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III.

Jeden Morgen, ganz früh, noch ehe das Haus wach war, fanden sich Erik und Ruth im Studierzimmer zusammen. Sie standen beide ein paar Stunden zeitiger auf als sonst, um es zu können, und jeden Morgen nahm er mit ihr ihre Arbeit für den Tag durch, der er sie dann allein überließ.

Es war immer dasselbe Bild: Ruth war immer schon da und stand, ihn erwartend, ins offene Fenster gelehnt. Sie horchte auf die kleinen Buchfinken draußen und zugleich, ob sein Schritt nicht über den Flur käme. Gewöhnlich sah sie ein bißchen blaß und bange aus, denn so übermütig froh sie auch tagsüber vor Erik sein konnte, – als Lehrer fürchtete sie ihn. Und auch jetzt noch, wenn sie seinen Schritt im Flur vernahm, überfiel sie, wie am allerersten Abend, das Herzklopfen und die alte Schüchternheit.

Es war immer dasselbe: ohne daß sie sich nach ihm umwandte, trat Erik dicht an sie heran, bis ihr Rücken gegen ihn gelehnt war, dann schloß er ihre beiden Hände in den seinen zusammen, so daß sie wie eingefangen war zwischen seinen Armen. Es lag für sie darin nicht nur eine Liebkosung, sondern auch etwas zugleich Beschwichtigendes und Zwingendes, unter dem sie unwillkürlich stillhielt und sich sammelte. Und dann, ohne Zeitverlust oder überleitende Gespräche, nahm er sie sofort nüchtern und ernsthaft vor. So ging der Morgengruß unmerklich in die Morgenarbeit über.

Als Erik eines Morgens die Tür zu seinem Zimmer öffnete, blieb er einen Augenblick überrascht stehn. Vor den Fenster waren die weiß lackierten Innenläden geschlossen worden, so daß die graue Regenluft draußen nur durch die Ritzen hereinschauen konnte; ein einzelnes Licht brannte mit trübem Schein auf dem Schreibtisch. Davor saß Ruth, von Heften und Büchern umgeben, und schrieb, ohne auch nur aufzublicken.

Erik sagte nichts. Er schlug einen Laden zurück und öffnete das Fenster, so daß Luft und Licht in breitem Strom eindrangen, dann kam er an den Schreibtisch und blies das Licht aus, während Ruth verwirrt emporfuhr.

Er beugte sich zu ihr nieder, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und blickte sie aufmerksam an.

»Du hast geweint. Worüber?«

Sie errötete und zauderte einen Augenblick.

»Ich mag nicht dumm sein!« rief sie dann außer sich mit sprühenden Augen.

Er lachte.

»Du bist nicht dumm. hab' ich das gesagt? Wenigstens nicht hoffnungslos. Solange ich dich nicht aufgebe, brauchst auch du es nicht zu tun.«

Er rückte ihren Stuhl vom Tisch ab und nahm ihr die Feder aus der Hand.

»Aber du darfst nicht nachts aufstehn und arbeiten. Nie ohne mein Wissen. Das ist Unfug. Wenn ich abends deine Arbeiten durchgesehen habe, dann sollst du aufhören.«

»Die Sonne hörte auch nicht auf,« sagte Ruth, »sie schien hell fast die ganze Nacht durch. Im Gehölz schrie ein Kuckuck, die Drosseln vor meinem Fenster unterhielten sich. Da kam ich leise her.«

Erik griff über ihre Schulter nach dem Heft, worin sie geschrieben hatte, aber Ruth hielt es zögernd und schüchtern fest. Man konnte ihre ansehen, daß sie in ihrer Erregung beinahe litt.

»Ruhig!« sagte er eindringlich und entfernte ihre Hand vom Heft.

Schweigend las er eine Zeitlang darin, während Ruth mit gefurchter Stirn dasaß, die Hände im Nacken verschränkt und ganz blaß.

Dann legte er ihre Arbeit vor sie hin.

»Das hast du gut gemacht,« bemerkte er, »hat es dir Mühe und Überwindung gekostet?«

»Ja,« gestand sie ehrlich, ohne ihre Haltung zu verändern, »aber es schadet nichts.«

»Nein. Es schadet nichts. Siehst du das nun selbst ein? Es konnte nichts helfen, mit dir zu treiben, was dir lieb und leicht ist; durch das, was deinem kleinen phantastischen Kopf am härtesten ankommt, durch das, was ihm am schwersten fällt, grade da muß er hindurch.«

Er löste die im Nacken verschlungenen Hände und behielt sie in den seinen.

»Ich weiß, daß es manchmal ein harter Zwang war,« sagte er, »und du dein eignes Wesen unterdrücken mußtest; es tat weh, nicht wahr? Aber es mußte sein. Und nun – nun bekomm' ich dich allmählich grade so, wie ich dich haben will, Mädel. Ist es nicht schön?«

»Wunderschön ist es!« rief sie, sich mit leuchtenden Augen nach ihm zurückwendend, »das denk' ich ja immer dabei, wenn mir's schwer fällt! Ich such's zu vergessen und denke mich nur hin ein: wie wunderschön muß es sein, jemand, der ganz anders ist, grade so zurecht zu kriegen, wie man ihn haben will!«

Ein Schatten von Enttäuschung ging durch Eriks Augen.

»Nur daran denkst du dabei, Ruth? Und ich glaubte, dich selbst sollte es glücklich machen.«

»Das tut es ja eben!« erklärte sie erstaunt und stand auf.

»Was willst du nun heute morgen tun? Wir wollen in den Garten gehn. Es regnet nicht mehr. Oder meinst du, daß du schlafen könntest?«

Sie schüttelte lachend den Kopf.

»Ich möchte nicht, daß du später allein bleibst, ohne Beschäftigung und Morgenfrische,« sagte Erik, »arbeiten sollst du nicht. Vielleicht solltest du mit mir zur Schule kommen. Noch immer warten die Mädchen auf deinen versprochenen Besuch. Und in ein paar Tagen ist Klassenschluß. Es wird dich ablenken und zerstreuen. Und wenn es dich ermüdet, desto besser.«

*

Gonne hatte auf der Terrasse den Frühstückstisch gedeckt, und Klare-Bel lag schon in ihrem Stuhl daneben, als Erik, Ruth und Jonas, erst auf wiederholte Rufe, aus dem Garten herankamen. Jonas sah ganz erhitzt aus, und der Strohhut saß ihm im Nacken; in seiner rechten Hand trug er einen hohen Eimer, den er von Gonne erbeutet hatte und jetzt auf die Stufen, die zur Terrasse führten, niedersetzte. Eine wohl zwei Fuß lange stahlfarbene, bläulich glänzende Schlange wand sich darin.

»O pfui, Jonas!« rief Klare-Bel entsetzt, »wie magst du nur ein so greuliches Tier herbringen! Kann sie uns nicht alle totbeißen, Erik?«

»Das kann sie nicht. Es ist eine Ringelnatter,« versetzte er lächelnd.

»Aber eine prachtvolle, Mama! Ich fand sie hinterm Gehölz, da, wo sich der kleine Bach im Wiesengrund verläuft,« sagte Jonas voll Stolz und Bewunderung; daß er einen solchen Fund getan hatte, war für ihn ein ganz unerwartetes Landvergnügen, er hatte eigentlich nur auf Raupen gerechnet und höchstens auf eine Blindschleiche.

Ruth beteiligte sich nicht an der Unterhaltung über die Schlange, die Jonas gar nicht aufhören konnte zu bewundern, während sie Kaffee tranken. Seitdem sie im Garten Jonas mit dem Eimer in der Hand begegnet waren, verhielt sich Ruth ganz still. Sie hatte heimlich gehofft, Klare-Bel würde gegen die Schlange protestieren, aber die erkundigte sich ja nur danach, ob das Tier wohl jemand totbeißen könnte. Und das war an einer solchen Schlange doch wohl das Geringste, fand Ruth.

Jetzt gelang es der Ringelnatter, sich nach mehreren vergeblichen Versuchen auf dem Boden des Eimers aufzurichten, sie wiegte rhythmisch ihren Oberkörper und guckte mit ihren kleinen klugen schwarzen Augen die Anwesenden an.

Klare-Bel blickte zufällig auf Ruth, deren Glieder ein Zittern durchlief und die die halbgefüllte Tasse niedersetzte und erblaßte.

»Wirf das Untier fort, aber schnell, Jonas,« sagte seine Mutter rasch, »siehst du denn nicht, daß sich Ruth ängstigt?«

»Nein, laß sie nur da,« fiel Erik ruhig ein, der Ruth die ganze Zeit über beobachtet hatte, »darauf soll keinerlei Rücksicht genommen werden.«

Dann wandte er sich in leichtem Ton an sie: »Liuba hat mir erzählt, daß du einmal wegen einer ähnlichen Kleinigkeit umgefallen bist. Strafe sie Lügen.«

»Hat Liuba gesagt: wegen einer Kleinigkeit?« fragte Ruth erstaunt. »Es war keine Kleinigkeit. Es war etwas Fürchterliches, – kalt und grausig, – was so gewaltsam von außen kam, – so, wie wenn man einen umbringt.«

»Um Gottes willen!« bemerkte Klare-Bel, »was kann denn das nur gewesen sein?«

»Eine kleine Raupe!« entgegnete Erik spottend.

Ruth wollte wahrheitsgemäß verbessern: »Eine große Raupe,« aber sicherer erschien es ihr, nicht noch ausdrücklich zu bestätigen, daß es nur eine Raupe gewesen war.

»Paß mal auf,« rief Jonas, »ich werde das Prachttier zähmen, Ringelnattern sind zutraulich und verständig, man kann sie gern um den Hals winden. Dann spielen wir ›Schlangenbändiger‹. Hast du je schon etwas so Schönes gehört? Ich bin der Schlangenbändiger. Da brauchst du dich gar nicht zu fürchten. Du siehst nur zu und – und bewunderst mich.«

Erik lachte und griff ihm ins kurzgeschorne Blondhaar.

»Stopf deiner Eitelkeit den losen Mund,« warnte er, »denn schon ist die Zeit ganz nah, wo sich Ruth nicht mehr mit der Zuschauerrolle begnügen wird. Wo sie selbst freiwillig, aus eignem Antriebe, an die Schlange herantritt, sie in die Hand nimmt und sich auf den Körper hinaufkriechen läßt.«

Ruth hatte vergeblich versucht, ihn zu unterbrechen.

»Ich! Wann wird das sein?« fragte sie, ganz außer sich vor Erstaunen.

»Wann? vermutlich schon bald.«

»Nein! Nie!« versicherte Ruth, noch ganz fassungslos über seinen Irrtum, »ich würde mich ja immer fürchten.«

»Das würdest du wohl. Aber das ist noch kein Gegengrund. Es kommt vor, daß man stärker ist als die eigene Furcht, und daß man sie totschlägt.«

»Nun, Erik, das ist ein starkes Stück,« sagte Klare-Bel halblaut.

Jonas sah verdutzt aus, daß sein Vater so etwas im voraus wissen konnte, was doch Ruth selbst noch nicht wußte. Aber er begriff, daß ihr Erik etwas Unangenehmes geweissagt hatte, denn sie schauderte unwillkürlich zusammen.

»Weißt du was?« schrie Jonas ihr plötzlich zu, und der rettende Einfall verklärte förmlich sein Gesicht. »Ich weiß einen Ausweg, – tu's eben nicht! Einfach! denk nur: du brauchst es ja einfach nicht zu tun!«

Er mußte sich von seinen Eltern auslachen lassen, und das Gespräch wandte sich andern Dingen zu.

Ruth saß regungslos da und blickte scheu nach dem Eimer. Wie gebannt mußte sie den länglichen, schilderbedeckten, züngelnden Kopf ansehen, der sich dort herüberreckte. Es war, als grüße er sie. Es war, als schaue er grade sie an. Nur sie ganz allein. Als sei sie ganz allein mit der Schlange.

Die kleinen runden schwarzen Augen schienen sich mehr und mehr zu erweitern, wie ein grausiger Höllenabgrund, wo alles Unheimliche sein Spiel trieb. Und hinter dem Kopf mit den Augen hing das ekle schlüpfrige Gewürm und wand sich ungeduldig. Es war ganz gewiß: die Schlange lauerte schon auf sie.

Sie sah doch wirklich so aus, daß man das Schlimmste von ihr denken konnte.

Ruth und die Ringelnatter maßen sich mit den Blicken.

Ruth errötete langsam, immer dunkler, ohne ein Wort zu sprechen.

Da, als sich Erik vom Frühstückstisch erhob, und Jonas wieder in den Garten laufen wollte, sprang Ruth hastig auf und sagte wild: »Dann lieber gleich!«

Die andern verstanden sie nicht recht, nur Erik, der sie unausgesetzt im Auge behalten hatte, entschlüpfte ein Laut der Überraschung.

