschenk ihres Bräutigams, mit einer einzigen kraftvollen Bewegung schleuderte sie es mitten zwischen die Rampenlichter; sie sah noch, wie das gelbe Seidenband sich rauchend krümmte, dann stieg sie schweigend auf ihren verlassenen Sitz, von da in die Nebenloge, deren Tür geöffnet war. Und die gewaltige Menschenwoge, die sich dem Ausgange zu drängte, nahm die beiden Frauen auf, die sich fest aneinander geklammert hatten. Mit zerrissenen Kleidern, zerstoßen, geschunden, fast erdrückt standen sie endlich in der frischen, kalten Nachtluft.

Stetig, ohne sich umzusehen, schritt Rose Marie vorwärts, Grete, außer sich vor Entsetzen, mit der tödlichen Angst um Viktor im Herzen, krampfhaft schluchzend und die gefalteten Hände ringend, neben ihr her. Endlich umklammerte sie schwankend einen Laternenpfahl.

»Ich geh nicht weiter, Rose ... ich kann nicht! – Alten! – Um Gottes willen – was ist aus Alten geworden!«

Sie preßte die Stirn, die ein Funke versengt hatte, gegen das kalte Eisen, in ihr tobte eine Verzweiflung, die sie alle Vorsicht vergessen ließ.

Wie ein Steinbild stand Rose Marie neben der Zusammengesunkenen. Sie sprach nicht, aber sie zwang sie auch nicht weiter zu gehen. Was in ihrem Herzen vorging, wußte nur sie und Gott allein. Aber es war ein schrecklicher Augenblick, ein Augenblick der furchtbaren Erkenntnis, den sie gekostet hatte.

Mit welchen Gefühlen schaute sie auf das brennende Theater! Eine Feuersäule stieg zum nachtdunklen Himmel auf; zusammengeballt brach der Rauch hervor und zog wie eine träge, übersättigte Schlange, die nun genug von Würgen und Morden hatte, über den freien Platz. Die Wagen der Feuerwehr standen in langer Reihe aufgefahren, ihre Mannschaften arbeiteten mit dem Aufgebot aller Kräfte dem Feuer Einhalt zu tun.

Jammernd und händeringend irrten Menschen über den grell von den Flammen und Pechfackeln beleuchteten Platz, um vermißte Angehörige zu suchen. Hoch aufgerichtet, den Arm um denselben Laternenpfahl geschlungen, an dessen Fuß Grete schluchzend kauerte, stand die elegante, vornehme Weltdame und starrte auf das Grab ihrer letzten Liebe, ihrer letzten Illusionen, das sich in dämonischer Flammenpracht selbst verzehrte, eine schaurige Todesfackel für die verunglückten Menschen und für ihr gestorbenes Herz.

Sie hörte nicht, daß die Menge um sie herum scheu wisperte, daß immer neue Schreckenskunden geschäftig kolportiert wurden; nur ein einziger Ausruf traf ihr Ohr und ließ sie aufzucken. »Die Norden ist gerettet, aber schwer verletzt!«

Auch Grete fuhr auf, blaß und zitternd ergriff sie den Sprechenden am Arm.

»Und ihr Retter?« stammelte sie bebend.

»Darüber bedaure ich Ihnen keine Auskunft geben zu können, ich hörte es nur eben,« sagte der Herr höflich und teilnehmend, denn das schreckliche Ereignis hatte ein menschliches Band um alle die gewoben, die daran beteiligt gewesen waren.

Grete strich das wirre Haar aus der Stirn und sah zum erstenmal ihrer Tante in das Gesicht.

»Ich sterbe vor Angst, Rose.«

»Du?! – Auch du?!« fragte Rose Marie eigentümlich langsam. Und dann setzte sie hinzu: »Es ist besser wir fahren nach Hause, die Menge, die sich hier drängt, ist unbequem.«

»Du willst fort und weißt nicht, was aus ihm geworden ist?« rief Grete fast zornig.

