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Ein unbesonnenes junges Mädchen

Ich war voriges Jahr zu Gast auf einer Bühne – ich sage nicht, wo. Hielt Vorträge aus meinen Werken. Mit mir zugleich war eine sehr gescheite Frau da, berühmte Künstlerin.

Wir vertrugen uns aufs beste. Ich wußte, daß sie sich nichts aus Männer macht, wußte es von zehn Leuten, die es mir am ersten Tag beflissen zugetragen hatten. Desto netter, desto sachlicher diskutierten wir. Es ist also doch Freundschaft möglich zwischen Mann und Frau: eben unter diesen oder ähnlichen Voraussetzungen.

Einmal hatten wir einen spielfreien Abend – wir verbrachten ihn am Tisch eines Kunstfreundes. Ein reicher Tisch – es gab allerhand gute Dinge – Champagner, Liköre.

Der Hausherr stand im Berufsleben, muß morgen wie immer ins Büro – uns blieb nichts übrig, als aufzubrechen. Und es war erst Mitternacht ... Viel zu zeitig für uns zwei, die wir gewohnt waren, um diese Zeit auf der Höhe unsrer Laune und Phantasie zu stehen.

An mir war, die Diva heimzubringen. Kaum standen wir auf der Straße, da sagte sie (und ich hatte es gedacht): »Was fangen wir mit dem angebrochenen Abend an.«

Ich lächelte – vielleicht ein bißchen zynisch. Was sollt ich dieser, gerade dieser Frau vorschlagen?

Sie hatte schon die Antwort: »Wir plaudern.«

So setzten wir uns denn in die letzte Ecke einer zum Glück menschenleeren Bar und redeten. Und tranken Champagner – jene Marke, mit der wir heute abend begonnen hatten.

Wir tranken viel.

Und bei der dritten Flasche erzählte sie mir ein Erlebnis – eine Geschichte, so unwahrscheinlich, daß ich, der Dichter, nie wagte, dergleichen zu erfinden – eine Geschichte, die sie, meine Dame, sicherlich noch nie über die Lippen gebracht hatte und einmal beichten mußte, sonst wäre sie daran erstickt. Mir, dem Fremden, vertraute sie sich lieber und leichter an.

*

»Ich war,« erzählte sie, »nach zwei Jahren Bühnenlaufbahn den Sommer ohne Beschäftigung, ein junges Ding. Soll ich weit ausholen und gestehen, wie ich nach Gmunden geriet? – in das teuerste Hotel? Schön, auch das: mit jemand, der mich eingeladen hatte ... Dieser Jemand – sagen wir einfach: »die Person« spielte Poker; ganze Nächte; wahnsinnig. Und verlor. Und verschwand.

Wirklich spurlos. Ich kam eines Morgens an den Kaffeetisch – »die Person« war nicht da. Ich klopfte an die Zimmertür: geschlossen. Ich fragte den Portier: abgereist.

»Wird aber doch wohl wiederkommen?«

»Oh, natürlich,« sagte er, »selbstverständlich.« Er wollte doch in mir nicht den zweiten Gast verlieren. Er ahnte nicht, der Harmlose, daß ich so gut wie ohne Heller dasaß.

Ich nahm am zweiten Frühstück nicht teil, weil doch niemand da war, mich zum Essen zu bitten. Ein paar Badekarten hatte ich – da ging ich schwimmen.

Bis Abend hielt ich aus – dann sagte ich mir: »die Person« kehrt doch zurück, hat der Portier versichert – »die Person« mußte mich wohl verständigen, wenn sie es anders vorhatte – so überwand ich die Scheu und ließ mir, schlechten Gewissens, das Essen auf meine Stube bringen. Ich war entschlossen, dem Kellner nachlässig wie ein Sudermannscher Held zu winken: »Schreiben Sie es auf die Rechnung!« Es kam aber garnicht dazu; der Kellner verzog sich stumm. Ich fühlte mich sehr erleichtert ...

Ich will Sie nicht langweilen: Es vergingen drei Tage so – mit wachsenden, mit schrecklichen Sorgen – drei schlaflose Nächte. Ich schämte mich zu Tode. Dann der letzte Schlag – ein Brief aus Wien: Spielverluste – dem Nichts gegenüber – Rückkehr unmöglich.

Herr, ich war neunzehn und trotz zwei Theaterjahren so fremd in der Welt wie ein neugebornes Kind. Meine Mutter war kurz vorher gestorben, als Kriegswitwe. Ich hatte niemand auf Erden. Und hätt ich jemand gehabt: nie fand ich den Mut, um Hilfe zu rufen, zu schreien.

Zechpreller kommen ins Gefängnis, in die Zeitung – das hatte ich oft genug gelesen, in der Zeitung.

Ich hatte ein vergoldetes Armbändchen, eine silberne Uhr. Wenn ich sie verkaufe?