»Jetzt gleich?« wiederholte er, »nein, mein Kind, das ist weder gut noch notwendig. Es wäre eine ebensolche Übertreibung wie das mit dem Nachtarbeiten. Und nach dieser Nacht bist du mir nicht fest genug dazu.«

»Ich bin fest!« versicherte sie fast flehend, »aber warten kann ich nicht auf etwas so Grausiges! Ich kann es nicht so heranschleichen sehen – Tag für Tag – immer näher – immer gewisser; – mit einer Schlange zusammenwohnen, vor der ich mich fürchte, – und die mit der ganzen Familie immer intimer wird, – – und nur auf mich lauert, – nein, das kann ich wirklich nicht!«

Erik lachte, sah aber dabei besorgt aus. Dies kam ihm ganz unerwünscht.

»Aber Ruth!« sagte er, »hat dich denn deine Phantasie mit Haut und Haaren aufgefressen? Eine solche Kleinkinderangst legt man am sichersten in allmählicher Gewöhnung ab. Mir ist es lieber, wenn es allmählich geschieht. Überleg es dir! Denn wenn du darauf bestehst, gibt es kein Zurückweichen mehr! Dann kein Spielen und Versuchen! Das würd' ich nicht dulden. Deiner selbst mußt du sicher sein.«

»Ja!« behauptete Ruth, und die Stirn wurde ihr feucht.

»Willst du es trotzdem? Gut. Dann komm her.«

Erik beobachtete sie mit gespannter Aufmerksamkeit und trat zugleich von hinten an sie heran, damit sie sich mit dem Rücken gegen ihn lehnen mußte, wenn sie etwa »umfiel«.

Sie stand mit herabhängenden Armen da und machte ein entschlossnes, beinahe finsteres Gesicht. Als er aber nach dem Eimer langte, und sie, dicht vor sich, die Schlange sich in seiner Hand winden sah, über fiel sie ein Schwindel.

Unwillkürlich schlossen und ballten sich krampfhaft ihre Hände, denen sie befahl, sich nach dem glatten Wurm auszustrecken; sie machte zuckend die Augen zu, und es fing an, ihr vor den Ohren zu sausen.

Da hörte sie Eriks ruhige Stimme: »Fürchtest du dich sehr?«

Sie nickte fast unmerklich.

»Dann wollen wir's lassen, mein Kind.«

Ruth öffnete erwartungsvoll und groß die Augen.

»Für immer?« fragte sie schnell.

Er mußte lächeln.

»Nein. Nicht für immer,« sagte er ruhig und freundlich, »aber es eilt nicht.«

Sie nahm sich zusammen.

»Dann jetzt gleich!« murmelte sie.

Und sie streckte den Arm aus und nahm ihm die Schlange aus der Hand. Bei der ersten Berührung erschütterte es ihren ganzen Körper wie ein elektrischer Schlag, sie warf den Kopf zurück und drängte sich hilfesuchend enger an Erik. Aber ihre Finger hielten dabei den langen glatten Schlangenleib fest umspannt, und ohne einen Laut über die erblaßten Lippen zu bringen, sah sie mit weitgeöffneten Augen zu, wie sich die Ringelnatter an ihrem Arm hochstreckte, sich um ihn herumschob und den Kopf mit der feinen gespaltenen Zunge wiegend zur Seite niederhängen ließ.

Der Arm blieb ausgestreckt, als wär' er erstarrt. Und Ruth machte ein Gesicht dazu, als ob sie hingerichtet würde.

»Bravo!« sagte Erik, der seine Hände schützend und ermutigend um sie gelegt hatte, »auch das hast du gut gemacht, Mädel.«

Als er sie aber losließ und mit raschem Griff die Schlange wieder in den Eimer schüttelte, da taumelte Ruth.

»Nein, nein!« rief er heiter, »du mußt nicht denken, daß du jetzt noch ›umfallen‹ darfst. Damit ist es nun nichts mehr.« Und er schob ihr einen Stuhl hin.

Aber Ruth beachtete den Stuhl nicht, sondern ging, ohne aufzusehn, mit unsichern Schritten an Erik vorbei und quer über die Terrasse in den Flur hinein. Dort, so weit von ihm entfernt wie möglich, setzte sie sich in eine Ecke, hinter den Mantelständer, versteckte ihr Gesicht in den Mänteln, die dort hingen, und fing an zu weinen.

Erik sah ihr verwundert zu.

»Aber Ruth, du Narr!« rief er, und mußte doch lachen, »nun solltest du froh sein und sogar stolz. Was kann es nützen, hinterdrein zu weinen?«

Sie guckte hinter dem Mantelständer hervor und blickte ihn vorwurfsvoll an.

»Ich tue mir so leid!« sagte sie und weinte weiter.

Jonas, der die ganze Zeit mit offnem Munde dagestanden, aber auf einen Wink seiner Mutter seine steigende Verwunderung für sich behalten hatte, sah auf diese Worte hin den Vater ebenfalls sehr vorwurfsvoll an. Er lief in den Flur, um Ruth zu trösten.

*

Eine Stunde später fuhr Ruth aber doch mit ihm und Erik zur Stadt.

Die Mädchen in der Schule warteten schon lange auf ihren Besuch. Es interessierte sie außerordentlich, daß Ruth jetzt bei Erik im Hause lebte, und in jeder Stunde erkundigten sie sich nach ihr bei Erik. Sie fanden, alles sei plötzlich so nüchtern geworden. Nur eine kleine Partei, freilich die beste, vermißte Ruth nicht. Das waren die Musterschülerinnen, die sich jetzt vor ihren Ausgelassenheiten sicher fühlten und durch keine argen Einfälle mehr in Versuchung geführt wurden. Aber die Stimmung blieb flau, und als es nun, so kurz vor den Ferien, zu regnen anfing, da verdüsterten sich die Gesichter auch der Fleißigsten.

So gab es denn eine gewaltige Freude, als Ruth in der Freistunde wieder auf dem Schulhof erschien, mit einem großen Regenschirm, unter dem ihr Gesicht vergnügt hervorschaute. Alle umringten sie, und der Lärm wurde so schlimm, daß im Hinterhause die Leute aus den Fenstern herabschauten, um zu sehen, was es gäbe und warum die Schulvögel noch lauter zwitscherten als sonst.

Ruth war von ihnen die einzige Stille. Als sie so mitten unter ihnen stand, von allen bedrängt, da kam es ihr vor, wie wenn sie aus einer Weltenferne zu ihnen zurückgekehrt sei, und sie wurde fast schüchtern. All das Viele, was sie zu erzählen hatte, all das Viele, worauf jene begierig waren, schmolz zu einem bloßen Blick und Lächeln zusammen, und es blieb nichts als auf ihrem Gesicht der Ausdruck von Kinderglück, der an ihrer Statt erzählte.

Die Schülerinnen schoben sich an der Hauswand aneinander, wo sie das überragende Dach vor dem schwachen Sommerregen schützte, und wie damals, als Erik aus dem Klassenfenster auf sie niederblickte, fand Ruth ihren Platz wieder auf dem umgestülpten Wasserfaß.

Sie erschien den Mädchen verändert, ohne daß diese sagen konnten, wodurch. Denn wie ein Junge im Blusenkittel sah sie noch immer unter ihnen aus, und einen Zopf hatte sie ja auch noch nicht bekommen. Daß sie nicht sprach, entging ihnen vollständig, der in ihnen selbst aufgespeicherte Mitteilungsstoff brannte auf den Zungen, und anstatt dessen, was sie von ihr erfahren wollten, erfuhr Ruth in wenigen Minuten das Schicksal einer jeden einzelnen, von damals bis zu jenem Tage, nebst dem ganzen Gang der »öffentlichen« Angelegenheiten.

Das größte Ereignis stellten sie ihr in Person vor. Das war eine Braut. Eine wirkliche Braut aus ihrer Klasse. Ein großes blondes Mädchen von frauenhafter Gestalt, mit ruhigen, freundlichen Gesichtszügen. Als Legitimation wurde ihr ein Ring von der linken Hand gestreift und seine Inschrift triumphierend vorgezeigt, – der glatte goldene Traureif fiel Ruth in den Schoß.

Die Braut wehrte sich nur schwach dagegen, so als Gemeingut behandelt zu werden. Sie war mit ihren Gedanken begreiflicherweise längst aus der Schule heraus und fühlte sich mit deren Insassen nur noch durch das unendliche Interesse verbunden, das ihr, ihrem Liebsten und ihrem Glück wahrhaft glühend entgegengetragen wurde. Denn mit ihr betrachtete sich sozusagen die ganze Klasse als mit verlobt und an den Mann gebracht.

»Er ist dunkelhaarig!« erklärte das kleine blonde Gretchen, die besonders zärtlich an Ruth hing, »ach Ruth, ein solcher wirklicher Bräutigam bleibt doch das Allerhöchste. Denk dir nur, was man als Braut alles zu erzählen hat! Wenn wir so zusammensitzen, und sie spricht von ihm und dem Leben und der Ehe und der Zukunft, dann meint man, daß man in einer Stunde mehr erfährt als in all den Schuljahren mit ihrem Kram.«

»Wieso?« sagte Ruth, »sie weiß ja selbst noch nichts davon.«

Gretchen schwieg etwas betroffen.

»Nun, du bist auch nicht wenig prosaisch geworden!« fiel eine andre ein und lachte, »sie lieben sich ja doch! Findest du denn das nicht herrlich?«

»Doch!« sagte Ruth und betrachtete nachdenklich den schmalen Goldreif in ihrer Hand; »vielleicht ist es herrlich.« Dann gab sie ihn der Braut mit einem vollen Blick zurück und fügte hinzu: »Aber das Herrliche daran läßt sich ja doch nicht erzählen. Nicht wahr?«

Die Angeredete errötete etwas und sah Ruth erfreut an. Sie fühlte sich zum ersten Male zu dem beglückwünscht, was sie ganz für sich allein besaß, als Braut, – was sie mit den andern nicht gemein haben konnte. »Es wäre eigentlich schöner gewesen, nicht so viel und so ausführlich mit allen darüber zu sprechen,« dachte sie plötzlich mit Scham und Stolz. Und während sie den Ring wieder ansteckte und Ruth anblickte, konnte sie sich des Gedankens nicht erwehren: »Diese hier ist gewiß die nächste Braut.«

»Ja, Ruth, du hast recht: zum Erleben mag es schmecken, zum Erzählen ist es fade!« rief die hübsche dunkle Wjera dazwischen, die schon immer zu den Kecken gehört hatte und sich jetzt aus allen Kräften gegen das Übergewicht der »Brautschaft« in der Klasse sträubte; »was hattest du immer für herrliche Geschichten und Abenteuer für uns auf Lager! Und jetzt: der reine Hausfrauenzettel! Ich bin einzige, die noch dem ›Edeln, Unglücklichen‹ nachsteigt.«

»Ist der noch da?« fragte Ruth.

»Ja, stell dir nur vor,« klatschte eine an Ruths Ohr, »sie macht förmliche Straßenbekanntschaften. Es hat schon einen Verweis gegeben.«

»Laß dir nichts in die Ohren blasen, Ruth,« unterbrach die Geschmähte sie, »es ist ja alles deine Schuld und dein Vermächtnis! Warum bist du auch fortgeblieben mit deinen schönen Freistundengeschichten?«

Ruth hatte den Kopf gegen die Hausmauer gelehnt und sah schweigend in den verregneten Hof. Grade vor ihr erhob sich ein hoher Schornstein, dessen Rauchsäulen jahraus, jahrein die Mauern schwärzten und ihren Ruß auf den Schulhof niederstäubten. Gegenüber sperrte die mächtige gelbe Wand des Hinterhauses jede Aussicht ab. Die Luft war schwül; sie hatte es draußen im blühenden Juni gar nicht bemerkt.

»Wie ein Gefängnis!« dachte Ruth und sagte laut: »Das mit den Geschichten war ja nur ein Notbehelf. Phantastereien.«

»Wieso ein Notbehelf?«

»Würdest du uns keine mehr erzählen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein. Keine Phantasiegeschichten mehr. Nie mehr. Aber wenn man vor einer großen Mauer sitzt, dann malt man sich natürlich aus, was es hinter der Mauer gibt. Und wir wußten nichts, als daß es dahinter Männer gibt. Und da malten wir sie uns mit lauter Männern aus. Ihr wolltet es ja so.«

»Nun, und was? Was gibt es sonst noch dahinter?«

»Weißt du jetzt etwas davon, was es da gibt?«

»Oh!« sagte Ruth nur, aber ihre Augen öffneten sich groß und strahlten alle an, wie zwei unergründlich verheißungsvolle Glücksgeheimnisse, »dahinter gibt es das Leben.«

In ihrem Blick und Ausdruck lag etwas dermaßen Aufstachelndes, die Neugier und das Verlangen Aufreizendes, daß in diesem Augenblick den meisten selbst der »Bräutigam« schon etwas schal und abgestanden erschien. In den Gesichtern prägte sich's deutlich aus, daß sich ein neuer Hunger geltend machte.

