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Epilog.

Sylvester!

Es ist Sylvesterabend, das Jahr 1860 scheidet.

Ein verhängnisvoller Wechsel auch für Preußen! Die Regentschaft mit dem Ministerium der neuen Ära dauert fort, der sterbende König liegt bewußtlos auf seinem Todeslager zu Sanssouci.

Der Regent arbeitete still und ernst an einer anderen Schöpfung, an jenem gewaltigen Werk, das sechs Jahre später durch seine Früchte ganz Europa in Staunen und Schrecken setzen sollte, und seine Hand allein hielt eine feste Stütze seines Werkes in diesem Ministerium des Wirrwarrs aufrecht in dem ehernen Charakter eines Roon, während der kluge Heydt es verstand, auch der neuen Ära gerecht zu werden und Industrie und Finanzen zu fördern. Si vis pacem – para bellum! – Mit Entrüstung hatte der edle Prinz den Antrag des Mannes an der Seine zurückgewiesen, Preußen zu arrondieren gegen Abtretung des linken Rheinufers, während der König von Hannover seinen Minister Borries für den Vorschlag in den Grafenstand erhob, das Ausland gegen Preußen zu Hilfe zu rufen. Das Jahr 1860 bereitete Düppel, Königgrätz und Langensalza vor!


Sylvesterball bei Kroll! Die Polka rauschte, einige Kommis von Gerson thaten sich hervor in Linksum und Hackenschottisch, die Hälfte der Schönen schaute sehnsüchtig nach dem römischen Saal, ob es nicht bald Zeit wäre, daß sie statt des unfruchtbaren Tanzes zur Tafel geführt würden.

Droben in der Loge Nr. 9 saß eine lustige Gesellschaft, der Tugendbund und seine Leidensgefährten im Stadium des Genusses. Nur der Kommissionsrat fehlte seit Jahr und Tag, und niemand wußte, wohin er ohne Abschied gegangen, anscheinend auf Nimmerwiederkehr, denn sein Haus in der Stadt und seine Villa in Charlottenburg waren unter der Hand durch den Kommissionär Günther verkauft worden, oder vielmehr dieser selbst hatte das Haus gekauft, hielt die Dienstmädchen seiner unglücklichen Mieter durch tägliche Predigten an der Hofpumpe zur strengen Moral an, und hatte Aussicht, nächstens zum Armenvorsteher des Bezirks gewählt zu werden.

Die Putzmachermamsell, die Schlächtertochter und die seidenumrauschte Lorette der Prinzenstraße amüsierten sich prächtig. Die lungernde und bummelnde Herrenwelt Berlins, die am Tage auf den Kontorbänken und den Bureaustühlen rutscht, die Bilder fabriziert für den Kunstverein und Journalartikel schreibt, die Attachés der hohen Diplomatie und die Leutnants und Fähnriche in Civil, alte und junge Taugenichtse in Menge »immer mit'm Hut«, Schauspieler und Kavaliere, Börse und Wissenschaft – alles florierte und flanierte bunt durcheinander und zeigte vor allen das Streben, eine Dame am Arm zu haben, oder über die Paare seine Glossen zu machen oder einen Unglücklichen zu hänseln, der es gewagt hatte, sich wirklich zu einem Maskenkostüm zu emanzipieren und eine Larve mit Bulldognase aufzusetzen.

Auch an Mitgliedern der vornehmeren Welt fehlte es nicht, selbst Damen, Fremde und Einheimische, die sich unter dem Schutz des Dominos und der Halbmaske, wie der Ball masqué et paré es gestattet, das bunte Treiben ansahen und bis Mitternacht mitmachen wollten. Der Vergnügteste von allen aber war Engel, der Schöpfer all dieses Vergnügens, wie er so durch den Saal strich, eine Choristin in den Arm kniff und zur nötigen Tugend ermahnte, für seine neue erste Liebhaberin schwärmte und den lackierten Backenbart strich, oder dem Orchester ein vornehmes Kopfschütteln zuwarf, weil die Bratsche gequiekt, oder die zweite Klarinette um einen Takt zu spät eingesetzt hatte, da die Augen und Gedanken des Bläsers ganz wo anders waren!

Zwei Herren, der eine von hoher schlanker Gestalt, der andere kleiner und blond, beide im gewöhnlichen Domino, wie sie der Garderobier am Eingang verleiht, stehen im Gedränge an den Pfeilern zur Konditorei.

»Merk' auf, da kommt sie!«

Die Worte werden geflüstert. Aus dem Gewühl der Paare des sich eben auflösenden Kontretanzes kommt langsam ein Paar herbei, das offenbar den vornehmeren Ständen angehört.

Der Herr ist ohne Maske, tadellos elegant gekleidet, der kostbare Solitär in seiner Krawatte ist allein ein Kapital, das eine ehrliche Handwerker-Familie viele Jahre nähren könnte. Er ist etwa fünfunddreißig oder sechsunddreißig Jahre, seine Züge sind fein, aber etwas abgelebt, der Mund sinnlich, die Augen klug, aber etwas müde, hängen mit großer Aufmerksamkeit an seiner Begleiterin.

Diese ist von mittlerer Größe und überaus zierlicher Figur wie selbst trotz des kostbaren Spitzendominos zu sehen ist. Das Capuchon ist zurückgeschlagen, eine Menge durch die Hand des Friseurs künstlich um einen goldenen Kamm mit Amethystbehängen geordneter dunkelbrauner Locken quillt auf den Hals und den feinen Nacken. Domino und Robe sind schwarz und vom modernsten Geschmack, Fuß und Hand, wie sie bei den Bewegungen aus beiden hervorsehen, von untadelhafter Form und Kleinheit.

Die Dame lehnt sich leicht auf den Arm ihres Begleiters und blickt munter und kokett umher, während sie nur wenig auf die französisch geführte Unterhaltung ihres Kavaliers zu achten scheint, der sie mit großer Aufmerksamkeit führt.

Dies verhindert ihn auch, zu bemerken, daß im Augenblick, wo das Paar sich ihnen nähert und das Auge der Dame auf sie fällt, der größere der beiden Herren einen Moment lang die Maske lüftet.

Es ist nur ein Moment, aber er scheint zum Erkennen genügt zu haben.

Die Dame zuckt leicht zusammen, dann hebt sie die Hand aus der Wolke der Spitzen und bleibt stehen.

»Himmel, mein Fächer! Ich muß ihn an der Stelle verloren haben, wo wir eben standen. Bitte, Baron, gehen Sie zurück, sehen Sie nach, ob man ihn gefunden!«

»Lassen Sie mich erst Sie zur Loge führen, Alice!«

»Nein, gehen Sie sogleich, oder man zertritt ihn – ich werde hier warten oder den Weg allein finden! Ich bestehe darauf, mein Herr!«

Sie hat ihm ungeduldig den Arm entzogen, die Unterhaltung, vielleicht gerade, weil sie französisch geführt wird, hat bereits einige Zuhörer.

»Gehen Sie, Baron, ich bitte darum!«

Der Kavalier drängt eilig zurück und verschwindet unter der Menge. Sie hat ihn so lange mit den Augen verfolgt, dann verläßt sie rasch durch die Seitenthür, wohin eine leichte Bewegung ihres schönen Kopfes gewiesen, den Königssaal.

Draußen auf der Treppe, die zu den Logen führt, bleibt sie einen Augenblick stehen, im Nu ist der hohe Mann, der die Maske gelüftet hatte, an ihrer Seite.

»Um Himmelswillen, Hippolyt, Du hier?«

»Ich bin vor zwei Stunden von Dresden gekommen und hörte, daß Du hier warst. War dies der Baron?«

Sie machte ein Zeichen der Bejahung, während sie langsam emporstieg.

»Ich muß Dich sprechen, Wanda, sofort! Es steht alles auf dem Spiel!«

Sie dachte einen Moment nach. Dann wies sie leicht nach dem Eingang zum Korridor, der neben dem Rittersaal hinläuft.

»Dort sind die Privatzimmer. Suche den Oberkellner auf und nimm ein Zimmer – in einer Viertelstunde bin ich bei Dir! Geh rasch vorwärts – dort kommt er!«

Ihr Kavalier kam hastig aus dem Saal und sprang die Treppe herauf, an deren oberen Biegung sie wie ihn erwartend stand.

»Ich habe Ihnen vergebene Mühe gemacht, lieber Freund,« sagte sie liebenswürdig, ihm die Hand reichend, »das alberne Ding hatte sich an meinem eigenen Kleide festgehakt.«

Er küßte galant ihre Hand. »Das belohnt mich hundertmal, meine Süße! O, wenn Sie wüßten, Alice, wie toll mich Ihre Grausamkeit macht!«

»Still! ich will jetzt nichts davon hören!« Der Fächer, den sie niemals verloren, schlug ihn neckisch auf den Mund. »Kommen Sie zur Gesellschaft, oder ich erkälte mich in diesem Luftzug, und dann haben Sie gar nichts!«

Der Kellner öffnete die Logenthür, aus der muntere Unterhaltung und das Klingen der Champagnergläser drang.