Da umklammerte Rose Maries Hand fest die ihre. »Still!« sagte sie halblaut, aber gebieterisch. »Hier ist nicht der Ort für – dergleichen.«

Willenlos, mit gesenktem Kopf folgte Grete ihrer Tante.

Ein Auto fuhr vorüber, Rose Marie rief es an und stieg mit Grete ein. Mochte auch ihr Herz qualvoll zucken und zittern unter dem Geschehenen, ihr Gesicht verriet wenig davon, stumm, wie seit dem Augenblick da Viktor sie verlassen, lehnte sie in der Ecke. Aber eine fieberhaft heiße, bebende Hand faßte plötzlich die ihre und drückte sie leidenschaftlich.

»Rose, o Rose, sprich doch ein Wort!« flehte Grete weinend. »Deine starre Ruhe ist unerträglich! Ich weiß doch, wie es in dir aussieht.«

Rose Marie bog sich vor und sah ihrer Nichte in das tränenüberströmte Gesicht. »Das weißt du nicht, und wohl dir, daß du es nicht weißt!« sagte sie langsam. »Schweig, Grete – ich kann kein Reden ertragen.«

»Doch! Du sollst! – Du mußt! – Rose, war es denn ein Verbrechen, was er tat? War es nicht vielmehr ein hoher Grad von Mut und Pflichtempfindung? – Uns ließ er zurück in verhältnismäßiger Sicherheit. Sie aber umgab fast sicherer Tod – und noch – ist sie ja seine Frau. – Vielleicht hat er die Tat mit – seinem Leben – bezahlt!«

»Uns ließ er zurück in einer verschlossenen Loge, ihr sprang er in die Flammen hinein nach! Begreifst du nicht, was mir das bedeutet? Ob lebend oder tot, Viktor Alten und ich gehören nicht mehr zusammen!«

»Das spricht dein Stolz, Rose, dein Herz hat nichts damit zu tun. Glaube mir, es gibt für den Mann, der todesmutig und kühn seine Pflicht tat, eine Rechtfertigung, so oder so. Laß mich hier für ihn bitten, daß es bald geschehen mag.«

Rose Marie schwieg; die Worte fanden kein Echo in ihrem Herzen.

»Wie du grausam bist!« sagte Grete. »Wo es sich um deine Eitelkeit, deine Selbstliebe handelt, kennst du keine Gerechtigkeit.«

Die Kommerzienrätin lachte auf. Ein hartes, bitteres Lachen. Gut, daß Grete so dachte. Wen ging es auch an, wie sie mit sich zu kämpfen hatte. Wie einschneidend es ihr zum Bewußtsein gekommen war, daß der Mann, an den sie ihr ganzes Herz gehängt, nicht das in ihr gesehen, was sie all die Jahre vorausgesetzt hatte. Welch eine furchtbare Demütigung lag für sie in dem stummen, fast besinnungslosen Eingeständnis, daß die andere es gewesen, die seinen Sinn beherrscht hatte – seine Frau – die sie bisher so tief unter sich stehend gewähnt. –

Ohne Gewissensbisse, ohne Skrupel hatte sie ihn einst von der losgelöst, um ihn zu ihrem Spielzeug zu machen. – Unbekümmert um das, was sie vielleicht mit spielenden Fingern zerstörte, hätte sie ihn von sich geworfen, sobald er nicht ihren Erwartungen entsprach. – Sie war stets gewohnt gewesen, alle Dinge sich nach ihrem Geschmack mundgerecht zu legen und hätte in jedem Fall eine Entschuldigung für sich gefunden. Aber das Schicksal wollte es anders. Sie liebte ihn. Willig gab sie ihm ihr Bestes, den reichen Schatz ihres Inneren, die mit tausend Schmerzen erlernte Welterfahrung, die sie besaß und machte ihn zu ihrem Herren. Großherzig, wie sie in allem war, fragte sie nach nichts, nahm ihn mit all seinen Schwächen und Fehlern, in dem vollen Bewußtsein ihres Wertes darauf bauend, daß sie ihm alles galt.

