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Schleswig-Holstein.

Das Diner war beendet, die beiden Herren hatten den norwegischen Haselhühnern und dem berühmten Beauchamel des Wirts Ehre angethan und setzten jetzt, nachdem ein Wink die Kellner des Hotels entfernt hatte, und nur noch zuweilen ein langer Diener in russischer Tracht mit großem Bart und demütiger Haltung den Salon betrat, um mit stummem Blick nach Befehlen zu fragen und gleich wieder zu verschwinden, bei einem Glase ausgekühlten Jacqueson et fils und dem Duft einer Cigarette, bequem in ihre Lehnstühle zurückgelegt, ihre Unterhaltung fort.

Der Salon des Hotels zum Bahnhof in Kiel ging auf den freien Platz vor demselben, der sich nach dem Hafenbassin erstreckt.

Der Ältere der beiden sich französisch unterhaltenden Gäste, ein Mann mit breitem, aufgedunsenem Gesicht von tatarischem Schnitt, war der Fürst Trubetzkoi. Sein Vis-à-vis war weit jünger als er, von kleinem schmächtigen Wuchs, elegant und fein in seiner Erscheinung, ohne deshalb die vornehme Nachlässigkeit in seinem Wesen vermissen zu lassen, die meist die russische Aristokratie und Diplomatie zeigt.

»Ihre Kaiserlichen Hoheiten, die Prinzen von Leuchtenberg,« sagte der Jüngere, »werden noch diesen Abend von Hamburg eintreffen, und der ›Wladimir‹ wird dann sofort in See stechen. Dann bin ich frei und stehe zu Ihrer Verfügung.«

» Shorte wos mi! Wären es nicht Mitglieder der kaiserlichen Familie, so würde ich sagen, sie könnten zum Henker gehen, statt uns diesen Abend zu verkümmern. Die kleine Kunstreiterin, die Sie von Petersburg mitgebracht haben, ist wirklich allerliebst, aber hoffärtig, wie eine der neugebackenen Marschallinnen. Wenn sie Verstand annehmen wollte, würde sie die acht Tage warten, bis wir von Kopenhagen zurück sind, und dann könnten wir die Reise nach Paris zusammen machen. Gehen Sie noch einmal zu ihr, Baron, und bringen Sie ihr Vernunft bei. Ich will mich den Spaß etwas kosten lassen!«

»Lassen Sie sich die Laune vergehen, Durchlaucht,« sagte lächelnd der Baron, »ich bin von Ihren Verführungskünsten überzeugt, aber die Sennora Rositta ist nichts für Sie. Sie schießt und ficht so gut wie sie reitet, aber sie hat Soltikoff von den Preobraschenskern mit der Reitpeitsche traktiert, als er es wagte, im Gange des Cirkus den Arm um ihre Taille zu legen. Sie haben gesehen, daß trotz unserer gemeinschaftlichen Überfahrt auf dem ›Wladimir‹, die ihr der Großfürst aus besonderer Gunst offerierte, sie nicht einmal eingewilligt hat, mit uns zu dinieren. Hätten ihre Pferde nach der so stürmischen Überfahrt nicht der Erholung bedurft, sie wäre schon heute abgereist.«

» K tschortu! Die Seekrankheit pflegt doch sonst die Weiber zahm genug zu machen!«

»Sie hat weniger davon gelitten als ich, und es schien überhaupt nicht das erste Mal, daß sie eine Seefahrt gemacht hat.«

»Lassen Sie die Spanierin nur nach Paris kommen, wir werden dort die Mittel finden, sie gefügig zu machen. Dejéan schlägt mir so leicht nichts ab und ich habe unbeschränkten Zutritt in die Garderoben. Aber sagen Sie mir offen, Baron, ist der Sieg der französischen Partei wirklich gesichert in Petersburg?«

»Hätte ich sonst das Vergnügen, mit Euer Durchlaucht hier zu dinieren?«

»Sie wissen, daß das andere Interessen sind. Wenn wir im Kabinett jetzt vollständig obenauf sind und dieses verdammte Deutschtum endlich überwältigt haben, warum begleitet dann Adlerberg Seine Majestät den Zaren und nicht Dolgorucki oder ein anderer? Sie wissen, daß er uns stets entgegen war und zu Nesselrode hält.«

»Der Kaiser liebt ihn persönlich. Man darf Preußen und Deutschland nicht mißtrauisch machen.«

»Ach! Immer dieses Preußen! Es ist unsern besten Plänen im Wege. Die Verräterei in Berlin allein hat uns in der Krim geschlagen!«

Der Baron lächelte – er hatte einen Teil des Feldzugs mitgemacht und kannte sehr wohl die Mängel und Fehler, die damals mitgespielt hatten. »Es ist die ausdrückliche Bestimmung des verstorbenen Kaisers,« sagte er, »daß Rußland nichts thut, die preußischen Interessen zu verletzen. Nennen Sie es Pietät oder alte Waffenfreundschaft: ich weiß, daß sein Auftreten gegen den Grafen Brandenburg in Warschau damals dem Kaiser noch auf seinem Sterbebett viele Reue gemacht hat. Wäre das nicht, so würden sich die Verhandlungen in Stuttgart morgen weit leichter machen. Die Rheingrenze ist dem Kaiser Napoleon wichtiger noch als die Lombardei.«

Der Fürst blies große Rauchwolken von sich und leerte zweimal sein mit schwerem Portwein gefülltes Glas. »Sagen Sie mir aufrichtig, Baron,« meinte er endlich mit einem falschen lauernden Blick, »was ist die Ursache, daß ich, während alle Welt sich in Baden und Stuttgart zusammenfindet, die Anweisung erhielt, mit Ihnen hier zusammen zu treffen?«

Der junge Diplomat wiegte lächelnd den Kopf. »Sie sind zuweilen etwas extravagant, lieber Fürst und handeln zu sehr nach Ihrem Kopf. So viel ich weiß, denn ich war zur Zeit noch sehr jung, heirateten Sie damals im ungarschen Feldzug gegen den Willen des Kaisers Ihre Gemahlin?«

»Der Teufel hat meine Leidenschaftlichkeit mißbraucht! ich fange in der That an, zu glauben, ich hätte besser gethan, eine andere Revanche zu nehmen. Aber man hat sie in Petersburg sehr gnädig empfangen!«

»Das ist es eben. Man hat die Heirat verziehen, weil man hoffte, durch die Frau Fürstin, Ihre Gemahlin, einen gewissen Einfluß auf die Emigration zu erhalten. Indes – Sie selbst, lieber Fürst, sind vielleicht die Ursache, daß diese Hoffnungen nicht in Erfüllung gingen. Wie man sagt, leben Sie von der Frau Fürstin getrennt?«

» K tschortu! was geht das den Kaiser an oder die Minister? Bin ich nicht Herr in meinem eigenen Hause?«

»Sie wissen, wie streng Seine Majestät in diesem Punkte denken. Herr von Kisseleff hat es daher für am besten gehalten, Sie während dieser Zeit an einem andern Ort zu beschäftigen, damit Ihr Fortbleiben von Baden-Baden nicht wie eine Ungnade aussieht.«

Der stolze Aristokrat verschluckte mit unwilligem Knurren die vergoldete Pille. »Ich denke, ich darf mich auf meine neunjährigen Dienste in Ungarn, in Berlin und Neapel berufen,« murrte er. »Sie wissen, daß ich es bin, der die Mitteilungen über die wiederholte geheime Anwesenheit Cavours und das Drängen der italienischen Partei gemacht hat. Die Abschrift des geheimen Vertrages von Plombières kostet mich hunderttausend Franken.«

»Die Ihnen ersetzt worden sind und den Annenorden in Brillanten als Zinsen eingebracht haben. Es ist heut der 24. September, Seine Majestät der Kaiser muß in Stuttgart eingetroffen sein, denn morgen erwartet man Louis Napoleon.«

»Gestehen Sie zu, Baron, daß meine Nachricht eine Million wert war, nicht hunderttausend Franken, und wohl einige Zänkereien mit meiner Frau ausgleicht.«

»Es ist wahr, sie hat die Zusammenkunft erst möglich gemacht, denn sie giebt eine sichere Position der Unterhandlung. Rußland und Frankreich im Einverständnis sind imstande, alle europäischen Fragen nach ihrem Willen zu ordnen, ohne die englische Einmischung fürchten zu müssen. Ist es erlaubt, zu fragen, auf welchem Wege Sie zu der Kenntnis gekommen sind, Durchlaucht?«

»Ich habe kein Geheimnis vor Ihnen, Dimitri Iwanowitsch,« sagte der Fürst, »Sie sind in gewissem Grade mein Verwandter und ein gescheiter Junge, der seine Carriere machen wird, während meine Gesundheit leider ruiniert ist und ich mich nur noch mit der Politik befasse, um meinem Sohn die Zukunft zu sichern. Die Maske der Ungnade des Kaisers ist allerdings ein bedeutender Beistand, aber der beste, den ich habe, ist ein Bursche von teufelsmäßiger Schlauheit, der mir schon mehr als einen wichtigen Dienst geleistet hat. Er ist in seinem Leben alles gewesen, Wiener Rebell und Spion des österreichischen Kabinetts, aber er scheint in letzter Zeit mit diesem etwas zerfallen. Ich traf ihn in Paris wieder und setzte ihn auf die Spur, die er verfolgt hat, wie ein guter Fuchshund. Er ist ein Mensch von bewundernswürdigem Scharfsinn und wird sicher noch eine Rolle spielen.«

»Sein Name?«

»Doktor Lazare; es ist ein österreichischer Jude, aber er hat Verbindungen in hohen Kreisen und schon bei verschiedenen Gelegenheiten eine Rolle gespielt. Wenn Sie den Ambassaden von Wien, Berlin oder Paris zugeteilt werden, können Sie ihn vielleicht noch einmal brauchen. Dann berufen Sie sich nur auf mich. Er paßt zu jeder Rolle.«

»Ich erinnere mich des Namens und werde ihn nicht vergessen. Wir werden später in Deutschland Subjekte brauchen, die auf die mit einem Ableben des Königs unausbleibliche Bewegung der Parteien influieren können. Aber besorgen Sie nicht, daß er eben so gut das Geheimnis des Vertrages von Plombières an den Grafen Rechberg verhandelt hat?«

»Nein; ich wiederhole Ihnen, Baron Hübner hat ihn beleidigt, und er ist ein Satan an Bosheit. Ich weiß ganz bestimmt, daß das Wiener Kabinett nichts von der Sache erfahren hat.«

»Dann muß man auf anderem Wege wenigstens Verdacht bekommen haben, denn sonst würde Österreich nicht so dringend für die Zusammenkunft der Kaiser in Weimar agitiert haben. Die schlaue österreichische Politik könnte sich diesmal verrechnen. Der Donaufeldzug ist Österreich nicht vergessen. Haben Sie neuere Nachrichten aus Paris?