Aus der Loge Nr. 9 konnte man das Innere von Nr. 7 bequem übersehen. Mancher neugierige Blick der lustigen, munteren Gesellschaft flog da hinüber.

»Da kommt sie wieder, es ist ein reizendes Geschöpf!«

»Wer?«

»Die Pariserin! Das wär' ein Bissen für Dich, Dicker!«

»Pah! Sie ist mir zu mager! Wenn ich einen Louisdor daran wenden wollte …«

Der andere lachte ihm ins Gesicht. »Du bist ein Narr! Unter einer Diamantbroche würde sie Dir nicht einmal Prosit Neujahr sagen! Wer ist der Herr, liebster Assessor, der mit ihr zurückkam?«

»Ein russischer Baron, der seit drei Wochen sich hier aufhält.«

»Von der Gesandtschaft?«

»Nein. Aber er verkehrt, wie Sie sehen, mit ihren Kavalieren.« Der Polizeiassessor beugte sich zu dem Fragenden. »Ich glaube, daß er in einer besonderen Mission hier ist,« sagte er leiser. »Jedenfalls muß er sehr reich sein, denn er gießt viel Geld aus.«

»Und er ist der begünstigte Anbeter der Pariserin?«

»So scheint es. Ich weiß nicht recht, was ich denken soll.«

»Wie so?«

»Das Mädchen ist offenbar eine Erzkokette und spielt mit ihren Kourmachern, wie die Katze mit der Maus. Ich weiß nicht, was ich aus ihr machen soll; an Geld fehlt es ihr nicht, sie gießt vielmehr für ihre Toilette, wie mir Gersons sagen, sehr Bedeutendes aus und bezahlt immer bar. Sie muß im stillen einen reichen Liebhaber haben, aber ich bin noch nicht dahinter gekommen, wen?«

»Das will allerdings viel sagen, Assessor, denn ich kenne keinen Menschen in Berlin, der in der hiesigen Damenwelt so Bescheid weiß, wie Sie!«

Der Beamte lächelte unter seinem blonden Tupet behaglich. »Es ist wahr,« sagte er, die Hände reibend, »ich schmeichle mir, eine ziemlich große Bekanntschaft zu haben, auch beim Theater, und es entgeht mir selten etwas neues. Aber diese da ist ein kleiner Satan. Sehen Sie die Zündholz-Marie, die Dame in Blau mit den aschblonden Locken, sie geht viel mit ihr, obschon sie nur wenig Deutsch radebrecht, und das Mädchen ist mir manche Verbindlichkeit schuldig. Sie veranstaltete es, daß wir in einer Prosceniums-Loge im Viktoria-Theater zusammenkamen und dann mit einander soupierten. Die kleine Pariser Hexe war die Liebenswürdigkeit selbst, aber der Teufel soll mich holen, wenn ich auch nur einen Fingerbreit weiterkam, und die Zündholz-Marie behauptet steif und fest, keiner ihrer Liebhaber hätte bis jetzt mehr von ihr gehabt, obschon sie alle Abende in Gesellschaft und die Ausgelassenste unter den Tollen ist.«

»Warum nennen Sie das Mädchen Zündholz-Marie? Sie sieht doch nicht aus, wie eine gemeine Grisette.«

»Sie verkaufte als Kind vor sieben Jahren Zündhölzer in allen Kneipen, bis ein alter Rentier an ihren knospenden Reizen Vergnügen fand und sie in eine Pension schickte. Das Mädchen ginge für ihre Freunde durchs Feuer. Es ist überhaupt etwas Sonderbares um diese Frauenzimmer. Sehen Sie die Brünette in dem gelben Domino, die dem Attaché der brasilianischen Gesandtschaft auf dem Schoß sitzt?«

»Cora?«

»Ja, die schwarze Cora, wie sie unter ihren Genossinnen heißt, eine Jüdin. Glauben Sie wohl, daß das Mädchen bereits zweimal Heiratsanträge ausgeschlagen hat, obschon sie nur eine arme Choristin ist, das erste Mal von einem Baron, der drei bedeutende Güter in der Altmark hat, das zweite Mal von einem Bankier, der mindestens über zweimalhunderttausend Thaler kommandiert. Und wissen Sie, warum?«

»Nun?«

»Weil sie einen Friseurgesellen liebt und keinen anderen heiraten will.«

»Und dennoch ist sie in dieser flotten Gesellschaft?«

»Sie hält die körperliche Untreue für erlaubt. Wenn sie so viel zusammengespart, daß ihr Geliebter ein eigenes Geschäft beginnen kann, wird sie ihn heiraten und sicherlich bald eine gute Frau sein, die ihn bald wohlhabend macht. Ich kenne ein solches Geschöpf, das 20 000 Thaler im Vermögen hat, die sogenannte schlanke Schröder, und die dennoch alle Bälle in der Musenhalle und im Orpheum besucht.«

»Sehen Sie, die Pariserin verläßt die Loge!«

Es war in der That so, die Dame in dem schwarzen Domino hatte einer ihrer Gefährtinnen, derselben, welche der Lauscher mit dem Namen der »Zündholz-Marie« bezeichnet hatte, etwas zugeflüstert. Die beiden Damen erhoben sich, machten der Gesellschaft einen Knix und entflohen aus der Loge.

Der hohe Fremde, der vorhin die Französin in so auffälliger Weise angesprochen, hatte den Oberkellner, Meister Schwarz, aufgesucht, der in der behaglichen Betrachtung des Treibens mit seinem Wink die Kellner leitete. Es war freilich längst kein cabinet privé mehr zu haben, aber ein Louisdor war ein vortrefflicher Schlüssel für eine halbe Stunde.

Auf der Treppe hielt die Pariserin den blauen Domino fest.

»Wollen Sie mir thun eine große Freundschaft, Mademoiselle Marion?«

»Gewiß, Alice, mit Vergnügen. Sie wissen, daß ich Sie gern habe!«

Die Französin löste eine schweres Armband von ihrem Gelenk. »Sie haben immer gefunden so großen Gefallen an diesem Bracelet,« sagte sie, »nehmen Sie es zum Andenken!«

»Aber Alice! Das Armband ist wenigstens hundert Thaler wert!«

»Was kümmert das mich?« sagte die andere hochfahrend. »Hören Sie, Marion, ich habe ein Rendezvous, ich muß sprechen eine Person, die mir ist lieb. Sorgen Sie dafür, daß ich ungestört bleibe zehn Minuten und warten Sie in der Garderobe auf mich!«

»Weiter nichts, Alice, eine kleine Nase für den Russen? Wer zum Teufel würde nicht gern helfen, einem dieser vornehmen Liebhaber, die uns doch nur wie Ware behandeln, einen Streich zu spielen. Unbesorgt, Kleine, es soll niemand da oben etwas merken!«

»Und kann ich mich verlassen auf Ihr Schweigen?«

»Ich wollte mir die Zunge eher abbeißen,« sagte die Zündholz-Marie lustig. »Ich bin nur froh, daß Sie auch solche Streiche machen. Aber jetzt rasch, mein Engel, damit der liebe Baron nicht ungeduldig wird und herunterkommt.«

Sie zog die Pariserin die Treppe vollends hinab. »Wohin also?«

Der schwarze Domino wies nach der Thür des Korridors.

»Ah – dort! Oh, wir haben schon lustige Abende da verlebt. Es war wirklich ganz vernünftig von dem Baumeister, die Zimmerchen da so versteckt hineinzubauen zum Amüsement lustiger Paare! Aber nur geschwind, und kommen Sie sobald als möglich wieder!«

Sie schob die Pariserin nach dem Korridor und verschwand in das Toilettezimmer.

Als die Dame in Schwarz den schmalen, nur matt erleuchteten Gang betrat, sah sie an der dritten Thür einen Herrn stehen, sie flog auf ihn zu, er zog sie in das Zimmer und verschloß die Thür.

»Hippolyt, was ist geschehen?«

Er hatte bereits die Maske abgelegt, führte sie zu dem Sopha und entfernte dann die ihre.

Ein weniger durch Regelmäßigkeit als durch seinen Ausdruck interessantes und schönes Gesicht zeigte sich. Der Teint hatte jene matte Färbung, die der Wangenröte entbehren kann, ohne dadurch aufzuhören zart und frisch zu sein. Die junge Dame konnte auch höchstens 20 oder 22 Jahre alt sein. Ihre Augen waren von einem leuchtenden Braun, das durch die langen Wimpern wie ein zündender Strahl brach, wenn sie den Blick aufschlug. Dunkle Brauen, eine in eigentümlich feiner Form leicht gebogene Nase und ein frischer hübscher Mund von kühnem Schnitt über dem kleinen, aber gewölbten Kinn ergaben eine ebenso eigentümliche als fesselnde Schönheit.

Der Mann, der jetzt vor ihr saß, zeigte eine unverkennbare Ähnlichkeit mit ihr, obschon die Ausprägung der Züge in dem schmalen, brünetten Antlitz noch kühner, entschlossener waren und die hohe Stirn von tiefen Gedanken, das kräftige Kinn von großer Festigkeit zeugten.

