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Vierundzwanzigstes Kapitel.

Verhaftung und Prozeß Jesu.

Die Nacht hatte sich völlig niedergesenkt, als man den Saal verließ. Joh. XIII, 30. – Matth. XXVI, 30 und Mark. XIV, 26, berichten von einem religiösen Gesang, wohl in der Meinung, daß das letzte Mahl Jesu das Ostermahl war. Vor und nach diesem sang man nämlich Psalmen. Seiner Gewohnheit gemäß ging Jesus durch das Thal Kedron und begab sich, von seinen Jüngern begleitet, nach dem Garten von Gethsemane, am Fuße des Oelbergs. (Matth. XXVI, 36; Mark. XIV, 32; Luk. XXII, 39; Joh. XVIII, 1, 2.) Hier setzte er sich nieder. Mit seiner Überlegenheit seine Freunde beherrschend, wachte er und betete. Sie schliefen neben ihm, als plötzlich unter Fackelschein eine Schar Bewaffneter erschien. Es waren die mit Stöcken bewaffneten Tempeldiener, – eine Art Polizeimannschaft, die die Priester noch halten konnten – begleitet von einer Abteilung römischer Söldner. Der Haftbefehl ging vom Hohepriester und dem Sanhedrin aus. (Matth. XXVI. 47; Mark. XIV, 43; Joh. XVIII, 3, 12.) Nach der übereinstimmenden Mitteilung der ältesten Christen begleitete Judas selbst die Schar und, wie einige melden, hätte er die Schlechtigkeit so weit getrieben, einen Kuß als Zeichen des Verrates zu bestimmen. Matth. XXIV, 47; Mark. XIV, 43; Luk. XXII, 47; Joh. XVIII, 3; Apostelg. I, 16. – So heißt es bei den Synoptikern; nach Johannes bekennt Jesus sich selbst. Wie immer es sei – eines ist gewiß: daß die Jünger Widerstand zu leisten versuchten. (Darüber stimmen beide Traditionen überein.) Einer von ihnen – nach Augenzeugen Petrus (Joh. XVIII, 10) – zog das Schwert und verwundete einen Diener des Hohepriesters, Namens Malchus, am Ohr. Jesus machte diesem Versuch ein Ende. Er lieferte sich selbst den Söldnern aus. Schwach und unfähig mit Erfolg etwas zu thun, besonders gegen eine so mächtige Autorität, ergriffen die Jünger die Flucht und zerstreuten sich. Nur Petrus und Johannes ließen den Meister nicht aus den Augen. Noch ein anderer unbekannter junger Mann, leicht bekleidet, folgte ihm. Man wollte ihn verhaften, doch der Jüngling floh und ließ sein Kleid in den Händen des Häschers zurück.

Das von den Priestern gegen Jesu angewandte Verfahren entsprach dem bestehenden Rechte. Der Prozeß gegen den Verführer (Mesit), der die Reinheit der Religion anzutasten wagt, wird im Talmud unter Anführung von Einzelheiten erklärt, deren naive Unverschämtheiten ein Lächeln abzwingen. Die Hinterlist des Richters wird als Hauptteil der Strafuntersuchung hingestellt. Wurde einer der Verführung angeklagt, so bestellte man zwei Zeugen, die hinter einem Schirm verborgen wurden. Dann wurde der Angeklagte in ein Nachbarzimmer geführt, wo er von den Zeugen gehört werden konnte, ohne daß er sie sah. Neben ihm wurden zwei Lichter angezündet, damit die Zeugen »ihn sähen«. (Bei Kriminalprozessen galt nur der Augenzeuge.) Dann ließ man ihn seine Lästerung wiederholen und forderte ihn auf, zu widerrufen. Verweigerte er es, so führten ihn die Ohrenzeugen vor den Gerichtshof, der ihn zum Tode durch Steinigung verurteilte. Der Talmud bemerkt, man habe auch gegen Jesum dieses Verfahren angewendet, daß er auf die Aussage zweier bestellter Zeugen hin verurteilt wurde, daß endlich nur bei dem Verbrechen der »Verführung« solche Zeugen in Anwendung kommen.