»Wie kommt man denn über die Mauer?« fragte die unternehmende Wjera.

Ruth lachte.

»Man klettert eben hinüber,« sagte sie und lachte noch immer, »und dann geht man gradeaus, und nach rechts und nach links, ringsherum und nach allen Seiten. Bis man alt ist.«

»Nehmt euch in acht!« rief eine von den Musterschülerinnen warnend, »seht ihr denn nicht, daß sie euch foppt? So machte sie's immer mit euch. Sie spielt und phantasiert, und dann lacht sie uns aus, weil wir's ernstlich nehmen.«

»Nehmt's nur für Ernst!« sagte Ruth und gab sich vergebliche Mühe, den Schalk zu zügeln, der ihr im Nacken saß.

»Da sollen wir wohl zu Herrn Matthieux gehen und ihn bitten, uns auch über die Mauer zu helfen?«

»Das könnt ihr ja tun.«

»Der hätte wohl grade Lust und Zeit dazu!«

»Zeit hat er gewiß,« versicherte Ruth, »und Lust hat er auch. Er hat alles, außer den Menschen, die dazu gehören.«

Sie sahen sich mit unsichern und lächelnden Blicken untereinander an. Und dann auf Ruth, die gleichmütig dasaß, wie das verkörperte Behagen.

Die Spannung wuchs. Dies hier schien ihnen ihre schönste Geschichte zu sein.

»Sage mal: ist es auch gewiß, daß es dahinter angenehm ist? Hast du da auch gewiß nie etwas Unangenehmes vorgefunden?« fragte eine von ihnen vorsichtig.

»Nie!« behauptete Ruth, und es blitzte über ihr Gesicht, als ihr beiläufig einfiel, daß ihre Augen seit dem Tage vorher noch nicht trocken geworden waren.

Die dünnstimmige Klassenglocke fing an zu bimmeln, und die Mädchen verließen den Platz am Brunnen.

»Du könntest Herrn Matthieux ja mal für uns fragen,« meinte die hübsche Wjera, »das kostet nichts.«

»Warum?« entgegnete Ruth, »es ist eure Sache. Laßt es euch nur was kosten.«

In aufgeregtem Meinungsaustausch drängten sie dem Hause zu. Darüber blieb es unbeachtet, daß ihnen Ruth nicht folgte. Über der Spannung, die sie hervorgerufen hatte, war sie selbst vergessen worden. Als sich die Mädchen dann nach ihr umsahen, um einen gemeinsamen Heimweg zu verabreden, war Ruth verschwunden. Das letzte, was sie noch von ihr vernahmen, war ein Gelächter.

Erik brauchte an diesem Vormittag nicht ganz so viele Stunden zu geben wie sonst, denn mehrere Privatschulen hatten schon Ferien gemacht. So kam er bereits früh in seine Stadtwohnung hinauf, wo ihn Ruth erwarten sollte. Noch war nichts von ihr zu erblicken. Erik erledigte, was es hier noch zu tun gab, und kleidete sich um, froh, der heißen Uniform zu entrinnen. Als sich dann Ruth immer noch nicht melden wollte, öffnete er etwas beunruhigt die Tür zum Wohnzimmer und schaute hinein.

Da lag sie und schlief.

Sie hatte ihre kleinen Schuhe ausgezogen und unter einen Stuhl gestellt. Dann hatte sie sich, mit emporgezogenen Füßen, auf dem weißen Leinwandschutzbezug des Sofas zusammengekauert. Den Kopf gegen das Seitenpolster gedrückt, schlummerte sie mit ernstem Gesicht und schlafgeröteten Wangen fest und eifrig, wie ein Kind.

Die Müdigkeit mußte sie beim Warten überfallen haben.

Aus dem grauen Regenhimmel stahlen sich durch die niedergelassnen Fenstervorhänge einzelne Strahlenbündel, worin der Staub in breiten Wellen flimmerte und zitterte, und huschten über Ruths Gesicht. Ein leises Lächeln glitt mit den Sonnenstrahlen darüberhin und blieb auf den Lippen stehn, wie im Traum. Dann, als die Sonne zudringlicher wurde, zog sie ein paarmal Stirn und Nase kraus, und endlich mußte sie heftig niesen.

Das Lachen breitete sich über ihr ganzes Gesicht. Lachend wachte sie auf und hörte Erik lachen.

»Ist es Morgen?« fragte sie verwundert und setzte sich auf.

»Nein. Es ist Mittag. Warum bist du denn den Mädchen so rasch weggelaufen? Sie fragten noch nach dir,« sagte er.

Ruth rieb sich die Augen.

»Ach so, die Mädchen. Jetzt weiß ich schon,« versicherte sie, »ja, mit den Mädchen ist es nichts. Glaub es nicht. Aber mir ist eingefallen: wenn man keine lebendigen Menschen aufbringen kann, – dann gäb' es am Ende auch noch ein andres Mittel.«

»Mädel! Schüttle den Schlaf ab. Träumst du denn noch?«

»Nein, nein. Kein Traum,« sagte sie eifrig, glitt mit den Füßen vom Sofa herunter, stützte die Arme auf den staubigen Tisch davor und drückte das Kinn auf die geballten Hände; »ich hab' es mir nämlich so gedacht: wenn man zu den Menschen sprechen will, – in sie hineinwirken, – an ihnen was Großes schaffen, – und man findet nicht recht die richtigen Menschen, die gut dazu passen würden, dann muß man es so machen: man muß sich etwas ausdenken, was man ihnen vor Augen stellt, – so recht überzeugend und gewaltig vor Augen, bis sie Lust kriegen. Kann man das nicht? Warum nicht? Zu den Menschen vom Allerschönsten reden und nicht müde werden, – bis sie Lust kriegen.«

Sie sprach rasch und belebt, mit wachen, glänzenden Augen, sichtlich bemüht, ihm etwas deutlich zu machen, was sie da, wie einen Traum, mitten aus ihrem Schlaf hervorgeholt zu haben schien.

»Wer soll das tun?« fragte er langsam, von ihrem Gesichtsausdruck wie gebannt, und trat an den Tisch.

»Sie sollen es!« rief sie hell, »wer denn sonst? Sie haben mir immer gesagt: mit den Phantastereien ist es nichts, aber das Leben ist schön und weit. Ich glaub' es ja! Aber nun weiß ich, wozu die Phantasiegeschichten gut sind, – denn zu etwas sind die auch gut. Dazu, daß man sich ausdenken kann, was noch am Leben fehlt, und es hinzutun. Am Leben und an den Menschen. Nicht wahr?«

Während sie sprach, ging Erik im Zimmer auf und ab. Ihm schien, als lausche er auf den kindlichen Ausdruck dessen, was er nur künstlich in sich selbst zurückgedrängt hatte. Es kam wieder und redete mit Kinderstimme zu ihm. Eine Reihe noch unklarer Pläne blitzte ihm durch den Kopf. Alte und neue durcheinander. Sie hatten immer nach Gestaltung verlangt. Und er, enttäuscht durch die Verhältnisse, hatte versucht, sie von sich abzuschieben, – zu vergessen. Im vergangenen Winter hatte er sich in einen förmlichen Gesellschaftsrausch gestürzt, um sie zu vergessen.

Ruth saß und folgte ihm mit den Augen. »Jetzt denkt er sich gewiß was aus!« dachte sie. Mehrere Minuten vergingen in Schweigen.

Beide merkten nichts davon, daß die Luft im Zimmer dick und staubig war und ungezählte Mücken umherschwirrten.

Dann blieb Erik stehn, nickte zu ihr hinüber und sagte heiter: »Danke dir, Mädel. Erinnerst du dich, daß du mir etwas schenken wolltest, was ich eigentlich nie bekommen habe? Nun hast du mir aus deinen Phantasiegeschichten heraus doch etwas geschenkt. Zur guten Stunde.«

Sie sprang vom Sofa und kam auf ihren Strümpfen lautlos zu ihm.

»Ja,« sagte sie froh, »Sie wollten sie mir aus dem Kopf herausnehmen und alle für sich behalten. In den Kopf sollte nur lauter Vernünftiges hinein. Sie sagten damals: ›Nun sind alle deine Geschichten mein Eigentum, und ich kann damit machen, was ich will.‹ Und nun werden Sie etwas Schöneres damit machen, als ich's gekonnt habe.«

Sie hob den Kopf mit einem Ausdruck ungeduldiger Spannung und Erwartung und fügte dann bittend hinzu: »Aber ich muß zuhören dürfen, wenn Sie sich was ausdenken! Darf ich zuhören? Werden Sie mir's erzählen?«

Erik blickte auf sie nieder. So kindlich kam sie ihm vor, als sie so in Strümpfen neben ihm stand. Da reichte sie ihm noch nicht bis zur Schulter.

Wie am Morgen vor dem Schreibtisch beugte er sich zu ihr, nahm ihr Gesicht in seine Hände und sah hinein in zwei strahlende, glückliche, bittende Kinderaugen.

»Wir wer den es uns zusammen ausdenken!« sagte er.

*

Klare-Bel hatte inzwischen Besuch gehabt. Als Erik und Ruth nach Hause kamen, stand eine Equipage vor der Gartenpforte. Der Kutscher wendete den leichten Wagen mit englischem Gespann und ließ die Pferde sich langsam im Schritt abkühlen.

Warwara Michailowna saß bei Klare-Bel in deren kleinem behaglichen Gemach neben der Wohnstube. Sie war von ihrem erst kürzlich bezogenen Landhause, das etwa eine Stunde entfernt lag, herübergekommen.

Es waren meistens nicht nur konventionelle Besuche, die sie der kranken Frau machte. Sie kam gern, wie sie auch gern empfangen wurde. Sie empfand es wohltuend an Klare-Bel, daß man deutlich fühlte: hier lag eine, der es wirkliches Vergnügen machte, einmal im Plauderton wieder etwas von der Welt draußen, von den Menschen und der Gesellschaft zu hören. Konnte sie auch nie wieder in das gesellige Treiben zurückgelangen, so kannte sie dergleichen doch recht wohl aus den ersten, beglückenden Jahren ihrer Ehe und sah es noch immer ein wenig im Glanze dieser Zeit. Und da war es nun eigentümlich: wenn man zu so einer sprach, dann ließ man unwillkürlich den schlechtesten Klatsch zu Hause.

Klare-Bel selbst erzählte zwar niemals viel. Aber Warwara wußte, daß es auch andern Bekannten gegenüber nicht geschah. Sie wußte: dies hier war wirklich eine Frau, die mit niemand intim zu sein vermochte als mit ihrem Mann.

Was Warwara über Ruth und deren Anwesenheit im Hause erfuhr, fesselte sie im höchsten Grade und erregte sie beinahe. Als aber nun Ruth ins Zimmer trat, war sie enttäuscht.

Sie hatte unwillkürlich etwas Auffallendes erwartet.

Vielleicht einen wilden, interessanten Jungen in Mädchenkostüm, vielleicht auch umgekehrt ein rührendes, liebliches Kind, das sich schüchtern zurückzog, – jedenfalls etwas ganz Eigenartiges. Nicht ein blasses, wohlerzogenes Ding, das sich für Warwaras im Salon geübten Blick von andern so jungen Mädchen durch nichts unterschied, als höchstens durch das gradezu Abgeschliffene, Formsichere und Unbefangene ihres Wesens einer Fremden gegenüber.

Nicht minder schnell war Ruth mit Warwara fertig: sie nahm diese ganz als eine von vielen und gab auch sich selbst so wie eine unter den vielen, woraus die Gesellschaft besteht.

Warwara zog sie ein wenig ins Gespräch und fragte, wo sie erzogen worden sei.

»Ich war an verschiedenen Orten,« sagte Ruth, »aber erzogen bin ich noch nicht.«

Man wußte nicht, war es bescheiden, oder übermütig gemeint?

»Wenn die nicht durchtrieben ist?« dachte Warwara bei sich und musterte sie schärfer.

Bald trat Erik dazu und brachte eine heitere Unterhaltung in Gang. Warwara erzählte vom Rückgang einer Verlobung, deren Anzeige erst vor kurzem eingetroffen war. Ein sensationeller Rückgang, denn die Braut hatte sich während der kurzen Verlobungszeit ganz eilig in einen andern verliebt.

Erik, der es nicht über sich vermochte, die humoristische Seite dieser Tatsache unbeachtet zu lassen, lachte laut.

Warwara sah sich nach Ruth um. Diese war hinausgegangen.