»Unheil, Wanda,« sagte er in polnischer Sprache, ihre Frage beantwortend. »Alles ist verloren, wenn Du nicht hilfst!«

»Ich?«

»Ja, Du allein bist dazu imstande. Aufrichtig und ohne Ziererei – wie stehst Du mit diesem Russen?«

All jener frivole, gelangweilte, launenvolle und kokette Ausdruck, der vorhin ihr Gesicht in der lustigen Gesellschaft der Loge Nr. 7 belebt hatte, war verschwunden und hatte einer aufmerksamen, fast finsteren Miene Platz gemacht.

»Ich denke, Du kennst mich und erwartest solche Thorheiten nicht von mir. Ich habe Dir geschrieben, daß er mir sehr eifrig den Hof macht, ich glaube, daß er wirklich verliebt ist!«

»Übst Du eine gewisse Herrschaft über ihn?«

Ihre Lippe schwellte sich in verächtlichem Stolz.

»Er ist der Sklave meines Winks!« sagte sie. »Er würde sein Vermögen für meine Launen opfern!«

»Und für Deine Gunst seine Ehre?«

Eine dunkle Röte überflog ihr Gesicht, ihre Augen blickten hochfahrend. »Wie meinst Du das, Bruder?«

»Höre mich an, Wanda, unsere Augenblicke sind gemessen. Wenn Baron Schipping seine Wohnung betritt, ehe wir ihm den schändlichen Raub abgenommen, sind wir verloren und Polens letzte Hoffnung gescheitert!«

»Sprich!«

»Du kennst, wenigstens dem Namen nach, Lafare-Kolnitzki?«

»Den Schurken! den Spion, den Verräter?!«

»Denselben! Er verdient die Namen hundertfach. Aber seine Eigenschaften lassen sich nicht leugnen. Er ist eben so schlau als keck. Ich bin diesen Abend mit ihm von Dresden gekommen.«

»Mit dem Spion?«

»Ja, natürlich ohne sein Wissen. Dein Verlobter ist mit mir!«

»Laroche?«

»Ja, Lafare kennt mich, aber nicht den Marquis. Das war ein Glück. Seit vierzehn Tagen befindet sich Kolnitzki im Auftrag der russischen Regierung und Deines Barons in Dresden, die Spuren des Komitees zu verfolgen. In vergangener Nacht ist es ihm gelungen, durch eine schlau angelegte Intrigue Korrespondenzen und Listen in die Hände zu bekommen, die, wenn sie nach Warschau gelangen, das Verderben von hundert Patrioten sein und die Demonstration am 25. verhindern würden!«

»Wo sind die Papiere?«

»Hier! In diesem Augenblick ohne Zweifel in Deiner Wohnung. Er hat sie hierhergebracht.«

»Und Ihr seid Männer und wußtet, was auf dem Spiel stand und habt diesem Menschen gestattet, lebendig mit seinem Raube hierher zu kommen?«

»Du sprichst wie ein Weib!« sagte der Fremde unwillig. »Nur unter der Bedingung der Vermeidung jeder Gewaltthat wird die Propaganda stillschweigend in Dresden geduldet. Der sächsische Minister täuscht sich freilich in dem ehrgeizigen Plan, daß die Wiederherstellung Polens zu Gunsten der sächsischen Königsfamilie geschehen werde, aber wir brauchen ihn, und eine Vertreibung von Dresden würde alle unsere Pläne stören. Hier in Preußen sind gewaltthätige Schritte unmöglich, wir müssen sie vermeiden!«

»Und dafür können hundert Freunde des Vaterlandes nach Sibirien wandern!« sagte sie empört.

»Nicht, wenn Du bereit bist, es zu verhindern.«

»So sprich!«

»Laroche ist dem Schurken nachgegangen von dem Bahnhof, indes ich nach Deiner Wohnung eilte. Er hat ihn nicht aus dem Auge gelassen. Er trägt ein grünes Portefeuille bei sich, das die uns gestohlenen Papiere enthält. Er hat sich direkt vom Bahnhof nach der Wohnung des Barons begeben. Nach zehn Minuten ist er wieder herausgekommen, begleitet von dem Kammerdiener des Barons. Meser hat ihn zu Deiner Wohnung geführt.«

»Baron Schipping hat mich abgeholt zum Ball; er hat seinem Diener wahrscheinlich, wie schon öfter, befohlen, wenn eine dringende Bestellung an ihn käme, sie zu mir zu schicken.«

»Das stimmt und es ist unser Glück. Ich hatte kaum Zeit, in das Nebenzimmer zu treten, als Lafare mit dem Diener erschien. Martha sagte ihnen, daß der Baron mit Dir in Gesellschaft gegangen sei und erst in mehreren Stunden zurückkehren werde. Was für ihn bestimmt wäre, solle sie in Empfang nehmen. Sie hütete sich kluger Weise zu sagen, wo er war, dieser Spürhund hätte ihn sicher bis hierher verfolgt. So bat er nur um die Erlaubnis, dort warten zu dürfen, weil er so rasch wie möglich den Baron sprechen und mit dem Frühzug wieder abreisen müsse. Auf einen Wink von mir hat Martha ihm dies gestattet, und seit einer Stunde sitzt der Schurke dort und versucht sie auszuforschen.«

»Das alles sagt mir nicht, wie ich helfen soll?«

Der Pole saß eine Weile stumm vor sich niederblickend. Dann, wie zu einem Entschluß gekommen, hob er die finstern Augen fest auf sie.

»Du mußt diesen Ball sobald wie möglich verlassen, Wanda,« sagte er, »und mit dem Baron Schipping nach Deiner Wohnung zurückkehren.«

»Das wird nicht schwer halten, ein Unwohlsein oder eine Laune genügt. Aber ich sehe nicht ein, was das helfen soll. Der Baron wird diesen Mann finden und ihn mit sich nehmen. Ihr habt dann mit zweien zu thun, und ich kann Dir sagen, daß der Baron ein nicht zu verachtender Gegner ist.«

»Er darf nicht mit Lafare Dein Haus verlassen!«

»Ich verstehe Dich nicht!«

»Lafare mag gehen, nachdem er ihm die Papiere übergeben. Der Baron muß bleiben.«

»Bruder …« – sie war bei dem Worte totenbleich geworden.

»Der Russe darf diese Nacht vor morgen früh Deine Wohnung nicht verlassen – nicht eher, als jenes Portefeuille in meinem Besitz ist!«

»Bruder …«

»Machen wir keine Umstände!« sagte er rauh. »Du hast der Sache des Vaterlandes geschworen: mit Leib und Leben! Wir brauchen nicht Dein Leben, sondern Deinen Leib, Du wirst ihn geben!«

»Entsetzlich – alles, nur meine Ehre nicht! Und dieser Vorschlag von Dir?«

»Deine Ehre? Wer glaubt denn hier an Deine Ehre, nachdem Du zwei Monate die Rolle der Courtisane gespielt hast, ich frage nicht mit welchen Mitteln. Aber ich, Dein Bruder, ich einer der Oberen des Bundes, dem Du geschworen, ich verlange jetzt für Stunden diesen Leib, der dem Vaterlande gehört, so gut wie Deine Seele! Es ist Deine Sache, wie Du ihn fesselst und mir das Portefeuille zurückverschaffst.«

»Habe Erbarmen mit mir! Alles, nur das nicht!«

»Denke an Judith

Sie rang leidenschaftlich die Hände. »Bruder, ich bin rein, meine Ehre ist unbefleckt, wenn ich mich auch auf Euren Befehl zu dieser schändlichen Rolle hergegeben habe. Bedenke, daß ich verlobt bin mit einem Ehrenmann!«

»Er mag die Sache nachher mit dem Grafen arrangieren, wenn ich unterwegs bin, nach Warschau!« sagte der andere spöttisch.