Die Probe auf das Exempel hatte sich als falsch erwiesen! – Wie das Herz ihr weh tat! Am liebste hätte sie aufgeschrien vor Schmerz, aber da saß Grete und harrte auf irgend eine Äußerung ihres Kummers, um sie zu bemitleiden! ... Mitleid war ihr stets verhaßt gewesen, Trost hatte sie nie gebraucht, beides erschien ihr demütigend; und gewaltsam preßte sie die Zähne zusammen und unterdrückte den Schrei, der aus der Tiefe des gemarterten Herzens emporgequollen, mehr verraten hätte als sie gewollt. –

»Ich will zu Bett gehen,« sagte Rose Marie, als sie in ihrem Wohnzimmer stand und so totenbleich aussah, daß Grete umsonst nach einem erlösenden Wort suchte. »Der Schreck liegt mir in allen Gliedern.«

»Und er!? – Und er?!« schrie das gequälte Mädchen wieder auf, dessen Gedanken nur dies eine Entsetzliche zu fassen vermochten. »Wenn er tot ist?«

Da sagte Rose Marie halblaut, heiser, zwischen den zusammengepreßten Zähnen heraus:

»Wäre er es!« –

Entsetzt taumelte Grete zurück. Sie hörte nichts weiter als die Herzlosigkeit dieses Wunsches, sie sah nichts weiter als das starre, blasse Gesicht ihrer Tante, die an ihr vorüberschritt, um zu schlafen. Wie konnte sie, die Jüngere, mit ihrem weichen, weiblichen Empfinden Rose Maries Natur begreifen! –

Die Ampel im Schlafzimmer brannte, die blauseidenen Kissen des Bettes waren einladend aufgeschlagen, aber anstatt Ruhe zu suchen, sank Rose vor dem Diwan auf die Knie und verbarg das Gesicht in den Händen. Sie lag ganz still, keine Muskel in ihrem Körper zuckte, und doch kämpfte sie den qualvollsten Kampf ihres Lebens. Wie gering erschien ihr in diesem Augenblick das Leid der Vergangenheit! Jugend und Hoffnung standen damals ihr zur Seite und ließen überall noch einen rosigen Schimmer, einen hellen Ausblick. Jetzt aber stand sie an der Schwelle des Alters. – Ihr erkünsteltes Leben in seiner ganzen, armseligen Leere lag nackt und kahl vor ihr.

Es ist ihr, als schaue sie in ein offenes Grab, wenn sie an eine Zukunft ohne Viktor Alten denkt; dunkel und kalt weht es ihr daraus entgegen, so daß sie fröstelt. Angstvoll sucht sie nach einem Herzen, das ihr auf Erden gehört, das ihr Zuneigung entgegenbringt und um Zuneigung wirbt. – Keines! – In ihrer Jugend hatte man sie geliebt, ohne sie, die vor jedem Opfer ihrer kleinen Schwächen eigensinnig zurückwich, zu rühren. Ihre Ehe war furchtbar für das feinfühlige Aristokratenkind gewesen, und aus dem kühlen Dämmer ihrer Witwenzeit stieg immer nur ein Bild leuchtend auf – Viktor Alten! – Rose Marie stöhnte leise. –

Da schrillte grell und schneidend die Hausglocke durch das mitternächtig stille Haus. – Er! – Er lebte! – Er kam! ... Sie preßte beide Hände auf das wild schlagende Herz; die Liebe, die sie soeben unter tausend Qualen zu Grabe getragen glaubte, sie war doch nicht tot, sie erwachte wieder und sah sie mit lächelnden Augen verheißungsvoll an. Grete hatte recht. Das eigene Herz wandte sich gegen sie und machte sich zum Anwalt für ihn.

