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Fünftes Kapitel.
Die Hand des Herrn

Im Gemache der alten Herzogin herrschte tiefe Stille – ein scharfer Gegensatz zu dem wilden, kriegerischen Lärm, welcher trotz der Abgelegenheit des Schloßflügels bis dahin drang.

Das Gemach bot einen eigenthümlichen Anblick dar.

Die hohen Wände waren, um die leidenden Augen der Herzogin zu schonen, mit grünem Stoff ausgeschlagen und die Fenster ebenso verhüllt, sodaß darin auch bei hellem Tage und vollem Sonnenschein eine trübe, gesunden Augen unleidliche Dämmerung waltete. Dieser Ausdruck der Düsterkeit wurde durch die Einrichtung des Zimmers noch gesteigert, welche, aus einer dunklen Holzart gearbeitet und mit matten Vergoldungen eingelegt, keineswegs dazu diente, die Färbung heiterer zu machen.

Außer einem gleichfalls dunkelgrün überzogenen Sopha, einigen Armstühlen und Schränken war das bedeutendste Stück der Einrichtung ein kostbar und kunstreich geschnitzter Betschemel, auf welchem ein schweres, mit Edelsteinen und Goldplättchen besetztes Gebetbuch lag. An der Wand, vor welcher der Betschemel stand, hing ein fast lebensgroßes Crucifix, um welches sich verschiedene Bilder und Verzierungen zu einer Art von Altar gruppirten. Einige große Ahnenbilder ausgenommen, welche an der entgegengesetzten Wand hingen, entbehrte das Gemach allen Schmucks. Den Mittelpunkt nahm ein schwerer seidener Vorhang ein, welcher, von der Wölbung herabhängend, den Alkoven mit der Ruhestätte der Herzogin verhüllte, auf der sie eben jetzt Stärkung suchte. Man vernahm in dem Gemache, das von einer Hängelampe nur matt erleuchtet war, keinen andern Laut als die leisen Athemzüge der Schlummernden.

So weit als möglich von dieser entfernt und hinter einem Lichtschirm beinahe verdeckt saß Primitiva.

Sie sah ruhig und wie unbeweglich vor sich hin und hätte für ein schönes, lebloses Bild gelten können, wenn nicht der rasche Athem und die Glut der Wangen gezeigt hätten, daß der Zustand ihres Innern diesem äußern Schein der Ruhe nicht entsprach. Die sinnenden, halb gesenkten Augen schienen an unsichtbaren Bildern und Gestalten zu hängen, welche in bunter Reihe lockend und lächelnd wie Frühlingserinnerungen vorüberschwebten. Es war, als ob das Ohr Tönen lausche, welche, aus undurchdringlichen Tiefen emporklingend, sich zu Liedern der süßesten Sehnsucht formten, und von den halbgeöffneten Lippen schien ein geheimnißvolles Wort, der Text jener Gesänge entschlüpfen zu wollen. Aber das Wort blieb unausgesprochen oder säuselte unvernehmbar durch die Luft. Die schöne Träumerin erhob sich rasch, als wollte sie sich gewaltsam aus den Ranken der sie umschlingenden Gedankenwelt befreien.

»Fort, fort mit euch, ihr Gaukeleien!« flüsterte sie, indem sie einen Augenblick die Hand an die brennende Stirn legte, während sich die andere an das heftig schlagende Herz preßte. »Ich habe nicht Raum und Zeit für euch, ich gehöre der Gegenwart! Eure Heimat liegt jenseits der abgebrochenen Brücke, die in das Einst zurückführt. Ihr seid mir wie das Grab lieber Freunde, das man in den Stunden innerer Dämmerung zu einsamem Gespräch besucht, aber ihr müßt in all eurer Schönheit vor dem Licht des Lebens erblassen. Die Sterne bei Tage, das seid ihr, das sollt ihr mir sein und nie, niemals mehr! Wie sich wohl« Alles gestaltet haben würde, wenn –« fuhr sie langsamer mit einigem Nachdenken fort und war im Begriffe, wieder in die vorige Träumerei zu versinken. Ihr Verstummen wurde jedoch durch den Hall des Gewehrfeuers unterbrochen, welches in diesem Augenblick so laut erscholl, daß es die Fenster schüttern machte.

»Gott, wo war ich!« rief sie auffahrend. »Konnte ich nur einen Augenblick vergessen, was draußen vorgeht!«

Hastigen, aber lautlosen Schritts öffnete sie die Thür des Vorgemachs und fragte den dort anwesenden Lakai, ob keine neuen Nachrichten über die Vorgänge in der Stadt eingegangen seien. Als dieser, der nickend dagesessen war, ein schlaftrunkenes Nein hervorgebracht, trat sie ebenso leise wieder zurück und lauschte gegen das Schlafcloset der Herzogin hin.

