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Ein junges Wandern.

Im Jahre 1871 zog ein Realschüler von vierzehn Jahren mit einem leichten Felleisen auf dem Rücken und zehn Gulden im Sack aus auf seine erste Ferienreise, ganz allein, zu Fuß, selbständig. Welch ein Gefühl. Es war ein hübsches, ein wenig blasses und stilles Bürschlein, zu dem sein Vater sagte: Du kannst wandern, solange es reicht mit den zehn Gulden. Sind die Schuh' früher durch, kannst noch was zurückbringen. Schau dir die Heimat gut an, besuch in Wien die Verwandten. Benimm dich fein und vor allem spare und freu dich einmal, mein Bub, über dein schönes Österreich. Von Linz aus ging die Wanderung, die jeden feudalen Anstriches entbehrte, das muß man schon sagen. In den Knabenaugen war Seligkeit. Aber auch ein gewisser Ernst, dahinter irgend ein Grübeln. Es sind die Tage nach den großen deutschen Siegen über Frankreich gewesen, wo das Reich jauchzte und Österreich nach Königgrätz ganz darniederlag; das Wirtschaftsleben, die Armeeauflösung die erste Wendung zum Bösen nahmen. Ludwig Benedek, der Feldherr, des jungen Franz Krieg von Hochfelden Oheim, war geschlagen worden, er saß in Graz, ein Preisgegebener, Vielgeschmähter. Deutsche hatten gegen Deutsche gestanden im Bruderkriege. Auf ganz Österreich lag ein bleierner Druck; Schmerz und Zorn, Verzweiflung schrien auf gegen Kaiser und Feldherrn. Furchtbare Zeiten. Sogar hier im Donautal. Soviel Waisen, verlassene Häuser, zerstörte Familien. Soviel Not! Der kleine Krieg hatte dieser Knabenwanderung, der ersten seines Lebens, entgegengefiebert und sich auf sie monatelang sorgsam vorbereitet; denn es war ein gründlicher Junge, neben besten ausgeprägter mathematischer Begabung ein reger Sinn für Weltgeschichte lebendig war, vor Allem für die Historie seiner Heimat. Ihm erzählten die Ufer der Donau, erzählte der Strom, auf dessen Wellen die einfachen Schiffe leise dahinglitten. Es gab hier keinerlei Prunk, ein geringes Fremdenleben; es war nicht der gefeierte, ausgenutzte, festliche Rhein. Kein Becherklang, keine Vereine mit Gesang und Reden; ein schweigendes Land, ein stolzer Fluß, ein Stück Seele der Geschichte Österreich-Ungarns. Aus Bayern kam die Donau und hatte den Böhmerwald liegen gesehn, die Grenzen böhmischen Landes, des Schauplatzes jenes letzten, furchtbaren Krieges. Wie eine offene Wunde mußte es sein, dieses Böhmen. Er zitterte, wenn er daran dachte, und dachte doch immer daran. Es war das erste große und schreckliche Erleben seiner Kindheit, die schon in gedankenerfüllte Jugend hinüberglitt, dieser blutige Kampf Deutscher gegen Deutsche, zweier Bruderländer, dessen Opfer ein Mann geworden war, ihm über Alles teuer: Sein Oheim Ludwig Benedek, der Feldherr; der in Österreich am Höchsten gestiegene, nun am Tiefsten gefallene Mann, vor dem gestern noch alle knieten. Er hatte ihn gesehen auf der Höhe seines Glanzes, und dieser Eindruck der Macht eines schlicht gebliebenen, geraden soldatischen Menschen blieb ihm für das ganze Leben. Fürstenhuld, Beliebtheit im Volke, Vergötterung in der Armee hatten Benedek umgeben. Heute war er ein vollkommen Verlassener, von Allen Verratener. Die Unbestechlichkeit der Kinderseele empfand diese Tragik eines Schicksals, das der Vaterlandsgeschichte angehörte, in einer erschütternden Weise. Vor Allem das Preisgegeben-werden von den Verwandten, sobald sein Stern verblaßte. Auch das Herrscherhaus hatte ihn preisgegeben, das der fiebernden Masse die Worte hinwarf: Dieser Mann ist schuld an eurem verströmten Blute! Ja, die Verwandten; die waren die ersten Verräter geworden. Nach all den ihnen erwiesenen Wohltaten.