Von den Jüngern Jesu erfahren wir auch, daß das Verbrechen, dessen ihr Meister beschuldigt wurde, die »Verführung« war. (Matth. XXVII, 63; Joh. VII, 12, 17.) Und abgesehen von einigen Kleinigkeiten, die Frucht rabbinischer Phantasie, entsprechen die Schilderungen der Evangelien vollkommen dem im Talmud beschriebenen Verfahren. Der Plan der Feinde Jesu war ihn durch Zeugenaussagen und durch sein eigenes Geständnis der Gotteslästerung und des Angriffs gegen die mosaische Religion zu überführen, ihn, dem Gesetze gemäß zu Tod zu verurteilen und dieses Urteil von Pilatus bestätigen zu lassen. Die Priestergewalt befand sich, wie schon erwähnt, tatsächlich in den Händen Hanans. Der Haftbefehl kam vielleicht von ihm. Vor diese mächtige Person wurde Jesus vorerst gebracht. Joh. XVIII, 13. Dieser nur von Johannes erwähnte Umstand ist der kräftigste Beweis für den historischen Wert des vierten Evangeliums. Hanan fragte ihn über seine Lehre und seine Jünger. Mit gerechtem Stolz weigerte sich Jesus weitläufige Erklärungen zu geben. Er berief sich auf seine Unterweisungen, die öffentlich erteilt wurden; er erklärte, niemals eine Geheimlehre gehabt zu haben; er forderte den Exhohepriester auf, die zu befragen welche ihn gehört hatten. Diese Antwort war ganz natürlich; doch der übertriebene Respekt, den man den alten Hohepriester widmete, ließ sie kühn erscheinen; einer der Anwesenden soll darauf mit einem Backenstreich geantwortet haben.

Petrus und Johannes waren ihrem Meister bis zur Wohnung Hanans gefolgt. Johannes, der im Hause bekannt war, wurde ohne Schwierigkeiten eingelassen; doch Petrus wurde an der Thüre angehalten und Johannes mußte die Pförtnerin bitten, auch ihn hineinzulassen. Die Nacht war kalt. Petrus blieb im Vorzimmer und näherte sich hier einem Kohlenfeuer, um welches die Diener sich wärmten. Bald wurde er als der Jünger des Angeklagten erkannt. Der Unglückliche, verraten durch seine galiläische Aussprache, mit Fragen verfolgt seitens der Diener, von denen einer ein Verwandter des Malchus war und ihn in Gethsemane gesehen hatte, leugnete dreimal, auch nur die geringste Verbindung mit Jesu zu haben. Er wähnte, Jesus könne ihn nicht hören und bedachte nicht, daß diese Feigheit im höchsten Grade unzart war. Doch seine gute Natur offenbarte ihm bald den Fehler, den er begangen hatte, und ein zufälliger Umstand, ein Hahnenschrei, erinnerte ihn an das Wort, das Jesus ihn gesagt hatte. Tiefbewegt ging er hinaus und begann bitterlich zu weinen. (Matth. XXVI, 69: Mark. XIV, 66; Luk. XXII, 54; Joh. XVIII, 15, 25.)

Obwohl der wahre Urheber des Justizmordes, der geschehen sollte, hatte Hanan doch keine Machtbefugnis über Jesum ein Urteil zu sprechen. Er schickte ihn daher zu seinem Schwiegersohn Kaiphas, der den offiziellen Titel führte. Dieser Mann, ein blindes Werkzeug seines Schwiegervaters, mußte natürlich alles bestätigen. Der Sanhedrin war bei ihm versammelt. (Matth. XVI, 57; Mark. XIV, 53; Luk. XXII, 66.) Das Verhör begann; mehrere Zeugen, nach dem im Talmud erklärten Verfahren vorbereitet, erschienen vor dem Tribunal. Das fatale Wort, das Jesus wirklich gesagt hatte: »Ich will den Tempel Gottes zerstören und ihn in drei Tagen wieder aufbauen,« wurde von zwei Zeugen citiert. Den Tempel Gottes lästern hieß nach jüdischem Gesetz Gott selbst lästern. (Matth. XXIII, 16.) Jesus schwieg, er weigerte sich, die bezichtigten Worte zu erklären. Wenn man der einen Darstellung glauben darf, so hätte der Hohepriester ihn beschworen zu sagen, ob er der Messias sei; Jesus habe das bekannt und vor der ganzen Versammlung sein nahendes Himmelreich verkündet. (Matth. XXVI, 64; Mark. XIV, 62; Luk. XXII, 69. Johannes weiß nichts von diesem Vorfall.) Jesu Mut brauchte dies nicht; er war entschlossen zu sterben. Wahrscheinlicher ist, daß er hier ebenso schwieg, wie vor Hanan. Das war im letzten Moment im allgemeinen sein Verhalten. Das Urteil war festgesetzt, man suchte nur nach Vorwänden. Jesus fühlte das und versuchte nicht sich zu verteidigen. Vom Standpunkt des orthodoxen Judentums war er wirklich ein Gotteslästerer, ein Zerstörer des bestehenden Kultus, und diese Verbrechen wurden vom Gesetz mit dem Tod bestraft. (III. Mos. XXIV, 14; V. Mos. XIII, 1.) Einstimmig erklärte ihn die Versammlung dieses Hauptverbrechens schuldig. Die Mitglieder des Rates, die heimlich ihm geneigt waren, hielten sich fern oder stimmten nicht mit. (Luk. XXIII, 50, 51.) Die Leichtfertigkeit, die bei lang bestehenden Aristokratien gewöhnlich ist, erlaubte den Richtern nicht über die Folgen des Urteils lange nachzudenken. Ein Menschenleben wurde damals sehr leicht geopfert. Zweifellos dachten die Mitglieder des Sanhedrins nicht daran, daß ihre Enkel einer gereizten Nachwelt Rechenschaft werden geben müssen, über ein mit so sorgloser Geringschätzung ausgesprochenes Urteil.