»Sie schläft«, flüsterte sie. »Sie kann so ruhig schlafen, und draußen – mir däucht, das Schießen nimmt immer zu. O daß ich mich doch eher entschlossen, daß ich Friedrich eher abgesandt hätte! Was ist nicht Alles möglich, was kann nicht noch geschehen, bis der Prinz kommt! Friedrich muß schon unterwegs sein. Aber wenn er ihn nicht fände! Wenn er aufgehalten würde, wenn ihm ein Unfall begegnete! O mein Gott, diese Qual der Ungewißheit inmitten so schrecklicher Gewißheit ist unerträglich!«

Ein leises Pochen, in drei gleichmäßigen Zwischenräumen wiederholt, unterbrach hier die Stille des Gemachs und Primitiva's ängstigende Gedanken.

Sie horchte. Das Pochen wiederholte sich.

Behutsam näherte sie sich nun der Wand, von welcher der Schall herkam und in die eine geheime Thür so kunstreich und unmerklich eingefügt war, daß das Auge eines Uneingeweihten sie nicht wahrzunehmen vermochte. »Wer ist hier?« fragte sie, das Ohr an die Thür legend. »Geben Sie das Wort.«

»Rose und Kreuz«, erwiderte eine tiefe, durch die Thür und die Wandverkleidung gedämpfte Männerstimme.

Primitiva drückte an eine Feder und durch die schmale Thüre, welche sich sogleich hinter ihm wieder schloß, trat ein Mann von hohem, schlankem Wuchse gebückt herein. Als er sich aufrichtete, traten die Verhältnisse eines edel gebauten Körpers um so stärker hervor, als das völlig weiße Haar, welches die etwas nackte Stirn umgab, in dem Ankömmling einen hochbejahrten Mann hatte erwarten lassen. Er war mit Wahl und Sorgfalt, aber mit sichtbarer Vorliebe für dunkle Farben gekleidet und bewegte sich mit würdevollem Anstand.

»Ihre Durchlaucht haben sich bereits vor einer halben Stunde zur Ruhe begeben«, begann Primitiva. »Ich weiß nicht, ob –«

»Auf meine Verantwortung, Fräulein«, entgegnete jener. »Wecken Sie Ihre Durchlaucht, ich muß sie augenblicklich sprechen.«

Ein leiser Klingelton hinter dem Vorhang hervor rief Primitiva ab. »Das Wecken ist unnöthig«, sagte sie, »Ihre Durchlaucht sind erwacht. Ich melde Sie.«

Den Augenblick, während dessen der Angekommene sich selbst überlassen blieb, benutzte derselbe, mit ein paar raschen Blicken das Gemach zu mustern. Er schien befriedigt, es leer zu sehen.

Der Vorhang rauschte auseinander und von Primitiva geführt trat die Herzogin ein.

Es war eine hohe, imponirende Gestalt mit etwas harten, aber nicht unfreundlichen Zügen, die nur durch den eigenthümlichen Blick der vom Staar erblindeten Augen einen etwas abstoßenden Charakter erhielten. Das reichliche, aber vollkommen weiße Haar war unter eine dunkle Haube von fast nonnenhaftem Schnitt gescheitelt, und das lange graue Gewand, welches die Fürstin schlicht und faltenreich umschloß, stand damit nicht in Widerspruch.

»Wo sind Sie, mein lieber Overbergen?« fragte sie, mit der Blinden eigenthümlichen Vorsicht vorschreitend. »Kommen Sie her zu mir. Ich habe wahrhaftes Verlangen, mit Ihnen zu sprechen.«

Overbergen trat ehrerbietig hinzu, faßte die Hand der Fürstin und küßte sie.

»Ah, da sind Sie ja!« fuhr er fort. »Rücken Sie meinen Stuhl an den Schreibtisch, liebe Falkenhoff, und führen Sie mich hin. Nehmen Sie Platz neben mir, lieber Overbergen, und Sie, Falkenhoff, warten dort am Fenster, bis ich Ihrer bedarf.«

Das Fräulein that, wie ihr befohlen war, und zog sich in die Fensterbrüstung zurück. Dort ergriff sie ein Buch, setzte eine Lampe neben sich und schien bald im Lesen vertieft zu sein.