»Manin, der frühere Diktator und Verteidiger von Venedig, ist vorgestern gestorben. Die Agitationspartei bereitet eine Manifestation bei seinem Begräbnis vor.«

»Nun, die kaiserliche Polizei wird sie unterdrücken. Ich meinte die polnische Propaganda?«

»Sie verhält sich gänzlich still. Czartoryski ist mit den Ultras vollständig überworfen.«

»Halten Sie sie streng im Auge, Durchlaucht. Ich bin gewiß, sie wird uns noch zu schaffen machen. Die Ruhe in Europa wird stets gefährdet sein, so lange die revolutionäre Propaganda einen Palmerston findet, und England sich zum Nest aller Unzufriedenen und Verschwörer hergiebt. Der Tag, wo dies hochmütige Inselvolk dafür die gebührende Züchtigung, nicht bloß wie gegenwärtig in Indien, empfängt, ist hoffentlich nicht mehr fern, und die Zusammenkunft in Stuttgart ist ein bedeutender Schritt weiter auf diesem Wege. Die französische Flotte hat sich in dem letzten Kriege bereits der englischen mindestens ebenbürtig erwiesen, die mit Schimpf aus der Ostsee zurückgekehrt ist. Stuttgart ist unsere erste Bresche in den Traktat von Paris. Wir werden bald wieder ungehindert unsere Schiffe auf den Werften von Nikolajeff bauen. Fünf oder sechs Jahre, und die russische Flotte wird alle Verluste ersetzt haben und ist in der Verbindung mit der französischen England mehr als gewachsen. Doch nun, Durchlaucht, lassen Sie uns zu dem Thema kommen, das unsere spezielle Aufgabe ist.«

»Ich erwarte Ihre Auseinandersetzung.«

»Sie wissen, daß die dänische Erbfolge von jeher eine Streitfrage abgegeben hat. Rußland hat durch die Oldenburgische Linie unbedingt die erste Anwartschaft darauf, wenn der gegenwärtige König stirbt, da Madame Raßmus ihm keine legitime Nachkommenschaft geben kann.«

Der Fürst lachte. »Ich möchte in der That wissen, woher diese Inklination sich schreibt. Das Weib soll nicht einmal hübsch sein! K tschortu! sie muß verborgene Reize besitzen!«

»So sagt man. Sie werden ja in einigen Tagen die Bekanntschaft der Dame machen, denn man wird Sie nicht ohne Vorstellung echappieren lassen! Um wieder auf unser Thema zurückzukommen, so hat Seine Majestät der Kaiser allerdings allen Ansprüchen entsagt, zuerst, weil er glaubte, durch die Verbindung der Großfürstin Alexandra Nicolajewna mit dem Prinzen von Hessen seiner Tochter den dänischen Thron zu sichern, dann, weil die Geltendmachung einen europäischen Krieg herbeigeführt hätte; aber dennoch sind die Interessen Rußlands an der dänischen Krone zu wichtig und groß, um nicht all unsere Wachsamkeit in Anspruch zu nehmen. Der Sund ist für Rußland im Norden dasselbe, was die Dardanellen ihm im Süden sind. So lange wir den Sund durch unsern Einfluß oder unsere Macht beherrschen, ist die Ostsee ein russisches Binnenmeer so gut wie das Schwarze Meer. Dänemark aber verliert seine beste Kraft und ist ohnmächtig, wenn es die Herzogtümer nicht besitzt. Aus diesem Grunde haben wir im Jahre 1851 und 52 so eifrig für die Integrität der dänischen Monarchie agitiert, und im Verein mit England, das diesmal dasselbe Interesse mit uns hat, um die Herzogtümer nicht zur Wiege einer deutschen Seemacht werden zu lassen, den Londoner Vertrag vom 6. Mai zustande gebracht. Die Linie Holstein-Gottorp steht uns näher, als die Augustenburger. Erinnern Sie sich, Durchlaucht, der Artikel 5 und 9 des Testaments unsers großen Zaren, und beachten Sie den Grundsatz: Deutschland kann nie eine Seemacht von Bedeutung werden, so lange ihm Holstein und Schleswig fehlen.«

Der Fürst nickte zustimmend.

»Deutschland,« fuhr der junge Diplomat fort, »ist unbedingt die erste Landmacht Europas, wenn es einig ist. Sollte sich damit noch eine achtunggebietende Flotte verbinden, so würde es Europa beherrschen und das darf nicht geschehen. Darum müssen die deutschen Interessen geteilt und in steter Reibung erhalten werden. Durch den Londoner Vertrag sind die beiden deutschen Großmächte gebunden, ohnehin wird die Eifersucht Österreichs Preußen stets hindern, die Herzogtümer für sich, oder wenigstens für seine Interessen zu gewinnen. Ihre Inkorporierung in den dänischen Gesamtstaat muß nach und nach geschehen und sich vorläufig auf Schleswig beschränken. Die geringen Steuern unter der dänischen Herrschaft wirken am meisten. Man ist jetzt in Kopenhagen auf einem vortrefflichen Wege, und wenn man so fortfährt mit der konsequenten Einführung der dänischen Sprache und Suprematie, wird ganz Schleswig binnen zehn Jahren und Holstein in höchstens zwanzig Jahren gut dänisch sein. Man muß allerdings zugestehen, daß die dänische Geschichte einer der größten Schand- und Blutflecken Europas ist, indes – auch unserer eigenen fehlt es nicht an dunklen Partieen, und Rußland muß unbeirrt seine Aufgabe verfolgen.«

»Ich gestehe, lieber Baron,« sagte der Fürst, »daß ich die Ereignisse hier nicht so genau verfolgt habe. Weswegen also unsere extraordinäre Mission?«

»Der Geist der Opposition, die einige Jahre lang in den Herzogtümern unterdrückt war, fängt seit kurzem an sich wieder zu regen. Die holsteinischen Mitglieder sind unter Protest aus dem Reichsrat geschieden; die Versammlung in Itzehoe hat sich gegen die Gesamtverfassung aufgelehnt, man hat sich an den deutschen Bundestag gewandt und verlangt dessen Hilfe und Einschreiten. Nun wissen wir allerdings, daß die deutsche Bundesversammlung in der Eschenheimer Gasse der würdige Erbe des Reichskammergerichts und seines Schlendrians ist, indes bei irgend einem Wechsel des Regierungssystems in Preußen liegt die Gefahr nahe, daß es für die sogenannten Rechte der Herzogtümer energischer eintritt. Auf der andern Seite sind wir dem Kabinett von Berlin Verbindlichkeiten schuldig; denn es ist uns sehr wohl bekannt, daß es die Offerte Englands vor dem orientalischen Feldzug zurückgewiesen hat, bei einem aktiven Anschluß an das Bündnis gegen Rußland ihm dafür die nationale Ordnung der Herzogtümer zu überlassen. Wir haben es zugeben müssen, daß Österreich und Frankreich bei der Neuenburger Affäre ihre Revanche an Preußen genommen haben, aber wir können nicht offen gegen Preußen auftreten, wo es sich um die Herzogtümer handelt. Aus diesen Gründen muß dem Konflikt bei Zeiten vorgebeugt werden. Wir wissen bestimmt, daß der Erbprinz von Augustenburg sich in den Händen der deutschen Bewegungspartei befindet und mit der Veröffentlichung eines Protestes gegen die Verzichtleistung seines Vaters auf das Erbfolgerecht umgeht. Deshalb muß die Gesamtverfassung sobald als möglich ein fait accompli werden.«

»Aber der Verzicht ist klar und deutlich erfolgt und mit fünf Millionen bezahlt worden.«

»Jawohl! Der Sprottenhandel in Kiel ist fast allein so viel wert. Auf der anderen Seite ist die skandinavische Bewegung in Dänemark und Schweden nicht ohne Gefahr. Schweden ist stets ein Feind Rußlands gewesen und das skandinavische Bündnis muß ein krüppelhaftes Kind bleiben. Das ist eine der Bedingungen unserer Verständigung mit Frankreich; denn das Kabinett der Tuilerieen hatte allerdings früher die Absicht, ein solches Bündnis gegen uns zu unterstützen. Damit Sie, Durchlaucht, in Paris desto besser für unsere Interessen am Sunde wirken können, ist es nötig, daß Sie mit den Verhältnissen und den Persönlichkeiten in Kopenhagen namentlich mit Hall und Baron von Blixen-Finecke direkt bekannt werden, indes ich den gleichen Zweck in Stockholm verfolge. Durch die Gräfin Danner wird man den König vor allem dazu bringen, fest zu bleiben gegen die deutschen Bestrebungen und das Ministerium vielleicht noch durch einige energischere Elemente zu verstärken. Sie wissen, daß dergleichen Missionen nie durch unsere offiziellen Gesandten ausgeführt werden.«

»Ich hörte auf der Durchreise, daß der frühere Minister von Scheele in Frankfurt eingetroffen sei, um die Beschwerden der Stände an den Bund zu überbringen.«

Der Baron lächelte. »Haben Sie Lust, heute Abend, sobald der ›Wladimir‹ abgefahren ist, einer kleinen Expedition beizuwohnen, um ein Pröbchen von diesem revolutionären Geist kennen zu lernen?«

»Wohin wollen Sie mich führen?«

»O nicht weit, nur in eine der Kneipen, in denen die Fremden verkehren. Es ankert in diesem Augenblick ein Schiff hier, das von Reval kommt und uns als höchst verdächtig bezeichnet ist. Es fährt seit zwei Jahren zwischen England und den preußischen und russischen Ostseehäfen und wir haben bestimmte Nachricht, daß es schon wiederholt Agenten der revolutionären Propaganda ans Land geschmuggelt hat und Verdächtigen forthilft. Herzen selbst soll unter der Mannschaft zweimal in Petersburg gewesen sein, und man hat alle Ursache, zu glauben, daß die ›Claire‹, die für einen Londoner Rheder fährt, jene Masse nichtswürdiger Schriften der › Golossah is Rossii‹ einschmuggelt, die jetzt von der revolutionären Partei in Rußland verbreitet werden.«

»Aber warum hat man der Sache nicht längst ein Ende gemacht?«

»Wir haben diese Nachrichten erst vor kurzem erhalten durch eine unserer Spione in London. Der Befehl zur Festnahme und strengen Untersuchung traf zwei Stunden zu spät in Reval ein, als die ›Claire‹ bereits in See war. Wir vermuten, daß ein Staatsgefangener, dem es gelungen ist, auf dem Transport nach Schlüsselburg zu entfliehen und nach Livland zu entkommen, uns bei dieser Gelegenheit entwischt ist.«

»Ein Gefangener von Bedeutung?«

»O nein; einer der drei Tscherkessenhäuptlinge, die vor zwei Monaten im Kaukasus gefangen wurden, und die Murawieff nach Petersburg geschickt hat. Wir passierten die ›Claire‹ auf der Höhe von Arkona, und sie hat diesen Nachmittag im Hafen Anker geworfen. Der Kapitän ist ein Helgoländer, ein entschlossener und schlauer Bursche, aber es sind die nötigen Maßregeln dafür getroffen, daß es seine letzte Fahrt gewesen ist.«

»Wenn Sie mir eine passende Ausstaffierung verschaffen, bin ich von der Partie. K tschortu! ich hoffe, diese Kieler Wirtshäuser ähneln dem Hamburger Berg, wo ich mich ganz vortrefflich amüsiert habe. Wann gehen wir?«

»Der Geist des Volkes ist hier ein anderer, aber es wird uns an Unterhaltung nicht fehlen. Um 9 Uhr 30 Minuten trifft der Zug von Hamburg ein. Die Einschiffung wird etwa eine Stunde dauern und der ›Wladimir‹ geht dann sofort in See, da er bereits geheizt hat. Um halb elf Uhr also sind wir frei.«

Das Gespräch wurde durch den Kosaken Petrowitsch unterbrochen, der, eine Karte zwischen den Fingern, mit gekreuzten Armen demütig an der Thür stehen blieb.

»Was willst Du, Dummkopf?« schnauzte ihn der Fürst an.

»Ist der Kellner draußen, Batuschka, hat mir gegeben das Dings hier und gesagt, daß ein Herr da ist, zu machen Durchlaucht seinen Besuch.«

»Gieb her, was den Teufel!? von Scheele, Minister a. D. Was soll das heißen?«

»Das heißt, liebster Fürst,« lächelte der Baron, »daß Herr von Scheele ein zu gescheiter Mann ist, um nach Frankfurt zu gehen. Er kommt expreß von seinem Gute, um uns ein Rendezvous zu geben. Der Fürst läßt den Herrn bitten, näher zu treten, Petrowitsch.«

Der Kosak verschwand und öffnete gleich darauf die Thür.

Ein Herr von mittleren Jahren, den Danebrog-Orden im Knopfloch des blauen Fracks, trat ein. – – – –


Der Hafen von Kiel ist neben dem goldenen Horn von Konstantinopel der sicherste von ganz Europa. Die ärgsten Stürme, welche die Fluten der Ostsee aufwühlen, verlieren ihre Macht an diesem schmalen und geschützten Meeresarm, der sich tief in das Land hineinstreckt.

Die heftigen Winde, die am 22. und 23. auf dem baltischen Meer getobt und die, im finnischen Meerbusen zum furchtbaren Sturm anschwellend, bei Helgoland einem russischen Linienschiff mit 1600 Menschenleben den Untergang gebracht hatten, waren unschädlich an der kleinen Handelsflotte vorübergegangen, die bis mitten hinein in die Stadt hier vor Anker lag. Nur an einigen Schiffen, die der Sturm noch auf offener See oder zwischen den Inseln getroffen, und die sich glücklich auf die Rhede geflüchtet, zeigten sich die Spuren der Havarie. Am meisten trug diese, selbst für das Auge eines Landbewohners sichtbar, ein sonst stattlicher großer Schoner, von dessen Top unter dem englischen Kreuz die holsteinsche Flagge mit den deutschen Farben munter im Nachtwind wehte, und der etwa dem Königsgarten gegenüber, mitten in der hier schon ziemlich breiten Bucht, vor Anker lag.