»Zufällig? oder ein Kunstgriff, um bei diesem Gespräch nicht hinausgeschickt zu werden?« fragte sie sich, »oder ist sie wirklich so kindlich, daß sie das gar nicht interessiert?«

Nachdem Erik über den betrübten Mienen der beiden Frauen wieder ernst geworden war, sagte er: »Ja, die armen Frauen! Wenn sie sich binden, haben sie allen Grund zu beten: Lieber Gott, hilf, daß ich eine gute Frau werde. Denn ihr einziger Schutz gegen sich selbst liegt in der Tat im rein gefühlsmäßigen Fortdauern ihrer Liebe, – in der eigentlichen Gefühlstreue. Sie können natürlich auch aus Pflichtstrenge festhalten, aber das ist dann ein verkümmertes Leben.«

»Sie meinen, der Mann bedürfe keines solchen Gebetes,« bemerkte Warwara, ohne ihre Ironie zu verbergen.

Er sah sie ganz unbefangen an. »Nein,« sagte er, »ich glaube, der Mann ist in diesem Punkt, wie in so vielen andern auch, durch seine Natur besser geschützt. Nicht gegen die Untreue der Sinne. Nicht gegen den Wechsel des Liebesgefühls. Aber gegen das bewußte innere Loslassen desjenigen Wesens, an das er sich gebunden, – nein: das er an sich gebunden hat. Das ist's!«

»Das ist originell. Sie vindizieren da dem Manne eine Kraft des Pflichtbewußtseins, einen Edelmut des Mitleids, den wir, – die Frauen, – nicht –«

»Ach nein, empören Sie sich nur nicht. Kein Pflichtbewußtsein, nur ein Glücksbewußtsein mehr, als ihr es habt. Keinen mitleidigen Edelmut, nur einen begehrlichen Hochmut, den ihr nicht besitzt. Der Mann, der für immer ein Weib an sich und auf sich nimmt, genießt neben dem Liebesglück noch ein andres, spezifisch männliches Glück: er legt seine Hand bewußt auf dies ganze ihm zugehörige Dasein und sagt dazu: ›Mein‹. Ihm bedeutet sein Glück durch das Weib dreierlei: lieben mögen, – verantworten wollen, – herrschen dürfen.«

Warwara schüttelte sich.

»Gott erhalte Ihnen Ihre Arroganz!« sagte sie, »mir jedoch ist wahrlich die Vorstellung lieber, wonach die Frau des Mannes Königin ist.«

»Sie sehen, – – ich sage noch mehr: sein Königreich,« versetzte er lächelnd, »daher gibt sie ihn eher preis, als er sie. Für sie gibt es eben ihm gegenüber Aufstand, Empörung, Revolution, – was alles ganz heroisch aussehen und sehr verführerisch wirken kann. Für den Mann hingegen wäre das untreue Preisgeben seines eigensten Reiches etwas, was ihm wider die Scham ginge.«

Warwara lachte ihm ins Gesicht.

»Und das sind Sie, der für alle möglichen modernen Entwicklungskämpfe, und auch für die der Frauen so gern eintritt,« rief sie, »es ist eine schauderhafte Inkonsequenz, und ein Selbstbetrug obendrein! Denn wenn Sie nun in eine solche entwickelte Zukunftsfrau verliebten, die nicht mehr so mittelalterlich denkt, und Sie sie nicht unterkriegten?«

»Das würd' ich doch!« sagte Erik. »Sonst würd' ich mich vielleicht für sie begeistern, sie bewundern, fördern, als meinen Kampfgenossen achten, – aber lieben, – wie sollt' ich das? So wenig, wie wenn ich ein Weib, oder sie ein geschlechtsloses Wesen wäre. Ich kann mir vorstellen, daß der Mann jede Herrschsucht vollständig ablegt um einer Sache willen, die er über sich stellt. In der Liebe – nie! Und ein Weib, das diesem Instinkt nicht entgegenkommt – wirkt nicht als Weib.«

»Und dieser Widerspruch sollte in der Natur selbst liegen? Nein, nur in eurem jahrhundertlang großgenährten Dünkel,« versetzte Warwara entrüstet und wandte sich zu Klare-Bel: »Was sagen Sie nur zu einem solchen Mann? Wir sollten uns für alle Zukunft unter den Mann stellen, wenn wir lieben?«

Klare-Bel antwortete etwas unsicher: »Ich glaube, das tun wir, nicht weil wir unter ihm stehn, sondern weil wir glücklich sein wollen.«

Alle drei fingen an zu lachen. Warwara erhob sich, um nach Hause zu fahren.

»Nun sollt' ich hier von eigentlich genug haben,« bemerkte sie gut gelaunt zu Erik, »aber von meiner kleinen Nichte in der Mädchenschule erfuhr ich, daß Sie diesmal beim feierlichen Schulschluß die übliche große Rede halten werden. Da komm' ich hin. Damit Sie doch wissen: Eine sitzt da und verspottet Sie. Und hübsch klingen wird es sicher. Ich habe nämlich schon immer Ihre Toaste in Gesellschaften so gern gehabt.«

Erik mußte lachen.

»Sie sollten mich nicht so gewaltsam daran erinnern, daß unsre schönsten Reden für Toaste genommen werden,« versetzte er, »und daß fast die einzigen aufmerksamen Zuhörer, die wir außer den Schulkindern auftreiben können, die gelangweilten schönen Frauen unsrer oberflächlichen Gesellschaft sind.

»Liebste, jetzt sind Sie Zeugin, daß ich mich zu rächen habe,« sagte Warwara gekränkt zu Klare-Bel, »ich möchte nur wissen, ob's ihm nicht weh täte, wenn die schönen Frauen alle wegblieben. Ich glaube, dann würde dieser Barbar Sie auf den Rücken nehmen und zur Zuhörerschaft unter seine Schulkinder setzen, die ihn alle fürchten wie das Feuer.«

»Das wird wohl nie geschehen,« meinte Klare-Bel etwas betrübt.

»Doch doch! Kein Mensch kann in die Zukunft sehen. Wir werden jetzt auf Grund einer Konsultation mit dem Professor eine Behandlung meiner Frau durchführen, die Wunder verspricht,« sagte Erik zu Warwara und geleitete sie an ihren Wagen.

*

Jonas war später nach Hause gekommen als Erik mit Ruth und kam seltsamerweise erst zum Vorschein, als der Besuch fortgefahren war und man sich schon zu Tisch setzte.

Die Zwischenzeit hatte er im hintersten Winkel des Gartens unter den tropfenden Bäumen verbracht im Kampf mit einem großen Entschluß. Seine Ringelnatter war mit ihm, sie hing ihm melancholisch um den Hals, als wisse sie schon, daß ihr etwas sehr Unangenehmes bevorstehe. Noch einmal hatte er sie liebkosend in die Arme genommen, sie gestreichelt und zärtlich an sich gedrückt, noch einmal in ihrem kostbaren Besitze geschwelgt. Dann hatte er sie totgeschlagen.

Um es zu tun, mußte er sich Mut einsprechen und sein Herz verhärten. Er mußte sich vorstellen, daß er wie ein neuer Herkules sei, der die Hesione von einem Meerungeheuer erlöst, oder noch lieber wie Perseus, der sich seine Andromeda erobert. Aber diese Vorstellung verfing nicht recht. Seine arme Ringelnatter sah gar nicht aus wie ein Meerungeheuer, Ruth verkannte sie nur. Das Tier blickte ihn mit den schwarzen Äuglein so beweglich an, und er hatte es so lieb.

Da ging ihm tröstend ein altes Märchen durch den Sinn, von einer Schlange mit einem Goldkrönlein auf dem Kopf; wer die totschlug, dem verwandelte sie sich in eine liebreizende Prinzessin. Er wußte nicht mehr, ob sich's genau so verhielt, aber es gefiel ihm. Und seine Prinzessin saß und wartete gewiß schon darauf.

Nach dem Jonas den Mord vollbracht hatte, wandte er sich mit rotem Gesicht ins Haus. Es war ein ganz ungeheueres Opfer, fand er, das sie da beide Ruth gebracht hatten, er und die Ringelnatter. Denn die Schlange blieb nun tot, und er hatte sich über sie fast ebenso gefreut wie über ein Reitpferd.

Und nun sprach Ruth bei Tisch immer von den albernen Schulmädchen, die er nicht leiden konnte. Es ärgerte ihn, daß sie heute in die Freistunde gelaufen war, denn bisher besaß sie an ihm ihren einzigen Spielgefährten, und in diesem Punkte verstand Jonas keinen Spaß.

Noch saßen sie beim Mittag, als ein Eilbote kam und für Erik ein Telegramm überbrachte.

Dieser erbrach es und überflog den Inhalt, dann schob er seinen Teller zurück und trat mit dem Papier ans Fenster. Man sah ihm an, daß es eine freudige und ihn bewegende Nachricht war, die er erhalten hatte.

»Fast ein ganzer Brief! An der Grenze aufgegeben,« sagte er, »denke dir, Bel, mein alter Freund Bernhard Römer ist hierher unterwegs. Siebzehn Jahre haben wir uns nicht gesehen. Oder noch länger? Damals waren wir beide noch Studenten! Erinnerst du dich seiner noch?«

»O ja, Erik! Wie sollt' ich den vergessen! Denn mit ihm war es ja, daß du immer noch so große Zukunftspläne machtest. Ihr wolltet alles am liebsten auf den Kopf stellen. Ja, so jung wart ihr damals. Was ist denn Römer eigentlich geworden?«

»Er ist Professor der Medizin an der Heidelberger Universität. Schrieb mir noch manchmal in frühern Jahren.«

Ruth hatte aufgehört zu essen und sah mit großen Augen zu Erik hinüber. Bei dem Wechsel in seinem Mienenspiel und bei Klare-Bels Worten war es Ruth, als stiege plötzlich eine ganz fremde und ferne Vergangenheit zwischen ihnen auf. Eine Vergangenheit, wobei sie nicht zugegen gewesen war. Überhaupt noch nicht auf der Welt! Er schien ihr ganz unmöglich.

»Wird er hier herauskommen?« fragte sie leise.

»Das wird er leider nicht. Er reist nur durch. Sein Ziel ist Moskau. Dort ist irgend eine Ärzteversammlung. Morgen früh am Bahnhof werd ich Näheres erfahren. Ob er seine Frau wohl mitgebracht hat?«

»Zu einer Ärzteversammlung?« bezweifelte Klare-Bel.

»Warum nicht? Ich glaube, sie sind in ihrem geistigen Leben eng verwachsen. Römer heiratete sehr jung, die Frau machte seine ganze Sturm- und Drangperiode noch mit durch. Das gab ihrer ganzen Ehe den Charakter.«

»Haben Sie keine Kinder?« fragte Klare-Bel, die dieser Punkt besonders zu interessieren pflegte.

»Ich glaube nicht.«

»Keiner Kinder!« wiederholte Klare-Bel im Tone des Bedauerns. Nichts war ihr an ihrem Leiden so hart erschienen, wie der Umstand, daß sie nicht wieder Mutter werden konnte. »Das ist doch eine traurige Ehe, so zu zweien.«

»Soviel ich mich erinnere, haben sie nicht immer zu zweien gelebt. Sie haben wiederholt junge Mädchen, die an der Universität studierten, bei sich aufgenommen.«

»An der Universität studierten? Können junge Mädchen das dort?« erkundigte sich Ruth erstaunt.

Erik blickte sie mit einem Lächeln an.

»Jawohl. Solche junge Mädchen wie du,« sagte er; »es steht dem ja nichts im Wege, daß du eins der nächsten Hauskinder bei Römers wirst. Hast du Lust dazu?«

Er sagte es scherzend, aber der Blick, womit sie ihm antwortete, war so ernst, daß er ihm im Gedächtnis blieb.

Erik setzte sich an den Tisch zurück und plauderte mit seiner Frau von alten Zeiten. Jonas fand, nun könnte Ruth mit ihm hinausgehn, aber sie blieb sitzen und hörte zu.

Draußen hatte es angefangen, stärker zu regnen. Jonas lehnte in der Haustür an der Terrasse und schaute prüfend hinaus. Als Ruth endlich vom Mittagstisch aufstand und in den Flur trat, bemerkte er: »Wenn wir doch wenigstens bei Regenwetter ›Mann und Frau‹ spielen wollten. Das paßt so gut fürs Haus. Denn wenn die Sonne scheint, tust du's doch nicht. Und dann ist es auch etwas, was du bei deinen albernen Mädchen nun einmal nicht haben kannst.«

»O doch!« versicherte Ruth und schwang sich auf das Geländer der schmalen Holztreppe, die nach ihrem Giebelstübchen hinaufführte, »das haben wir im Schulhof oft genug miteinander gespielt.«

»Das muß aber eine schöne Wirtschaft gewesen sein ohne einen wirklichen Jungen!« meinte Jonas verächtlich. »Und ich möchte doch so viel lieber dein Mann sein als der Mann in all den Räubergeschichten, wobei ich mich immer so anstrengen muß.«

»Aber ich möchte nicht deine Frau sein,« sagte sie kaltherzig und saß und schlenkerte mit den Füßen, »und dann wäre das auch noch viel anstrengender für dich. Sei doch froh, daß du jedesmal bei allem die Hauptperson und der Held bist.«

»Nein, das bist du eben immer!« warf er ihr mißmutig vor.