Die Herzogin und Overbergen hatten inzwischen gleichfalls Platz genommen und erstere begann das Gespräch, indem sie mit etwas unterdrückter Stimme fragte:

»Nun, wie ist es? Was bringen Sie mir für Nachricht?«

Overbergen zauderte. »Ich weiß nicht, ob ich reden darf«, murmelte er. »Wir sind nicht allein.«

»Doch, doch! Sprechen Sie ungescheut. Man kann dort im Fenster nicht hören, was hier gesprochen wird. Und wenn sie etwas hörte, die Falkenhoff ist mir treu, auf die kann ich mich verlassen. Schnell also, was habe Sie ausgerichtet?«

»Welche Frage, Durchlaucht! Konnten Sie an dem Gelingen zweifeln? Konnte bei einem so guten Unternehmen der Segen des Himmels ausbleiben?«

»Aber ist es denn wirklich etwas Gutes, was wir unternehmen?«

»Zweifeln Sie daran? Es gilt die Aufrechthaltung der Gewalt, wie sie den Königen und Fürsten der Erde und so auch Ihrem erlauchten Hause verliehen ist von Gottes Gnaden. Es gilt, ein Werk Gottes vor denen zu schützen, die ihr armselig Menschenwerk an die Stelle setzen möchten, und das sollte nichts Gutes sein? Woher aber diese wiederholten Besorgnisse?«

»Ich will es Ihnen reumüthig bekennen. Ich bin recht schwach, noch recht hinfällig im Glauben. Ja, solange Sie bei mir sind, da bin ich ruhig, entschlossen, fest, da ist mir Alles klar, da steht die Ueberzeugung in mir wie Felsen. Aber wenn ich allein bin, in der immerwährenden Nacht, die mich umgibt, allein, allein mit meinen Gedanken und Erinnerungen, dann, ach, dann werde ich an mir selbst, an meinem Glauben irre! Dann bereue ich fast den Schritt, den ich gethan habe! So ist es mir auch heute wieder gegangen. Während Sie bei mir waren, während ich Ihre Beweise und Begründungen hörte, stand die Nothwendigkeit dessen, was wir beschlossen haben, lebhaft und unumstößlich vor meiner Seele, aber als Sie mich verließen, kam die Verzagtheit, der Kleinmuth wieder über mich, da erschien mir der Plan wie ein Unrecht und ich wünschte beinahe, daß er mißlungen sein möchte.«

»Lassen sich Eure Durchlaucht davon nicht beunruhigen«, flüsterte Overbergen. »Das sind die Befürchtungen und Störungen, wie sie zarten Gemüthern in der ersten Zeit des rege gewordenen Glaubenslebens eigen sind. Es sind Prüfungen, die der Herr schickt, unsere Festigkeit zu üben, wie er dem jungen Baume Stürme sendet, daß er festere Wurzeln fasse. Mit der Zeit, ja bald werden diese Trübungen sich verlieren und es wird eine Ruhe über Eure Durchlaucht kommen, wie Sie dieselbe nie gekannt, ja nie geahnt haben.«

Die Herzogin seufzte tief auf, und dieser Seufzer contrastirte sonderbar zu der eben vernommenen Verheißung.

Overbergen heftete den Blick fest auf sie, als wollte er trotz der dämmerigen Dunkelheit des Zimmers in ihren Zügen ihre tiefste Seele lesen. Zugleich fuhr er in dem frühern ruhigen, salbungsvollen Tone, der die Blinde nichts von dieser Abirrung bemerken ließ, fort:

»Und wenn durch die angeborene sündliche Schwäche der menschlichen Natur wirklich noch ein Funke des Zweifels in Eurer Durchlaucht zurückbleibt, so hat die heilige Kirche, der Sie sich in die Arme geworfen haben, in ihrer unerschöpflichen Rüstkammer des Segens das Mittel, auch diese letzten Reste zu verscheuchen. Die Kirche, die Stellvertreterin des Herrn, durch deren Mund er zu den Sterblichen spricht, verkündet Eurer Durchlaucht durch mich kraft der mir anvertrauten Macht, daß es der rechte Weg ist, auf dem Sie wandeln. Bedürfen Sie aber, um hiervon überzeugt zu sein, eines thatsächlichen Beweises, so erblicken ihn Eure Durchlaucht darin, daß Gott, denn von ihm hängt aller Ausgang ab, Ihre Befürchtungen zu widerlegen, unsern heutigen Plan gelingen ließ.«

Die Fürstin schwieg noch immer. Noch fester, noch durchdringender ruhte Overbergen's forschender Blick auf ihr, indeß um seinen Mund ein Lächeln zuckte, aus welchem halb Hohn, halb Siegesgewißheit sprach.

»Es scheint mir immer noch nicht gelungen zu sein, die Besorgnisse Eurer Durchlaucht zu zerstreuen«, sagte er. »Und doch sehe ich eigentlich gar nicht ein, worin diese Besorgnisse bestehen, ich müßte denn annehmen, daß die Ansichten Eurer Durchlaucht über die Rechte der Fürsten und also auch Ihres erhabenen Hauses schwankend geworden.«

Das Antlitz der Fürstin bedeckte sich mit hoher Glut; sie richtete sich in ihrem Stuhle empor und ihr lichtleeres Auge schien zürnend den zu suchen, der ihr Solches gesagt.