Der russische Dampfer, der ›Wladimir‹, war so eben mit glänzend erleuchteten Fenstern und flaggenbedeckt, der Kapitän in voller Uniform auf dem Gang der Räderkasten, vorübergebraust und dampfte der offenen See zu.

» Proschaite!« Leben Sie wohl. sagte spöttisch ein großer breitschultriger Mann, der im blauen Schifferrock den lackierten Hut über die kräftige Stirn gedrückt, am Bollwerk des Hinterdecks lehnte. Dann wandte er sich an einen Mann in Matrosenkleidung, der in kurzer Entfernung von ihm am Rade des jetzt unthätigen Steuers stand und sagte in englischer Sprache:

»Jetzt, Sir, will ich Sie aus Ihrer Gefangenschaft erlösen und Sie ans Land bringen. Ich hatte mein Wort in Reval für Sie verpfändet, und ehe nicht der Russe da uns aus dem Gesicht war, konnte ich nicht mit Sicherheit dafür einstehen, es zu lösen. Machen Sie sich fertig, denn das Boot wird sogleich bereit sein. He da! Nils Petersen, last das Gigh und das Langboot seitlängs legen und übernimm die Wache. Gieb den Burschen, so viel ihrer entbehrlich sind, Urlaub, bis morgen früh, denn sie haben harte Arbeit genug gehabt, in dem Sturm. Ich weiß, Du selbst machst Dir nichts daraus, an das Land zu gehen, alte Seeratte.«

Die Worte an den ersten Steuermann, einen alten wettergebräunten Seemann von kräftigem Wuchs, waren in dem Plattdeutsch gesprochen worden, das man in Hamburg und Helgoland hört, und im gleichen Dialekt erfolgte die Antwort.

»Dat Land döcht den Düwel nix, Kaptän, 't is för dat Wiwervolk gaud, äwer nich för en dägten Seemann, as You un ik.«

»Zu Zeiten ja, Nils Petersen,« sagte munter der Kapitän. »Aber es giebt Geschäfte, die man eben nur am Lande abmachen kann, und ich denke, ein festes Häuschen auf der roten Insel mit einer tüchtigen Frau und einigen Blondköpfen darin ist am Ende auch kein schlechter Aufenthalt in alten Tagen!«

»Ja, wat unse Insel bedröpp, dat is wat anners – dat is ne Insel, äwer keen Land!«

Der Kapitän lachte über die seltsame Logik und reichte dem Mann, mit dem er vorhin gesprochen, und der eben wieder aus der Kajüte emporstieg, die Hand.

Es war eine große, schlanke Figur, das Antlitz von einem dunklen Bart umgeben. Der Schnitt des Gesichts verriet eine andere Heimat, als die der Mannschaft des Schiffes. Die große, feine Nase war kühn gebogen, das Oval des Gesichts schmal, die Augen mit den kühn geschweiften dunklen Brauen blitzten schwarz und feurig. Obschon der Fremde erst in der Mitte der Dreißiger stehen konnte, lag auf seinem, trotz der Bräunung der Luft und jeder Witterung blassen Gesichte doch die Erschöpfung und Erfahrung eines weit längeren Lebens voll Trauer und bitterer Kämpfe.

Seine Bewegungen waren kühn, vornehm und frei, trotz der plumpen Schifferkleidung, die er trug.

Mit dieser Bewegung trat er zu dem Kapitän und drückte herzlich die dargebotene Hand. Obschon er englisch und deutsch geläufig sprach, geschah dies doch mit fremder bezeichnender Aussprache.

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Kapitän,« sagte er. »Ich bin ein armer Flüchtling ohne Heimat, von einem Ihnen fremden Volk, und dennoch haben Sie Freiheit und Eigentum gewagt, um mir fortzuhelfen. Erlauben Sie wenigstens, daß ich Ihrer wackeren Mannschaft meine Erkenntlichkeit bezeige, so weit es meine geringen Mittel erlauben. Ihnen kann ich eben nur mit dem Händedruck eines dankbaren Herzens und eines freien Mannes lohnen!«

»Nichts da,« antwortete der wackere Seemann. »Ihre Überfahrt ist von Ihren Freunden in Reval bezahlt worden, und es war meine Pflicht, Sie sicher auf deutschen Boden zu bringen; denn deutsch ist der Boden hier und wird es bleiben, die Dänen mögen thun, was sie wollen. Zum Glück haben sie das wenigstens von den Engländern angenommen, daß sie die Fremden nicht mit Pässen und Visitationen belästigen, Sie können also unbehindert morgen nach Hamburg kommen, von wo Ihnen die Briefe, die Sie von Reval haben, nach London weiter helfen werden, wenn Sie noch dahin gehen wollen. Ich weiß zwar nicht viel von Ihnen, als was Sie hier und da zufällig geäußert während unserer Überfahrt, aber das war mehr als genug, um zu wissen, daß Sie ein vornehmer Herr sind, der auf dem Festland rasch seine Freunde finden wird, und kein Russe, was mich um Ihrer selbst willen freut. Gern hätte ich Sie mit der ›Claire‹ nach London gebracht, aber meine Ladung lautet zum Teil auf hier, und sobald ich sie gelöscht, muß ich nach Altona segeln und werde kaum Zeit haben, einen Tag auf der roten Insel vorzusprechen, um Frau und Kind und den alten Vater zu begrüßen.«

»Rechnen Sie es nicht für einen Mangel an Vertrauen, Kapitän,« sagte der Fremde, »daß ich Sie nicht näher mit meinem Schicksal bekannt gemacht habe. Es geschah allein, um Ihnen, im Fall ich verhaftet würde, noch größere Gefahr zu ersparen; denn nicht bloß auf russischem, selbst auf deutschem Boden droht sie mir. Der Name, der mir einst gehörte, ist längst verfemt und begraben, und der neue, den ich mir mit meinem Säbel erworben, ist der eines Mannes, der Vaterland, Liebe und Glauben verloren! Sie sollen beide hören, ehe wir scheiden!«

»Zum Henker, Herr!« meinte der ehrliche Schiffer, indem er seinem Passagier voranging, um seitlängs ins harrende Boot zu steigen. »Ich frag' den Teufel nach dem Namen, wenn der Mann brav ist. Und daß Sie's sind, haben Sie in dem Sturm bewiesen, der uns drei Tage lang herumgeschüttelt, als wollte er der ›Claire‹ die Rippen an den Kreidefelsen zerbrechen. Ich habe nur einen vornehmen Herrn gekannt, der in einem Wetter gleich dem, das wir überstanden, an meiner Seite aushielt, ohne auch nur mit den Wimpern zu zucken, so wahr ich Tom Jansen heiße!«

Der Sprecher hatte auf der Spiegelbank des Bootes Platz genommen und einen Schiffsmantel für seinen Gefährten ausgebreitet. Dieser, nachdem er heimlich an Bord auf einem sichern Platz zehn Imperials, fast den ganzen Betrag seiner Habe gelegt und dem Steuermann und den beiden zurückbleibenden Matrosen die Hände geschüttelt hatte, war gleichfalls ins Boot gestiegen und hatte neben dem Kapitän Platz genommen.

»Wer war das, Kapitän, wenn man es wissen darf?« fragte der Passagier, der wußte, daß der ehrliche Seemann gern Garn spann.

Kapitän Tom Jansen, wie er sich selbst genannt, kraute sich in dem dicken Kraushaar. »Ja, Herr,« meinte er endlich, »wenn ich Ihnen sagen soll, wie er eigentlich hieß, so möchte das seine Schwierigkeit haben. Sett't de Remen in, Jongens und strikt mi gaud ut,« befahl er den beiden Matrosen, welche die Ruder aufgestemmt hielten und der Geschichte ihres Baas harrten. »Ji künt hür'n, wenn Ji de Rauder brukt. Nah den guldnen Anker, Jongens, dor willen wie bliwen hüt Nacht, on ik betahl hüt, för den Herrn doa, wat ji vertehren daut!«

Die Ruder setzten ein, und die Gig schoß über die Meeresbucht dem Lande zu, bald darauf gefolgt von dem größeren Boot, in dem die jubelnde Mannschaft den Vergnügungen des Hafens zusteuerte.

»Sehen Sie, Herr,« fuhr der Kapitän zu dem Fremden fort, »es waren im letzten April gerade fünfzehn Jahr, ich war damals ein Jungmatrose, ein toller, waghalsiger Bursche, und eben von einer Fahrt nach Westindien nach unserer roten Insel zurückgekehrt, wohin das Herz immer wieder jeden echten Helgoländer zieht, er müßte denn auf fernem Strand oder Meeresgrund sein letztes Lager gefunden haben. Wir lugten alle an dem Tag auf der Höhe am Leuchtturm aus, und die Claire, ich meine nicht den Schoner, sondern mein Weib, die damals noch eine blutjunge schmucke Dirne war, weinte bittre Thränen bei der Gelegenheit und zeigte mir damals zum erstenmal, wie's um sie stand. Der Nordwest blies in langen Stößen, als wollt' er einem die Zähne in den Hals wehen, und draußen auf dem kochenden und zischenden Meer trieb eine spanische Galliote den Klippen zu und signalisierte um Hilfe, 's ging mich nichts an, aber weil mein Bruder Hannes, der Lotse, und mein Alter die Fahrt machten, war ich flugs auch dabei, um den Mann, von dem ich rede, zum Prahlhans zu machen. Aber als es dazu kam, war er der erste mit im Kutter, obwohl er niemals Seewasser geschmeckt, als auf der Badedüne oder an Bord eines Dampfschiffs, und ich will nicht ein ehrlicher Mann heißen, wenn er nicht so mutig wie einer mit mir in den Gischt sprang, um das gescheiterte Schiff zu erreichen, als die See rings wie ein Höllenpfuhl um die Klippen kochte, und der Tod so billig war wie schlechte Flundern!«

»Sie kamen glücklich an Bord und retteten die Mannschaft?« fragte mit Interesse der Passagier.

»Drei waren ihrer nur noch übrig,« sprach mit ernster Stimme der Seemann. »Zwei waren arme Matrosen; wer der dritte war, hab' ich nicht gehört, obschon ich ihn in Hamburg noch einmal sah und nahe dran war, ihn ins Feuer zu werfen, nachdem er dem Wasser entkommen war. Aber ich habe immer gedacht, obschon's wohl nicht christlich ist, es wäre besser gewesen, die See hätte den schwarzen Spaniolen verschlungen, statt meinen Bruder Hannes, der bei seiner Rettung an den Klippen das Leben ließ!«

Es folgte eine Pause, die nur durch die taktmäßigen Ruderschläge der beiden Matrosen unterbrochen war.

»Und was wurde aus dem Kavalier, von dem Sie sprachen,« frug endlich der Fremde.

»Sie sagen, er soll bei dem Brand von Hamburg umgekommen sein, obschon ich ihn noch am Johanneum kräftig und gesund verlassen habe, während in den andern Stadtteilen die Lohe zum Himmel schlug. Er gab mir damals seine Börse, die voll Gold war und den Grund zu meinem Wohlstand gelegt hat. Als ich nach drei Jahren zum erstenmal wieder auf die Insel kam, hörte ich erst, daß der Baron von Rheinsberg, wie der Herr sich nannte, der auf der Insel unser schönstes Mädchen geheiratet hatte, seit dem Hamburger Brande spurlos verschwunden war. Vielerlei wurde geredet, wie die Manschen immer böse Zungen haben, und ein Mann wollte ihn gar Jahre nachher in Berlin gesehen haben, aber die Leute reden gern was Schlimmes vom Nächsten, sei ihr Kreis auch noch so klein. Es muß doch wohl wahr gewesen sein mit seinem Tod, früher oder später, und mag er geheißen haben wie er will, denn vor fünf Jahren hat Frau Anne, seine Frau, einen mecklenburgischen Hauptmann wieder geheiratet und als ich damals die Claire zur Frau nahm und von dem Gold, das mir im Handel gute Zinsen getragen, den Bau des Schoners auf den Altonaer Werften unternahm, hat mir die Mutter aus freien Stücken sechstausend Mark vorgestreckt, zum Andenken an ihren verstorbenen Schwiegersohn, wie sie sagte; und ehrlich hab' ich's ihr mit harter Arbeit und gutem Glück wiedergezahlt, obschon sie mir's gern auf längere Zeit gelassen hätte. Stopp, mine Jongens, spring eener up de Trepp und treck dat Boot 'ran, un wenn Ji fastleggt hewwt, künt Ji nahkamen.«

Er sprang auf die Treppe des Werfts und reichte dem Passagier die Hand, um ihm heraufzuhelfen. Obschon es erst halb elf war, herrschte auf dem Quai selbst bereits Öde und Stille. Nur in verschiedenen Wirtshäusern am Wasser entlang war Licht und Leben, nicht jenes wüste, wilde Gelärm, wie in den Hamburger oder Portsmouther Matrosenkneipen, sondern wie es der solidere deutsche und nordische Seemann liebt, ein behagliches Gespräch beim Glase Grog oder dem mächtigen Bierkrug und allenfalls an gewissen Abenden der Woche ein Tanz, zu dem dann die Frauen und Mädchen der Nachbarschaft mit ihren Vätern und Männern sich einfinden, statt des leichtfertigen Auswurfs des weiblichen Geschlechts, der sich in jenen Häfen allein an die Seeleute hängt, um ihren sauer erworbenen Lohn mit ihnen zu vergeuden.