»Bruder, ich flehe Dich an, suche ein anderes Mittel, bei dem Andenken an unsere Mutter!«

»Es geht nicht! Judith opferte ihren Leib für das Vaterland, und jeder nennt sie eine Heldin, nicht eine Metze!«

»Ja, aber sie tötete ihn, ehe sein Mund sich ihrer Schande rühmen konnte!«

»Das wird Laroche übernehmen!«

»Was geht Laroche meine Ehre an!« rief sie leidenschaftlich. »Ich liebe ihn nicht – ich …«

»Er ist Dein Verlobter!«

»Ich liebe einen andern …« Sie war an ihm niedergesunken und hatte seine Kniee umfaßt. »Du weißt nicht, was Du forderst, Hippolyt, beschwöre das Verderben nicht auf unsere reine Sache! – Ich kann Dir nicht gehorchen, weil ich liebe!«

»Wen?«

»Fordere den Namen nicht, rufe nicht die Geister der Hölle wach!« rief sie leidenschaftlich. »Sieh, wenn Ihr Männer den Mut nicht habt, ich selbst will mich auf jenen Schurken werfen und ihm meinen Dolch ins Herz stoßen, daß Du frei und ungehindert mit den Papieren von dannen gehst, während meiner das Schafott wartet!«

»Thörin,« sagte er finster, »glaubst Du, daß es mir an Mut fehlt, mein Leben zu opfern? Aber die Zukunft braucht uns, Dich und mich! Mein Leben gehört so wenig mir, wie Dir Deine sogenannte Ehre. Dieser Russe wird heute nacht in Deinen Armen schlafen und morgen in seinem Leichentuch, so wahr ich …«

»Halt,« unterbrach sie ihn, mit leidenschaftlicher Energie emporspringend. »Nicht weiter! Wenn das Opfer gebracht werden muß, soll es wenigstens auf meine Bedingungen geschehen! Bruder, Du, der mit mir unter einem Herzen gelegen – im Namen der heiligen, unbefleckten Jungfrau, auf Deine Ehre frage ich Dich, muß es sein?«

Er senkte den Kopf, ohne sie anzusehen. »Es muß,!« sagte er leise. »Es handelt sich nicht allein um den Wiederbesitz der Papiere, sondern auch darum, daß wir nicht verfolgt werden, daß von der Kenntnis unserer Geheimnisse kein Gebrauch gemacht wird.«

»Aber der Spion wird es thun!«

»Er vermag es nicht. Es sind nur wenige und unbedeutendere Papiere in französischer und polnischer Sprache abgefaßt, die meisten in der früher von uns gebrauchten Chiffreschrift, wozu Baron Schipping durch den früheren Verrat in Paris wahrscheinlich den Schlüssel besitzt. Deshalb auch hat sich Lafare beeilt, seinen Raub hierher zu bringen und dem Baron zu übergeben, als dem Hauptagenten der russischen Regierung.«

Die Polin sah starr vor sich nieder, die Hände im Schoß gefaltet.

Es klopfte an der Thür. »Fräulein Alice, sind Sie hier?«

»Ja, Marie, wenige Minuten noch!«

»Eilen Sie, der Baron ist schon einmal im Saal gewesen, um sich nach uns umzuschauen.«

»Ich komme sogleich, Kind, halten Sie nur noch einige Augenblicke Wache.«

Die Warnerin hatte sich wieder entfernt, der Pole faßte die Hand seiner Schwester.

»Ich weiß, was ich von Dir verlange, aber denke an die Unglücklichen, die man hinausschleppen wird nach Sibirien, wenn die Knute oder der Strick nicht vorher ihr Leben endet, im Fall es uns nicht gelingt, sie vorher zu warnen, denke an die Mütter, die um ihre Söhne jammern; an die Weiber, die Kinder, die den Gatten und Vater gemordet sehen, an Deine Schwestern, die Jungfrauen, deren Liebstes auf der Welt der Wind am Galgen dreht, denke an das Vaterland, das seine letzte heilige Flamme im ersten Aufzucken ersticken sieht, und dann frage Dich – was ist eines Mädchens Ehre gegen die Tausende von Thränen?«

Sie hatte mit den Händen ihr Gesicht bedeckt und schluchzte laut während seiner Worte, ihr Busen hob sich stürmisch, während er sie umfaßte und ihr Haupt an seine Schulter legte.

»Glaube mir, Wanda, gäbe es noch in diesem Augenblick ein anderes Mittel, ich würde es wählen, und sollte ich meinen Kopf auf ein Schafott dafür legen, aber sie sind auf ihrer Hut gegen jede Gewalt. Dieser Bursche ist ein Teufel in seiner Kraft und Vorsicht, an wen es ihm gelingt, die Hand zu legen, der ist verloren. Wir können selbst nicht wissen, wie weit er bereits in die Geheimnisse jener unglücklichen Papiere eingedrungen ist, nur der Befehl seines Oberen wird ihn bewegen, zu schweigen. Dennoch – verweigere Deine Hilfe, und ich gehe hin und schieße ihm eine Kugel durch den Kopf; zur Vernichtung der Papiere werde ich wenigstens Zeit behalten, mag dann kommen, was da will.«

Das Mädchen hatte ihr bleiches, thränenbenetztes Gesicht erhoben, ihre dunklen Augen glühten in einem unheimlichen Feuer. »So möge es denn sein, erinnere Dich, Du selbst hast es gewollt! – Du sollst die Papiere haben, und Baron Schipping wird nicht daran denken, davon zu sprechen. Aber nur unter einer Bedingung!«

»Sprich!«

»Niemand darf sich einmischen in das, was zwischen mir und ihm geschieht. Du schwörst mir, daß niemand die Hand gegen sein Leben zu erheben wagt; von dem Augenblick an gehört es mir! In einer halben Stunde werde ich den Ball verlassen, um drei Uhr morgens sei an der Thür meines Hauses, Martha wird Dir den Preis der Schande bringen, wenn es gelingt. Dann magst Du mit dem ersten Zuge nach Warschau abreisen! Nimm den Marquis mit Dir – ich mag ihn nicht sehen – ich bin seine Verlobte nicht mehr!«

Er wollte etwas erwidern, aber eine strenge Bewegung der Hand gebot ihm Schweigen, ihr Kopf verschwand unter der Maske und der Kapuze des Dominos – im nächsten Augenblick hatte sie das Zimmer verlassen.

Die Augen finster auf den Boden geheftet, die Zähne zusammengepreßt, die Hand geballt, blieb der Mann in der Mitte des Zimmers stehen, während feuchter Schweiß an den Wurzeln seiner Haare perlte.

»Werdet Ihr Barmherzigkeit von diesem da verlangen, Ihr Söhne Ruriks, wenn einer der Euren in seine Hand fällt?«

Krieg bis aufs Messer!


Lustig klangen die Champagnergläser, es war elf Uhr vorüber, bald Mitternacht.

In der Ecke des Diwans lehnte die schöne Alice, den Kopf zurückgebogen, die dunklen Augen träumerisch zur Decke gerichtet, während Baron Schipping auf dem Stuhl zur Seite der Lehne saß, mit ihrer kleinen Hand spielte und ihr leidenschaftliche Artigkeiten ins Ohr flüsterte. Die tolle Gesellschaft um sie her kümmerte sich wenig um das Paar, nachdem die Französin für heute ihrem Scepter entsagt zu haben schien, oder warf nur hin und wieder eine muntere Neckerei in die Herzensergießungen des Russen.

»Sie sind so seltsam heute, so fatiguiert, Alice,« sagte der Baron. »Befinden Sie sich unwohl, mein Engel?«

»Vielleicht, ich weiß es selbst nicht, aber diese Hitze ist unerträglich! ich wollte, ich wäre zu Hause!

»Ich freute mich so sehr, diesen Abend mit Ihnen zu verleben! Freilich wäre es noch schöner gewesen, allein an Ihrer Seite in Ihrem Boudoir das alte Jahr zu Grabe zu tragen. Aber Sie sind ja so unerhört streng, Sie versagen das geringste tête à tête und werden mich noch wahnsinnig machen mit dieser Zurückweisung. Sie wissen, daß ich Ihnen mein halbes Vermögen zu Füßen lege!«

»Ich bin nicht gewohnt, meine Liebe für Geld zu verkaufen! Aber wirklich – ich bekomme Kopfschmerzen in dieser Atmosphäre. Wollen Sie mich nach Hause begleiten, Alexander? Martha ist sicher noch wach und wird uns den Samowar heizen für Ihr Lieblingsgetränk.«

Das Gesicht des Russen rötete sich vor Vergnügen, es war das erste Mal, daß sie ihn vertraulich bei seinem Vornamen nannte.

»Wie, Alice? Sie wollen wirklich fort und ich – ich darf noch bei Ihnen bleiben?«

»Wenn Sie mir Gesellschaft leisten wollen!«

»Aber ich habe unsern Wagen um drei Uhr bestellt.«

»Lassen Sie ihn, Marion. Ich denke, es wird doch Droschken geben. Lassen Sie uns ohne Aufsehen gehen, als wollten wir die Quadrille mittanzen. Wir entkommen dann leicht!«

Der Diplomat, von dem Champagner und der Aussicht auf das so lang ersehnte tête à tête berauscht, war bereits aufgestanden und bot der Dame seine Hand. » Allons Messieurs, hören Sie nicht den Contretanz? Pfui, wer wird so träge sein! Chevalier, wir sind Ihr vis-à-vis, wenn Sie nicht zu spät kommen!«

Die Loge war im Nu leer, die lustigen Schönen ließen die Blasiertheit ihrer Kavaliere wenig gelten und drängten zum Ballsaal.

Die Polin zögerte geschickt, bis sie als das letzte Paar die Treppe hinunter stiegen. Aber statt in das Gedränge des Königsaals stiegen sie zum Tunnel-Korridor hinunter und eilten nach der Garderobe.

Zehn Minuten darauf rollte die Droschke mit dem Paar durch den Tiergarten dem Brandenburger Thor und den Linden zu, wo bereits der wilde Trubel der Neujahrsnacht sein wüstes Spiel zu treiben begann.