»Lasten Sie mich das nicht wieder hören, Herr van Overbergen, oder, soviel es mich auch kosten würde, diese Unterredung wäre unsere letzte gewesen! Was denken Sie von mir? Ich bin grau geworden in Ereignissen, die, bald näher, bald ferner, gegen meine Ueberzeugung von der göttlichen Berufung und dem göttlichen Rechte der Fürsten anzukämpfen versuchten. Meine Ueberzeugung ist davon nicht erschüttert worden und wankt auch jetzt nicht, wo zum ersten Mal in unserm eigenen Lande solche rebellische Bewegungen laut werden wollen.«

»Und dennoch?« fragte Overbergen. »Wer den Zweck will, muß auch das Mittel wollen!«

»Auch solche Mittel? Hören Sie das Schießen? O ich habe es durch den Schlaf gehört und es kam mir vor, als träten die Verwundeten und Sterbenden vor mich hin und zeigten mir ihre Wunden und nannten mich die Urheberin ihrer Leiden.«

»Träume! Einbildungen! Ausgeburten der Aufregung! Wer heißt die Rebellen sich der Gewalt, die von oben kommt, widersetzen? Sie erleiden nur, was sie verdienen. Der Trotz, der sie antreibt, muß gebrochen werden; es ist der Trotz gegen Glauben und Gehorsam, die einzigen Bänder, welche die Menschheit abhalten, eine Heerde reißender Thiere zu werden. Das Volk ist zu übermüthig, darum muß es gedemüthigt, es muß elend werden, so will es der Ewige. Im Elend werden die Herzen mürbe, da ist dann der Glaube ein willkommener trostreicher Stab, sich wieder daran aufzurichten, und mit dem Glauben gedeiht sein Schooßkind, der Gehorsam. Was thun wir mehr als der Vater, der sein Kind zu dessen eigenem Besten mit der Ruthe züchtigt? In gereiften Jahren wird es ihm für jeden Streich dankbar sein. Was wäre die Folge gewesen, wenn Seine Durchlaucht heute gegen Ihren Rath den Aufrührern ihre Forderung bewilligt hätte? Durch den Ausgang ermuthigt, hätten sie bald mehr und immer mehr verlangt, bis die Gewalt des Fürsten ein Scheinbild geworden wäre, um es dann ganz über Bord zu werfen. Darum wäre es ein Unglück gewesen, wenn durch die Ankunft des Erbprinzen neuer Zweifel in die Sache gebracht worden wäre. Seine Durchlaucht der Prinz sind noch viel zu jung und zu viel von Neuerungen angesteckt, um ihm jetzt schon ein Wort im Rathe zu gestatten. Wäre er aber hier, so wäre dies in so wichtiger Sache wohl nicht zu umgehen gewesen.«

»Er wird also nicht kommen?«

»Ich glaube hierauf bestimmt mit Nein antworten zu können.«

»Und was haben Sie gethan, dies sagen zu können? Ich weiß denn noch nicht –« .

»Es ging, wie ich vermuthet hatte. Seine Durchraucht hatten sich kaum zurückgezogen, als der Oberkammerdiener Kündig den Befehl erhielt, den Secretär Winter zu rufen. Kündig, der, wie Eurer Durchlaucht bekannt, Ihnen mit besonderer Anhänglichkeit ergeben und einer von den Wenigen in diesem Lande ist, welchen das Licht des wahren Glaubens aufging, hat mich hiervon sogleich in Kenntniß gesetzt. Etwa eine Stunde später kam der Secretär von Seiner Durchlaucht, um mit einem eigenhändigen Briefe desselben als Kurier abzugehen. Kündig brachte bald heraus, daß der Brief an den Prinzen gerichtet wär und ihm den Befehl brachte, sich sogleich hierher zu begeben.«

»Nun, und Sie?«

»Eurer Durchlaucht ist bekannt, daß nach St.-Wendelin, dem Aufenthalte des Prinzen, nur zwei Wege führen. Es war vorauszusehen, daß der Kurier den nähern über den Fluß wählen würde. Ich habe deshalb Kündig bewogen, den Kurier unter dem Vorwande, als solle er noch auf weitere Befehle warten, aufzuhalten. Er that es auch, während Seine Durchlaucht den Kurier bereits abgegangen glaubten. Diese Zwischenzeit benutzte ich und habe eine Schaar Leute hinausgesendet, um die Brücke über den Fluß abzuwerfen. Es war bald geschehen, denn ich hatte mich verkleidet unter das Volk gemischt und die Nachricht verbreitet, als sei von daher ein großer Truppenzuzug unterwegs, den sie auf diese Weise aufzuhalten gedachten. Der Kurier muß daher an der Brücke umkehren und den andern Weg einschlagen, der um viele Stunden weiter ist, er kann also nicht vor morgen Mittag zum Prinzen gelangen und dieser kann, wenn er auch sogleich abreist, nicht vor übermorgen Nacht hier eintreffen.«

