Heinrich Schliemann
Ithaka der Peloponnes und Troja
Heinrich Schliemann

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Fünftes Kapitel

Wunderbarer alter Weg. – Γράμματα Ὀδυσσέως. – Feld des Laërtes. – Vorlesung aus Homer in Gegenwart der Einwohner von St.-Johann und Leuke: ihr Enthusiasmus und ihre Gastfreundschaft. – Charakter des Ithakesiers, des Musters aller Tugenden. – Sein Patriotismus. – Häufiges Vorkommen der Namen Penelope, Odysseus und Telemach. – Sprichwörtliche Unwissenheit der Geistlichkeit. – Hundertneunundvierzig Festtage im Jahre.

Am folgenden Tage, den 12. Juli, brach ich mit meinem Führer, wie gewöhnlich, um 5 Uhr Morgens auf, zunächst um den alten Weg zu erforschen, dessen Spuren ich den Tag vorher entdeckt hatte, und sodann den Norden der Insel zu besuchen. Die Spuren des alten Weges befinden sich auf der steilen Westseite des Berges Sella, welcher, wie ich schon gesagt habe, nur eine Fortsetzung des Aëtos ist und ungefähr vier Kilometer nördlich von diesem liegt. Da ich zu Pferde nicht dorthin gelangen konnte und erfuhr, dass der alte Weg beim Dorfe Ἁγίου Ἰωάννου (St.-Johann) nach Weinbergen am Meeresufer führt, welche die Tradition als Ἄγρος Λαέρτου (Feld des Laertes) bezeichnet, so schickte ich meinen Führer mit dem Pferde dorthin, und liess mich von einem andern Manne nach dem alten Wege zum Landgut von Odysseus' Vater bringen.

Mit vieler Mühe erstieg ich den Sella, welcher wohl 100 Meter hoch ist und sich auf der Ostseite unter einem Winkel von 50 Grad erhebt, während sein Abhang auf der Meeresseite noch schroffer ist. Auf dem Gipfel angekommen, hatten wir auf der andern Seite noch etwa 33 Meter zurückzulegen, um zu dem Wege zu gelangen, welcher ohne Zweifel aus dem fernen Alterthume herrührt und selbst in seinen Resten noch wie ein Wunder erscheint. Er ist ganz in den Felsen gehauen, hat 4 Meter Breite und an den Seiten, in Zwischenräumen von ungefähr 20 Meter, kleine, aus grossen, plump behauenen Steinen erbaute Schutzthürme. Ungeheure Steinmassen müssen fortgeschafft worden sein, um diesen Weg in den Felsen zu hauen, der nicht unter 55 Grad abfällt. Winterregen von 31 Jahrhunderten haben ihn verwüstet; aber was von ihm geblieben ist, lässt hinlänglich ahnen, was er in der Zeit des grossen Königs Odysseus gewesen ist.

Von hier aus sieht man deutlich, wie der Weg sich nach Süden quer über die Berge Chordakia und Paläa-Moschata hinzieht und dann in der Richtung nach Odysseus' Palaste den Aëtos hinaufsteigt. Auch im Norden führt er allmählich in der Richtung der Weinberge unterhalb des Dorfes St.-Johann herab.

Das ist der Weg, auf welchem, wie Homer sagt (Od. XXIV, 205–207), Odysseus und Telemach sich nach dem Felde des Laërtes begaben.

Οἱ δ᾽ ἐπεὶ ἐϰ πόλιος ϰατέβαν, τάχα δ᾽ ἀγρὸν ἵϰοντο
Καλὸν Λαέρταο τετυγμένον, ὅν ῥά ποτ᾽ αὐτὸς
Λαέρτης ϰτεάτισσεν, ἐπεὶ μάλα πόλλ᾽ ἐμόγησεν.

»Da stiegen sie von der Stadt hinab und kamen bald auf dem wohl bebauten Felde des Laërtes an, welches dieser mit vieler Mühe sich erworben hatte.«

Ich stieg in derselben Richtung hinab und fand ungefähr auf der Hälfte des Weges ein griechisches Delta, 33 Centimeter hoch und ebenso breit, in einen 3 Meter 30 Centimeter langen und ebenso breiten Quaderstein gehauen. Dieser Buchstabe, von den Einwohnern γράμματα Ὀδυσσέως genannt, scheint in der That sehr alt zu sein, und es ist wohl möglich, dass er von Odysseus herrührt.