Zum Glück war es noch nicht Mitternacht, so gelangten sie wenigstens ohne ernstliche Gefährdung durch die sich drängende, heulende und lachende Menge nach der Wohnung der Dame. Sie hatte während der Fahrt stumm in die Ecke zurückgelehnt gesessen, nur ihre Hand dem Begleiter überlassend, der sie mit Küssen bedeckte.

»Ihre Hand ist wie Eis, Sie sind krank, Alice! Ich werde auf das Vergnügen verzichten müssen, noch ein Stündchen mit Ihnen zu plaudern!«

»Nein,« sagte sie, »es ist nur ein leichter Schauder, Ihr Karawanenthee, den Sie von Moskau kommen ließen, wird mich erwärmen und ich will, daß Sie bleiben. Und sehen Sie, da ist Licht in meinem Zimmer, Martha ist wirklich noch auf.«

Der Baron hob sie aus dem Wagen und öffnete mit dem ihm gereichten Schlüssel die Thür. Während er den Kutscher bezahlte, schlüpfte sie die Treppe hinauf und klopfte.

Ihre bejahrte Dienerin öffnete mit dem Licht in der Hand. »Wie Komtesse – Sie sind es schon? – Wissen Sie schon, daß der Graf …«

»Still!« ihr Finger legte sich auf ihre Lippen.

»Aber da drinnen ist jemand …«

»Kein Wort – ich weiß alles! Leuchte dem Herrn Baron, Martha! Es ist gut, daß wir nach Hause gekommen sind, lieber Freund, Martha sagt mir eben, daß Sie ein Herr seit zwei Stunden erwartet, den Ihr Kammerdiener hierher gewiesen hat.«

»Eine unverantwortliche Freiheit, meine Teure, die nur Ihre Güte entschuldigen kann. Aber wer zum Henker kann das sein, der mich so aufdringlich sucht!« Er öffnete die Thür und trat in das Zimmer, wo ein Mann sich bereits vom Stuhle erhoben hatte und ihn mit einem achtungsvollen Gruß empfing.

»Wie Lafare? Sie hier?« rief erstaunt der Diplomat, als er in dem hellen Schein der Astrallampe den Fremden erkannte. »Woher kommen Sie? was wollen Sie hier?«

»Herr Baron,« sagte der Fremde in russischer Sprache, »ich bitte um Entschuldigung, daß ich Sie hier aufgesucht und erwartete habe, aber die Sache war zu wichtig und dringend, und ich muß mit dem Frühzug nach Dresden zurück. Ich muß Sie allein sprechen, ich bringe die wichtigsten Entdeckungen mit!«

Der Diplomat sah sich zaudernd nach seiner Dame um, die unterdes von der alten Dienerin des Pelzes und Dominos entledigt worden war, aber noch immer ihre Maske vorbehielt.

Sie schien kein Wort der kurzen Unterredung verstanden zu haben und wandte sich jetzt zu der Dienerin.

»Geschwind, Martha, Feuer unter den Samowar. Der Baron soll eine Tasse seines Lieblingstranks haben!«

»Hat das Geschäft nicht Zeit bis morgen?« fragte der Russe.

»Wie Sie befehlen, Herr! Aber ich bin von Dresden gekommen, um wichtige Papiere in Ihre Hände zu legen. Ich kann mich nicht näher aussprechen in Gegenwart anderer Personen.«

Der Spion, wie ihn der Pole vorhin bezeichnet, war ein Mann von etwa 40 Jahren. Seine Gestalt war von mittlerer Größe, fest und gedrungen, und allem Anschein nach von bedeutender Muskelkraft. Er hatte auf dieser Figur einen eigentümlich kleinen Kopf mit einer stark zurückfallenden Stirn und eingedrückten Schläfen. Der Unterkiefer war stark entwickelt und sprach von Mut und Energie. Die kleinen, grauen Augen blickten überaus beweglich und scharf.

Er trug unter dem kurzen Paletot, den er nicht abgelegt, um die Hüfte die Tasche eines Revolvers geschnallt, dessen Griff handgerecht an seiner linken Seite hervorsah.

Der Baron trat zu der Herrin der Wohnung. »Teure Alice,« sagte er, »dieser Herr bringt mir wichtige Nachrichten, ich muß ihn einige Augenblicke ungestört sprechen. Wollen Sie mir gestatten, dies in einem Ihrer Zimmer zu thun, damit ich nicht gezwungen bin. Sie schon zu verlassen?«

»Wie, mich verlassen, Alexander, nachdem ich Ihnen erlaubt, mir Gesellschaft zu leisten?« schmollte die Dame kokett. » Eh bien, Baron, ich werde meinen Thee allein trinken, aber lassen Sie sich sobald nicht wieder blicken. Graf Villeneuve ist jedenfalls galanter!«

»Aber ich denke nicht daran, Alice, das seltene Glück zu verscherzen! ich bat Sie nur …«

»Ach der abscheuliche Mensch! welch fatales Gesicht!« flüsterte sie. »Er braucht das meine gar nicht zu sehen. Schicken Sie ihn fort, während ich meine Toilette mache. Wir wollen Ihnen das Zimmer räumen für Ihre vielen Geschäfte, Sie vielgeplagter Diplomat!«

Sie winkte der Dienerin und glitt hinaus in ihr anstoßendes Boudoir; noch nie war sie so liebenswürdig gewesen, der Baron war ganz berauscht von ihrem Wesen.

»Nun, Monsieur Lafare,« sagte der Baron, »was hat Sie hierher geführt? So gern ich Sie sonst sehe, diesmal stören Sie mir wirklich eine angenehme Stunde!«

Der Fremde hatte die kleine Scene, ohne sie anscheinend zu beachten, doch mit einem leichten Zuge des Hohns um den Mund beobachtet. »Ich bedauere aufrichtig, Herr Baron,« bemerkte er, »aber die Sache erschien mir zu wichtig. Ich bin dem revolutionären Komitee auf der Spur, ja es ist mir gelungen, mich gestern nacht wichtiger Papiere und Listen zu bemächtigen.«

»Wahrhaftig?«

»Überzeugen Sie sich selbst! ich bringe sie Ihnen und das ist der Grund meines Kommens, ich wollte sie nicht aus den Händen lassen, bis ich sie in die Ihren übergeben konnte.«

Der Baron hatte auf einem Sessel Platz genommen und dem anderen gewinkt, sich niederzulassen.

»Und wie sind Sie in Besitz der Papiere gekommen?«

»Ich habe Ihnen bereits in voriger Woche gemeldet, daß mehrere neue Agenten des Central-Komitees aus Paris eingetroffen waren und an verschiedenen Stellen der Stadt Wohnung genommen hatten. Die Dresdener Polizei ist eine vortreffliche, sie mußte also darum wissen. Überdies sind wir ja längst überzeugt, daß die polnische Agitation unter dem Schutz der sächsischen Regierung oder vielmehr des Herrn von Beust steht. Fürst Gortschakoff will unserer Gesandtschaft ihre freie Stellung bewahren, deshalb ist die Gegenintrigue uns anvertraut und ich darf nur in unvermeidlichen Fällen ihre Hilfe in Anspruch nehmen. Mit den hundert Imperials, die ich in voriger Woche erhielt, habe ich die neu angekommenen Mitglieder, unter denen ein Herr Langiewicz der gefährlichste ist, beobachten lassen und einen der gewandtesten Agenten der sächsischen Polizei gewonnen. Wie Sie wissen, ist ein Kaufmann Heindorf das thätigste Mitglied des Komitees, und ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich in ihm den Grafen Ogilski wieder erkannt habe!«

Ein leichtes Geräusch an der Seite des Boudoirs machte den Agenten aufschauen. Der Baron beruhigte ihn mit einer Bewegung der Hand. »Es ist nichts, Madame macht wahrscheinlich ihre Toilette. Überdies sprechen wir ja russisch.«

Die Bemerkung schien jedoch den Agenten nicht vollständig zu beruhigen, denn er sprach jetzt leiser als früher.

»Ich erfuhr durch meine Spione, daß im Laufe des gestrigen Tages ein Bote von Paris gekommen war, und am Abend eine Versammlung des Komitees bei Graf Ogilski statthaben werde. Genug, in derselben Nacht wurde in der Wohnung des Grafen eingebrochen und unter den gestohlenen Gegenständen hat sich dies Portefeuille befunden, das ich den Dieben für zweihundert Thaler abkaufte.«

Er legte ein ziemlich großes Portefeuille von grünem Maroquin, das er unter dem Rock auf der Brust eingeknöpft getragen hatte, auf den Tisch.