Das Geräusch eines zu Boden fallenden Buchs unterbrach Overbergen, der im Fluß seiner Rede lauter geworden war, sodaß Primitiva dieselbe verstehen konnte. Erst hatte sie nur einzelne Worte vernommen, dann, durch diese begierig gemacht, mit gespannter Aufmerksamkeit und immer steigender Unruhe zugehört. Zuletzt, als sie vernahm, wie der Kurier aufgehalten worden, und zugleich an Friedrich und dessen dadurch gleichfalls vereitelte Reise dachte, hatte sie ihre Bestürzung nicht mehr zu bemeistern vermocht, das Buch, in dem sie anscheinend gelesen hatte, war ihren Händen entglitten.

Overbergen fuhr auf. »Was ist geschehen?« rief die Herzogin. »Was thun Sie, Fräulein Falkenhoff?«

»Ich bitte um Verzeihung, Durchlaucht gestört zu haben«, erwiderte Primitiva und blieb, um ihre Aufregung zu verbergen, in der Entfernung stehen. »Der Schlaf hatte mich übermannt!«

»Armes Kind«, erwiderte die Herzogin gütig, »ich glaube wohl, daß Sie müde sind. Schlafen Sie immerhin, ich bedarf Ihrer jetzt nicht.«

Zerrissen von den widerstreitendsten Empfindungen zog sich Primitiva wieder in die Fensterbrüstung zurück, wo sie die Stellung einer Schlafenden anzunehmen versuchte, während ihr Blut kochte und ihre Pulse flogen.

»Lassen Sie uns leiser sprechen«, begann die Herzogin wieder, zu Overbergen gewendet. »Ich bewundere Ihre Feinheit und werde bedacht sein, daß Talente wie die Ihrigen an den rechten Platz kommen.«

»Durchlaucht sind zu gütig mit Ihrem ergebensten Diener. Noch ist aber nicht Alles gethan. Der Prinz wird doch kommen, darum muß bis zu seiner Ankunft Alles unwiderruflich entschieden sein. Der Aufruhr muß bis dahin nicht blos gestillt oder unterdrückt, er muß zerschmettert sein, sodaß ein Einlenken unmöglich ist. Seine Durchlaucht der Herr Herzog müssen daher einen energischen Angriff ohne alle Rücksicht befehlen und ich glaube hierin mit Zuversicht auf die Mitwirkung Eurer Durchlaucht rechnen zu dürfen.«

Die Fürstin seufzte. »O Sie sind unerbittlich! Sie laden immer neue Lasten auf ein beklommenes Herz, und doch, ich kann ja nicht anders!«

»Dann ist das Werk gelungen!« rief Overbergen. »Wenn es aber ist, wenn die Macht des Throns wieder unerschüttert fest steht in der alten Glorie von Gottes Gnaden, werden Eure Durchlaucht dann Ihrer getreuen Verbündeten, unserer heiligen Kirche gedenken? Werden auch ihr die Rechte zurückgegeben werden, die ihr von Anbeginn gebühren und um welche sie in diesem unglücklichen Lande durch das Werk von ketzerischen Menschenhänden gebracht wurde?«

»Ich werde thun, was ich vermag, um der Kirche, die mich wieder in ihren Schooß aufgenommen, meinen Dank und meine Ergebenheit zu bezeigen«, entgegnete die Herzogin. »Aber Sie wissen, daß ich nicht Regentin bin, und mein Sohn –«

»Seine Durchlaucht der Herzog sind ein gehorsamer Sohn«, erwiderte Overbergen, »und die Macht der Mutter über ihn ist groß. Eure Durchlaucht werden, vollbringen, was Sie wollen. Wie heute im Kleinen, werden Eure Durchlaucht dann Ihrem Enkel im Großen ein feststehendes, wohlbegründetes Gebäude hinterlassen, das er stehen lassen muß, weil es sich nicht erschüttern, nicht abtragen läßt, ohne seinen Thron mit zu untergraben.«

»Ein ungeheures Werk«, sagte die Herzogin tief ergriffen, »aber ich will es unternehmen, geben Sie mir Ihren Segen dazu.«

Die Herzogin glitt bei diesen Worten aus ihrem Stuhl in halbknieende Stellung auf den Boden herab. Overbergen legte die Hand auf ihr greises Haupt und bewegte, nach oben blickend, die Lippen zu einem halbleisen Segensspruche.