Nur zu einem Streit darf es in diesen Wirtshäusern nicht kommen: denn wenn der Wirt es versäumt, ihn bei Zeiten zu schlichten, und eine allgemeine Schlägerei daraus entsteht, dann ist sie um so furchtbarer und blutiger, wenn der nationale Haß der Deutschen und Dänen oder Schweden sich darein mischt und zum Messerwerfen oder der entsetzlichen Grausamkeit des dänischen Kusses greift. Je ruhiger und kaltblütiger gewöhnlich der nordische Charakter sich zeigt, desto schrecklicher und gewaltthätiger ist der Ausbruch seiner Wut, jener Berserkerwut, von der schon die Mythen des nordischen Altertums berichten. Aus diesem Grunde, und weil gewöhnlich nationale Reibungen an diesen Schlägereien Schuld sind, geschieht es daher auch durch stillschweigende Übereinkunft, daß die Nationalitäten der hier ankernden Schiffe meist ihre besonderen Trinkhäuser haben und nur diese besuchen.

Es war eine der beliebtesten und besuchtesten Tabagieen, zu der der Helgoländer Kapitän seinen Passagier führte. Ein langer und breiter Küchenflur, fast die ganze Länge des Hauses einnehmend, war mit Tischen und Bänken an beiden Seiten versehen, die jetzt mit Zechenden und Plaudernden besetzt waren, Männer und Weiber durcheinander, meist Seeleute aus den Häfen der Herzogtümer, aus Kiel selbst, aus Schleswig, Flensburg, Husum und Tönningen oder von den Warten der deutschen Inseln, von Glückstadt, der friesischen Küste oder aus Lübeck und den mecklenburgischen und preußischen Häfen.

Zwischen den Seeleuten saßen viele Bürger, Handwerker und Händler aus der Stadt, mit Schiffsbedürfnissen.

Es ist ein stattlicher kräftiger Menschenschlag, diese Holsten, brav, einfach und offen in ihrem ganzen festen Wesen, ein echt deutscher Stamm durch und durch, der selbst durch die politischen Rabulistereien der Professoren und Advokaten nicht verdorben werden konnte. Die deutschen Bürgersleute Kiels liebten es, mit den deutschen Seeleuten umzugehen und besuchten daher häufig die Tabagieen, wo diese verkehrten. Nur den Dänen mit seiner Brutalität und seiner Falschheit vermieden sie.

An einigen Tischen wurde mit deutschen Karten gespielt, an andern bloß bei Bier und Grogk munter von Heimat und Fremde geplaudert. Viele ließen sich von der Heimat berichten, und wie die dänische Herrschaft von neuem wieder Stück um Stück der deutschen Rechte zu unterdrücken suche, bald schlau die Stände mit gefährlichen Vorlagen in Konflikt mit dem Unterthaneneid und dem angestammten Recht bringend, bald einen Geistlichen, Lehrer oder Beamten chikanierend, der den dänischen Intriguen nicht willig die Hand bieten wollte.

An einem der Tische saß eine Anzahl muntrer junger Gestalten, das verpönte deutsche Band über der Brust, in kurzen Röcken und kecken Mützen, junges Blut, die Hoffnung des Landes, Studenten der Universität, die aus ihrer Professur so manchen tüchtigen Gelehrten, aber auch so manchen politischen Stänker und Phantasten hinaus ins deutsche Land, namentlich nach dem aufnahmewilligen Preußen gesandt hatte.

Links stand die Thür der Stube offen, wo die Honoratioren, einige wohlhabende Meister, Schiffseigentümer und Kapitäne ihre Pfeife oder Cigarre schmauchten. In einer entfernten Ecke des Flurs saß bei einem Kruge Bier und einem Imbiß eine fremdartige Figur unter diesen markigen behäbigen Gestalten, einer jener wandernden slavonischen Hechelkrämer und Kesselflicker, die mit ihren Drahtwaren durch halb Europa wandern. Der arme Bursche zeigte entgegen den Gewohnheiten seiner Landsleute, trotz der Ärmlichkeit seiner charakteristischen Tracht, doch eine gewisse Sauberkeit in seiner Kleidung und schien über das Alter hinaus, in dem gewöhnlich diese Leute ihre Wanderschaft beenden, um mit dem kleinen, pfennigweise zusammengesparten Schatz nach der geliebten Heimat zurückzukehren. Sein hageres, von Not und Leiden durchfurchtes Gesicht hatte trotz dieser deutlichen Spuren etwas Edles, jene melancholische Schönheit, die bei diesem Stamm nicht selten ist, und sein großes dunkles Auge blickte ernst und sinnend auf das Treiben umher.

Ein paar muntere Matrosen, nach der Kneipe schlendernd, hatten den armen Burschen am Hafen gefunden und ihn halb mit Gewalt mitgeschleppt, um ihm ihre gutmütigen Wohlthaten aufzudringen.

Es war heute Donnerstag der 24. September 1857, und Tanzvergnügen, und von dem tenneartigen Anbau im Hintergrund des Hausflurs schallten das Kratzen einer Violine, das Brummen des Basses und die sich zu verschiedenen extravaganten Variationen erhebenden Töne einer Klarinette mit dem hellen Klang des Triangels herüber in das Gewirr der Unterhaltung, und über die Köpfe der Zuschauer her, die den Tanzplatz umdrängten, kam eine Wolke von erstickendem Tabaksqualm und Staub.

Der Wirt, eine Art Riesenfigur von kolossalen Verhältnissen, hatte mit ein paar Aufwärtern alle Hände voll zu thun, um die durstigen Kehlen zu befriedigen, während seine eben auch nicht an hagern Formen leidende bessere Hälfte mit ein paar Mägden in dem wirklichen Küchenraum eifrig mit Bereitung der konsistenteren Nahrungsmittel beschäftigt war.

Der Tanz und die Unterhaltung waren in vollem Gange, als der Kapitän der »Claire« mit seinem Passagier in das Wirtshaus trat. Nachdem sie sich einige Augenblicke in dem dichten Tabaksqualm orientiert, führte der Helgoländer, verschiedenen alten Bekannten an den Tischen zunickend, auch wohl einen Händedruck mit ihnen wechselnd oder aus ihrem Glase einen Schluck nehmend, seinen Schutzbefohlenen in das kleinere Zimmer und nahm dort mit ihm Platz, indem er nach Grog und Abendbrot rief.

Die beiden Ruderer der Gig waren zurückgeblieben, um auf ihre Kameraden vom Schiff zu warten. Der Kapitän und sein Passagier waren aber kaum fünf Minuten in dem Wirtshaus und hatten an einem der Tische in der Stube sich niedergesetzt, als drei Männer ihnen folgten.

Zwei davon waren wie die meisten Anwesenden in Seemannskleidern, der eine, eine breite schwerfällige Gestalt, die nur mühsam, einer Wunde oder eines Schadens halber, mit Hilfe eines Stockes vorwärts schritt, der andere jung und mit einem Gesicht, mit Händen und Füßen, die wenig zu seinem rauhen Beruf zu passen schienen. Der dritte war ein kleiner ältlicher Mann in bürgerlicher Kleidung mit einem unangenehmen Gesicht und ruhelosem Auge. Nachdem sein Blick rasch die Gesellschaft in beiden Räumen gemustert und gesehen, wo die beiden Ersteingetretenen Platz genommen hatten, setzten sie sich auf seinen Wink an den Tisch des Slowaken, von wo sie sowohl den Flur, als durch die offene Thür jene Stelle der Stube überschauen konnten. Der Kleine rief den Aufwärter, um Grog kommen zu lassen, und dann waren sie bemüht, so wenig wie möglich Aufmerksamkeit zu erregen und unterhielten sich leise oder horchten auf die Gespräche umher.

Weder Kapitän Jansen, noch sein Gefährte hatten sich um die drei Männer bekümmert oder sie auch nur bemerkt. Der wackere Kapitän rief den Wirt an, mit dem er sehr vertraut war, bestellte Essen und Getränk und sagte dann:

»Bleib einen Augenblick hier, Claas Lorinsen, ich habe Euch um einen Dienst zu bitten.«

»Sogleich, Kapitän,« meinte der Wirt. »Ich will bei meiner Alten nur erst Euer Essen bestellen und ein neues Viertel auflegen, dann steh' ich Euch zu Diensten!«

Er eilte durch den Flur, wo er im Vorbeigehen dem Kleeblatt im Winkel einen scharfen Blick zuwarf. Die Gäste, wenigstens der eine von ihnen, schienen ihm wenig zu behagen; denn obschon gerade dieser ihn sehr vertraulich begrüßte, schüttelte er bedeutsam den Kopf, als er ihm aus dem Gesicht war.

Bald darauf kam er wieder und setzte sich zu dem Kapitän. »Nun, Freund Jansen, was ist's, womit ich Euch dienen kann?« fragte er freundlich.

»Eigentlich nicht mir, sondern diesem Herrn hier,« antwortete im beliebten Plattdeutsch der Helgoländer. »Aber nichtsdestoweniger, Freund Lorinsen, werd' ich es aufnehmen, als hätte es mir selber gegolten. Der Herr hier ist kein Seemann, das hat Euch wohl schon Euer kundiger Blick gezeigt, wenn er auch jetzt unsere Jacke trägt. Er will morgen mit dem Frühzug nach Hamburg, und Ihr sollt ihm zunächst ein Nachtlager geben.«

Der Wirt griff höflich an die Mütze. »So gut als wir's haben, Herr, mit Vergnügen.«

»Weiter,« sagte der Kapitän, »müßt Ihr diesen Abend oder morgen in der Frühe von einem Kleiderjuden passende Kleider für ihn holen lassen, damit er den Seemann auszieht. Die Hamburger haben so gut scharfe Augen wie Ihr, und es paßt sich nicht, daß er dort als was Falsches gilt. Ist der alte Isaac Rosenthal noch auf den Beinen?«

»Ich denke; der alte Wucherer ist eine wahre Nachteule!«

»So schickt einen sichern Boten zu ihm und laßt ihn in das Zimmer dieses Herrn bescheiden. Da er durchaus von mir keinen Geldvorschuß annehmen will, beabsichtigt er einen oder zwei Edelsteine zu verkaufen, die sein Eigentum sind. Er hätt' es freilich besser in Hamburg gethan, aber er besteht nun einmal auf seinem Willen.«

Der Wirt nickte. »Der Jude soll geholt werden; wenn er nicht Geld bei sich hat, helf' ich gerne aus, so weit meine Kasse reicht. Ich weiß, Kapitän Jansen, daß Ihr mir nur einen Ehrenmann empfehlen könnt, aber eben darum möcht' ich Euch fragen, hat der Herr etwas zu fürchten?«

»Nicht, seit der ›Wladimir‹ in See gegangen ist. Die Sache ist nicht mein Geheimnis, Claas Lorinsen, und ich weiß eigentlich selber nicht viel mehr davon, als daß er mir von guter Seite dort, von wo ich ihn hergebracht und wo er in Gefahr war, in die Hände der russischen Schergen zu fallen, empfohlen worden, und ich selbst habe gesehen, daß er ein so wackeres Herz in der Brust hat, wie nur einer, der jemals ein Deck unter seinen Füßen gehabt hat.«

»Ich fragte auch nur,« sagte der Wirt, »weil ein paar Gäste da sind, die ich lieber draußen sähe, als innerhalb meiner Koje.«

»Wen meint Ihr?«

»Dort den schieligen Burschen am Tisch, wo der arme Kerl, der ungarische Topfstricker sitzt; 's ist ein verdorbener Krämer, der bei den Dänen den Spion spielt. Ich muß den alten Thoren den Kloster-Vogt vor ihm warnen; denn er schwatzt wieder von dänischer Tyrannei und deutschem Recht, als wäre er mitten unter seinen Leuten und auf drei Seemeilen weit kein dänisches Ohr in seinem Umkreise!«

Auf die Warnung des Wirtes hatte der Kapitän nach der bezeichneten Gruppe gesehen; auch sein Passagier, der bisher mit dem Rücken nach der Thür gesessen, drehte sich, durch eines oder das andere in der Rede veranlaßt, um, und schaute aufmerksam dahin.