»Nein, Jonas, das ist bestimmt nicht wahr. Du bist es ganz allein. Warst du nicht erst gestern der Egmont? Und neulich –«

»Ja, im Anfang!« unterbrach er sie gereizt, »aber wenn du mir alles immer erst vorsagst und womöglich auch noch vormachst, dann bin ich es ja gar nicht in Wirklichkeit, sondern nur du.«

»Ich kann doch nichts dafür, wenn du dumm bist.«

Jonas schwieg gekränkt. Wenn sie wüßte, wem sie das sagte; – wenn sie wüßte, daß er freiwillig darauf verzichtet hatte, ihr seine Überlegenheit zu zeigen, sie in Furcht zu versetzen, sie zum Bitten und Schmeicheln zu bewegen! Denn hätten sie »Schlangenbändiger« gespielt, da wär er doch wohl der Herr gewesen. Und sie war so dumm, ihm zu glauben, die Schlange sei wirklich entschlüpft.

Jonas brannte die Zunge, Ruth von seinem Opfer zu erzählen. Aber er fand, das verbiete ihm sein Mannesstolz. Lieber noch wollte er sich die Zunge abbeißen, wenn die Schwatzlust zu groß wurde.

»War ich Egmont, so hättest du mein Klärchen sein müssen,« sagte er; »warst du's etwa?«

»Nein, natürlich nicht. Dazu kam ich ja gar nicht. Denn allein hättest du ihn doch nie herausgebracht. Und er ist doch das Wichtigste, wie du dir denken kannst. Das Klärchen kann man streichen.«

»Ich habe aber keine Lust, mich zu deinem Hampelmann herzugeben! Sei meine Frau!« schrie er ärgerlich und stampfte mit dem Fuß auf.

Ruth war vom Geländer herabgeglitten. Sie stellte sich an das niedrige Flurfenster, an dem der Regen herunterrieselte, und drückte ihr Gesicht platt gegen die Scheibe, so daß es sich satyrhaft verzog. Wenn Jonas wütend wurde, dann überschlug sich jedesmal seine Stimme: sie schwankte immer zwischen zu hoch und zu tief. Das brachte Ruth immer zum Lachen.

Da riß Jonas seine Mütze vom Mantelständer und stürzte hinaus.

»Lauf nur zu deinen albernen Mädchen!« rief er grimmig, »ich bin ein Junge!«

Am Ende war Ruth gar nicht das Ideal einer Frau, wie er sie brauchte. Andromeda hatte sich bereit erklärt, ihrem Erretter als Sklavin durch alle Länder zu folgen. Ruth würde so etwas nie tun, es würde ihr gar nicht einfallen, – davon war er fest überzeugt.

Von der Terrasse aus steckte Jonas seinen Kopf durch das offne Fenster des Wohnzimmers und fragte, ob er noch bis zum Abendtee einen Kameraden aufsuchen dürfe.

Klare-Bel, die neben dem abgeräumten Tisch lag und in van Lenneps Novellen las, blickte bei seinen Worten auf.

»Es ist nur gut, daß er noch an so was denkt,« bemerkte sie, als sein Kopf vom Fenster verschwunden war, »denn jetzt denkt er Tag und Nacht nur noch an das Mädchen, Erik.«

»Strohfeuer!« versetzte dieser.

Er stand und schaute verträumt hin aus. Seine Gedanken weilten noch in der Vergangenheit. Seine Frau nahm den morgenden Tag nur als eine willkommne Zerstreuung und freute sich darüber für ihn. Ihm war es mehr als das.

»Findest du, es schadet nichts?« fragte Klare-Bel besorgt. »Aber du meintest doch selbst, Jonas sei beim Lernen flüchtig und zerstreut geworden.«

»Das ist er wohl ein wenig. Aber was ihm dadurch vielleicht an Schulweisheit abgeht, erhält er tausendfach wieder in glücklicher Anregung, die seine geistigen Kräfte belebt und aufschüttelt. Das ersetzt ihm keine Schule.«

»Er ist freilich noch wie ein Kind. Aber Jonas ist anhänglich. Wenn er nun sein Herz so ganz an sie hängt –?«

»Dann laß ihm die Erinnerung, Ruth begegnet zu sein. Er kann es an nichts Besseres hängen, Bel.«

Sie schwieg darauf. Das holländische Novellenbuch entglitt ihren Händen. Sie faltete sie im Schoß.

»Wie hoch er sie stellt!« dachte sie im geheimen erschrocken.

*

Es war ein stiller Tag, der nächste. Weil Erik nicht nach Hause kam. Wie ausgestorben schien das Haus, weil man dort seinen Schritt und seine Stimme nicht hörte.

Er würde wohl erst mit dem letzten Nachtzug heimkommen, meinte Bel. Nachts ließe er sie gewiß nicht gern auf dem Lande allein.

Jonas schlich übler Laune im Hause umher. Nach dem gestrigen Streit fühlte er einen heftigen Drang nach einer ausgiebigen Versöhnung nebst darauf folgendem ›unzertrennlichem‹ Beisammensein. Aber dafür war Ruth heute nicht zu haben. Den Streit hatte sie rein vergessen. Und auf alle seine Vorschläge, etwas Gemeinsames zu unternehmen, entgegnete sie nur ihr wohlbekanntes stereotypes: »Ich muß nachdenken.«

Und Jonas wußte schon, daß sie dann für ihn so gut wie verloren war.

Ruth dachte immer fort, unablässig über ein und dasselbe nach. Sie folgte in Gedanken Erik in die Stadt, an den Eisenbahnzug, der ihm den Freund bringen mußte, und versuchte, sich in das Wiedersehen hineinzuversetzen.

Als ihm Klare-Bel am Morgen beim Weggehn zurief: »Adieu, Erik, amüsiere dich gut!« da hatte Ruth beinahe betroffen aufgeblickt. Es kam ihr vor, als habe Erik etwas so Ernstes und Herzbewegendes vor. Selbst sein Gesicht schien ihr seit gestern verändert. Unter allem, hinter allem, was er in gewohnter Weise sprach oder tat, fühlte Ruth es heraus, daß eine ganze Welt von aufgestörten Erinnerungen unaufhörlich in ihm raunte und redete. Keine Erinnerungen aber, die amüsieren, – sondern solche, die gewaltsam zurückzerren in eine Vergangenheit, von der die Gegenwart verdunkelt wird.

Auf dem Garten lag heute freundlicher Sonnenschein. Klare-Bels Stuhl war auf die Terrasse geschoben worden, unten konnte sie nicht bleiben, weil Erik fehlte, um sie wieder hinaufzutragen. Ein warmer Sommerduft stieg von draußen auf; Flieder und Goldregen waren am Verblühen, und auf den Beeten öffneten sich die roten Rosen. Baumwipfel und Büsche drängten sich jetzt so dicht ineinander, daß es fast schon zu viel Laub und Schatten ums Haus gab. Der Sommer barg es ganz in seinem warmen Dunkel, und von der Straße gesehen nahm sich der Garten jetzt aus wie ein großer grüner Farbenklecks.

Als auf der Terrasse der Abendtee getrunken wurde, fiel es Klare-Bel doch auf, daß Ruth wie geistesabwesend dabei saß.

»Es ist fast, als könnte sie's gar nicht mehr ertragen, daß sich Erik mit andern Menschen beschäftigt als mit ihr; am liebsten würde sie ihm keine Zerstreuung mehr gönnen, diese arge kleine Egoistin,« dachte sie und fragte laut: »Aber Kind, fehlt dir etwas? was machst du nur für wunderliche Augen? Ich glaube gar, am liebsten wärst du dort zusammen mit Erik?« Ruth fing mit feinem Ohr den nicht ganz liebreichen Ton auf und sah sie schüchtern an.

»Ich versuche es, dort zu sein!« sagte sie zum unaussprechlichen Erstaunen Klare-Bels.

Diese zog sich bald nach dem Abendtee in ihr kleines Gemach zurück, um sich zeitig zur Ruhe zu begeben, denn sie fühlte sich ein wenig leidend. Vielleicht griff sie die neue Behandlung an, die Erik seit kurzem mit ihr vornahm und die eine Reihe von Monaten hindurch fortgesetzt werden sollte. Er fing wirklich schon an, wieder neue Hoffnung zu schöpfen.

Gonne entfernte sich, nachdem sie ihre Frau sorgsam gebettet hatte, und Klare-Bel lag in ihrem stillen Zimmer allein, umgeben von all den zierlichen und saubern Sächelchen, die sie bei sich aufzustellen liebte.

Sie lag und lächelte über sich selbst. War es nicht seit kurzem, als ob auch sie ganz leise – leise, heimlich die neue Hoffnung hätschele? Ein klein wenig nur. Die Hoffnung, doch noch einmal wieder gesund zu werden, Erik entgegengehn zu können auf zwei gesunden Füßen.

Es war ja gewiß nichts damit. Ein bloßer Wahn. Aber wenn er trog, dann würde Erik sie schon darüber hinwegtragen, wie über die vielen, vielen frühern Enttäuschungen. Denn das hatte er getan, – nicht grade mit übermäßigem Bemitleiden und Schonen, aber mit seiner unaufhörlichen Gegenwart, mit seiner beständigen energischen Einwirkung auf sie. Und manchmal, da überkam sie ganz deutlich das Gefühl: es war gut so, denn er brauchte das; nur in diesem Bemühen überwand er seine eignen Enttäuschungen. Seine starke Beeinflussung andrer schien es zu sein, wodurch er immer wieder selbst zur alten Sicherheit zurückkehrte. So oft hatte sie es im täglichen Leben unter den Menschen seiner frühern Umgebung mit Verwunderung beobachtet, wie belebend es auf ihn wirkte, daß sie von ihm Kraft und Belebung erwarteten. Das Alleinsein vertrug Erik wirklich schlecht.

Die Zeit rückte vor, und immer noch lag Klare-Bel wach und träumte mit offnen Augen. Durch das geöffnete Fenster strich weich und feucht die Luft, ganze Schwärme von kleinen Mücken mit sich tragend; in der Ferne verklang leise das Lied der letzten Landarbeiter, die von nächtlicher Arbeit heimkehrten. Mit hellen Sonnenaugen schaute die Nacht ins Zimmer herein.

Klare-Bel kamen ketzerische und sogar übermütige Gedanken, so daß sie über sich selbst erstaunen mußte. »Wer ist nun stark,« dachte sie, »wenn der Starke wieder der Schwachen bedarf?« Sie war sicherlich ein schwaches Wesen, froh, wenn Erik sie bei der Hand nehmen und führen wollte. Er aber, brauchte er denn nicht jemand um sich, den er führen konnte, um selber froh und des Weges sicher zu bleiben? Brauchte Erik sie also nicht, wie sie ihn?

Klare-Bel lächelte in der Einsamkeit der hellen Nacht, und inbrünstig streckte sich ihre Sehnsucht ihm entgegen.

*

Wie sie es vor ausgesehen hatte, machte sich Erik erst Stunden später auf den Heimweg. Er hatte mit vielen andern dem Freunde das Geleit bis zum Moskauer Bahnhof gegeben, und dann blieb man noch eine Weile zusammen, – ein ganzer Haufen von Menschen, von Fremden und Bekannten, mit denen der Abend in angeregter Geselligkeit verbracht wurde. Erik ließ sich nicht mehr die Zeit, zu Hause vorzufahren, um sich umzukleiden, er erreichte eben noch den letzten Nachtzug und fuhr aufs Land hinaus.

Der lange Gang von der Station aus tat ihm nach den verflossnen Stunden und Eindrücken wohl; die freie Nachtluft erfrischte ihn. Kein Lufthauch regte sich, am fast taglichten Himmel stand blaß und glanzlos der Vollmond, einzelne Wolken ballten sich aufeinander, und von Zeit zu Zeit sprühte ein feiner Regen nieder.

Als er am Hause ankam, das unter den regungslosen Bäumen in der Nacht helle dalag, wich die noch erregte Stimmung langsam dem Gefühl ruhiger Freude, wieder daheim und bei den Seinen zu sein. Bei den Seinen! Auch Ruth gehörte jetzt dazu. Gehörte ihm zu.