Indessen hatte Primitiva sich nicht überwinden können, das Gespräch, das ihre Theilnahme in so hohem Grade rege gemacht, außer Acht zu lassen. Dasselbe wurde jedoch nunmehr so leise geführt, daß ihr keine Silbe verständlich wurde. Als die Stimmen zuletzt ganz verstummten, konnte sie ihre Begierde, mehr von dem Geheimniß zu erfahren, nicht mehr bemeistern. Sachte und geräuschlos theilte sie den Vorhang des Fensters, hinter dem sie stand, und ward so Zeugin der beschriebenen Gruppe. Sie stand lautlos vor Ueberraschung; auch die Beiden verweilten noch einen Augenblick unbeweglich in ihrer betenden Stellung.

Das Geräusch von hastig sich nähernden Tritten scheuchte sie empor. »Seine Durchlaucht kommen über den Corridor«, rief ein Lakai durch die halbgeöffnete Thür herein.

»Er kommt zu mir«, sagte die Herzogin. »Führen Sie Herrn van Overbergen fort, Fräulein von Falkenhoff!« Zu diesem selbst gewendet fügte sie leise hinzu: »Es ist noch nicht an der Zeit, daß er Sie bei mir trifft. Auf Wiedersehen!«

Primitiva hatte schnell einen Leuchter ergriffen, die Kerze angezündet und verschwand mit Overbergen in der geheimen Thür. Dieselbe mündete durch einen schmalen Gang auf eine der hintern Treppen des Schlosses, von wo der unbemerkten Entfernung Overbergen's nichts mehr im Wege stand.

Nach einem kurzen Gruße wollte sie sich sogleich wieder zurückziehen. Overbergen jedoch, dem daran zu liegen schien, gewiß zu wissen, ob und wieweit sie Kenntniß des so eben Vorgegangenen habe, hielt sie mit den Worten zurück: »Nun werden Sie ruhen können, mein Fräulein! Ihr Dienst ist ein sehr beschwerlicher!«

»Beschwerlich«, entgegnete Primitiva kalt und stolz, »ist nichts, was man gern thut. Die kleine Entbehrung des Schlafs kommt dann nicht in Anschlag, zumal in Tagen, wo es so hohe Zeit ist, zu wachen.«

Damit verbeugte sie sich und verschwand. Van Overbergen sah ihr einen Augenblick kopfschüttelnd nach. »Sie hat etwas gehört! Da thut Vorsicht noth«, murmelte er dann und stieg eilfertig die Treppe hinunter.

Primitiva hatte kaum das Gemach der Herzogin wieder betreten und die geheime Thür hinter sich zugezogen, als der Herzog hastig eintrat. Graf Schroffenstein und General Bauer folgten ihm.

Die Herzogin trat ihm, soweit sie vermochte, entgegen. »Du kommst noch in so später Nacht zu mir, mein Sohn? Was ist wieder vorgefallen?«

»Ich komme, mir Ihren Rath zu erbitten, liebe Mutter«, erwiderte der Herzog, indem er ihre Hand ergriff und sie herzlich küßte. »Ich bin sehr ärgerlich. Denken Sie sich, man meldet mir von allen Seiten, daß sich meine Truppen mit Verlust zurückziehen mußten. Ich bin von meinen rebellischen Unterthanen besiegt! Es bleibt mir kein anderer Ausweg, als, was Ich zuvor nicht gewollt, jetzt zu thun, das heißt, nachzugeben oder das Volk geradezu niedermetzeln zu lassen.«

»Und was rathen Dir Deine Räthe, mein Sohn?« fragte die Herzogin.

»Das Letztere. Ich soll Befehl geben, das Geschütz wirken zu lassen, aber es widerstrebt mir, die armen Leute so niederschießen zu lassen. Weiß ich denn nicht, daß sie mich lieb haben? Haben Sie mir das dreißig Jahre hindurch nicht immer bewiesen? Es muß sie doch arg getroffen haben, dieses neue Zollsystem, weil es so verzweifelten Widerstand hervorruft! Ich fürchte, ich fürchte, ich habe mich zu einem unheilvollen Schritte verleiten lassen!«

Der Herzog schwieg einen Augenblick nachdenkend. Schroffenstein, dies benutzend, trat vor.