Wem verkaufe? Ich sah mich zehnmal um, ob mich niemand beobachte, und flitzte, als hätt ich Armband und Uhr gestohlen, zu einem kleinen Händler. Er merkte meine Erregung, musterte mich mißtrauisch und fragte mich aus. Das Ührchen trug mein Monogramm, und ich konnte meinen letzten Bühnenvertrag vorweisen. Das beruhigte den Händler, und er zahlte mir vier Schilling aus. Vier Schilling. Meine Hotelschuld mußte in den vier Tagen zwanzigmal so viel betragen.

Ich dämmerte noch Tag und Nacht hin, ratlos; hätte gar keinen Gedanken fassen können, denn ich hörte nur Einen Satz im Gehirn hämmern: Zechpreller kooomen ins Gefängnis. Vor dem Hotel pflegte ein Polizist zu stehen. Ich könnte ihn heute noch malen – so oft, so genau habe ich mir ihn damals angesehen.

Ich bildete mir sicherlich nur ein, daß mich das Hotelpersonal überwacht. Sie hatten noch keinen rechten Grund dazu – wenn ihnen mein bekümmertes Benehmen nicht auffiel – oder sie mußten Menschenkenner sein von ungewöhnlichen Gaben. Man hatte mir nämlich bis dahin gar keine Rechnung vorgelegt. Sie droht erst Samstag. – Nun pulste es in mir: Zechpreller kooomen ins Gefängnis; Samstack! Samstack!

Ich spielte mit irren Ideen: Selbstmord; Raub. Freitag war ich so weit, daß ich erwog, aus der Garderobe des Speisesaals eine Boa zu mausen.

Zu Abend ließ ich mir Poularde und Torten servieren. Ich nannte es: mein Henkersmahl.

In der folgenden Nacht, ich hatte natürlich kein Auge zugetan, um drei wurde mir die Stube unerträglich. Ich sprang auf, kleidete mich an und wollte ... ja, ich wollte nun einfach fliehen. Flucht schien mir plötzlich ein so herrlicher Ausweg, daß ich mich fragte, warum, warum ich nicht schon früher darauf verfallen war.

Weh, das Tor war zu. Und den Nachtportier alarmieren??

Auf diesem Weg über die Treppen nach dem Tor aber hatte ich Licht im sogenannten kleinen Saal gesehen – hier saß noch Gesellschaft: die Spieler. Einer dabei, den ich vom Sehen kannte, der auf meinem Flur wohnte, ein Herr ... Aber der Name tut ja nichts zur Sache. Ein Wiener – man sah auf den ersten Blick: ein wohlerzogener junger Mann aus gutem Haus.

Und als ich zurück nach meinem Zimmer ging – und niemand hatte mich gesehen im nächtlich stillen Hotel – da mußt ich vorbei an der Tür dieses jungen Mannes. Er ist unten und spielt. Morgen, nein heut ist Samstack, Samstack. Wie, wenn seine Tür offen wäre – wenn ...

Und ich klinkte – vielleicht noch aus Neugier. Und da sich die Tür öffnete, stand ich im Zimmer des jungen Mannes. Rasend vor Erregung. Zechpreller koomen ins Gefängnis, Samstack! Ich knipste zitternd Licht an – und auf dem Nachttischchen lag ...

Mein Gott, die Brieftasche! Ich ging nicht – ich wankte hin. Ich wühlte in Visitenkarten, Zetteln und ... ja, in Geld. Ich sammelte mein Bewußtsein: Samstack! – wieviel nimmst du – Samstack!? – Da ...

Da ging die Tür, und auf der Schwelle stand der junge Mann. Zuerst ebenso erschreckt wie ich. Er hatte runde Augen und schnupfte ein paarmal auf – vor Verlegenheit. Ich – ohnmächtig, ich brachte keine Worte hervor. Hatte ja nur eins im Sprachschatz: Samstack.

Der junge Mann sagte: »Ich kenne Sie, nehmen Sie Platz.«

Brauchte mich nicht erst einzuladen, ich sank von selbst auf den Stuhl da neben dem Bett.

Ich erwartete: Aha! Nun wird sich der Fall auf ein höchst unfreiwilliges Abenteuer zuspitzen zwischen Mann und Weib.

Er aber setzte sich an den Tisch, fern von mir, und sagte, offenbar etwas ungehalten:

»Was soll ich mit Ihnen tun? Ich kann Sie doch nicht anzeigen? – eine junge Dame?«

Dann lächelte er und begann ironisch:

»Haben gnädiges Fräulein dergleichen schon öfter ...? Aber verzeihen Sie, ich möchte mich um des Himmels willen nicht in Ihre Berufsgeheimnisse mengen ...«

Ich saß immer noch da mit hangenden Armen, mit den zerknitterten Banknoten in der Hand ...

Er war aufgesprungen, lief umher, rieb sich die Hände und lachte.

»Nein, so etwas! So etwas! Ich Musterknabe nehme mir vor, heute nicht zu pokern, lasse eigens meine Brieftasche da, gehe nur auf einen Sprung hinunter, angeblich nur zusehen – unterdessen ... Nein, so etwas! So etwas!«

Er blickte mich an, und ich dauerte ihn vielleicht. Er sprach von nun an ganz kühl – oh, das ist ja das Schreckliche – er hielt mich für eine gewerbsmäßige Hoteldiebin.