Er stieg leise die Stufen zur Terrasse hinauf und warf einen Blick auf die Giebelstube, wo sie jetzt schlief und träumte. Da, als er fast geräuschlos die Haustür aufgeschlossen hatte, knarrte die schmale Holztreppe, die vom Flur nach oben führte, unter einem leichten Fuß. Völlig angekleidet, nur das Haar ein wenig wirr um den Kopf, erschien Ruth auf dem untersten Treppenabsatz.

»Aber Ruth, was fällt dir ein? Wie konntest du aufbleiben? Schnell ins Bett!« sagte er.

Er schalt, doch klang es sehr herzlich. Empfand er doch ihr liebes Gesicht wie einen Willkommgruß.

»War's schön?« fragte sie entgegen und blickte ihn mit großen überwachen Augen an, »sollt' ich denn dabei schlafen? Nein, das konnt ich nicht! denn ich war auch da, – immer mit da. War's schön?«

Er faßte nach der sich ihm entgegenstreckenden Hand und hielt sie fest. Alle Eindrücke des Tages, alle Erinnerungen, die dadurch aufgewühlt worden waren, verflogen, er hatte den ganzen Menschenstrom hinter sich gelassen und war nur noch ganz allein mit ihr.

Was bedeutete ihm alle Anregung, ja was aller so ersehnte Beifall oder Erfolg, wonach er im Leben gegeizt und gerungen hatte, gegenüber dem zarten Lob, wie es aus Ruths kindlicher, gläubiger Hingebung an ihn redete? Wie schal und brutal erschien ihm daneben alles, was von einer Menge ausging und sich laut äußerte. Nur wessen Sinne zu stumpf geworden waren für so feinen Duft, der mochte nach schärfern Würzen suchen.

Dieser Gedanke flog Erik durch den Kopf, und darüber vergaß er zu antworten.

Er sah gut aus im Gesellschaftsanzug, den weiten Mantel lose umgeworfen, regenbesprüht, und darüber das belebte Gesicht. Wie sie so einander gegenüberstanden in der schweigenden Nacht, während die ganze Welt um sie her in Schlummer lag, erschienen sie beide wie gesättigt mit Leben, und etwas Verwandtes schien aus beider Ausdruck zu sprechen, – verwandt über Alter und Geschlecht hinaus, – ein Lebenverlangendes, Lebenforderndes. Es war dasselbe, was Erik so verwandt berührt und ergriffen hatte, als er Ruth im Schulhof zum erstenmal sah, mit dem Übermut in den Augen und den erhobenen Armen.

Sie standen und schwiegen, und um sie her träumte die magische Helle, in der Abend und Morgen unmerklich ineinanderschmolzen.

»Hätt' ich nicht fortgehen sollen, Ruth?« fragte er unwillkürlich und blickte sie mit einem Lächeln an.

»Doch! Aber mich mitnehmen!« entgegnete sie, und im Klang ihrer Stimme verriet sich die ganze Sehnsucht und Selbstentrückung, worin sie den Tag über umhergegangen war. Erik verstand sie nicht ganz, er nahm die nachträgliche Bitte kindischer und tatsächlicher, als sie Ruth meinte, aber Blick, Ton und Haltung drückten es so deutlich aus, daß sie sich in seiner Abwesenheit wie verloren gefühlt hatte, daß eine tiefe Rührung über ihn kam.

Ihm schien, Ruth sehe wie verzaubert aus, – anders, lieblicher als sonst.

Im Hause blieb es ganz still, und beide sprachen mit gesenkter Stimme. Nur durch die offen gebliebene Haustür zog es ganz leise wie ein geheimnisvolles Raunen und Rauschen, – ein Flüstern, das draußen durch das niedrige Gebüsch ging, – die erste Ankündigung des neuen Tages.

»Es ist Zeit!« sagte Erik aufschreckend, »lege dich schlafen. Gute Nacht! Guten Morgen, Liebling!«

Und mit einer raschen Bewegung zog er sie an sich – fest, so daß sie an seiner Brust lag, und küßte sie auf den Mund.

Als er sie ebenso rasch wieder los ließ, ergriff Ruth seine Hand und drückte ihre warmen Lippen darauf.

Dann flog sie geschwind die schmalen Stufen zu ihrer Giebelstube hinauf.

Erik öffnete die Mitteltür im Flur, die in das Zimmer von Jonas führte. Er mußte hindurchgehn, um sein dahinter gelegenes Schlafzimmer zu erreichen. Dabei wachte Jonas auf.

»Na, Papa, war's schön?« fragte auch der und drehte sich schlaftrunken auf die andre Seite; »hat es denn auch Champagner gegeben?«

Damit schlief er weiter.

Erik stieß ein Fenster auf und blickte in die lichte Ferne hinaus. Ein farbloses, blasses, gleichmäßiges Grau breitete sich in der Stube aus, und der dämmernde Morgen fing an, sie mit herber Kälte zu erfüllen.

Das leise Raunen und Rauschen schlich nicht mehr flüsternd am Boden hin, sondern hatte sich höher erhoben. Es bewegte die Zweige der wilden Akazien, die dicht vor dem Fenster standen, und schwoll dann machtvoll an, bis es in majestätischem Brausen die alten Wipfel durchklang, die noch kurz vorher lautlos gegen den hellen Nachthimmel gestarrt hatten.

Wie ein Morgenchoral klang es, und – ganz leise, – versuchend, wie im Halbschlafe noch, fiel hie und da ein kleiner froher Vogellaut ein. Und bald darauf, gleich einem Aufjauchzen, ein langgezogener unermüdlicher Buchfinkentriller.

Erik hatte sich zur Ruhe gelegt, aber mit wachen, lauschenden Sinnen nahm er das Nahen des Tages auf, und es kam ihm vor wie eine geeignete Begleitung zu seinen Gedanken, die noch an Ruth hingen. Denn auch über ihnen lag eine zarte und halb verhüllte Stimmung, eine Morgentraumstimmung, so schien ihm.

Noch nie hatte ihn die Empfindung so gepackt wie jetzt, daß sie ja unwiderruflich zueinander gehörten, daß sie im Grunde gleich geartet, gleichen Wesens seien. Und nun erst meinte er ihre Bitte zu verstehn: »Mich mit nehmen!« Was er war, das wollte auch sie sein, denn nur in ihm erfaßte und ahnte sie sich selbst. Der gleiche Lebensdrang schlummerte stark und freudig in ihnen beiden. Nur daß in ihr aus unbewußtem, unberührtem Naturgrunde hervorbrach, was in ihm bewußter Entschluß, Verstand und Wille gewesen war. Und daß in ihr noch mit reiner Flamme brannte, was in ihm die Berührung mit dem Leben schon mit Schlacken und Asche vermengt hatte.

Und über diesen unklaren Gedanken fing Erik an zu schwärmen.

Der erste Jubel der Vögel draußen legte sich, und der Morgenwind schwieg still. Wie der ragten die alten Bäume regungslos gegen den Himmel, durch dessen Blau zerrißne weiße Wolken schwammen. In einem breiten Goldstrom flutete das Sonnenlicht durch das Gemach.

Hinter Eriks geschlossnen Augenlidern malte es lächelnd rosige Farben. Im Sonnenschein war er eingeschlafen.

*

Er erwachte viel später als sonst und besann sich nicht gleich wieder auf den gestrigen Tag, noch auf die Nacht stunde. Irgend ein Traum, ein wunderbarer, von dessen Vorgängen er aber nichts mehr wußte, hielt ihn noch fest in Bann. Und offenbar aus diesem Traum heraus kam ihm zwingend die seltsame Frage: »Ist sie schön? Ich weiß es nicht, ich glaube eher: nein. Aber sie sieht aus wie – Ruth. Es ist ja Ruth.«

Und ihm schien, es könne nur eine solche geben.

Er fühlte eine Mischung von Glück und schmerzlicher Beklommenheit.

Und blitzähnlich wurde er vollständig wach. Wie ein Schicksal, groß und schwer, stand vor ihm die Erkenntnis seiner Liebe.

Noch nie hatte er über sein Gefühl für Ruth nachgedacht. Vielleicht weil es überhaupt seiner Natur wenig entsprach, über sich nachzudenken. Vielleicht aber auch, weil dieses Gefühl einem leidenschaftlichen Interesse am Menschen, nicht am Weibe entsprungen war.

Plötzlich war das alles anders geworden.

*

Auf der Terrasse saßen sie schon lange und warteten am Frühstückstisch auf Erik, als er endlich zu ihnen hinaustrat. Klare-Bel bemerkte sofort etwas Verändertes, Verschlossenes in seinem Gesicht, und sie bewies es, indem sie keine Frage an ihn richtete und von Gleichgültigem zu reden begann.

Erik jedoch erzählte unaufgefordert manches von dem Zusammensein mit dem Freunde. Die Frau war wirklich auch dabei gewesen; sie war eine Deutschrussin und besaß Verwandte bei Moskau.

Sie hatte Erik außerordentlich gut gefallen. Heiter, gütig, praktisch, – ein kluger und reifer Mensch, sagte er von ihr.

Klare-Bel hörte nur mit halbem Ohre zu. Sie fühlte sich sonderbar beunruhigt und fand im stillen, daß Erik nach der gestrigen Zerstreuung reichlich überwacht und angegriffen aussähe.

Um so frischer und heller sah Ruth aus. »Wie angesteckt von der Morgensonne,« dachte Erik, während sie sein Seitenblick streifte. Dabei konnte er ihr ansehen, wie sie nur mit Mühe einen Witz darüber unterdrückte, daß er sich verschlafen habe. Sie hatte sich nicht verschlafen. Sie hatte den ganzen Frühmorgen im Garten umhergetollt.

Aus der gemeinsamen Arbeit wurde es nun diesmal nichts. Hastiger als sonst stand Erik auf, um zu gehn. Die Zeit drängte, und Jonas war schon fort.

Erik konnte es kaum erwarten, daß das Haus weit hinter ihm läge, und er wieder mit sich selbst allein bliebe. Aber dennoch war ihm weder zum Träumen noch zum Grübeln zumute. Nur nach einem verlangte es ihn dringend und ungeduldig, als hinge das Leben davon ab: voll und klar ins Auge zu fassen, was seit wenigen Stunden wie sein Schicksal vor ihm stand. Nur nach einem verlangte es ihn: davor still zu stehn und den Blick darauf ruhen zu lassen fest und forschend, wie auf einem fremden Antlitz.

Darüber entschwand alles andre, was ihn hätte beschäftigen und beunruhigen können, völlig aus seinem Gesichtsfeld. An allem, was bisher sein Schicksal ausgemacht und zwingend sein Leben bestimmt hatte, an allen innern und äußern Verhältnissen, in denen er lebte, sah er vorbei, – ganz grade, ganz unverwandt auf den einen Punkt, ohne nach rechts oder links zu schauen. Für etwas andres blieb kein Blick, kein Raum, es blieb nur eine dunkle, trotzige Nebenempfindung: über Hindernisse, und wären's auch Menschen, geht's hinweg.

*

Ehe sich Erik mit Klare-Bel verlobte, hatte sie ihm ein al eine Photographie geschenkt, worauf sie sich im Kreise ihrer ganzen Familie befand. Er steckte das Bild in einen Rahmen und legte zwischen Rahmen und Glas ein Blatt Papier, in dem er eine Bels Gestalt genau entsprechende Öffnung ausgeschnitten hatte: so war er mit ihr allein. Ihre Sippe deckte er zu, weil sie ihm nicht gefiel.

Erik war sich's nur halb bewußt, daß er es jetzt ebenso gewalttätig machte: mit seiner eignen Familie, mit den Menschen und Pflichten seiner täglichen Umgebung, ja mit der gesamten Welt, die er in seinen Gedanken auslöschte, bis nichts übrig blieb als eine unermeßliche leere Weite, eine Welteneinsamkeit, wo nur Ruths Bild vor ihm stand.

Sie und er, allein miteinander, und Auge in Auge.

Aber je länger er auf sie hinschaute, desto stiller wurde sein Blick. Was alle Hindernisse und Schranken in ihm wie außer ihm nicht an sein Bewußtsein heranbringen konnten, das ging von dem fröhlichen Kinderbilde selbst aus. Alles harte und leidenschaftliche Fordern in ihm wurde still.

Was liebte er denn an ihr, wenn nicht eben dieses Kindliche, worin geheimnisvoll und verheißungsvoll noch die ganze Fülle der Möglichkeiten ruhte, – dieses Keimende, Werdende, Zukünftige, was noch auf lange hinaus der schützenden Hülle bedurfte, – den zarten, bildsamen Stoff, wonach sich seine Hand nur des halb herrisch ausgestreckt hatte, weil sie allein ihm die edelste Form geben wollte?

Ihm fiel das Gleichnis vom Gärtner und seinem Bäumchen ein, das er Ruth einmal erzählt hatte. Es enthielt eine Wahrheit, es enthielt seine Liebe. Unsäglich liebte er in ihr seine Gärtnerkunst und seine Gärtnerhoffnungen.