Das fremde Kleeblatt saß jedoch, namentlich die beiden Seeleute, im Schatten, so daß man ihre Physiognomieen nicht erkennen konnte, während das Gesicht des Passagiers voll von der Gasflamme beleuchtet war. Nur das traurige ernste Gesicht des armen Slowaken konnte er deutlich erkennen, dessen dunkles Auge zufällig dem seinen begegnete und an ihm haften blieb.

Er wandte sich gleichgültig wieder um und setzte sein Gespräch mit dem Kapitän fort, da der Wirt unterdes seiner Wege gegangen war.

Nicht so gleichgültig dagegen hatte man seinen Anblick von jenem Tisch aufgenommen.

Als der geheimnisvolle Passagier sich umdrehte und im vollen Licht zeigte, sah der Matrose, der an dem Stock hinkte, ihm gerade ins Gesicht.

Die braune ungesunde Farbe des Mannes verwandelte sich in fahle Blässe und seine kleinen Augen schienen den Fremden zu verschlingen. Im nächsten Moment flog wieder eine dunkle Röte über das häßliche Gesicht, und er faßte krampfhaft den Arm seines jüngeren Begleiters.

»Wissen Sie gewiß,« fragte er mit widerlicher dünner Stimme den Mann, der sie hierher geführt, »daß jener ungeschlachte Kerl der Kapitän des Schiffes ist, das diesen Nachmittag aus Reval angekommen ist?«

»So sicher, als ich diesen Schluck Grog in meiner Kehle fühle. Ich kenne den Kapitän, seit er in der Ostsee fährt, und machte Sie darauf aufmerksam, als wir ihnen auf dem Wege begegneten.«

Der Mann mit dem Stock kehrte sich hierauf zu dem Gefährten im Seemannskittel. »Erinnern Sie sich des Namens nicht, Baron,« sagte er leise auf Russisch, »den der Tscherkessen-Häuptling führte, von dessen Flucht bei Petersburg Sie mir diesen Nachmittag erzählten? Hieß er vielleicht Sefer Bey

»Wahrhaftig! ich glaube, so war es, Durchlaucht. Warum fragen Sie danach?«

»Der Mann dort, der mit dem Kapitän des Schiffes aus Reval gekommen ist, ist Sefer Bey, wenn mich nicht alles täuscht!«

»Aber Sie dienten nie im Kaukasus, Durchlaucht, so viel ich weiß. Woher sollten Sie den Rebellen kennen?«

»Lassen Sie sich daran genügen, – ich kenne ihn! Wir müssen ihn festnehmen lassen, damit er unserer Regierung wieder ausgeliefert wird!«

»Keine Übereilung, Fürst!« sagte der verkleidete Diplomat. »Wenn es sich wirklich so verhält, wie Sie sagen, dann ist der Bursche uns entgangen. Wir befinden uns hier in fremdem Lande, und der Kapitän würde Schutz fordern für die englische Flagge, unter der er mit seinen Leuten fährt. Wir können uns nicht wegen eines elenden Tscherkessen mit dem Kabinett von Saint James überwerfen.«

»Tausend Rubel wollte ich geben,« murmelte jener, krampfhaft die Hand ballend, »wenn der Flüchtling einzufangen wäre!«

Der junge Diplomat schüttelte den Kopf. »Ich weiß zwar nicht, warum Sie solchen Wert darauf legen,« meinte er, »aber wenn dem so ist, läßt sich die Sache vielleicht auf andere Weise zustande bringen. Darf ich unserem würdigen Führer hier ein anständiges Douceur versprechen?«

»Soviel Sie wollen!«

Der jüngere Pseudo-Seemann sprach hierauf flüsternd mit dem Exkrämer, der ihn mit verschmitztem Lächeln anhörte.

»Hei!« sagte derselbe, indem er sich die Hände rieb, »das trifft sich ja ganz vortrefflich! Ich hatte eigentlich etwas anderes auf dem Strich, den Galgenvogel da drüben, der den Narren von Studenten seine Freischärler-Lügen auftischt! Und auch der alte Schwätzer dort hat lange sein Teil verdient.«

»Wer sind die Leute?«

»Der bei den Studenten dort ist ein Preuße, ein verlaufener Photograph. Er war bei den Tannschen, als sie vor acht Jahren mit Gewalt uns die deutsche Konstitution aufdrängen wollten, während wir's unter der dänischen Herrschaft hier immer weit besser gehabt haben, wenig Steuern und mehr Freiheit, als wir brauchen konnten. Ich glaube, er hat damals eine Liebschaft angezettelt in der Nachbarschaft, und deshalb ist er wieder gekommen nach so langer Zeit. Der andere, der frühere Bauernvogt von Sankt Johann, ist der Schwiegervater, den er gern haben möchte; aber wenn sie auch sonst gleiche Kappen tragen und Rebellen sind gegen die Obrigkeit, unsere Bauern sind nicht die Leute, die ihre Töchter einem Lumpen von Habenichts geben!«

»Aber wie wollt Ihr es anfangen, unsern Zweck zu erreichen?«

»Nichts leichter als das! die Gelegenheit ist in der Nähe. Mit einigen zwanzig Spezies will ich den größten Lärm hier anzetteln, und die Polizei soll dann alles verhaften. Wer sich nicht ausweisen kann, spaziert ins Gefängnis. Wir können's leicht machen, daß dem Burschen, den Euer Gnaden auf dem Korn haben, das auch passiert. Das weitere wäre dann freilich Ihre Sache!«

»Es genügt vollkommen. Hier haben Sie Gold, zehn Imperials. Genügt das?«

»Gewiß.«

»Versprechen Sie eben so viel den Polizeibeamten, wenn es gelingt. Sie selbst sollen nicht vergessen werden.«

Der Spion grinste höchst vergnügt. »Ich muß Sie jetzt verlassen,« sagte er, »aber es wird nicht lange dauern. Was auch geschehen möge, mengen Sie sich in nichts, und verlassen Sie diesen Platz nicht.« Damit schlüpfte er hinaus.

Die Unterhaltung am Tisch der Studenten war eine ziemlich laute; die beiden Russen, die genügend Deutsch verstanden, horchten auf sie.

Der Freischärler, wie ihn der Spion genannt, war ein Mann von schlanker Figur und hübschem entschlossenen Gesicht unter dem hellbraunen Haar. Er mochte etwa dreißig Jahre zählen und trug einen Napoleonsbart, der zum Teil eine tiefe Narbe bedeckte.

Die Rede schien eben auf das Kapitel der Ahnungen des Todes, wie sie oft Krieger vor der Schlacht beschleichen, gekommen zu sein; denn auf die Frage eines der jungen Männer, ob ihm in seinem wechselvollen Leben nie dergleichen vorgekommen, nickte der Photograph ernst und reichte sein leeres Seidel dem vorübergehenden Wirt zum Füllen.

»Ein frischer Trunk,« sagte er, »kann bei der heißen Erinnerung nicht schaden. Ich halte nicht viel auf dergleichen Stimmungen, obschon ich manchmal Gelegenheit genug dazu gehabt hätte. Eine derselben will ich Ihnen, da sie sich hier in der Nähe ereignete, erzählen, wenn es Ihnen genehm ist, sie zu hören.«

Die Umsitzenden baten eifrig darum, und der Preuße erzählte, nachdem er das Seidel halb geleert, folgendes:

»Wie ich Ihnen bereits gesagt, stand ich damals bei dem Tannschen Korps. Es war in der Nacht vom grünen Donnerstag zum Freitag, also zwei Tage vor der Schlacht von Schleswig, die unser alter Vater Drauf schlug; unser Korps lagerte zwischen hier und Eckernförde im Wald an dem Meerbusen. Sie kennen ja wohl alle das Terrain, auf dem damals das vielbesprochene Gefecht bei Altenhof vorfiel, das erste, in welchem die irregulären Truppen sich auszeichneten. Die Chaussee von Eckernförde zieht sich dicht am Ufer der See entlang, wo die kleinen Batterieschanzen zu sehen sind, von wo die ›Gefion‹ genommen und der ›Christian VIII.‹ in die Luft gesprengt wurde. Dicht an der Biegung, nicht weit von dem sogenannten weißen Hause, wo die Chaussee einen Ellbogen zu dem Eichen- und Kieferngehölz macht, liegt auf der anderen Seite ein Rohrdickicht. Dahinter, nach Altenhof zu, erhebt sich das Terrain und geht in das Gehölz über.

»Ich lag in der Nacht mit auf der Feldwacht und hatte kurz vorher meine Patrouille bis in die Nähe des weißen Hauses gemacht, wo die Dänen standen, die Eckernförde inne hatten. Ich war der Meinung, daß sie selbst eher einen Überfall von uns erwarteten, als wir von ihnen, und kehrte daher mit meinem Soutien unbesorgt zu dem kleinen verlassenen Tischlerhause zurück, das unweit des Waldrandes steht, und in dem unsere Feldwache Quartier genommen. Wir waren etwa 15-20 Mann, unser Leutnant ein ehemaliger Eisenbahnbeamter aus Elberfeld.

»Die kleine Abteilung war aus sehr verschiedenen Landsmannschaften zusammen gesetzt; außer mir, der ich ein Schlesier bin, befanden sich ein früherer Wachtmeister der bayrischen Dragoner, Max Obermaier, dabei; ferner ein Herr von Alten, dessen Bruder, wenn ich nicht irre, noch Landrat am Rhein ist; ein Rheinländer, namens Schön, ein verwegener alter Bursche, der schon früher in Algerien gedient; ein Dr. Weißleder, aus Göttingen, ein Sänger Homann, vom Altonaer Stadttheater, ein Architekt Meier aus Düsseldorf, ein früherer Potsdamer Oberjäger Lindemann und zwei Sachsen, von denen der eine ein Weißgerbergesell war.

»Wir hatten uns in einem alten Topf aus dem Rum unserer Feldflaschen eine Grogbowle gemacht und plauderten, in dem engen Stübchen um den Tisch sitzend, von allerlei, als plötzlich das dünne Talglicht auf dem Tisch einen sogenannten Leichenräuber schoß und dieser auf den Bayern Obermaier zufiel, der allein bisher still und in sich gekehrt gesessen hatte und von uns allen deshalb schon mehrfach zum Gegenstand unserer kameradschaftlichen Spöttereien genommen war.

»›Holla, Mann,‹ sagte lachend der ehemalige Fremdenlegionär, ›siehst Du nicht, was Dir beschieden ist? Das bedeutet Unglück im ersten Gefecht, das wir haben werden!‹

»Der Bayer richtete ruhig und traurig sein Auge auf ihn. ›Sie mögen Recht haben, ich weiß es schon seit mehreren Tagen. Wenn ich falle, werden Sie das Nötige in meiner Brieftasche finden.‹

»›Unsinn,‹ rief der Leutnant. ›Was sind das für Reden! Fallen können wir alle, aber niemand weiß, wann und wie. Sie sehen mir doch sonst nicht aus, lieber Obermaier, wie ein Mann, der an Narreteien und alten Weiberspuk glaubt.‹

»›Gewiß nicht, Leutnant, und dennoch – aber lassen wir die Sache, seinem Schicksal entgeht keiner, weder Sie noch ich!‹

»Es mochte etwa halb drei Uhr sein, wir scherzten noch über den Gegenstand, als plötzlich die Schildwache vor dem Hause mit dem Kolben das Fenster einschlug und rief: ›Die Dänen kommen!‹

»Wir waren im Nu auf den Beinen und aus der Stube heraus, aber sie hatten uns so vollständig überrascht, daß sie schon im Gehöft waren und ihre Kugeln uns um die Ohren knallten, eh' wir noch recht wußten, was thun. ›Hinter das Holz, Kinder!‹ rief unser Leutnant und alles rettete sich, so gut und eilig jeder konnte in der Dunkelheit hinter die Hausecke und rannte hinter die Holzstöße, die unweit des Hauses aufgestapelt waren. Einer von uns war gerade an einem geheimen Ort, den man sonst gewöhnlich nicht in anständiger Gesellschaft zu erwähnen pflegt. Zum Glück hatte er sein Gewehr mitgenommen, damit schoß er den nächsten Dänen nieder und kam, die Hosen in der Hand, uns nachgerannt.