Hastig riß Rose Marie das zerrissene, versengte Kleid von den Schultern und hüllte sich in ein langes, weißes Peignoir. Grete mußte ja kommen und ihr Bescheid bringen, es war nicht nötig, daß man sie noch in Toilette fand. – Viktor war ja da, reumütig, etwas abgespannt vielleicht, aber doch immerhin ein mutiger Retter, der den Tod selbst nicht gescheut hatte, ein anderes Leben zu erhalten. Ihr Zorn verwandelte sich in Stolz auf ihn. Sie lauschte gespannt. Aber niemand kam – alles blieb still.

Da hob Rose Marie beide Hände an die pochenden Schläfen.

»Gott, mein Gott!« sagte sie. »Laß ihn mir – diesen einen. Fortan will ich mein Glück nur in ihm sehen, – am eigenen Herd, – in der engsten Häuslichkeit will ich glücklich sein – glücklich machen. – Meinen Stolz will ich opfern – demütig, dankbar, selbstlos sein, nur bewahre mich vor einem einsamen Alter!«

Sie öffnete die Tür und ging über die dicken Teppiche dem Wohnzimmer zu, Viktor entgegen, den ersten Schritt zur gelobten Demut.

Es war wirklich Alten, der an dem erschrockenen Portier vorüber in die Villa Murner trat. Das Licht, das aus den Fenstern des Wohnzimmers drang, zeigte ihm, daß die Bewohner noch wachten, aber auch im anderen Falle hätte er wenig darnach gefragt.

Als er eintrat, stürzte Grete ihm entgegen, zitternd, kaum ihrer Stimme mächtig.

»Gelobt sei Gott, daß Sie leben! ...« flüsterte sie und ihre ganze heiße Liebe lag in den dunklen Augen, der Bewegung, mit der sie ihm die gefalteten Hände entgegenstreckte.

Er achtete nicht darauf. Sein Gesicht war verzerrt, beschmutzt, die Haare versengt. Die linke Hand trug er in einem Verband, über die Stirn zog sich ein breiter Leinwandstreifen. Der Rock zeigte große Brandflecken, das Hemd war voll Ruß, er hatte sich bisher noch nicht die Zeit genommen, an sein Äußeres zu denken. Todesmatt taumelte er in den nächsten Sessel.

»Grete!« Seine Stimme klang heiser und gebrochen. »Ich komme mit einer großen Bitte zu Ihnen! Wollen Sie die Nacht an Marthas Krankenbett mit uns zubringen? Gregor und ich sind beide so unerfahren – sie leidet so schwer – haben Sie Erbarmen und opfern Sie uns die paar Nachtstunden ...«

»Ja! Ja!« sagte sie atemlos, beglückt durch den Samariterdienst, den man ihr anbot, dankbar schon dafür, daß sie nicht länger zu qualvollem, ungewissem Fürchten und Warten verurteilt war. »Ich bin bereit.«

Sie lief eilig hinaus, um Mantel und Hut zu holen, ihr Herz war voll überströmenden Glücks. – Er war gerettet! – Die entsetzliche Vision, die sie seit Stunden gequält, war nur ein Hirngespinst gewesen, er atmete – er lebte. – Für wen er gerettet war – für wen er leben würde, darnach fragte sie nicht. Sie hatte ihn ja nie für sich begehrt. –

Als er einsam in dem wohlbekannten Zimmer saß, ließ er noch einmal die Augen matt und gleichgültig über all die wohlbekannten Dinge ringsum schweifen. Mit packender Schärfe wußte er auf einmal, daß er hier doch nur ein Fremder gewesen, der klaglos und ruhig sein Leben von allem dem zu trennen imstande war, was mit diesem Stück Vergangenheit zusammenhing. Er wußte auch, daß er dies alles hier zum letztenmal sah, daß es ein Abschied für immer war, den er in diesem Augenblick nahm.

Er sprang plötzlich auf und streckte abwehrend beide Hände vorwärts. In dem Rahmen der goldgestickten, blauseidenen Gardinen stand Rose Maries weiße, schlanke Gestalt. Langsam kam sie auf ihn zu.

»Warum erschrickst du vor mir?« fragte sie. Er ließ die Hände sinken und hob den Kopf, mit Entsetzen sah sie die Verwüstungen, die die letzten Stunden angerichtet hatten.