Der junge Schüler wußte es; seine Mutter, zu der er aufsah, sein strenger Vater dachten nicht wie die Übrigen. Das gab ihm einen Halt. Das trug ihn.

Er hatte Erlaubnis abwechselnd zu gehen und zu fahren. Er fuhr jedoch nur, wenn gutmütige Schiffer, denen der Junge gefiel, ihn umsonst mitnahmen. Das taten sie oft und speisten ihn auch aus ihrer Schüssel in gastfreundlich österreichischer Art, was er dankbar annahm; und die Kreuzer blieben im Sack. Seine feine Lebensart, seine klugen Augen machten den hübschen Knaben beliebt. Wenn sie so dahinglitten auf den Donauwellen, den Blick über die traumhaft stillen Ufer gerichtet, die stundenweit sind wie unberührtes Dornröschenland, dann hob der Scholar ein Erzählen an von des Landes Geschichte, und die Leute aus dem schwerarbeitenden Volk hörten ihm aufmerksam zu, denn der echte Österreicher liebt seine Heimat leidenschaftlich. Die Kastelle sind ihm vertraut, er hört gerne von ihnen berichten und merkt sich Berichtetes wohl. Es haftet. Wie ernst, wie ganz ohne Lebensleichtsinn war hier das Land, das Vielumstrittene, voll von Kriegsgeschichten, Religionskämpfen, unruhiger Herrn Aufbrausen, empörten Volkes Widerstand gegen Gewalt. Ins Nibelungenlied zurück gingen die Sagen. Heldennamen lebten im Liede. Es war schön, dieses Bodens Sohn zu sein. – Der junge Franz übernachtete nie in einer Schenke. Freundliche Menschen nahmen ihn auf, er schlief auf Heuböden, den glitzernden Sternenhimmel über sich, der mit Millionen Augen in das Knabengesicht blickte. Es war, als sehe die Seele der Schöpfung hinein in seinen Kindertraum und lächle mütterlich. – Die Nacht war schön, aber der Tag recht traurig. Auch hier der Heimstätten viele, in denen verstümmelte Invaliden saßen, in die Väter, Söhne, Gatten nicht mehr heimgekommen waren aus Benedeks schrecklichem Krieg. Taten solche tieftraurige Heime sich dem Wanderer auf, dann war es in ihm, aufzuschreien: Ich bin aus seinem Blut, den heute viele von Euch einen Mörder heißen. Aber es war seltsam, wie ihn die Invaliden niemals schmähten, den gefallenen Führer. Wie richtig das Volk im Ganzen urteilte. Er war das größte Opfer, kein Schuldiger.

In den Klöstern Niederösterreichs beschäftigten sich freundliche Mönche, an Wissen reich, mit ihrem jungen, bescheidenen Gast. Er kam nach Wien, hatte kaum etwas ausgegeben. So ist Österreich der Güte gegen echte Naturen voll.

In Wien aber, da war es dann nicht schön. Gar nicht. Dieses Wien nach dem Jahre 1866 hatte Untertöne, die merkt ein so unschuldiger, junger Mensch natürlich nicht. Die alte Kaiserstadt mit ihrem Leichtsinn der Schlaraffenseele, der anmutigen Schlamperei, dem Leben über die Verhältnisse, war ausgelassen, als sei der Heimat gar nichts geschehen. Als schwebe nicht schon in der Luft, unaufhaltsam herandämmernd, der Staatsbankerott von 1873, die Konvertierung, bei der dann viele Familien alles verloren. Als herrsche nicht in der Hofburg hinter den Intriguen des Adels eine Ratlosigkeit und Erbitterung, ein geheimer wütender Zorn über die deutschen Siege. Als gäbe es da nicht eine Fülle von Sympathien für ein Frankreich, das auf dem Boden lag. Wien lachte, schrie und machte Witze. Auch über sich selber, ganz gehörig. Aber etwas war neu. Wien haßte die Armee, mit der sie Götzendienst getrieben, beschimpfte auf der Gasse das Bunte Tuch, beschimpfte Verwundete und Invalide. Wien sang Spottlieder auf Königgrätz. Und der Kaiser hatte diese Armee, seinen Abgott aufgegeben. Scharenweise verließ sie der Adel, dessen Unbotmäßigkeit und privater Haß gegen einen bürgerlich protestantischen Führer die Katastrophen heraufbeschworen, dieser Adel, den das Volk den Schuldigen nannte. Eine grenzenlose Haltlosigkeit, hinter der die Verzweiflung schluchzte, das war die Note seiner Hauptstadt, Anfang der siebziger Jahre, vor dem Krach, als die Wogen des Lebensgenusses uferlos hoch gingen, die Menschheit da wieder einmal ganz tief stand, statt sich aufzuraffen.