»Sobald wir hinter dem Holz waren, begannen wir unser Feuer, wurden aber bald bis hinter die Waldlisière zurückgetrieben. Hier setzten wir uns, holten unser im Wald postiertes Soutien heran und eröffneten nun ein scharfes Tirailleurfeuer, als es plötzlich über uns in den Wipfeln krachte, Äste und Zweige herunter kamen und von der See her der Schuß eines schweren Geschützes donnerte.

»Jetzt erst bemerkten wir, daß auch auf dieser Seite der Feind uns überrumpelt hatte. Die Korvette Galathee war über Nacht in den Meerbusen eingesegelt und hatte sich dem Gehölz gegenüber vor Anker gelegt. Sie beschoß dieses mit Vollkugeln, um uns aus der gesicherten Position zu vertreiben, während ein gleichfalls herangekommenes Kanonenboot mit Kartätschen über die Chaussee hinweg durch die Niederung nach Altenhof fegte.

»Unser erstes Treffen hatte ausgeschwärmt, noch war keiner der Unsern gefallen, obschon ein stürzender Ast bereits den Trompeter zu Boden geschlagen hatte. Aber rasch war dieser wieder auf den Beinen und ermunterte die Leute.

»In dem Augenblick wurde zum Eindoublieren geblasen, und die Kette rangierte sich. Ich war einer der Vordersten, und einige Schritte hinter mir stand Obermaier als mein Soutien. Bei dem Signal trat er an mich heran, um sich mir anzuschließen und war etwa einen Schritt entfernt, als ein Kartätschenschuß zwischen uns durchfuhr. Ich hörte, bereits im Anschlag, einen kurzen Aufschrei und fühlte mich im Nacken mit Blut und warmem Fleisch bedeckt, als ich mich umwandte, lag Obermaier im Todeskampf am Boden, eine Kartätschenkugel hatte ihm die Brust aufgerissen.

»Man trug den Verscheidenden zurück, alle Hilfe war natürlich vergeblich. Die Kugel selbst war bis in den Rücken gedrungen und in der Haut stecken geblieben. Als wir später seine Sachen durchsuchten, fanden wir darunter einen noch nicht vollendeten Brief an seine Mutter, noch in Hannover angefangen, in dem er von ihr Abschied nahm, da er gewiß sei, im ersten Gefecht zu fallen.

»Der Leichenräuber hatte wahr gesprochen!«

Der Erzähler schwieg, auch der muntere Kreis um ihn her bewahrte mehrere Minuten tiefes Schweigen, so hatte die einfache Erzählung alle ergriffen.

»Wollen Sie uns nicht weiter von dem Verlauf des Gefechts erzählen?« fragte endlich einer der Musensöhne.

»Sehr gern, wenn Sie es wünschen,« antwortete der Freischärler. »Es steht zwar vieles darüber in den militärischen Beschreibungen des Feldzuges, aber das lebendige Detail entgeht denselben gewöhnlich. Wir schlugen uns wacker fort, bald geworfen, bald vordringend, bis wir Unterstützung von unserm Gros bekamen und bald die ganze Linie über Altenhof hinaus im Gefecht stand. Hier war es auch, wo das prophetische Wort Obermaiers an unserm wackern Leutnant in Erfüllung ging. Während des Plänkelns war der Hornist der Dänen, der sich unvorsichtig vorgewagt, erschossen worden. Der Algierer sprang so fort aus der Schützenreihe, ging auf den Erschossenen zu und schnitt ihm unter dem Kugelregen der Feinde die dänische Kokarde ab, mit der er langsamen Schrittes zu uns zurückkehrte, wie er sagte, um uns Rekruten zu zeigen, was ein alter Soldat im Feuer sei. Unterdes war mit Soutien auch der Kommandant unseres Korps, Major von der Tann, herbeigekommen und leitete das Gefecht bei Altenhof. Wir waren eben wieder bis an das Gehölz zurück gedrängt worden und standen hinter den mächtigen Kiefern gedeckt, vor uns, etwa dreißig Schritt entfernt, das Schilfmoor, in das sich die sogenannten schwedischen Bärenjäger geworfen hatten, meist wahre Hünengestalten in ihren braunen Mänteln und Hüten, die so verteufelt gut schossen, daß die Rinde der Bäume, hinter denen wir uns deckten, in förmlicher Linie die Kugeln zeigten, während wir ihnen bisher wenig geschadet hatten, da sie ganz im Schilf verborgen lagen.

»Unser Leutnant, einen Säbel am Riemen, stand auch hinter einem tüchtigen Stamm, von Zeit zu Zeit mit einer Pistole gegen den Feind feuernd; am nächsten Baum, ein paar Schritte entfernt, stand ein guter Freund von ihm, der Oberjäger Griesenbeck, der früher in Potsdam gedient hatte und jetzt munter hinein pfefferte in das Schilf. Er hatte eben wieder geladen, als er bemerkte, daß ihm die Zündhütchen fehlten. Ich hörte, da ich den zweiten Baum inne hatte, wie er sich mit den Worten zu dem Offizier wandte: ›Du, mein Junge, hast Du Kupferhütchen?‹ ›Ja wohl, hier nimm sie!‹ Der Leutnant beugte sich vor und reichte sie ihm hin, der Oberjäger hatte sie eben gefaßt, als der Leutnant den Ruf ausstieß: ›Ach meine Mutter!‹ und sogleich tot nach der Seite fiel.

»Eine Kugel aus dem Schilf hatte ihn hinter dem Ohr getroffen.

»Unser Offizier war so beliebt, daß sofort ein allgemeiner Schrei der Wut erscholl. In diesem Augenblick sah ich, wie sich aus dem Schilf eine riesige Gestalt in ihrem braunen Mantel mit einem teuflischen Ausdruck der Freude auf dem markierten Gesicht emporhob, noch die rauchende Büchse in der Hand, um nach dem Erfolg des Schusses zu sehen. Aber rascher fast als mein Blick lag das Gewehr an der Wange unsers Oberjägers, der Schuß krachte, und die lange drohende Gestalt warf die Arme in die Luft und stürzte zurück in das Schilf.

»Der Feind mußte tot oder schwer verwundet und wahrscheinlich eine wichtige Person in der Schar sein, denn alsbald sahen wir das Schilf von allen Seiten sich bewegen, als kröchen die schwedischen Jäger zu dem Gefallenen heran. Das war nun ein Scheibenschießen für uns, und unsere Kugeln klatschten wacker gerade auf die Stelle hin, bis alles dort ruhig und still war; das Feuer der Bärenjäger hatte aufgehört, und als wir später beim Vorgehen in das Schilf kamen, war alles leer, sie hatten ihre Toten und Verwundeten mit sich geschleppt und nur die großen Blutlachen bewiesen, wie scharf es hier hergegangen war.

»Unterdes hatten die Korvette und das Kanonenboot ihr Feuer fortgesetzt. Das letztere lag gerade der Mündung eines tiefen Hohlwegs gegenüber, durch den wir hindurch mußten, und bestrich ihn der ganzen Länge nach. Es war das schwierigste Stück Arbeit, das wir hatten, da hinüber zu kommen. Unsere Postenkette lag jetzt in einem Graben von halber Mannshöhe, als Major von der Tann herankam, um die Linie abzupatrouillieren. Wir hatten uns unter dem Grabenrand gedeckt, denn der Feind stand in großer Nähe uns gegenüber und schoß fortwährend. Bei der Gelegenheit sah ich, was die kalte Ruhe eines Führers bedeutet, die etwas anderes ist, als Prahlerei, die uns vorhin der alte Algierer zum besten gegeben.

»Der Major war ein tüchtiger Soldat, das kann ihm niemand absprechen. Er ging im Graben entlang, mit dem Oberkörper über den Rand hinwegragend und dem Feuer des Feindes ausgesetzt, ohne auch nur mit den Augen zu zucken. Er rauchte seine Cigarre und präsentierte von seinem Vorrat auf der ganzen Linie unsern Schützen, freundlich mit ihnen plaudernd und sie zum ruhigen Zielen ermahnend. Als wir ihn dringend baten, sich zu decken, meinte er lächelnd, das ginge nicht, man müsse der jungen Mannschaft Mut machen und ihr zeigen, daß nicht alle Kugeln träfen.

»Es war in der That gut, denn die meisten von uns waren noch nie im Feuer gewesen und die ersten Toten hatten doch einen verteufelten Eindruck gemacht.

»Bei der Gelegenheit war es auch, wo ich zuerst unsere emanzipierte Heldin, Madame Lucie Aston, zu Gesicht bekam. Sie kam in Begleitung ihres damaligen Kurmachers, des armen Szipanski und des ehemaligen Studenten Feenburg, der in Berlin eine Rolle zu spielen suchte und so kläglich abfiel. Er trug einen grünseidenen Kittel und eine rote Polenmütze, Madame Aston aber eine Art Kunstreiterkostüm mit Federhut und einem Dolch an der Seite. Sie machte allerlei Redensarten, um uns Mut zu machen, aber die Leute lachten sie aus und sagten ihr ins Gesicht, sie solle sich zum Lazarett scheren, wo die Frauenzimmer hingehörten. Major von der Tann schickte sie zuletzt auch fort.

»Einige Zeit nachher bei einer andern Gelegenheit im Biwak, während wir hartes Kommißbrot beißen mußten und Wasser tranken, ließ sie einen Tisch aufstellen und hielt mit ihrem Narrenstab ein Gelage von dem Wein, den man uns für die Maroden und Kranken geschickt hatte. Da brach denn der Unwille so ernsthaft aus, daß man sie vom Bataillon entfernen mußte zum Lazarett, und ich habe sie dann nicht wieder zu Gesichte bekommen.

»Gegen 11 Uhr kamen die Hamburger Freiwilligen an in ihrer hübschen grünen Tracht, und nun griffen wir den Feind mit dem Bajonett an und warfen ihn bis zum weißen Hause zurück. Aber die Dänen bekamen aus der Stadt Verstärkung und zahlten's uns heim. Unterdes hatten unsre Leute auf der Chaussee vor dem Holz eine Schanze von Seetang aufgeworfen, und hinter dieser hielten wir Stand. Die Dänen rückten an, ich sehe sie noch, ihr Major ein alter Mann, mit weißem Haar an der Spitze, um ihnen Mut zu machen. Er marschierte der Kolonne voran, bis auf etwa zwanzig Schritt von der Schanze, da sah er sich um – und fand sich allein; denn die ganze Kolonne war wohlweislich zurückgeblieben und hatte ihren Major allein marschieren lassen, obschon es den Rotröcken sonst nicht an Courage fehlt. Ich sehe ihn noch, wie er ihnen mit dem Säbel winkte, und gerade da erhielt er einen Schuß dicht unter dem Ringkragen und fiel zu Boden. Unser Sachse, ein Weißgerbergesell, ein wüstes Vieh von Kerl, rasch über die Schanze hinwegvoltigiert, packte den Sterbenden bei den Beinen und schleifte ihn zur Schanze hin. Wie ein Donnerwetter hatte er ihm die Epauletts und Litzen ab und die Uniform aufgerissen und nestelte die Geldkatze los, die der Däne um den Leib trug. Der alte Offizier hatte eine starke goldne Erbskette um den Hals gewunden, an der seine Uhr hing, und der verdammte Marodeur, da er sie nicht so geschwind lösen konnte, riß und zerrte daran, daß wir erbittert ihm zuschrieen, er solle doch den alten Mann ruhig sterben lassen. Aber er hätte ihn sicher noch eher erwürgt, als er an seiner Wunde verschieden war, denn die Kette hielt fest, wenn die Dänen sich nicht jetzt ermannt hätten, und die Kugeln ihm so um die Ohren geflogen wären, daß er wahrscheinlich dachte: besser etwas, wie gar nichts! So ließ er Uhr und Kette im Stich, sprang wieder in die Schanze und hatte, wie sich später ergab, immer noch an 70 Thaler Wert erbeutet. Den alten Major aber holten die Dänen uns vor der Nase weg, nachdem sie einmal wieder Courage gekriegt hatten. – Herr Wirt, ein frisches Seidel, denn mir ist wahrhaftig die Kehle ganz trocken geworden!«

Ein Student bot ihm das seine, der alte Klostervogt aber schaute mit giftigem Blick vom nächsten Tisch herüber und murmelte etwas von Saufaus, der seine Jane nun und nimmer mehr haben solle und müßte sie ihres Eigensinns halber als alte Jungfer sterben. Im Grunde war der alte würdige Vogt nur unwirsch, daß die Erzählung des Photographen seine eigenen Zuhörer angelockt und seinen politischen Discours unterbrochen hatte; denn er selbst hatte bereits eine hübsche Anzahl der silbernen Westenknöpfe springen lassen, nach denen er die genossenen Krüge abzuzählen pflegte.