»Rose, – ich weiß, du hast ein Recht mich nach den Vorkommnissen des heutigen Abends zu hassen und zu verachten! – Deinem Zorn halte ich still – aber erbarme dich – laß es nach diesen furchtbaren Ereignissen, die mein Innerstes aufgewühlt haben, klar zwischen uns werden. – Dieser Zustand der Abhängigkeit an deiner Seite hat mich seit Monaten namenlos elend gemacht, ich ertrage ihn nicht länger! Ich handle schlecht, undankbar, niedrig an dir – ich weiß es. Niemand kann mich härter richten, als ich selbst – trotzdem – habe Erbarmen, gib mich frei! – Die Frau, die ich einst die meine nannte, und an der meine unverständige, gärende Jugend sich vielleicht versündigte, liegt jetzt verwundet, ihrer Schönheit beraubt, hilflos, brotlos auf dem Krankenbett; sie hat alles verloren – unwiederbringlich, und noch sind wir nicht geschieden. Ich weiß, daß ich ein Opfer bringe mit dem, was ich will, ein übermenschliches Opfer fast, an dem ich meine Kräfte erschöpfen werde, aber ich kann nicht zögern, – ich darf nicht nach meinem Wohl oder Wehe fragen, wo zum erstenmal die Pflicht unabweisbar mir gegenübertritt. Ich werde von jetzt ab für sie sorgen und arbeiten, da sie es nicht mehr kann, ihr das Verlorene nach besten Kräften ersetzen ...«

Sie stand ganz still – regungslos. Das sanfte Licht im Zimmer zeigte weder die Blässe, noch die Zerstörungen, die die letzten Stunden auch an ihr vollbracht hatten. Ihre Hände hingen schlaff in den Falten des weißen Gewandes. Ohne mit der Wimper zu zucken, ohne ein Schwanken in der Stimme, sagte sie ruhig:

»Und du liebst sie!«

Er trat ihr lebhaft näher und streckte seine verbundene Hand aus. »Das Feuer, durch das ich sie getragen, hat die krankhafte Glut für sie in meinem Innern ausgelöscht, aber Mitleid ist dafür entstanden, Rose, Mitleid mit dem hilflosen Geschöpf, das von dem furchtbaren Geschick zermalmt, und nun nichts anderes tun kann, als sich dem schweren Geschick geduldig zu beugen. Begreifst du nicht, Rose, daß – ich der Stärkere, die Schwache jetzt nicht erbarmungslos zurückstoßen kann, wo ihr nichts mehr bleibt auf Erden, nichts!« –

»Als Viktor Altens Herz! Wankelmütig fürwahr und undankbar,« stieß sie schneidend heraus.

Er fuhr zurück.

»Du kannst mich freilich halten, wenn – du willst, Rose. Meine Ehre ist an dich gefesselt.«

Sie zuckte verächtlich die Achseln. »Mannesehre! Wo beginnt sie? Wo hört sie auf? Nennt doch nicht das ehrenhaft, wonach es euch gelüstet, und verurteilt nicht das, wofür ihr kein Verständnis habt! Einst verließest du sie um mich, jetzt mich um sie – morgen gelingt es vielleicht einer dritten, dich zu gewinnen.« –

Er biß die Zähne aufeinander.

»Du bist hart, Rose. Härter als ich es verdiene. Hast du nicht verstanden, daß Martha entstellt ist Zeit ihres Lebens? Sie wird nicht sterben; dem Tode habe ich sie entrissen, aber das Dasein, das sie von jetzt ab führen muß, wird für sie schlimmer sein als der Tod. Ein brennender stürzender Balken hat ihr die eine Hälfte des Gesichts zerrissen. Kannst du das ausdenken?«

Rose Marie überlief ein Schauer. Nach einer langen Pause fragte sie: »Und du willst dich trotzdem aufs neue an sie fesseln? Du, dessen Gottheit immer nur das Schöne gewesen ist! Wie willst du das ertragen?«