Je länger sich aber Erik in das ihm vor schwebende Bild vertiefte, um so weniger klärte sich ihm sein eignes Gefühl. Er sprach nur noch mit geringer Ehrlichkeit zu sich selbst. Umwiderstehlich erhob sich aus dem leidenschaftlichen Begehren der Hang zu idealisieren. Allmählich büßten in seiner Phantasie er wie Ruth viel von ihrer Wirklichkeitsfarbe ein, und immer höher ging der Schwung der Gedanken.

Während Erik glaubte, es sei der Erzieher und Menschengestalter in ihm, der in reiner Hingebung an einem Frauenbildnis meißele und dichte, damit es einst Wirklichkeit werde, schwelgte und berauschte sich der Liebende an Ruths unähnlichem Idealporträt.

*

Ruth hatte inzwischen den Vormittag in einer Weise verbracht, die diesen hochfliegenden Vorstellungen nur wenig entsprach.

Anfangs überlegte sie ein Weilchen, ob sie die Absicht hege, ganz für sich allein fleißig zu sein. Nein, die hegte sie entschieden nicht. Am besten hätt' es ihr gepaßt, Jonas jetzt da zu haben, aber der saß in der Schule und lernte, der Ärmste. So entschloß sie sich denn, zu Gonne in die Küche hinunterzugehn. Denn lieber noch wollte sie mit den Händen tätig sein als mit den Gedanken, meinte sie, und sich irgend wie lebhaft betätigen mußte sie durchaus. War ihr doch froh, so vogelfroh, so gar nicht zum Stillsitzen und »Nachdenken«. Und dann war's auch ganz unterhaltend, mit Gonnes Eimern am Brunnen zu planschen.

Gonne konnte es glücklicherweise gut leiden, wenn ihr Ruth so ungebeten mitten in die Arbeit sprang. Da sie nichts von der landesüblichen Devotion besaß, so betrachtete sie es als eine Auszeichnung für Ruth, daß sie sich deren Hilfe gefallen ließ. Und Ruth nahm's auch nicht anders, und als entsprechenden Dank sang sie ihr mit ihrer ungeschulten weichen Stimme russische Volkslieder zur Arbeit, und Gonne hörte tiefernst zu.

Erik fand bei seiner Heimkehr Ruth mit auf geschürztem Rock und zurückgestreiften Ärmeln singend und seelenvergnügt am Brunnen. Bei diesem unerwarteten Anblick zerflatterte plötzlich das meiste von dem, was er sich zusammengesonnen und zurechtgelegt hatte; die von seiner Phantasie verklärte Gestalt, um derentwillen er die wirkliche Ruth am tiefsten zu lieben glaubte, war wie versunken. Eine stürmische Zärtlichkeit erfüllte ihn, ein heißes Verlangen, sie an sich zu ziehen, die schlanken wasserübersprühten Arme unter seiner Hand zu fühlen, die lachenden Lippen zu küssen und das stets verwirrte Haar und den feinen von der Sonne schwach gebräunten Hals.

Im Begriff an der Terrasse vorüber zum Brunnen zu gehn, machte Erik plötzlich halt, kehrte um und ging in sein Zimmer.

Dort lagen noch Ruths Hefte und Bücher, die am Morgen vergebens auf ihn gewartet hatte, unordentlich auf dem Schreibtisch umher. Erik setzte sich davor nieder und beugte den Kopf auf seine Hände. Das Blut hämmerte ihm in den Schläfen, und er drückte die Zähne gegeneinander. – – –

Mußte Ruth fort?

Er zwang sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Ihn überschlich eine Ermattung, eine bleischwere Müdigkeit, die alles klare Denken umschleierte.

Halb mechanisch blickte er über die Hefte ihn, die aufgeschlagen dalagen; ohne zu lesen, folgte er den einzelnen Buchstaben, als enthielten sie eine erlösende Antwort. Es war eine rasche, in den Grundstrichen harte Schrift, deren Züge alle fest zusammenhingen. Noch keine ausgeschriebenen Rundungen, aber auch kein überflüssiger Schnörkel.

Ihm fiel wie von ungefähr auf: in Ruths Handschrift lag im Grunde eine fremde Ruth. Nichts von ihrer Phantasie, – ihrem Überströmen. Etwas merkwürdig Logisches.

Seine Blicke und Gedanken blieben darauf haften.

Lag nicht vielleicht auch in ihr selbst noch eine ihm fremde Ruth? Die noch nicht erwacht war, die er noch nicht kannte?

Da lachten ihre Augen durch das Fenster. Ruths Kopf erschien zwischen den krausen Ranken und Blättern des wilden Hopfens, der am Fensterkreuz emporkletterte.

»Soll ich arbeiten?« fragte sie.

»Nein. Wir wollen auch Ferien machen. Wenigstens für heute,« sagte er und stand auf; »weißt du, was es in der Mädchenschule für eine Überraschung gab – in der letzten Stunde vor den Ferien? Sie erhoben sich alle und trugen feierlich eine Bitte vor. Was es war, ließ sich nicht leicht herausbringen. Sie wußten's selbst nicht genau. Sie wollten dasselbe, was du gewollt hast, sagten sie. Sie wüßten's nur nicht zu bewerkstelligen.«

Von Ruth kam nur ein Gelächter. Er hatte es schon in der Schule zu hören geglaubt. Ganz deutlich fühlte er aus dem unerwarteten »Massenerfolg« den übermütigen Einfluß einer einzelnen heraus. Aber grade dies hatte ihn heute aus seiner zerstreuten Gleichgültigkeit gerissen, ihn mit Wärme und Freude erfüllt. Aus dem Bilde der ganzen Klasse, aus der Gesamtphysiognomie all dieser braunen und blonden Mädchenköpfe schaute ihm, wie aus einem Vexierspiel, Ruths Gesicht entgegen: mit einem Schalkslächeln um den Mund, aber auch mit unbegrenzter Hingebung in den Augen. Ganz so, wie sie jetzt eben zwischen den Hopfenranken dastand.

»Aber nun wird Ernst damit gemacht,« bemerkte er und lehnte sich aus Fenster, »im Herbst, wenn alle wieder zusammenkommen. Vielleicht in Form von allgemeinen Kursen bei mir zu Hause. Vielleicht mit Beteiligung Erwachsener. Ich weiß noch nicht, wie.«

Sie sah ihn voll Interesse an.

»Das ist gut!« sagte sie eifrig und nickte, »je mehr, desto besser. Aber alle werden nicht kommen dürfen, und manche werden bald wieder fortbleiben. Daß die Braut da ist, nimmt vielen die Lust zu so etwas fort.«

»Die Braut?«

»Ja. Denn da denken sie nun, so schön könnten sie's jetzt bald alle kriegen. Und dann hat ja all das andre keinen rechten Zweck mehr, meinen sie. Denn sie finden: Braut sein, das sei doch das Allerhöchste. Darüber haben wir uns vorgestern im Schulhof unterhalten.«

Erik blickte auf sie.

»So? Und was hast denn du dazu gemeint? Hast du auch gefunden, daß es das Allerhöchste sei und daß dann all das andre keinen rechten Zweck mehr habe?«

»Ich? Das kann ich ja gar nicht wissen. Wie soll ich wissen, wie's dann ist? Aber ich brauch' es doch auch gar nicht zu wissen. Denn ich kann niemals Braut werden,« sagte Ruth.

Das Wort erschütterte ihn in seiner nervösen Erregung. Er war so betroffen, daß er nicht gleich antworten konnte. Dann entgegnete er: »Wie kommst du auf diesen wunderlichen Gedanken? Wo hast du diesen Einfall her? Du bist ein Kind, das nichts davon voraussehen kann, wie sich sein zukünftiges Leben gestalten mag. Und deine Phantasie soll nicht damit spielen. Du sollst nicht damit spielen!« wiederholte er mit plötzlichem, unmotiviertem Zorn. »Sage mir, wie du darauf gekommen bist.«

»Es ist von selbst gekommen,« sagte sie einfach, »ich habe nicht damit gespielt. Es ist gekommen, weil ich wußte: um Braut zu werden, muß man einen lieb haben. Und das kann ich ja nicht mehr. So lieb kann ich in der ganzen Welt nie mehr jemand haben.«

»Wie lieb, Ruth?«

Seine Stimme klang gedämpft und heiser.

Sie sah ihn an mit ihrem offnen naiven Kinderblick. Noch nie meinte er eine solche Unschuld und Treuherzigkeit in einem Menschenblick gesehen zu haben.

»So lieb wie Sie,« sagte Ruth.

Erik machte eine kurze Bewegung und, niederblickend, schob er die Hopfenranken zur Seite, die sich überall festnestelten und anklebten. Die linke Hand, die in der Seitentasche seiner Joppe lag, ballte sich zur Faust.

Ruth betrachtete ihn unverwandt, aber sie verstand nicht den Ausdruck, der über sein Gesicht ging.

Da, als Erik fast furchtsam aufschaute und die fragenden Augen vor sich sah, durchzitterte es ihn. Ihm kam es vor, wie wenn dieser eine Blick und Augenblick über ihn entscheide.

Er beugte sich etwas vor, ergriff Ruths Hände und bedeckte damit seine Augen.

»Weißt du, Mädel,« sagte er halblaut, »wenn du groß bist, – denn jetzt bist du doch nur erst ein kleines Mädel, – aber wenn du längst eigne und reife Vorstellungen gewonnen hast über alle diese Dinge und viele andre noch, – dann – dann sollst du noch einmal zu mir kommen und mir sagen können: daß du mich lieb behalten hast. Und daß du von mir – von mir dein Bestes hast. Dein Eigenleben und deine Entwicklung. Deinen Glauben an deinen Selbstwert und den Glauben an den Wert der Menschen. Wer du dann bist, Ruth, das wissen wir beide nicht; wer ich dann bin, das weiß ich ja wohl: ein alter Mann. Aber ein alter Mann, der dafür gelebt hat, daß du, Mädel, ihm bleiben darfst, was du ihm heute bist: sein Stolz, sein Werk, sein Kind und seine höchste Hoffnung.«

Und er ließ ihre Hände los und verließ das Zimmer.

Ruth stand noch draußen am Fenster. Sie hatte die Arme aufgestützt und blickte ihm regungslos mit ernstem Gesichte nach.

*

An einem der nächsten Tage um die Mittagsstunde füllte eine bunte Menschenmenge den großen Mädchenschulsaal. Eltern und Angehörige der Kinder, eine Flut von Neugierigen aus den obern Gesellschaftsschichten und viele, die Erik reden hören wollten, von dem die Mädchen zu Hause so viel erzählten.

Er stand auf der Tribüne im Hintergrunde des Saales und sprach zu ihnen und ihren Kindern; er erwähnte den Vorschlag, den ihm seine Klasse gemacht hatte, die Gemeinsamkeit des Lebens und Arbeitens über die Schule hinaus zu erstrecken, und knüpfte daran seinen Lieblingsgedanken von der Notwendigkeit einer reichern Weiterentwicklung für die Frau, als sie ihr die Gegenwart außerhalb der Schuljahre gewähre. Von der Möglichkeit, eine lebensvollere, geisteskräftigere Zukunft herauszuführen, sprach er ihnen, und von der Zukunft der Frau, die, erst geahnt und nur halb enthüllt, noch vor ihr liege, wovon sie aber Besitz ergreifen könne in allem, was ihr Wesen der innern Entfaltung und Vollendung näherbringe.

Und während er sprach, dachte er an Ruth, der er nicht erlaubt hatte, mitzukommen, denn im Grunde war sie es ja, von der er redete, zu der er redete. Sie war es ja, die in ihm die Lust wieder weckt hatte, zu den Menschen zu reden, und die Menschen für ihn suchte, wie man für einen Armen Brot sucht, damit er seinen Hunger stille. Und was er seinen Menschen gab, entnahm er ihr: denn das Höchste, was er von ihr erhoffte, das Schönste, was er sich in ihr träumte, legte er seinem Zukunftsbild unter, und dann erhob und verklärte er es zu allgemeinen Formen.

Es war, wie wenn er von den gebannten Menschenaugen eine überlebensgroße Gestalt aufrichtete, durch deren Größe die individuellen Züge unerkennbar wurden. Zu groß, sicherlich, für das wirkliche Leben, aber von einer Fülle und Wärme der Farben, die unwillkürlich mit fortriß und sich dem weiblichen Teil unter den Zuhörern gewaltig einprägte.

So stand denn Erik da und hielt eine Art von Selbstverteidigung seiner Liebe, und die tiefe Bewegung, die in ihm war, verlieh einem jeden seiner Worte eine eigentümliche Wucht.