»Haben Sie auch die späteren Feldzüge mitgemacht?« fragte einer der Studenten, die nicht Lust hatten, den interessanten Erzähler so leichten Kaufs davon zu lassen, der das Gespräch abbrechen zu wollen schien.

»Auch im Jahr Neunundvierzig und Fünfzig, obschon mit einigen Unterbrechungen. Ich verließ das Korps zugleich mit mehreren Kameraden erst als wir zu einer widerwärtigen Exekution gezwungen werden sollten.«

»Ist es erlaubt zu fragen, welche?«

»Die Sache ist bekannt genug geworden. Es handelte sich um die standrechtliche Erschießung eines Kameraden. Wir lagen damals bei Rendsburg und hatten einen Leutnant, der uns bis aufs Blut chikanierte.

»Eines Tages hatte er wieder ganz ohne Ursache die Leute gegen den scharfen Seewind exerzieren lassen und in jeder möglichen Weise malträtiert, als ihn auf dem Heimweg sein Schicksal ereilte. In dem Augenblick, als der Zug in das Thor des Gehöfts einmarschierte, schoß ein Soldat, ein Bayer, namens Salisch Heimbacher, den Leutnant von hinten durch den Rücken, daß die vorn herausfahrende Kugel noch in den Thorpfosten schlug.

»Der Offizier stürzte lautlos zu Boden und verschied gleich darauf.

»Sie können sich den Lärm denken, den diese That machte. Der Thäter war ein Mensch, dem die besten Zeugnisse zur Seite standen, und der seinen Dienst ohne Tadel geführt hatte. Er war im Benediktiner Kloster zu Tölz erzogen worden und ein ruhiger stiller Mann, bei seinen Kameraden allgemein beliebt. Er suchte seine That keinen Augenblick zu entschuldigen und erklärte, alle Folgen willig tragen zu wollen.

»Diese konnten denn auch nicht zweifelhaft sein, obwohl die schändlichen Malträtierungen der Leute aufs evidenteste erwiesen waren. Der Bruder des Erschossenen, der dem Kriegsgericht beiwohnte, mußte schweigen vor den zu Tage kommenden Details. Die Armee der Herzogtümer wurde damals, nach dem Abgang des General von Willisen, vom Generalmajor von der Horst kommandiert, und das gefällte Todesurteil rasch bestätigt; denn unter den aus so verschiedenen Elementen zusammengesetzten Scharen mußte die militärische Autorität aufs strengste aufrecht erhalten werden. Heimbacher, der vor dem Kriegsgericht sich selbst verteidigt hatte, ging dem Tode vollkommen ruhig entgegen. Am dritten Morgen, als wir eben vom Dienst in die Stadt zurückkamen, wurde er hinausgeführt, das ganze Bataillon war Zeuge. Seine Kompagnie hatte sich geweigert, die Exekution zu vollstrecken, und es war daher Mannschaft von einem Reserveregiment kommandiert worden. Er kniete gefaßt, nachdem man ihm die Augen verbunden, auf den Rasenhügel nieder und fiel bei dem ersten Feuer auf die Seite. Auch die fremden Mannschaften hatten nur mit Widerwillen geschossen und nur Brust und Arm getroffen. Ein herbeispringender Unteroffizier des zweiten Pelotons mußte ihm das Gewehr an die Stirn setzen und ihm den Kopf zerschmettern, um seinen Todeskampf zu enden!«

»Ich gestehe, meine Herren,« fuhr der Erzähler fort, »ich habe dem Tode oft ins Auge geschaut und bei dem Sturm von Fridericia die Kameraden um mich fallen sehen, wie die Spreu auf der Tenne. Aber niemals hat der Tod solchen Eindruck auf mich gemacht. – Ja, meine Herren, es ist damals viel deutsches Blut um dieses Land vergossen worden, ob mit, ob ohne Dank, wissen Sie am besten. Was Ihr Nachbarland Schleswig anbetrifft, so weiß ich aus eigener Erfahrung, daß man es uns damals dort nicht sonderlich gedankt hat. Vielleicht ist das jetzt anders; denn ich fürchte, nach allem, was ich hier gehört, es wird eine Zeit kommen, wo des deutschen Blutes noch mehr fließen wird. Möge es dann wenigstens nicht wieder vergeblich geschehen, möge die kalte Berechnung der Diplomatie nicht den frischen Pulsschlag des Volkes wieder in ihre Fesseln schlagen und das meerumschlungene Schleswig-Holstein ein deutsches und freies Land sein und bleiben; darauf, meine Herren, stoße ich mit Ihnen aus voller Seele an!«

Und, ob manches Auge auch scheu zur Seite blickte, als fürchte es den Denunzianten, es schlugen doch frisch die Krüge und Gläser an einander, und als eine gewaltige Bierbaßstimme aus dem Kreise der jungen Männer das Lied intonierte, fielen alle umher mit voller Stimme ein und über das Gefiedel der Tanzmusik hinweg scholl es in mächtigem Gesang:

Von der Woge, die sich bäumet
Längs dem Belt, am Ostseestrand,
Bis zur Fluth, die ruhlos schäumet
An der Düne flücht'gem Sand:
:,:Schleswig-Holstein, stammverwandt,
Stehe fest, du deutsches Land!:,:

Auch der Helgoländer Kapitän, der mit seinem Passagier in die Thür der Nebenstube getreten, stimmte in das frische, kräftige Lied mit ein; Claas Lorinsen, der Wirt, aber eilte erschrocken und händewinkend von der Tanzstätte herbei und that alles mögliche, den Gesang zu unterbrechen. Aber erst, nachdem die Strophe zu Ende war, gelang es ihm, zu Worte zu kommen. »Um Himmelswillen, liebe Herren,« sagte der große Mann fast weinerlich, »wollen Sie mich denn um mein Brot, um Haus und Hof bringen? Sie wissen ja selbst, daß das Lied verboten ist und von der Polizei nicht geduldet wird. Ich komme in schwere Strafe und verliere die Konzession. So lieb und wert mir auch Ihr Besuch ist, aber ich darf's wahrhaftig nicht leiden, und Sie thäten mir eine Liebe, wenn Sie ruhig nach Hause gingen!«

Sein erschrockener Blick suchte angstvoll nach dem Gast, den er vorhin als einen Spion bezeichnet hatte, und als er sah, daß er fortgegangen, atmete er ordentlich leicht auf, obschon ihm das Zurückbleiben seiner beiden Gefährten nicht sonderlich gefiel.

»Pfui über Dein Hasenherz, Claas Lorinsen!« brach da die gewichtige Stimme des alten Klostervogtes los, der, von seinem Enthusiasmus hingerissen, bei dem Toast des Photographen zum erstenmal mit seinem Kruge mit dem unliebsamen Freier seiner Tochter angestoßen und dann kräftig in das Lied mit eingestimmt hatte. »Hörst Du schon die dänischen Säbel klappern, wenn einem einmal das deutsche Herz über die Lippen tritt? Wir sind hier nicht auf den Inseln oder in Schleswig, wo sie jetzt wieder hausen, wie die Türken im Christenland und die Beamten und Geistlichen absetzen, die nicht in ihrem verdammten Kauderwelsch Recht sprechen und predigen wollen. Wir haben unser altes von unseren Grafen und dem Reich verbürgtes holsteinsches Recht und wollen den Teufel was zu thun haben mit ihrer lausigen Gesamtverfassung. Was geht's uns an, ob England und Rußland und Preußen und Österreich, die sich dessen in den Hals hinein schämen sollten, uns an die sogenannte Gesamtmonarchie verschachert haben, bloß weil einer dem andern unsern schönen Hafen nicht gönnte! Aber ich sag's Euch, Claas Lorinsen, und jedem, der's hören will, es ist nichts mit unserm Dänischsein und geht gegen die alte Holsten-Natur, und wenn der König von Preußen einmal die Courage kriegt und über Nacht Kiel als fetten Bissen fortschnappt, wird kein Mensch sich darüber grämen, von Kiel bis zur Trave, noch drüben in den Marschen und dann, will ich Den sehen, der mir wehrt zu singen, was ich Lust habe!«

»Seid Ihr toll, Gevatter, oder hat das Lagerbier Euch jeder Überlegung beraubt?« schrie der erschrockene Wirt, indem er dem unvorsichtigen Politiker mit der breiten Hand den Mund zu schließen suchte. »Ihr seid wahrhaftig noch schlimmer als das junge Volk da, während doch endlich unter Eurem weißen Haar Vernunft und Ruhe eingekehrt sein sollte. Ich sollte meinen, die harten Strafen, die Ihr schon habt zahlen müssen, und der Verlust der Vogtschaft hätten Euch endlich lehren sollen, das Maul zu halten. Ruhe, Gevatter, trinkt Euren Krug in Frieden, oder geht Eurer Wege mit dem Burschen da, der das Unheil angezettelt, ich will nichts mehr von der leidigen Politik wissen!«

Der Vogt hatte sich niedergesetzt, während die Studenten sich über den besorgten Wirt lustig machten. »Kommen Sie her, Landsmann, und trinken Sie hier mit mir. Sie scheinen mir wirklich ein anderer Kerl, als ich gedacht, und der Jürgen Rolfshagen ist nicht der Mann, es zu leugnen, wenn er jemand Unrecht gethan hat. Lassen Sie uns plaudern, unbekümmert, ob dieser Hasenfuß von Wirt sich drüber vor Angst die Haare ausreißt oder nicht. Wir sind in Holstein, und solange ich Atem in der Brust habe, will ich pfeifen, wie mir's recht dünkt!«

Der ehemalige Freischärler nahm zum großen Mißbehagen des Wirts die Einladung an, und die Studenten, seiner Gesellschaft beraubt, trafen Anstalt zum Aufbruch und hatten sich eben erhoben, als die Scene plötzlich ein neues Ansehen gewann.

Die Hausthür wurde weit aufgerissen, und herein, übermütig johlend, mit allen Zeichen, daß sie bereits stark getrunken, stürmte ein Haufe von Seeleuten.

Es waren große kräftige Gestalten in unordentlicher Kleidung, die Brust offen, die wilden brutalen Gesichter unter dem wirren Blondhaar erhitzt. An der Seite trugen alle das breite Schiffsmesser mit dem langen hölzernen oder elfenbeinernen Griff in Scheiden von Walroßfell. An ihrer Spitze ging ein Mann von kolossaler Größe, der noch eine halbe Kopflänge über den Wirt des Hauses hinweg ragte. Sein Gesicht mit den kalten wasserblauen Augen und den grimmigen wilden Zügen gewährte einen um so abstoßenderen Anblick, als der breite rotblonde Bart nicht verdecken konnte, daß ihm fast der halbe Unterkiefer fehlte, was eine schreckliche Verzerrung des Mundes zu Wege brachte.

Der Wirt, der eben zu Kapitän Jansen und seinem Passagier getreten war, um ihnen eine Mitteilung zu machen, fuhr erschrocken zurück beim Anblick der neuen Gäste.

»Um Himmelswillen, welcher Kobold führt das Volk in mein Haus! Es ist die Mannschaft der dänischen Brigg ›Olaf‹ und der Satan, der Schwede Hakon Sturluson, der Steuermann vom ›Nordstern‹ ist auch dabei. Ich bitte Sie, Herr, gehen Sie so rasch als möglich nach der Küche zu meiner Frau, sie wird Sie zu dem Juden führen, der eben angekommen. Bleiben Sie dann auf Ihrer Stube; denn wo das Volk hinkommt, droht Unheil, und ich werde genug zu thun haben, mich dessen zu wehren!«

Der Steuermann des »Nordstern« war unterdes zum nächsten Tisch getreten und schlug mit der Faust auf die Eichenplatte, daß die Krüge in die Höhe sprangen.