»Sind die Papiere von Wichtigkeit?«

»Von der höchsten!« Der Agent hatte die Mappe geöffnet. »Hier sind zwei Briefe von zwölf Gutsbesitzern in Litauen und Wolhynien, die erhebliche Summen für die Zwecke des Komitees zeichnen und Waffensendungen verlangen. Dieser Brief ist angeblich im Auftrag des Erzbischofs geschrieben, und er bietet drei Klöster zu Depots. Hier sind Briefe aus Posen, Graf Dzialinski legt den Plan einer gemeinschaftlichen Aktion vor. So viel ich aus diesen Briefen aus Paris entnehmen kann, die zum Teil in einer Chiffreschrift geschrieben sind, deren Schlüssel Sie wahrscheinlich haben, so soll in Warschau in nächster Zeit an einem bestimmte Tage eine Demonstration des Volkes auf den Straßen und in den Kirchen stattfinden; und dies Papier, das wichtigste von allen, scheint die Namen der Verschworenen in Warschau oder wenigstens der Führer zu enthalten. Wie Sie sehen, ist es ebenfalls in Chiffern.«

»Das ist allerdings ein bedeutender Fang und von der höchsten Wichtigkeit,« sagte der Baron. »Lassen Sie das Verzeichnis sehen! Das Gouvernement in Warschau muß sofort benachrichtigt werden. Aber Sie haben recht, es ist notwendig, daß Sie sofort auf Ihren Posten zurückkehren. Die Bewegungen dieser Leute müssen auf das Strengste überwacht werden. Ich hoffe, es findet sich noch eine Gelegenheit, wo wir dem Kabinett von Dresden seine Intriguen vergelten können. Ich bin keinen Augenblick im Zweifel, daß die Fäden auch nach Wien, Lemberg und Krakau laufen.«

»Die Verhaftung und Auslieferung des Grafen Teleki ist ein bedeutsames Zeichen von dem Einverständnis der beiden Kabinette,« sagte der Agent. »Ich habe jetzt die Papiere in Ihre Hände gegeben, Herr Baron, das Weitere ist Ihre Sache!«

»Jedenfalls! – Brauchen Sie Geld?«

»Ich hatte bereits die Ehre, Ihnen zu sagen, in welcher Weise die hundert Imperials verwendet worden sind.«

»Gut, Sie werden morgen neue Wechsel erhalten. Lassen Sie uns, ehe Sie gehen, die Liste dieser Rebellen durchsehen. Ich führe die Schlüssel der Chiffern bei mir.«

Er nahm aus seiner Schreibtafel zwei Papierstreifen und legte sie vor sich hin. In dem Augenblick aber, als er das Dokument ergriff, das der andere ihm bot, öffnete sich die Thür des Boudoirs, und die schöne Herrin der Wohnung trat in einem ebenso verführerischen als geschmackvollen Negligee ein.

»Ei, mon cher baron,« sagte sie in leichtem Ton, »Ihre Geschäfte müssen in der That sehr wichtiger Natur sein, daß Sie mich so ganz vergessen. Seit zehn Minuten siedet das Wasser, und Ihre ergebenste Dienerin ist bereit. Ihnen den Thee zu servieren.«

Der Baron erhob sich mit einiger Verlegenheit, während der Agent ruhig die Papiere wieder zusammenschob und in das Portefeuille verschloß.

»In der That, beste Alice,« lispelte der Diplomat, »ich fürchte, ich werde von Ihrer Güte keinen Gebrauch machen können. Geschäfte der dringendsten Art zwingen mich, Sie zu verlassen und die ganze Nacht mit Depeschen zuzubringen!«

Ihre schönen dunklen Augen legten sich feucht und schmachtend auf das Opfer. »Wie, Alexander,« sagte sie leise, ihm näher tretend, »es ist in wenig Minuten Mitternacht, und Sie wollen nicht einmal mit mir das neue Jahr begrüßen? Der mächtige Kaiser von Rußland wird durch eine Stunde, die Sie meiner kleinen Person schenken, gewiß nicht zu kurz kommen. Ich hatte mich so darauf gefreut!«

Die letzten Worte entschieden. Der Baron trat zu dem Agenten.

»Sie wollen also morgen früh zurück?«

»Mit dem ersten Zug!«

»Und haben Sie schon ein Unterkommen für die Nacht?«

»Es giebt Hotels genug in der Nähe, die noch offen sind.«

»Geben Sie mir also das Portefeuille, ich werde es mit mir nehmen.«

»Aber, Herr Baron …«

»Geben Sie her,« sagte der Diplomat ungeduldig. »Sie haben das Ihre gethan und sind der Verantwortlichkeit dafür entledigt. Überdies – hören Sie den Lärm da draußen? – es wäre in der That nicht ungefährlich, jetzt mit wichtigen Papieren über die Straße zu gehen!«

»Ein glückliches Neujahr, Baron! Raten Sie, wer es wünscht!« rief, während in der That draußen auf der Straße ein wildes Jauchzen und Schreien, untermischt mit einzelnen Schüssen und Kanonenschlägen losbrach, eine lachende Stimme, indem sich zwei zarte weiche Hände von hinten über seine Augen legten.

»Wer anders als die schöne Herrin dieser Wohnung,« sagte er munter, »Sie haben mir in der That das Neujahr abgewonnen, Alice, aber bedenken Sie, daß das unsere erst in zehn Tagen gefeiert wird.«

»Wir leben in Deutschland, mein Herr, und es geht uns nichts an, daß die Russen immer gegen andere Nationen zurück sind. Aber jetzt kommen Sie – fort mit den Geschäften. Geben Sie her, ich werde es unterdes weglegen!«

Sie griff nach dem Portefeuille, aber der Baron zog es unwillkürlich zurück, er schämte sich seiner Schwäche vor dem Agenten und wünschte ihn ungeduldig fort. Dieser hatte bereits seinen Hut genommen, war aber an der Thür stehen geblieben, und sein rastloses scharfes Auge betrachtete aufmerksam das jetzt von der Maske nicht mehr verhüllte Gesicht der Dame.

Der Ausdruck desselben schien übrigens sehr verändert durch das Negligee. Die halb entfesselten dunklen Flechten lagen unter dem kleinen koketten Häubchen, das kaum den Scheitel deckte, weit hinein in die sonst so freie und offene Stirn, das breite Band des Häubchens rahmte mit großer Schleife das Kinn ein und verbarg es fast.

Der schönen Herrin der Wohnung entging die Beobachtung nicht. Sie machte dem Agenten eine zierliche Verbeugung. »Verzeihen Sie, mein Herr,« sagte sie mit der freundlichsten naivsten Miene, »daß ich Ihnen nicht bereits auch ein glückliches Neujahr gewünscht habe, aber es galt die Wette, den Herrn Baron zu überraschen. Nehmen Sie meine aufrichtigen Wünsche und amüsieren Sie sich noch gut zum Sylvester.«

Der Schatten, in dem ihr Gesicht lag, da sie den Rücken der Astrallampe zugekehrt hielt, verhinderte den Agenten den Blitz von Hohn und Haß zu sehen, der bei den Worten aus ihren Augen funkelte. Dennoch schien es, als wolle er noch einmal vortreten und seinem Vorgesetzten etwas sagen, aber der Ruf der Dame: »Martha, leuchte dem Herrn!« und die dreiste, fast frivole Weise, wie sie den Arm des Barons ergriff und ihn fortzog, verhinderte und beruhigte ihn zugleich. Er zuckte die Achseln, erwiderte den vertraulich vornehmen Gruß des Diplomaten mit einem bezeichnenden Blick auf das Portefeuille und empfahl sich.

Dennoch war er keineswegs ruhig, als ihm die alte Dienerin die Hausthür geöffnet hatte und er nun draußen auf der Straße stand. Von den nahen Linden her tönte der übermütige Jubel der Neujahrsgänger, ganze Scharen von Lärm- und Skandallustigen zogen durch die Straßen und begannen, die aufgestellten Schutzleute zu verhöhnen und das ruhigere Publikum zu belästigen. Der Ruf! »Runter mit dem Hut!« »Haut ihm!« klang bereits an verschiedenen Stellen und viele Personen flüchteten in die Nebenstraßen, um der sozialen Reform des »Hutauftreibens« zu entgehen.

Dem Agenten war dieses Wesen des lustigen Skandals, welches das Berliner Bummlertum charakterisiert, unbekannt. Er kannte die Féte de St. Cloud, die Faschingsnächte an den Barrieren von Paris, aber er hatte keinen Begriff davon, daß man in einer gesitteten Stadt zum bloßen Vergnügen harmlose Menschen mit der jovialsten Gemütlichkeit mißhandeln und die Roheit als guten Scherz betrachten kann.

Das Lärmen machte ihn noch unruhiger, er beschloß, trotz der scharfen Kälte auf der Straße zu bleiben und das Fortgehen des Barons mit den wichtigen Papieren, deren Erlangung ihn so viele Mühe gekostet hatte, abzuwarten und ihm dann bis zu seiner Wohnung zu folgen. Auf und niedergehend, um sich gegen die Kälte zu erwärmen, warf er von Zeit zu Zeit einen Blick hinauf nach den Fenstern der Wohnung, die er soeben verlassen hatte.