Bei seinen vornehmen Verwandten in Wien, entfernten, höfisch veranlagten Verwandten, hat der junge Franz Krieg über Ludwig Benedek, den Feldzeugmeister, losziehen hören. Sie waren in diesem Kreise auf den Ton gestimmt, den die Hofgesellschaft ausgegeben. Der Schüler vernahm es mit Entsetzen. Sein Gesicht verhärtete sich, er wurde ganz blaß. Kurz darauf, als eine der Tanten eben an seine Mutter über ihn einen netten Brief schrieb, war er verschwunden. Ohne viel Abschied und Reverenz. Und nun kam's auf, warum er so furchtbar gespart, was er zuhause nicht gesagt hatte. Er wollte nach Graz, den Feldherrn wiedersehen. Dieser Gedanke beherrschte ihn vollkommen. Die Eltern glaubten ihn auf Streifzügen um Wien zu Freunden und alten Bekannten.

Er ließ sie dabei. Aber er wanderte den Semmering entlang hinab in steirisches Land, über Krieglach und Bruck durch prachtvolle Landschaft. Er sah diesmal wenig davon, war ganz benommen. In Graz kehrte er zum ersten Male ein auf der Lend in dem bescheidensten der Wirtshäuser, sehr vorsichtig, nur für ein paar Stunden. Er schlief wie tot, aß das Billigste, was er finden konnte und dann geschah es, daß er eine gründliche Säuberung und in Staatsetzung seiner Persönlichkeit vornahm. Er trat hinaus ins Straßenleben, ein feines Bürschchen, im besten Anzug, den er heimlich mitgenommen, und fand sich durch nach dem Villenviertel, wo vornehme Leute und hohe Pensionisten wohnten. Dort ging er hochklopfenden Herzens die Beethovenstraße lang, an dem Benedek'schen Garten hin, der tief gelegen, mit alten Bäumen und grünen Rasenflächen, träumte, in seiner Mitte ein weißes Haus.

Da spann unhörbar die größte Tragödie Österreichs. Da war das Schweigen besonders tief, wie ein Verstummen. Das halbe Kind empfand es und stand stille, zagend griff nach dem Gitter die Hand, es spähte hinein in diese Sommerwelt. Und sah tief drinnen, im Schatten niederhängender Zweige einen Lehnstuhl, in dem saß, über Karten gebeugt, ihren Linien mit dem Stifte folgend, ein Mann. Dem Knaben war's, als müsse er über das Gitter springen. Er begann zu rennen, das Pförtchen, ihm noch erinnerlich aus frohen Tagen, klinkte er auf: Drinnen war er!

Nun atmete er den Duft vieler Rosen, die um eine Steinfontäne blühten. Er sah kaum etwas, es trug ihn die Kieswege entlang, dem einen Ziel zu. Plötzlich lag er vor Ludwig Benedek auf den Knien und küßte dessen Hand. In seinen Augen brannte die Welt der ungeweinten Tränen, des rasendsten Mitempfindens, der Anbetung einer jungen Seele. Und der Mann, von unheilbarer Krankheit schon gezeichnet, niedergemäht von seines Fürstenhauses Faust, der Mann, der nach dem Feldzug das Wort gesprochen: Mein Name erlischt, ich habe keinen Sohn, Gott sei's gedankt! sah hier einen Sohn vor sich, mehr als nur des Blutes, des Herzens. Er liebte ihn von dieser Stunde an wie sein Kind.

Diese Erzählung hat sich tief in meine Innenwelt eingegraben. Grüßt mich das heimische Donauuferland, dann seh ich den stillen Knaben zielbewußt den Weg wandern, den er gehen mußte.



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