Er strich mit derselben ungeduldigen Bewegung, die ihm sonst eigen, über das versengte Haar. »Sie ist noch meine Frau, ich werde tun, was ich für meine Pflicht halte.«

»Sehr edel gedacht, aber, verzeih, ich traue dir diese Selbstlosigkeit auf die Dauer nicht zu.«

»Rose,« erwiderte er fast zärtlich. »Ich weiß, daß ich dir Ursache zu diesem harten Urteil gegeben habe. Ich war jung – da überwiegt der Egoismus. Aber es ist mir, als solltest du – gerade du – deren Großherzigkeit mich so oft beschämt hat, in diesem Augenblick ein anderes Wort, als das eines Vorwurfs für mich finden! – Wir sind ja alle Menschen – es wird keinem leicht das Gute zu tun, wenn der Weg dornig ist. Rose, liebe Rose! ...«

Er streckte ihr seine gesunde Hand entgegen; nun das Band der völligen Gemeinsamkeit, das ihn so sehr bedrückt hatte, zwischen ihnen zerrissen war, sah er sie wieder mit dankbarem Gemüt in all ihren großen, guten Eigenschaften, sah wieder die Frau, deren Freundschaft ihn hochgehoben hatte, der er Dankbarkeit schuldig war – und alles, was er sonst noch hatte sagen wollen, erstarb ihm auf den Lippen.

Langsam, mit einem Gefühl des Erstickens, legte sie ihre kalten Finger in die seinen.

»Geh,« sagte sie mit Anstrengung. »Tue das Rechte – und laß dir an dem Bewußtsein genügen.«

Ihr Blick, der an dem seinen gehangen, senkte sich zu Boden; sie begriff plötzlich, daß sie Viktor doch niemals so völlig gekannt hatte, wie sie wähnte; ein Teil seiner Seele war ihr fremd geblieben und entschleierte sich erst in diesem Augenblick. Die Welt mit all ihren Reizungen hatte es doch nicht ganz zu ersticken vermocht. Und als er sich jetzt unter dem Eindruck des Gräßlichen zu dem Opfer seiner Zukunft entschloß, da thronte es wieder auf seiner Stirn und leuchtete ihm aus den Augen! Rose Marie hatte zum erstenmal im Leben das Gefühl des Nichtbegreifens, des Verständnislosen, ja des Sichkleinfühlens einem Menschen gegenüber. Es war ihr neu, und demütigte sie vor sich selber.

Er mißverstand ihren gesenkten Blick, ihr Schweigen.

»Leidest du sehr, Rose?« fragte er halblaut. »Ich gelobe dir wiederzukommen, als dein treuester, dankbarster Freund ...«

Da lachte sie auf, ganz in ihrer alten Weise.

»Nein! Nein!« sagte sie schnell und strich mit der Hand über die Stirn. »Welche Idee! – Eine gestorbene Liebe in Freundschaft zu ändern, ist ein schauriger Gedanke! Habe keine Sorge, Viktor, ich werde weiter leben, wie ich lebte, ehe ich dich kannte. Nicht sehr heiter, aber auch nicht sonderlich kummervoll. Ich bin ja reich. Und jede Existenz, die mit Gold gefüttert ist, erträgt sich schließlich. Aber wiedersehen möchte ich dich nie – niemals.«

Eine leidenschaftliche Energie klang aus den letzten Worten; es war der Schrei des Herzens, der die kühle Ruhe der Gewohnheitsmaske durchbrach – er verstand ihn nicht.

»Ich werde dich nicht vergessen,« sagte er traurig. »Dir verdanke ich alles, was ein Mensch nur erstreben kann. Du halfst mir auf den Gipfel des Ruhms – ich werde dir ewig dankbar sein.«

Dankbarkeit statt Liebe! Da war er ja wieder, der Stein, den er ihr für Brot reichte! Das erbitterte sie.