Die Rouleaux waren herunter gelassen, aber der durchschimmernde Lichtglanz bewies ihm, daß das Paar jetzt im zweiten Zimmer, in dem Boudoir der Lorette, für die er die Dame doch halten mußte, wahrscheinlich im zärtlichen Kosen am Theetisch saß. Neben diesem Zimmer befand sich noch ein matt erleuchtetes Fenster mit schweren dunklen Gardinen, wie es schien, er ahnte wohl dessen Bestimmung und murmelte einen Fluch über den Leichtsinn des vornehmen Herrn in den Bart, dem er so wichtige Beweisstücke hatte anvertrauen müssen.

Zweimal schon waren zwei in weite Mäntel gehüllte Männer bei ihm vorbeigestrichen, ohne daß er darauf geachtet hätte, seine Aufmerksamkeit war hauptsächlich dem Hause und der Hausthür zugewandt, durch die er jeden Augenblick den Baron herauskommen zu sehen hoffte.

Fast eine Stunde mochte er so auf und nieder gegangen sein und war eben wieder stehen geblieben; plötzlich stieß er einen polnischen Fluch aus und ballte die Hand. »Der Unsinnige! Über einer Phryne alles zu vergessen, er wird die Nacht bei ihr zubringen, wenn er jetzt nicht kommt!«

Das Licht in dem Boudoir war erloschen, das zweite Fenster dunkel – –

In dem Augenblick hörte man vom Eingang der Straße her einen lärmenden Volkshaufen, den die Polizei in die Seitenstraße vertrieben hatte, gröhlend und pfeifend daherlaufen.

Der Agent hätte ihm leicht entgehen können, aber er dachte in diesem Augenblick nur daran, die Thür zu bewachen, aus der er noch jeden Augenblick den Baron heraustreten zu sehen hoffte.

Als er sich endlich, von dem Lärm erschreckt, umwandte, sah er sich bereits mitten in der schreienden, tobenden Menge.

»Prost Neujahr! Prost Neujahr!« Es pfiff, es heulte, es schrie, unter den Füßen platzte ihm ein Feuerfrosch und versengte seine Kleider.

»Verdammte Canaille!« Er wollte sich durch die Menge drängen.

»Hut runter! Haut ihm! haut ihm!« Ein großer Kerl langte über die Köpfe der Vorstehenden und mit einem Schlage seiner breiten Hand trieb er dem Agenten den Hut auf, daß dieser ihm bis über die Nase übers Gesicht fuhr.

Der Fremde sprudelte und schimpfte, während er mit beiden Händen versuchte, sich von dem Hut zu befreien, aber die französischen und polnischen Flüche, die er unter die deutschen Verwünschungen mischte, reizten die Menge noch weit mehr und von allen Seiten fielen Schläge auf seinen Hut und seine Arme.

»Schurken! wenn Ihr's nicht anders wollt! Zurück, oder ich schieße!«

Er hatte den Revolver aus der Tasche gerissen und hob die Hand. Aber ein schwerer Stockschlag traf diese und machte sie die Waffe fallen lassen. Ein anderer Schlag an den Kopf warf ihn zu Boden, er fiel mit der Stirn auf die Kante des Thürsteins und fühlte, wie das warme Blut ihm über das Gesicht rieselte.

Zugleich erscholl der Ruf: »Die Schutzleute! die Konstabler! haut sie! haut sie!« und die Menge stob im Nu auseinander, denn die Straße herauf kam eine Abteilung reitender Schutzleute geprescht.

Der Agent fühlte noch, wie Personen ihn zur Seite zogen, sein Blick erkannte wie im Traum zwei Männer in Mäntel gehüllt, er fühlte, wie der eine unter seinem Rock, in seinen Taschen suchte, in dem Schein der nahen Straßenlaterne sah er in das über ihn gebeugte Gesicht – Höll und Teufel! – das kannte er – war es die Lorette, bei der er vor einer Stunde den Baron zurückgelassen? – dieselben Augen – – aber nein, das war ein Mann – das war – –

Er versuchte mit Gewalt sich emporzuraffen – er faßte nach dem Fremden –: »Verrat! – hierher – zu Hilfe – –!«

Die Sinne vergingen ihm, er fiel bewußtlos zurück.


Bis an den Morgen hatte der Sylvesterball bei Kroll getobt, müde, matt, mit schwerem Kopf und trüben Augen kehrten die Paare und die Gesellschaften zur Stadt, viele in dem Schneedunst, der jetzt auf den nackten Bäumen und in den Straßen lag, zu Fuß, denn die Gefährte waren lange nicht in genügender Zahl vorhanden.

Auch die Gesellschaft aus der Loge Nr. 9 zog jetzt heimwärts, müd und matt und stark angelaufen.

»Wahrhaftig – soll mir der Deibel holen! Vater Wrangel hat auch noch Licht in seinem Arbeitszimmer! Der alte Junge muß famos Sylvester gefeiert haben! Mädchens, Ihr solltet ihm ein Prost Neujahr zurufen!«

Die saubere Gesellschaft war stehen geblieben mitten auf dem Platz und schaute hinüber nach dem Hotel, wo die beiden Schildwachen standen.

»Still mit dem Unsinn, Präsident!« sagte der Journalist, »seht Ihr nicht, daß drei Pferde vor der Thür stehen; in der That, es ist der Schimmel des Feldmarschalls! – Wo will er hinreiten so früh oder so spät?«

»Ich bedaure nur den hübschen Grafen, seinen Adjutanten,« klagte eine der Damen. »Er soll sie schändlich malträtieren mit seinem Reiten. Als ob jeder Offizier seine Glieder nur dazu hätte?«

»Eine andere Verwendung wäre Dir schon lieber, Alwine!« meinte boshaft der Präsident. »Wahrhaftig, da kommt er.«

Die Gesellschaft war unwillkürlich etwas hinüber nach der Seite des Hotels getreten, wo in der Gruppe vor der Thür jetzt rasche Bewegung entstand. Waffen klirrten, die Pferde stampften.

Man hörte durch den Nebel die wohlbekannte Stimme, diesmal nicht in dem freundlichen wohlwollenden Ton, den halb Berlin, namentlich die schönere Hälfte kannte, sondern scharf, kurz.

»Es ist jetzt 5 Uhr, in zwei Stunden müssen wir an dem Dings, dem Obelisken sein. Verstehen Sie mir?«

»Zu Befehl, Excellenz!«

»Aufgesessen!«

Die Bügel und Pallasche klirrten. Im nächsten Augenblick ritten die Reiter im Trab über das Pflaster nach dem Thore zu.

Voran kam der alte Held von Heilsberg, Etoges und Schleswig in dem einfachen Reiterpaletot als einzigen Schutz gegen die strenge Winterkälte, aber merkwürdiger Weise diesmal nicht in der straffen, aufrechten Haltung, die man an ihm so gewohnt war, sondern zusammengesunken, das liebe alte martialische Gesicht niedergesenkt zum Hals des treuen Schimmels.

»Guten Morgen, Excellenz! Glückliches Neujahr, Excellenz!« die Tücher der Damen wehten dem alten Reiter. Er achtete es nicht, kein Gruß, kein Dank, keine Bewegung der Hand – so trabte er weiter; eine halbe Pferdelänge zurück in seinen Pelzmantel gehüllt der junge Adjutant – hinter beiden die Ordonnanz.

An den mächtigen Hallen des majestätischen Thors, von dessen Höhe die Victoria ihren Einzug in die preußische Königsstadt hält, verweilte der Reiter einen Augenblick vor dem mittlern Portal, dem Königsweg. Er bewegte leise das graue Haupt, dann wandte er sich links; vor dem Thor bog er hinüber nach der Potsdamer Straße zu, und der Hufschlag verhallte in der Nacht.

Die kleine Gesellschaft hatte sich, das Intermezzo und das eigentümliche Benehmen des alten Generals besprechend, wieder zur anderen Seite gewendet, nur der Journalist war auffallend still und nachdenkend geworden. So waren sie in den Salon des Kellers getreten, und der geschäftige Kellner brachte den Champagner.

»Wo ist der Assessor?«

»Er kommt sogleich. Er traf draußen auf Stückradt, der über den Platz herüber kam, und spricht nur einen Augenblick mit ihm.« Der Nachgefragte kam auch schon die Treppe herunter und trat herein. Eine schöne Hand streckte ihm das Glas entgegen.

Der Journalist sah ihn, unbeachtet von der lachenden, Witze reißenden Gesellschaft, fragend an. Der Polizeimann nickte. »Heute morgen um 1 Uhr,« sagte er leise, »es sind schon zwei Extrazüge hinüber.« Dann fuhr er laut fort: »Frisch, Ihr Damen und Herren, Schönste und Klügste Eures Geschlechtes, dies letzte Glas in der Sylvesternacht dem alten preußischen Toast: Es lebe der König

Die Gläser klangen, in das des Journalisten fiel eine Thräne, er wandte sich zur Seite.