Bald kam ich auf dem Felde des Laërtes an, wo ich mich niedersetzte, um auszuruhen und den 24. Gesang der Odyssee zu lesen. Die Ankunft eines Fremden ist schon in der Hauptstadt von Ithaka ein Ereigniss, wie viel mehr noch auf dem Lande. Kaum hatte ich mich gesetzt, so drängten sich die Dorfbewohner um mich und überhäuften mich mit Fragen. Ich hielt es für das Klügste, ihnen den 24. Gesang der Odyssee vom 205. bis 412. Verse laut vorzulesen und Wort für Wort in ihren Dialekt zu übersetzen. Grenzenlos war ihre Begeisterung, als sie in der wohlklingenden Sprache Homers, in der Sprache ihrer glorreichen Vorfahren vor dreitausend Jahren, die schrecklichen Leiden erzählen hörten, welche der alte König Laërtes grade an der Stelle erduldet hatte, wo wir versammelt waren, und bei der Schilderung seiner hohen Freude, als er an demselben Orte nach zwanzigjähriger Trennung seinen geliebten Sohn Odysseus, den er für todt gehalten hatte, wiederfand. Aller Augen schwammen in Thränen, und als ich meine Vorlesung beendet hatte, kamen Männer, Frauen und Kinder, alle an mich heran und umarmten mich mit den Worten: Μεγάλην χαρὰν μᾶς ἔϰαμες · ϰατὰ πολλὰ σὲ εὐχαριστοῦμεν (Du hast uns eine grosse Freude gemacht, wir danken dir tausendmal). Man trug mich im Triumph ins Dorf, wo alle mit einander wetteiferten, mir ihre Gastfreundschaft in reichstem Maasse zu Theil werden zu lassen, ohne die geringste Entschädigung dafür annehmen zu wollen. Man wollte mich nicht eher abreisen lassen, als bis ich einen zweiten Besuch im Dorfe versprochen hatte.

Endlich, gegen 10 Uhr Morgens, setzte ich meinen Marsch auf dem Abhange des Berges Anoge (des alten Neritos) fort, und nach anderthalb Stunden kamen wir in dem reizenden Dorfe Leuke an. Man war schon von meinem Besuche unterrichtet, und die Einwohner, mit dem Priester an der Spitze, kamen mir in einer beträchtlichen Entfernung vom Dorfe entgegen, empfingen mich mit dem Ausdruck der lebhaftesten Freude und gaben sich nicht eher zufrieden, als bis ich Allen die Hand gedrückt hatte. Es war Mittag, als wir im Dorfe ankamen, und da ich noch die Stelle des alten Polisthales und seine Akropolis, das Dorf Stavros und das Kloster der heiligen Jungfrau auf dem Gipfel des Anoge zu besuchen vorhatte, so wollte ich mich in Leuke nicht aufhalten. Aber man bat mich so dringlich, einige Stellen aus der Odyssee vorzulesen, dass ich mich endlich gezwungen sah nachzugeben. Um von Allen verstanden zu werden, nahm ich einen Tisch unter einer Platane mitten im Dorfe als Tribüne und las mit lauter Stimme den 23. Gesang der Odyssee von Vers 1–247 vor, wo erzählt wird, wie die Königin von Ithaka, die keuscheste und beste der Frauen, ihren angebeteten Gemahl nach zwanzigjähriger Trennung wieder erkennt. Obgleich ich dieses Kapitel schon unzählig oft gelesen habe, so war ich doch stets beim Lesen desselben lebhaft gerührt, und den nämlichen Eindruck machten diese prächtigen Verse auf meine Zuhörer; alle weinten und ich weinte mit. Nach Beendigung meiner Vorlesung wollte man mich durchaus bis zum folgenden Tage im Dorfe behalten, aber ich lehnte dies entschieden ab.

Man brachte mir eine Menge alter griechischer Münzen, darunter sehr seltene Stücke; alle diese Münzen waren bei Ausgrabungen in der Nähe der Stadt Polis gefunden worden. Man wollte sie mir umsonst geben, und erst nach vielem Bitten nahm man 20 Franken an. Mit grosser Mühe gelang es mir endlich, mich von diesen braven Dorfbewohnern zu trennen, aber nicht ohne vorher mit ihnen angestossen und jeden geküsst zu haben.