»Hoïho, Wirtshaus! Wo ist der Spitzbube von Wirt, daß er denkt, eine echte Seemannsgurgel sei so eng wie die einer deutschen Gans? Rum her! Und laßt die Fiedler das Dannebroglied spielen, daß ein tüchtiger Orlogmann danach tanzen kann!«

Nicht dem Wirt allein waren die angekommenen Gäste, die sich überall jetzt breit machten, sich zwischen die einzelnen Gesellschaften und hinten in den Kreis der Tanzenden drängten, unliebsame Erscheinungen. Der alte Vogt klappte mit einem gemurmelten Fluch seinen Krug zu, und die Studenten und mehrere Bürger verließen einzeln das Schankhaus, als der Photograph einen der ersteren im Vorbeigehen am Arm faßte.

»Sehen Sie den Menschen dort an, den mit der furchtbaren Wunde am Kinn! Wissen Sie, wer es ist?« fragte er hastig.

»Wie sollt' ich? Irgend einer von diesen dänischen Krakehlern, er sieht ganz danach aus!«

»Er ist der Anführer der Bärenjäger bei Eckernförde, von denen ich Ihnen vorhin erzählte; ich werde diese Stirn und diese Augen nie vergessen, obschon ich sie kaum eine Minute lang im Gefecht sah!«

»Dann ist es desto schlimmer, wenn er damals Ihren Kugeln entgangen. Wenn Sie meinen Rat befolgen wollen, so kommen Sie mit; denn dieses dänische Volk sucht offenbar Händel mit den deutschen Seeleuten!«

Aber es war bereits zu spät.

Der Wirt hatte die möglichst beste Miene zu dem unwillkommenen Besuch gemacht und war zu dem Steuermann getreten.

»Guten Abend, Herr Hakon Sturluson. Sie sollen sogleich bedient werden, wenn die Herren nur einen Augenblick verziehen wollen!«

»Das rät' Dir Odin, Du deutsches Meerschwein! Schaff' Rum her und die Mädels herbei! wir wollen einmal in dem deutschen Nest auf gut skandinavische Weise lustig sein, und wem's nicht gefällt, der packe sich, wenn er nicht Schläge haben will!«

Die letzten Drohungen galten offenbar den deutschen Gästen, die bereits mit finstern Blicken die wüsten Eindringlinge maßen.

Der Wirt war, um sie bei möglichst guter Laune zu erhalten, nach der Schankstätte geeilt, die Rumflasche zu holen. In diesem Augenblick ging der Passagier der Claire, nachdem er dem wackern Kapitän derselben bedeutsam die Hand gedrückt, durch die Gruppen und an dem langen Schweden vorbei, um nach der Anweisung des Wirts sich in die Küche zu begeben.

Aber er sollte nicht dahin gelangen.

Der Steuermann des »Nordstern« legte die breite Hand auf seine Schulter und drehte ihn wie ein Kind zu sich herum.

»Hei, mein Junge, laß doch einmal schauen, von welchem Schnitt Dein Segel ist? Siehst aus wie ein Seemann und ist doch kein Ernst dahinter, denn Du gehst wie eine Landratte. Herunter mit der falschen Flagge, die Dir nicht gehört!«

Er zerrte an dem Rock des Fremden, der entrüstet zurücktrat. Die dunkle Glut des Zornes flog über seine Stirn, und er stieß die Hand zurück, obschon er die in deutsch-dänischem Dialekt und infolge der Wunde stammelnd gesprochenen Worte nur halb verstanden hatte.

Ehe er jedoch noch seiner Entrüstung Worte leihen konnte, klang von der Schwelle des Zimmers eine kräftige Stimme.

»Hand weg, Hakon Sturluson! Laß den Mann seiner Wege gehen, oder Du hast's mit mir zu thun!«

Es war der Kapitän der Claire, der gesprochen. Der Riese warf ihm einen bösen, höhnischen Blick zu.

»Meinst Du, Helgoländer Bastard, der nicht Brite, nicht Deutscher ist! Nun Du sollst sehen, wie ein echter Schwede Deine Schafe schert! Hierher, meine Jüngferchen!«

Er griff wiederum nach dem Passagier, als der Steinkrug, den der Kapitän Jansen noch in der Hand hatte, im kräftigen Wurf gegen seine Brust flog.

Einen Augenblick taumelte der Schwede zurück, dann schoß eine dunkle Glut über sein Gesicht, und er griff nach dem Messer an seiner Seite.

»Deutscher Hund!« Er bog den Oberkörper zurück und wog das Messer einen Augenblick auf der flachen Hand mit der Spitze des Mittelfingers am Knopf. Aber in dem Augenblick, wo er es warf, fuhr die Hand des Passagiers der »Claire« gegen ihn und schlug seinen Arm in die Höhe, daß der Wurf sein Ziel verfehlte und das Messer zolltief in das Eichengetäfel über der Thür fuhr.

Mit einem heisern Brüllen stürzte der Schwede auf den kühnen Fremden, und ein Faustschlag gegen den Kopf warf ihn blutend zu Boden.

»Messer heraus, Jungens! auf sie!«

Als hätten sie nur auf den Ruf gewartet, hatten die dänischen und schwedischen Matrosen im Nu ihre Messer zur Hand und warfen sich auf die Deutschen.

Aber diese antworteten wacker dem Signal des Kampfes. »Zu mir, Männer von der ›Claire‹!« klang über das Getümmel die kräftige Stimme Jansens und mit allen ihnen zur Hand kommenden Waffen, mit Krügen und Schemelbeinen fielen die verbündeten Seeleute über die Krakehler her.

Das Knie des Steuermanns lag auf der Brust des Fremden, und seine Zeigefinger wickelten sich eben in die Haare seines Schlachtopfers, um das furchtbare Experiment des Augen-Ausdrückens durch die Daumen an ihm zu üben, als ein Schlag über den Schädel ihn betäubt auf den Boden warf.

Es war der ehemalige Freischärler, der so zur dringenden Zeit den Hieb gethan. Der alte Vogt hatte es gesehen und schwang wie besessen seinen Hut. »Hurra, brav gemacht, mein Junge!« schrie der Alte. »Das wird dem skandinavischen Dickschädel ein Denkzettel sein. Ich will nicht frei auf meinem Grund und Boden sitzen, wenn Du jetzt nicht die Jane kriegen sollst, wenn sie Dich noch haben will.«

Der Photograph, besonnener als der Alte, drängte ihn mit Hilfe der Studenten aus dem Getümmel zur Thür. »Fort, fort, Vater! das können wir draußen abmachen – hier haben wir nichts mehr zu thun!«

Er wollte eben aus der Thür, als er von außen zurückgestoßen wurde. Säbel klirrten, das Licht der Gasflammen, das den von der jetzt allgemein gewordenen Schlägerei aufgewirbelten Dampf kaum noch durchdringen konnte, glänzte auf den Bandelieren der Landreiter und Polizeibeamten.

»Im Namen des Königs! Ruhe! Niemand passiert, der sich nicht legitimiert hat!« Die Wachen drangen mit Gewalt hinein und zwischen die Kämpfenden.

Der Kapitän der »Claire« hatte sich noch nicht bis zu seinem Schutzbefohlenen durchzuschlagen vermocht, als er sah, daß dieser so glücklich von seinem Gegner befreit worden und von Claas Lorinsen, dem Wirt, vom Boden aufgezerrt und nach dem Küchenraum gezogen wurde. Er konnte ihn daher für gerettet halten und beschränkte sich nunmehr darauf, mit seinen Leuten den Eingang zur Stube gegen die Tobenden zu verteidigen, deren mehrere bereits aus tüchtigen Wunden bluteten.

Der Wirt hatte den Fremden glücklich aus dem Getümmel gerettet, aber zugleich den Eintritt der Polizei bemerkt. Er zog den Taumelnden durch die Küche, wo die Frauenzimmer sich schreiend in die Winkel geflüchtet, öffnete eine Hinterthür und stieß ihn hinaus ins Freie, ohne darauf zu achten, daß der Mann schwer blutete und sich kaum auf den Füßen zu halten vermochte.

»Hier hinaus, Herr, und warten Sie auf der Straße, bis alles vorüber und die Polizei wieder fort ist. Ich vermute, das wird Ihnen auch lieber sein!«

Damit eilte er wieder fort; aber durch die offen gelassene Thür suchten jetzt auch andere Personen den Ausweg, um der Schlägerei zu entrinnen.

Die beiden Russen hatten mit Interesse dem Beginn der Händel zugesehen ohne große Besorgnis, da sie für den Notfall bewaffnet waren und wußten, daß die Polizei bald erscheinen mußte. Sie begnügten sich daher, sich hinter ihren Tisch zu verschanzen und erst, als der Wirt den Fremden fortschleppte, wurde der Fürst unruhig. »Kommen Sie, Baron, wir müssen ihm nach, auf jede Gefahr!«

»Daß ich ein Narr wäre! wir würden Schläge kriegen von beiden Parteien. Sehen Sie selbst, wo er bleibt, wenn Sie so großes Interesse daran haben.«

Der Fürst, dem es keineswegs an persönlichem Mut fehlte, war trotz des lahmen Fußes bereits hinter dem Tisch hervor und den beiden nach, auch der Slowake benutzte die Gelegenheit, aus dem Getümmel zu entkommen.

Als der Russe auf der Hinterseite des Hauses ins Freie trat, sah er in der Dunkelheit eine Gestalt vor sich her schwanken, dem nahen Wasser zu.

Alles war leer hier und finster. Die von dem Lärm herbeieilenden Neugierigen sammelten sich alle vor dem Haupteingang des Hauses.

Der unglückliche Fremde taumelte noch einige Schritte weiter und auf eine offene Treppe zu, die hier zu einem Kanal des Hafens niederführte. Dann stürzte er zu Boden und rührte sich nicht mehr.

Der Fürst hinkte heran und stieß die bewußtlose Gestalt mit dem Fuß an, aber nur ein leises Stöhnen antwortete ihm. Er trat einen Schritt zurück und pfiff scharf auf dem Finger. Nach einer kurzen Weile, als er Schritte hörte, wiederholte er das Signal. »Hier, Väterchen!« Es war Petrowitsch, der Kosak, der draußen vor dem Wirtshaus auf seinen Gebieter geharrt hatte. Der Fürst deutete auf den Körper zu seinen Füßen und sagte einige Worte auf Russisch. Der große Kosak fuhr erschrocken zurück. »Um der Heiligen willen! Herr, es ist Dein Ernst nicht!«

»Schurke, thu', was ich befohlen, oder ich lasse Dich zu Tode knuten. Hast Du das Schicksal Deines Bruders vergessen? Bei meinem Zorn – gehorche!« Der Kosak kreuzte zitternd die Hände über die Brust, dann beugte er sich nieder, hob den leblosen Körper empor und trat auf die Stufen der Treppe. Der Fürst hinkte, ohne umzuschauen, auf seinen Stock gestützt dem Quai zu. Er war kaum zwanzig Schritt entfernt, als hinter ihm ein plumpendes Geräusch aus dem Wasser herauf klang –

Eine dunkle Gestalt huschte über den finstern Platz.


Am andern Morgen saß Fürst Trubetzkoi am Schreibtisch seines Zimmers im Bahnhofshotel, einen eben geschriebenen Brief siegelnd.

Der Brief war adressiert an Ihre Durchlaucht, die Fürstin Cäcilie Trubetzkoi. Villa Juliana am Gardasee. Der Inhalt lautete:

 

»Madame!

Ich habe die Ehre Ihnen anzuzeigen, daß in diesem Augenblick so wenig ein Sefer-Bey wie ein Graf Stephan Batthyanyi mehr existiert.

Ich werde mir erlauben, Sie im nächsten Frühjahr in Ihrer reizenden Klausur am Gardasee zu besuchen, um Frau und Kind wieder zu sehen, wenn Sie es nicht vorziehen sollten, zu mir nach Paris zu kommen.

In einer Stunde reise ich ab nach Kopenhagen und werde nicht ermangeln, sobald ich in Paris wieder eingetroffen bin, Sie davon in Kenntnis zu setzen.

Madame, ich habe die Ehre, Ihre Hand zu küssen als
Ihr ergebener Gemahl Iwan Fürst Trubetzkoi.«


(Schluß des vierten Bandes.) Mit dem vorliegenden Bande schließt der Roman »Zehn Jahre«, die Fortsetzung von »Villafranca«. Die weitere Fortsetzung trägt den Titel: »Magenta und Solferino«.


Herrosé & Ziemsen. G.m.b.H. Wittenberg.

 


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