Als sie die Treppe wieder hinaufstiegen, drückte der Beamte seine Hand. »Es soll um vierundzwanzig Stunden verheimlicht werden,« flüsterte er, »des Neujahrs wegen.«

»Er war ein guter Herr,« sagte ernst und trübe der andere. »Seine Hilfe mir nah in einer schweren Zeit! Sein Herz war voll Freundlichkeit und Wohlwollen. Als ich damals wegen der einfältigen Duellforderung an Nasenmüller und Intelligenz-Hayn, den unschuldigen Verantwortlichen der Offiziösen Manteuffels, zur Festung sollte, schickte Er mich zum schönen Bosporus!«

»Gott sei Dank, daß seine Leiden zu Ende sind. Le Roi est mort! Vive le Roi!«


Bleichende Sterne, neue Sonne!

Am Sonnabend touren die Züge und Extrazüge der Bahn nicht gefüllt – vor Sanssouci hatte sich das Volk, vornehm und gering, Männer und Frauen in dichten Reihen gedrängt, um noch einmal das milde freundliche Gesicht des Königs Friedrich Wilhelm IV. zu sehen, das bald der Sarg decken sollte für immer.

Längst schon hatte man dieses Sterben gewußt, ja gewünscht, um sein Leiden geendet zu sehen; man hatte Zeit gehabt, sich von dem stillen Mann in Sanssouci zu entwöhnen, und dennoch traf es alle so tief und ernst, als es hieß: Der König ist tot!

Es ist der Tag der Bestattung. Die Wintersonne glänzt hell bei 10 Grad Kälte über die schnee- und eisbedeckte Landschaft, die im Sommer so herrlich und duftig ist. Das Gitter zwischen den Kolonnaden von Sanssouci, das herab zur Chaussee nach der Orangerie, der prächtigen Schöpfung des Verstorbenen, führt, ist zum erstenmal geöffnet seit des großen Friedrich Leichenzug; ist es doch der erste Preußen-König, der seit dem großen Heros der Schlachten und des Geistes in diesem Tusculum gestorben ist. In langen Reihen stehen im Sonnenglanz die Garden zu Pferd und zu Fuß in der scharfen Kälte, und drunten unter der Mauer an der Neptungrotte stampfen im tiefen Schnee die Kanoniere an ihren Geschützen.

Wo irgend ein Raum zwischen den Gliedern, eine Terrasse, eine Mauer, ein Vorsprung einen Platz zum Schauen bietet, steht das Publikum dicht gedrängt. Stundenlang schon harren die Gruppen und wanken und weichen nicht. Auf dem Wege, den die Chainen des Militärs frei halten, bewegen sich höhere Offiziere und bevorrechtete Personen der Gesellschaft.

Eine Gruppe steht plaudernd bei einem Offizier der Gardes du Corps, der auf seinem Braunen etwas vor der Linie der Eskadron hält.

»Verflucht kalt, auf Ehre!« sagte ein Mann von etwa dreißig Jahren trotz des feinen Zobel, in den er gehüllt ist. »Ihr Bayard, Graf, dampft wie ein Schornstein. Ich dächte, der Harnisch müßte eine verdammt kühle Tracht heute sein!«

»Ich trage einen seidengesteppten Rock unter der Uniform, Baron, wir Soldaten müssen das gewöhnt sein, es ist nicht, wie bei Euch Civilisten. Aber einen meiner Kerle hab' ich wahrhaftig austreten lassen müssen, er konnte die Glieder nicht mehr regen. Apropos – wie ist Ihnen der Sylvester bekommen? wir haben uns seitdem nicht wieder gesehen. Der Dienst war seitdem unausstehlich!«

»Oh – gut! es war eine famose Nacht, die letzte wahrscheinlich für lange Zeit. Der Karneval wird kläglich sein in Berlin. Ich werde Urlaub nehmen und nach Paris gehen.«

»Dann machen Sie es wie Schipping, der ist auch der Trauer aus dem Wege gegangen und fort.«

»Nach Paris?«

»Nein!« Der Attaché lehnte sich auf den Sattelknopf. »Haben Sie nicht gehört, daß er in Ungnade?«

»Auf Ehre, der Dienst hat mich ganz in Anspruch genommen.«

»Man weiß nicht recht, was geschehen – aber es heißt, er sei nach dem Kaukasus beordert oder nach dem Kosakenland, oder sonst wohin, und müsse wieder in Dienst treten. Sie wissen ja, daß jeder Russe seinen Militärrang hat.«

»Dann werde ich bei der kleinen Alice morgen Visite machen!«

» Ciel! wissen Sie denn nicht, daß die Pariserin verschwunden ist, am Neujahrstage abgereist mit Sack und Pack, kein Mensch weiß, wohin? Aber ich hoffe, ihr in Paris zu begegnen. Haben Sie Nachricht von Kalkstein?«

»Gestern einen Brief über Rom. Er ist seit acht Tagen in Gaëta. Warten Sie, ich habe ihn in der Tasche! Verdammt! da kommt das Kommando.«

»Stillgestanden! – Richt't Euch! Gewehr auf!«

Die Adjutanten flogen den Weg daher, die Kommandeure preschten an ihren Fronten hin, Waffenklang rasselte durch die langen Linien und verlor sich in der Ferne am Obelisk, alles, was nicht in die Reihen gehörte, eilte zur Seite. Majestätisch rollte der Donner der Geschütze durch die Winterluft, verkündend, daß sie den Sarg aufgehoben droben auf Sanssouci, herüber von der Stadt klagten die ehernen Zungen der Glocken, die melancholischen Klänge der Posaunen kamen daher von der Höhe, wie Geisterschatten.

Eine tiefe Stille, trotz der Tausende und Abertausende, lag auf dem weißen Leichentuch, das der Winter dem scheidenden Herrn gespannt über die so geliebten Fluren.

Und lang und lang kam es heran und zog vorüber, Schritt um Schritt den letzten traurigen Weg, und hoch über die Reihen hebt sich der schwarze Katafalk und der Reichshelm schwankt mit den schwarzweißen Federn auf dem Sarge und blitzt im Sonnenschein.

Auf der Mauer der Kaskade steht eine Gruppe, Mitglieder der Loge Nr. 9 aus der Sylvesternacht.

»Sehen Sie, Doktor, dort kommt Wrangel mit dem Reichspanier, und Auerswald trägt die Krone, aus der er so manchen Stern gebrochen!«

»Der da hinter dem Sarg ist der Mann, der Königskrone von Preußen neue Edelsteine einzusetzen! Glaubt mir, Freunde, wir können noch manches erleben!«

»Wer ist dort zwischen den beiden Prinzen?«

»Der König von Hannover, und dort geht der andere Welfe, der Herzog! Schade oder gut Glück, daß es der letzte ist! – das da ist der Großherzog von Mecklenburg, – dort der Großfürst Nikolaus; der so träumerisch schreitet, als suchte sein Auge eine Krone in anderen Weltteilen, ist der österreichische Erzherzog Max! – dort kommt der Coburger, der Schützen- und Turnerprotektor, bis es zum Schlagen kommt, dann zeigt sich sicher sein gutes Blut wie damals vor Eckernförde! – Dort sind die Großherzöge von Baden und Weimar, konstitutionelle Charaktere! – Da kommt Prinz Luitpold von Bayern, der Dessauer Erbprinz und der Herzog von Altenburg. Und die Masse Generale, – ich bin nur begierig, ob einst, wenn's gilt, auch ein Gneisenau und York darunter sein wird? – Sagten Sie nicht, Doktor, daß General von Gerlach krank wäre, das heißt im Ernst, nicht bloß an der neuen Ära?!«

»Gewiß, ich hörte es vorgestern in Sanssouci!«

»Und dort ist er und giebt dem königlichen Freunde und Herrn das letzte Geleit. Vielleicht folgt er ihm selbst bald! Seine Zeit ist auch vorbei!«

Und weiter und weiter geht der Zug, Reih auf Reih, Kolonne auf Kolonne, welche irdische Pracht auf dem stillen Wege des Todes!

Jetzt schwankt der Katafalk vorüber an dem schönen Bau des Siegesthores und unwillkürlich hebt der königliche Leidtragende das Auge zu dem Monument, das der Verstorbene ihm gebaut zu Ehren der Tage von Baden und der Pfalz, als er mit kühner Hand die Rebellion dort zu Boden warf, die aufs neue sich regt jetzt im eigenen Land, nur im anderen Gewand, nicht mit Büchse und Kalabreser, sondern mit dem Talar des Professors und dem Schreibärmel des Richters bekleidet, eine schlimmere Revolution als jene, gegen welche Soldaten halfen!

Vielleicht denkt er auch an jenen Abend auf dem Bahnhof, als die Rebellion zu Boden lag und die Brüder sich trafen: »Gott grüß Dich, Bruder Wilhelm!«

Und weiter und weiter schwankt der Zug – noch geringe Zeit – da donnern die Kanonen und verkünden, daß auch sein Leib auf Erden den Frieden gefunden, den seine Seele bereits im Himmel fand!

Seine Zeit war zu Ende – eine neue begann für Preußen!

(Schluß.)


Herrosé & Ziemsen, G. m. b. H., Wittenberg.

 


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