Die Einwohner von Ithaka sind freimüthig und bieder, ausserordentlich keusch und fromm, gastfrei und mildthätig, lebhaft und arbeitsam, gefühlvoll und zutraulich, reinlich und sorgfältig; sie besitzen im höchsten Grade Klugheit und Weisheit, diese beiden erhabenen Tugenden, das Erbe ihres grossen Ahnherrn Odysseus. Der Ehebruch wird bei ihnen für ein ebenso abscheuliches Verbrechen angesehen, wie Vater- und Muttermord, und wer sich dessen schuldig machte, würde ohne Erbarmen umgebracht werden. Sie sind ohne wissenschaftliche Bildung, und ich wage die Behauptung auszusprechen, dass von funfzig kaum einer lesen und schreiben kann; aber was ihnen an Gelehrsamkeit abgeht, ersetzen sie durch eine so natürliche Lebhaftigkeit des Geistes, dass ich einen hohen Reiz in ihrer Unterhaltung finde. Kaum bin ich eine Viertelstunde mit einem Ithakesier zusammen, so kenne ich schon seinen ganzen Lebenslauf und alle seine Geheimnisse; er theilt mir alles mit, nur weil er das Bedürfniss empfindet, sein Herz auszuschütten, und ohne den leisesten Schatten eines Hintergedankens.

In Griechenland gebraucht man, wie anderwärts, bei der Anrede das Wort Σεῖς (Sie); aber die Natürlichkeit der Ithakesier ist so gross, dass sie mit diesem Worte niemals eine einzelne Person anreden, und nicht nur die Herren, sondern sogar die Damen der vornehmsten Familien in der Hauptstadt duzen mich.

Die grenzenlose Vaterlandsliebe, von der wir an Odysseus ein Beispiel haben, welcher die Rückkehr in sein angebetetes Vaterland der von der Kalypso ihm angebotenen Unsterblichkeit vorzieht (Od. V, 203–224), diese Vaterlandsliebe ist noch heutigen Tages ebenso lebendig bei den Bewohnern der Insel, und so oft ich auf meinen Reisen im Orient einen Ithakesier antraf und ihn frug: Ἀπὸ ποῖον μέρος τῆς Ἑλλάδος εἶσθε (Aus welcher Gegend Griechenlands sind Sie?), so antwortete er, stolz auf seine Nationalität, mit erhobenem Haupte: »Εἶμαι Ἰθαϰήσιος μὰ τὸν Θεόν!« (Ich bin ein Ithakesier, bei Gott!).

Ein anderer Beweis ihres Patriotismus und ihrer Verehrung für das Andenken ihrer glorreichen Vorfahren liegt darin, dass fast in jeder Familie eine Tochter Namens Penelope und zwei Söhne sind, welche Odysseus und Telemachos heissen.

In Folge ihrer unermüdlichen Thätigkeit sind diese braven Leute frei von Noth, und niemals sah ich auf Ithaka einen Bettler.

Wie im übrigen Griechenland, wird auch hier die Geistlichkeit nicht besoldet und muss von den schwachen Einkünften der Taufen, Begräbnisse, Heirathen u. s. w. ihr Leben fristen. In Folge dessen ist das Leben des griechischen Priesters ein fortwährender Kampf mit dem Mangel, und da die Laufbahn des Geistlichen keine Versorgung bietet, so wollen die jungen Leute nicht gern Theologie studiren. Deshalb wird man in diesem Lande mehr aus Trägheit, als aus Ueberzeugung Priester, was das Sprichwort so prächtig ausdrückt:

Ἀμαθὴς ϰαὶ ϰαϰοήθης,
Ἀϰαμάτης ϰαὶ φαγᾶς,
Οὐδὲν πλέον δὲν τὸν μένει
Παρὰ νὰ γενῇ παπᾶς.

(Er ist unwissend und unmoralisch, ein Faulpelz und Vielfrass; es bleibt ihm nichts übrig als Priester zu werden.)

Natürlich kann die Civilisation in einem Lande keine Fortschritte machen, wo viele Stellvertreter Gottes nur wegen ihrer Unwissenheit und Unfähigkeit zu jeder anderen Beschäftigung sich seinem Dienste gewidmet haben, umsomehr als sie bei aller ihrer Unwissenheit einen grossen Einfluss auf das Volk ausüben. Mein erlauchter Freund, der Erzbischof Theokletos Vimpos in Athen, wird nicht müde, gegen diesen Zustand der Dinge in Predigten und Schriften zu eifern; aber bis jetzt ist noch von keiner Reform etwas zu hören.

Ein grosses Unglück, welches Ithaka mit ganz Griechenland gemein hat, ist der Umstand, dass ausser den 52 Sonntagen jährlich 97 Festtage, also im Ganzen 149 Tage gefeiert werden. Dieser ungeheure Missbrauch ist natürlich ein grosses Hinderniss für die Entwickelung der landwirthschaftlichen und gewerblichen Industrie.


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