»Hören Sie, Fräulein« – und er zog die Stirn auf – »viel habe ich Ihnen nicht zu bieten. Ich habe nämlich schon wieder verloren. Muß morgen bezahlen. Aber ...« – er lachte mich freundlich an – »wenn Ihnen mit ein, zwei hundert Schilling gedient ist? – – Warum antworten Sie denn gar nicht?« Seine Zähne blitzten, so lachte er. »Ich sehe übrigens, Sie haben schon selbst die Höhe meiner Junggesellensteuer bemessen, zweihundert Schilling genommen. Schön, auf dieser Grundlage vergleichen wir uns! Nicht wahr – Sie sehen ein, daß ich leider nicht mehr tun kann?«

Da ... da warf ich das Geld von mir und wollte hinaustaumeln.

Er breitete die Arme aus wie ein spielender Knabe, als wollt er mich haschen; und sagte:

»Nichts da!« Hob die Noten auf und stopfte sie mir in die Hand zurück. »Nehmen Sie nur! Nehmen Sie ruhig! Na, na! Hübsch artig sein! Nicht weinen! Es geschieht Ihnen ja nichts. Ich zeige Sie doch nicht an, ich schwöre Ihnen.«

Und dann, Roda Roda, fand er ein Wort, das mir unvergeßlich bleiben wird, solange ich lebe – nie habe ich gedacht, daß ein Mensch so viel Zartgefühl haben kann, so viel Kultur, und sei er ein noch so wohlerzogener junger Mann.

Er war doch aus gutem Haus – ich, als Wienerin, kannte seinen Namen.

Um mich zu bewegen, das Geld zu behalten, um mir die Annahme zu erleichtern, sagte er:

»Es geht Ihnen doch offenbar schlecht – da können Sie mir wohl erlauben, Ihnen mit einem kleinen Darlehen zu dienen? – wo ich Ihr Kollege bin?«

Drückte mir mit seiner Hand meine Faust zu, führte mich an die Tür, schob mich sanft hinaus: »Gute Nacht, Kollegin!« ...

Draußen erst fiel mir ein: Samstack! Er gibt sich ja nicht für einen Kollegen von der Bühne aus – ahnt garnicht, daß ich Schauspielerin bin – sondern für einen Hoteldieb gibt er sich aus, um ... mir über die peinliche Lage wegzuhelfen.

Heulend, vernichtet fiel ich in mein Bett.

Jung und stark erwachte ich. Erst die zweihundert Schilling da erinnerten mich, wo ich bin, was ich erlebt habe.

Und ich muß bekennen – mein Elend hatte mich so zermürbt, daß ich nur das Frohlocken empfand: Gerettet.

Aber nun rasch fort, fort! Ich zahlte meine Rechnung, packte meine Siebensachen und lief auf den Bahnhof.

*

Sie können sich denken, Roda, daß mir die Geschichte nachging, daß ich diesen jungen Mann täglich in meinen Träumen sah, als Schreckgespenst.

Ich fand ein Engagement in Wien, nahm es an, zitternd vor Freude im ersten Augenblick – und eine Minute darauf klapperte ich vor Angst mit den Zähnen. Er wird mich doch erkennen? – auf der Bühne? – oder, noch furchtbarer für mich: erkennen im Leben?

Sie wissen, wie rasch mein Aufstieg war – ich siegte in der ersten Rolle. Man redete von mir, man feierte mich, strömte ins Theater. – Der junge Mann – es ist garnicht anders möglich – erblickt mich eines Abends – er grinst ... erzählt ... warnt seine Freunde ... Was bleibt mir übrig, als: aus dem Leben zu gehen? Ich wollte ihn um jeden Preis aufklären – nicht sein Schweigen erbitten, sondern sein Verständnis. Ich bemühte mich, ihm zu begegnen; machte die Häuser ausfindig, wo er verkehrte ... Doch es war wie verhext; nie war er da, wo ich ihn doch bestimmt treffen mußte.

Oder wich er mir aus?

Der Vorsatz wurde herrschend in mir: ich muß, muß ihn sprechen. Ich faßte endlich den Stier an den Hörnern und ging in das Restaurant, wo er des Abends zu essen pflegte; holte ihn vom Tisch, zog ihn mit mir in eine Ecke und begann:

»Sie waren in Gmunden?«

Da sagte der wohlerzogene Mann mit einer fast unhöflichen Festigkeit:

»Gnädigste, ich kenne Sie sehr gut – natürlich – unsre berühmte Diva. Sie irren sich in meiner Person. Ich war in Gmunden. Dort aber ...« – er verbeugte sich – »hatte ich nicht das Vergnügen, Sie kennen zu lernen. Ich habe Sie nie anders als auf der Bühne gesehen – mein Wort darauf.«

Mir blieb nur übrig, ihm die Hand zu drücken und mit einem gestammelten Dank davonzugehen.«


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