Unter der Menge im Zuschauerraum befand sich auch Warwara, wie sie ihm vorhergesagt hatte. Sie blickte voll Interesse auf ihn. Ihr schien, als sähe sie vor ihren Augen entfesselt und entfaltet, was sie mit ihrem feinen Instinkt schon immer dunkel und undeutlich geahnt hatte, wenn sie mit Erik zusammen gewesen war: daß er Gewalt über Menschenseelen besaß, und daß er in Hunger und Sehnsucht nach ihnen lebte. Es war also das, was sie zu gleicher Zeit so seltsam an ihm anzog und von ihm abstieß, – das, was sie koketter erscheinen ließ, als sie war. Ihr fiel die Szene in seiner Stadtwohnung ein. Ja, ein Heiliger war Erik wohl sicher nicht. Aber selbst da hatte sie mit Schrecken empfunden, wie suchend und sehnend und ungeduldig er auf das Innerste ging. Auf das, worin sie ihn enttäuscht hätte. Und das ließ ihre Eitelkeit nicht zu.

Als sie damals von seiner Stadtwohnung nach Hause fuhr, hatte sich ihr fortwährend ein ganz abscheuliches Bild aufgedrängt. Sie konnte es nicht loswerden. Immer sah sie ein Weib vor sich, das falsche Brüste angelegt hat und sich deshalb vor der Berührung des Mannes, den ihre Gestalt fesselt, hüten muß. Hatte nicht ihre Koketterie ganz ähnliche Gründe? Sie fürchtete die geistige und seelische Entblößung Und die Arbeit an sich selbst.

Es war wirklich ein ganz abscheuliches Bild. Und zur größten Neugier ihrer Nachbarin errötete Warwara mitten im Vortrag.

Nach seinem Schluß trat Warwara im Treppenhause beiseite, um nicht in die hinausdrängende Menge zu geraten, dort bemerkte Erik sie und kam auf sie zu. Seine Augen leuchteten. Warwara war blaß.

»Nun?« fragte er lächelnd und ganz in seinem alten, leichten Ton ihr gegenüber, »fand der ›Toast‹ Gnade vor Ihren Augen? Vielleicht war es wirklich einer.«

»Wenn's einer war, so könnt' ich wohl auf die eifersüchtig – nein, aber neidisch sein, deren Wohl Sie da ausgebracht haben,« versetzte sie, ebenfalls in ihrem gewöhnlichen Scherzton, aber ihr Gesicht blieb ernst; »unser Wohl ist's nicht. Ich begreife jetzt, daß Sie anderswo hingehören wollen, als zu uns Gesellschaftsgelichter.«

»Aber Warwara Michailowna!« sagte er von ihrem Ausdruck frappiert, »warum nehmen Sie sich nicht aus?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Aus Selbsterkenntnis. Ich habe Sie heute verloren,« entgegnete sie und gab ihm die Hand, »also adieu, – nicht nur für heute. Ich verzichte auf Sie. Ich entlasse Sie. – Aber nun hören Sie: es ist doch der Schulrock, und nicht der Gesellschaftsrock, der Ihnen am besten steht.«

Erik sah ihr nach, wie sie langsam die breite Treppe hinunterstieg. Aber als sie seinen Augen entschwunden war, vergaß er auch schon wieder, was ihm durch den Scherz hindurch heute an ihrem Wesen so aufgefallen war.

Und sein Blick glitt von ihr fort über die andern hin, die ihr folgten, über jung und alt, und vertiefte sich in die Mienen der einzelnen mit dem Interesse, das der wechselnde Ausdruck in den verschiedenen Menschengesichtern stets in ihm hervorrief.

Ja, nun begannen die Ferien und die langen nicht enden wollenden Sonnentage. Da würden seine Gedanken erst recht hierher wandern in die Schule. Einen andern Wirkungskreis gab es wohl nie mehr für ihn – einen breitern. Er wollte auch keinen in diesem Augenblick. Sein Ehrgeiz schwieg still. Zu Kindern reden lernen wollte er, und die Großen zu Kindern machen, bis auch sie empfänglich würden, gleich denen, die da noch wachsen.

Mit diesen Gedanken verließ Erik das Schulgebäude.

Er war ungeduldig, heimzukommen: er sah eine Bank im Garten, hinten am kleinen Gehölz, unter den überhängenden Birkenzweigen, und Ruth saß darauf und lauschte, während er ihr von allem erzählte, was »er sich ausgedacht«. Zusammen wollten sie sich's ja ausdenken, hatte er ihr versprochen.

Daheim sein bedeutete jetzt nicht mehr bloß die Stille und das Behagen, aus denen seine unbefriedigte Tatkraft ruhelos und vergeblich in die Weite gestrebt hatte. Daheim umfing ihn grade seine liebste Arbeit und Aufgabe, – daheim fiel jetzt Innen und Außen, Ruhen und Wirken, Träumen und Schaffen in eins zusammen. In Ruth war etwas, das machte sein ganzes Wesen produktiv, erregte und vertiefte alle seine Kräfte, so daß leise von ihnen abglitt, was dem äußern Ehrgeiz angehörte.

Als Erik die Gartenpforte öffnete, sah er auf dem Rasen, zwischen den Bäumen, ums Gehölz herum eine wilde Jagd. Er sah Ruth, Jonas – und noch einen. Einen mittelgroßen, etwas untersetzten Mann mit kurzem dunkelm Vollbart und mit Brille. Der jagte sich mit Ruth und haschte vergeblich nach ihr. Seine Stimme klang scherzend und lachend herüber.

Er war Bernhard Römer.

Nun wurde er Eriks ansichtig und kam heran.

»Auf einen Tag und eine Nacht, wenn's recht ist!« rief er, ein wenig außer Atem, und fuhr sich mit dem Taschentuch über das kurzgeschorne dichte braune Haar; »– und die Ruth nehm ich gleich mit fort, – das heißt, wenn ich sie hasche. Dann soll ich sie kriegen, haben wir ausgemacht,« fügte er hinzu, während sie sich die Hände schüttelten, »das ist ja ein reizendes Ding. Sieht aber noch aus wie ein Kind. Vierzehnjährig.«

»Sie ist zart,« sagte Erik und stieg mit ihm die Terrasse hinauf.

»Zart? Muskulatur wie eine stählerne Feder. – Es ist ungerecht, daß du sie hast. Wir brauchen ein Hauskind. Ihr habt ja den Jungen.«

»Bist du schon so schnell zurückgereist? Und deine Frau? fragte Erik, ihn unter brechend, und bot ihm einen Stuhl neben Klare-Bel, die auf der Terrasse lag und lächelnd dem lustigen Treiben zugesehen hatte.

»Ich mußte zurück. Und meine Frau? Ja, die wollte noch nicht zurück. Die Frauen sind heutzutage entsetzlich selbständig. Sei froh, daß dir Bel nicht fortlaufen kann. – Meine Frau, die reist also herum und besichtigt Suppenanstalten.«

»Suppenanstalten?«

»Ja, ja. Und besucht auch noch den verrückten Grafen in Jasnaja Poljana. Für so etwas interessiert sie sich nun einmal. Von Rechts wegen sollte ich meine hochwohllöbliche Professur aufgeben und ein russischer Bauer werden, der das Feld pflügt. Aber ein so edler Mann und Ehemann bin ich nun doch nicht.«

»Ich finde: sehr,« bemerkte Klare-Bel, »da Sie Ihrer Frau alles das erlauben.«

»Erlauben?« Bernhard Römer lachte herzlich und setzte sich zu ihr. »Meine liebe gnädige Frau, ich will's Ihnen nur gestehn: ich habe gar nichts zu erlauben. Wissen Sie warum? Ich bewundre nämlich ein wenig meine unartige Frau. Bei uns zu Hause hat sie auch so etwas wie Suppenanstalten eingerichtet. Natürlich nur sehr im kleinen, – sagen wir lieber: im winzigen. – Aber nun will ich dir was sagen, mein lieber Erik: wir haben einst so im größten, im allergrößten, herrliche Pläne gemacht zur Vervollkommnung des Lebens und der Menschen, – aber meine Frau, die führt sie im winzig kleinen aus. Nur sie. Das ist die Art, wie sie sich meine Pläne zu Herzen genommen hat, nachdem ich wohlbestallter und – wohlbeengter Professor geworden bin. Daß sie nur so wenig kann, hält sie von nichts zurück. Das eben ist Frauenhand und Frauenarbeit – mutig. Wir sind Stümper dagegen.«

»Deine Frau ist sehr außergewöhnlich,« bemerkte Erik, »ich bin froh, sie kennen gelernt zu haben. Aber entbehrst du sie denn nicht jetzt zu sehr im Hause? Wie lange bleibt sie noch fort?«

»Bis zu den Ferien. Den deutschen Universitätsferien. Entbehren? Ja, – doch in der Arbeitszeit, da behelf' ich mich schon mit der Wirtschafterin und schlecht bereitetem Kaffee. Denke mir halt dabei: 's ist Arbeitszeit, Wochentag. Aber in den Ferien – – meinen Ferien, – da muß ich Sonntag haben. Da muß ich – muß ich meine Frau um mich haben.«

Klare-Bel sah ihn erfreut an. Sie freute sich über seine herzlichen Worte, freute sich, ihn wiederzusehen. Kaum konnte sie's glauben, daß er es selbst sei, der bartlose Jüngling mit dem braunen Lockenkopf, – sanfter als Erik, stiller, ein schwärmerischer Utopist mit einem kleinen Stich ins Phlegma und in den deutschen Michel.

Und während Erik ins Haus ging, vertieften sie sich von neuem in die alten Erinnerungen, wie sie's schon am Morgen miteinander getan hatten. Und beide wurden warm beim Heraufbeschwören der Jugend und empfanden beide mit uneingestandener Wehmut, daß die Jugend Vergangenheit sei.

Erik störte sie nicht. Er stand in seinem Zimmer. In erregter Stimmung.

Ruth mit Römer, – nicht mit ihm: er konnte den Gedanken nicht verscheuchen.

Des Freundes Leben daheim stand ihm klar vor Augen. Ein seltenes Heim, – das seltenste: eine voll glückliche Ehe. Neben dem Mann die gleichaltrige Frau, in der, wie ein Stückchen seiner Jugend, das nicht sterben wollte, die Frische weiterlebte, die ihn vor dem Vertrocknen in Professorenweisheit und zufriedener Sattheit bewahrte. Daher seine ewig frische Liebe zu ihr, daher für alles, was sie plante, das offne Herz und die offne Hand.

Dort würde Ruth haben, war ihr not tat: in körperlicher, geistiger, praktischer Beziehung. Und indem sie ihn verlor, eine mütterliche Freundin gewinnen, der er sie blind anvertrauen konnte.

Irgend etwas raunte Erik zu: »Gib sie hin. Dort wäre die selbstlosere Liebe. Schütze sie vor dir selbst.«

Seine Augen verfinsterten sich, und um seinen Mund erschien eine harte Linie.

Nun ja, er gestand sich's ein: daß er Ruth selbstlos dienen wollte, das war nur, um sie zu behalten. Er hatte außer ihr nichts zu verlieren, was ihn ganz erfüllte. Er kämpfte um das Schönste und um das Letzte, – das fühlte er. Und um das Höchste: um sich selbst.

Man sagt oft: erst der Zusammenbruch des ganzen persönlichen Glückes führe manchen zur wahren menschlichen Größe, lehre ihn erst, wahrhaftig tatkräftig den andern zu dienen, auf andre zu wirken.

Gewiß gab es solche milde Menschen in der Welt. Aber galt es von ihm? Konnte er je zu ihnen gehören? Laut schrie es in ihm: Nein! Nein!

Seine Kraft und sein Glücksverlangen wollten sich nicht trennen. Miteinander verwachsen waren sie von der Wurzel an. Glück brauchte er, um Mensch zu bleiben. Viel Glück, um gut zu bleiben. Er mußte es zu sich zwingen in irgend einer Form – und um jeden Preis.

Um jeden? Gab es nichts, was ihn veranlassen könnte, einst selbst die Axt an die Wurzel zu legen?

Bels Glück? Nein! Aber Ruths Glück.

Er versuchte, gewaltsam den Gedanken fortzustoßen. Er setzte sich an den Schreibtisch und versuchte, ein paar Aufzeichnungen auszuführen, die er sich unterwegs für seine Winterpläne gemacht hatte. Er versuchte, sich dabei die Mienen einzelner zu vergegenwärtigen, die er an der Treppe im Vorbeigehn studiert, und worin er den Ausdruck der Freude und der Anregung gelesen hatte.

Aber die Gedanken verschwammen, und die Gesichter verblaßten. Er sah nur noch ein Chaos fremder, gleichgültiger Physiognomien, – ohne Ausdruck, ohne Freude, ohne Blick.

Unschöne, woran sein Auge vorüberglitt, – hübsche, worauf es teilnahmslos haften blieb.


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