»Es ist nicht das Volk, welches rebellirt«, sagte er, »und von welchem der Widerstand ausgeht. Es ist jene Partei des Umsturzes, die leider auch bei uns Terrain gewonnen hat und vor der ich Eure Durchlaucht so oft zu warnen Anlaß fand. Diese Verruchten haben das Volk verleitet.«

»Um so schlimmer dann!« brauste der Herzog auf. »Soll ich auf die Irregeleiteten mit Kartätschen schießen lasten? Wo ist jene Partei, von der Sie sprechen? Wo sind ihre Häupter? Warum sind sie nicht längst unschädlich gemacht, wenn man sie kennt, und wenn man sie nicht kennt, woher weiß man, daß sie da sind?«

»Die Polizei hat sie fortwährend überwacht und genaue Listen geführt«, entgegnete Schroffenstein etwas eingeschüchtert. »Um gegen sie einzuschreiten, fehlten die Beweise.«

»Ueberwachung! Listen!« zürnte der Herzog. »Sind das Eure Behelfe alle? Ich werde mich in Zukunft nicht mehr auf solchen Papierkram verlassen! Aber damit ist jetzt nicht geholfen, geben Sie mir Rath, machen Sie andere Vorschläge, ich will von weiterem Blutvergießen nichts hören. Apropos, General, ist mein Befehl befolgt? Wer war der Unbesonnene, der zuerst Feuer geben ließ?«

»Ich habe denselben ausmitteln lassen, Durchlaucht«, entgegnete Bauer unterwürfig, »aber ein Einschreiten ist nicht mehr möglich, er ist vor einer halben Stunde auf dem Jakobsplatze gefallen. Es war der Lieutenant von Bergdorf.«

»Todt also?« murmelte der Herzog für sich hin. »Dann mag er es drüben verantworten.«

»Und wozu bist Du entschloßen, mein Sohn?« fragte die Herzogin. »Die Zeit drängt!«

»Ach weiß ich denn, was ich soll!« rief der Herzog, unmuthig aufspringend. »Nachgeben kann ich und will ich nicht und doch widert mich Euer Rath an! Daß doch mein Sohn schon hier wäre!«

»Seine Hoheit der Herr Erbprinz«, bemerkte Bauer, »würden gewiß mit uns übereinstimmen.«

»Meinen Sie?« fragte der Herzog kurz. »Ich zweifle daran und darum wünsche ich, daß er hier wäre, damit in meinem Rath die Milde doch auch eine Stimme hätte!«

»Was Felix Dir sagen könnte, mein Sohn«, begann die Fürstin mit erhöhtem Ernste, »wäre die Meinung eines Jünglings, der unerfahren ist in Staatsgeschäften. Könntest Du darauf ein Gewicht legen, dem Worte gewiegter, erprobter Rathgeber gegenüber? Befolge den Rath heilsamer Strenge, es ist auch der meinige!«

Der Herzog war, wie es seine Gewohnheit war, mit starken Schritten auf und ab gegangen. Jetzt hielt er wie überrascht inne. »Wie, auch Sie, meine Mutter, rathen mir das?« rief er. »O, wenn ich jetzt nur einen einzigen Blick in die Zukunft thun könnte!«

»Wozu das? Beherrsche die Gegenwart und die Zukunft ist Dein!« antwortete die Herzogin.

»Geben mir Durchlaucht den Befehl, mit allen Mitteln zum Angriff zu schreiten«, bat Bauer, »und ich bürge mit meinem Kopfe, daß ich die Ruhe noch vor Sonnenaufgang hergestellt haben werde!«

»Geben Durchlaucht den Befehl!« fügte Schroffenstein hinzu.

»Thu', wie sie sagen«, mahnte die Herzogin. »Gib den Befehl.«

Der Herzog stand mit übereinander geschlagenen. Armen still und sah unschlüssig vor sich hin.

Als er eine Bewegung machte und die Augen erhob, fiel sein Blick auf Primitiva, die von allen unbeachtet in der Tiefe des Gemachs stand. Tief ergriffen von dem unmeßbaren Gewichte der Entscheidung, die sich vor ihren Augen vorbereitete, hatte sie wie athemlos gelauscht. Die Hände wie unwillkürlich über der Brust gefaltet, stand sie, ganz Seele und Empfindung, hoch aufgerichtet und doch demüthig, wie ein fürbittender Engel da. Sie durfte nicht wagen, sich in die Unterredung zu mischen, aber in dem Augenblick, wo des Herzogs Blick sie traf, bewegte sie das Haupt zu leiser Verneinung.

Ueberrascht und gespannt blieb des Herzogs Auge auf der gewinnenden Erscheinung haften.

Da flog die Thür auf und Adjutant Schroffenstein stürmte herein.

»Verzeihung, Durchlaucht«, rief er, »daß ich auf solche Weise eintrete. Die Rebellion hat ihren Gipfel erreicht.«

»Was ist geschehen?« fragten die Anwesenden wie aus einem Munde.