»Ich will deine Dankbarkeit nicht,« sagte sie schroff. »Geh jetzt und laß mich allein.«

»Lebewohl, Rose!« Zögernd streckte er ihr abermals die Hand entgegen; sie berührte sie nur flüchtig. Mit ihrem ganzen Stolz wappnete sie sich, um der Qual dieses Augenblicks zu trotzen.

»Du zürnst mir!« sagte er traurig.

»Nein! Weshalb? Hätte ich ein Recht dazu? Dem Herzen lassen sich keinerlei Vorschriften machen – Neigungen kommen und gehen – du weißt ja, wie ich denke! Werde so glücklich wie du kannst – ich ...«

Sie verstummte zäh. Tränen stiegen ihr in die Kehle. Während ihres ganzen Lebens hatte niemand sie weinen sehen – auch er sollte es nicht. – Mit einem schnellen Kopfnicken drehte sie sich um und ging hinaus. – Auf dem Korridor begegnete ihr Grete.

»Rose, laß mich lieber bei dir bleiben, du bist krank.«

Aber Rose Marie schob sie zur Seite.

»Mir tut nur Schlaf nötig, meine Nerven sind erschöpft. Kein Wunder nach dem Schreck!« –

Mit unbewegtem Gesicht ging sie in ihr Schlafzimmer und schob den Riegel vor. Dann hörte sie noch das Rollen des Wagens, und nun umgab sie Totenstille. – Mit weit offenen Augen lag sie im Bett und starrte zur Decke. Ihr war, als senke sich schwer und kalt das Alter auf sie herab und nähme ihr Luft und Leben. – Gegen Morgen sprang sie auf, schellte und gab Weisung, sofort zu packen.

»Ich muß fort – ich ersticke hier!« sagte sie sich, das Nachtkleid auf der Brust lüftend; und dann saß sie in ihrem Ankleidezimmer auf dem Diwan, eine wärmende Hülle umgeworfen, Saffianpantoffeln an den nackten Füßen und sah zu. Schon die bloße Gegenwart eines lebenden Wesens war ihr für den Augenblick eine Erleichterung. Nur nicht länger allein sein! Nur nicht länger die stumme Qual des ewig wiederkehrenden Refrains ertragen zu müssen: Alt und einsam! – Einsam und alt! –

Das Licht warf hellen Schein auf die Spiegeltüren, die die Zofe öffnete und schloß. Rings um die einsame Frau häuften sich Berge von Spitzen und Seide, von all den tausend Dingen, die eine Dame der großen Welt für ihre Existenz notwendig hält. Unverdrossen schleppte die Zofe, die über die sonderbare Laune ihrer Herrin nicht zu murren wagte, herbei, was Schränke und Schubladen bargen. Stumm sah Rose Marie zu. Da lag es obenauf, jenes Morgenkleid, das sie damals, als sie Viktors Übereilung großmütig mit dem Geschenk ihrer Hand auszulöschen wußte, getragen. Sie sah noch Anna Denhardts gelbes, spitzes Gesicht, ihres Schwagers unbehagliche Haltung. Sie empfand noch einmal jenes heiße Liebesgefühl, das sie kaum imstande gewesen war, zu verbergen, jene Träume von Glück, die sich an die Zukunft geknüpft hatten, – und ihrer selbst nicht mehr mächtig, neigte sie den Kopf und brach in heiße Tränen aus.

Wo waren sie hin, jene Träume? Wo war ihr Hoffen, ihre Liebe geblieben? –

Erschrocken stürzte die Zofe herbei; sie hatte ihre Herrin noch nie erregt oder gar in Tränen gesehen. Rose Marie wehrte sie ab.

»Lassen Sie nur, Anna, – der Schreck von gestern abend hat meine Nerven ganz ruiniert – eine Luftveränderung wird mir gut sein. – Morgen reisen wir! – Sie sollen mich begleiten.«

Aber sie reisten nicht. – Am nächsten Morgen war Rose Marie zum erstenmal in ihrem Leben krank. Fiebernd lag sie in den seidenen Kissen. –


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