»Hören Sie das Geschrei nicht? Die ganze Stadt ist in Bewegung. Der Erbprinz soll hier sein, er soll sich an die Spitze der Empörer gestellt haben, sie rufen ihn zum Herzog aus.«

Die Anwesenden schwiegen. Nur der Herzog rief: »Mein Sohn!« und auf seiner Stirn zog das Zornesungewitter auf, das sich immer unheildrohend entlud. Das Blut stieg ihm zu Gesicht und überzog sein Antlitz mit dunkler Röthe. »Ist es wahr, was Sie sagen?« rief er mit vor Grimm bebender Stimme.

»Leider«, erwiderte der Adjutant. »Der Prinz war verkleidet mitten unter dem Volke. Professor Führer, ein eifriger Anhänger von ihm, hat das Volk haranguirt und zum Abfall aufgefordert.«

»So geben mir Durchlaucht den Befehl«, rief Bauer wild. »Zaudern wir nicht länger.«

Der Herzog wollte antworten, aber, er vermochte es nicht. Immer gewaltiger hatte ihm der Zorn das Blut gegen den Kopf getrieben, es umnachtete ihm die Augen und benahm ihm die Sprache, er begann zu schwanken und sank in des herzuspringenden Schroffenstein Arme.

»Um Gotteswillen, Durchlaucht«, rief Bauer, »welch eine Anwandlung! Fort, holt den, Leibmedicus herbei!«

»Was ist mit meinem Sohne?« schrie die blinde Herzogin dazwischen. »Antworte mir, mein Sohn, was ist Dir?«

»Seine Durchlaucht sind plötzlich unwohl geworden«, beruhigte sie Bauer, »es wird hoffentlich vorübergehen. Bringen Sie doch Ihre Durchlaucht hinweg, Fräulein«, rief er dann Primitiva zu.

Diese, selbst kaum im Stande, sich aufrecht zu erhalten, geleitete die Herzogin an ihr Lager, auf das diese in Ohnmacht hinsank.

Inzwischen war Alles, den sogleich herbeigeeilten Leibarzt an der Spitze, um den Herzog beschäftigt, der regungslos dalag und kein Zeichen des Lebens von sich gab. Vergebens hatte man ihn an Hals und Brust von den Kleidern befreit, vergebens ihn mit Essenzen und Kräutergeistern begossen, und als der Arzt eine Ader öffnete, flossen nur einige Tropfen.

»Ein Schlagfluß!« flüsterte der Arzt achselzuckend den ihn Umstehenden zu, die sich wie betäubt ansahen. »Es ist keine Hoffnung da, Seine Durchlaucht wieder zum Leben zu bringen.«

In dem Augenblick wurde die Thür aufgerissen und der Prinz eilte herein.

»Wo sind Sie, mein Vater?« rief er. »Ich muß Sie sehen, muß Ihnen sagen –« Da erblickte er den Sterbenden und stürzte mit einem herzzerreißenden Wehruf zu dessen Füßen nieder, indem er zugleich die herabhängende erkaltende Rechte ergriff und mit Thränen und Küssen überdeckte. »O mein Vater«, rief er, »scheiden Sie nicht ohne einen letzten Blick von mir!«

Es war, als ob die Stimme des Sohnes einen Augenblick die erloschenen Lebensgeister wieder anfache. Die Augen des Herzogs öffneten sich und blieben auf dem vor ihm knieenden Prinzen haften. Er erkannte ihn sichtbar. Der lichte Strahl eines Lächelns glitt über die erstarrenden Züge, dann sank er vollends Zurück und die Schatten des Todes breiteten sich über ihn.

Nach einer Weile erhob sich der Prinz etwas gefaßter.

»Lassen Sie Seine Durchlaucht von hier weg nach seinen Gemächern bringen«, sagte er. »Sie, meine Herrn, erwarte ich in einer Stunde zu Bericht und Rechenschaft über das hier Vorgegangene. Machen Sie den Trauerfall in der Stadt bekannt und gebieten Sie Ruhe, bis ich Zeit gefunden haben werde, meine neuen Pflichten zu üben. Jetzt gehöre ich nur diesem theuren Todten und der Trauer um ihn.«

Die Leiche wurde von den Versammelten in stiller Ehrerbietung und tiefer Erschütterung weggebracht. Primitiva kniete am Lager der Herzogin.

Der Prinz winkte, als man im Wohnzimmer des Herzogs angelangt war, die Begleiter in neu ausbrechendem Schmerz hinweg.

Schweigend traten sie ab. »Wer hätte das gedacht, General?«, flüsterte Schroffenstein diesem im Heraustreten zu. »Unser Stern ist gesunken.« Stumm bejahte dieser.

Alles ging schweigend auseinander.

Der Prinz kniete weinend und allein an der Leiche dessen, der noch so kurz zuvor eine Krone getragen und sie nun auf ihn vererbt hatte.


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