Der Sanhedrin hatte kein Recht, ein Todesurteil vollziehen zu lassen (Joh. XVIII, 31; Joseph, Ant. XX, IX, 1); allein bei der Konfusion der Gewalten, die damals in Judäa herrschten, war Jesus von diesem Augenblick an ein Verurteilter. Den Rest der Nacht blieb er der übeln Behandlung der Knechte ausgesetzt, die ihm keinen Schimpf ersparten. (Matth. XXVI, 67,68; Mark. XIV, 65; Luk. XXII, 63-65).

Am nächsten Morgen traten die Oberen der Priester und die Ältesten zu einer neuen Sitzung zusammen. (Matth. XXVII, 1; Mark. XV, 1; Luk. XXII, 66, XXII, 1; Joh. XVIII, 28.) Es galt, die vom Sanhedrin ausgesprochene Verurteilung von Pilatus bestätigen zu lassen, weil sie seit der Okkupation der Römer für sich allein nicht gültig war. Der Landpfleger war nicht gleich dem Kaiserlichen Legaten mit dem Recht über Tod und Leben betraut. Doch Jesus war nicht römischer Bürger; es genügte daher die Bestätigung des Gouverneurs, um dem gegen ihn gesprochenen Urteil freien Lauf zu lassen. Wie es immer der Fall ist, wenn ein politisches Volk ein Volk unterwirft, bei dem bürgerliche und religiöse Gesetze eins und dasselbe sind, mußten auch die Römer dem jüdischen Gesetze einen gewissen amtlichen Beistand gewähren. Das römische Recht wurde auf Juden nicht angewendet. Diese verblieben unter dem kanonischen Recht, das wir im Talmud verzeichnet finden, ebenso wie die Araber in Algerien noch heute den Gesetzen des Islams unterstehen. Obgleich neutral in religiösen Angelegenheiten, bestätigten die Römer doch häufig die Strafen für religiöse Vergehen. Die Situation war ungefähr ähnlich der, wie die der heiligen Städte Indiens unter englischer Herrschaft, oder wie sie in Damaskus vorhanden wäre, wenn Syrien von einer europäischen Macht erobert würde. Josephus behauptet – was jedoch bezweifelt werden kann – daß, wenn ein Römer in den Tempelhallen die Stelle überschritt, bis wohin, wie die Warnungstafeln lehrten, Heiden gehen durften, er von den Römern selbst den Juden ausgeliefert wurde, damit sie ihn töten. (Joseph, Ant. XV, XI, 5 B. J., VI, II, 4.)

Die Agenten der Priester banden also Jesum und führten ihn zum Prätorium, das früher der Palast des Herodes war und mit dem Turm Antonia verbunden war. Es war der Morgen des Tages, an dem das Osterlamm gegessen werden sollte, Freitag am 14. Nisan (3. April). Wären die Juden im Prätorium eingetreten, so hätten sie sich für verunreinigt gehalten und daher das heilige Fest nicht feiern können. Sie blieben daher draußen. (Joh. XVIII, 28). Pilatus, von ihrer Anwesenheit verständigt, trat auf das Bima hinaus, das im Freien sich befindliche Tribunal, an der Stelle die Gabbatha, oder griechisch Lithostrotos genannt wurde, wegen der Steinplatten, die den Boden bedeckten.

Kaum von der Anklage verständigt, bezeugte er schon seine üble Laune, in diese Angelegenheit hineingezogen zu werden. (Joh. XVIII, 29.) Dann schloß er sich mit Jesu im Prätorium ein. Hier fand eine Unterredung statt, deren genaue Einzelheiten uns unbekannt blieben, zumal kein Zeuge sie den Jüngern erzählen konnte, deren Färbung jedoch von Johannes richtig erkannt worden zu sein scheint. Sein Bericht ist thatsächlich in vollkommener Übereinstimmung mit dem, was wir aus der Geschichte über das gegenseitige Verhältnis beider erfahren haben.

Der Prokurator Pontius, mit dem Beinamen Pilatus – den er zweifellos erhielt, weil einer seiner Ahnen mit einem pilus, Ehrenwurfspieß, ausgezeichnet wurde – stand bis dahin mit der neuen Sekte in gar keiner Verbindung. Gleichgültig gegen die inneren Streitigkeiten der Juden, sah er in allen Sektiererbewegungen nur die Wirkung einer maßlosen Phantasie, eine Verstandsverwirrung. Im Allgemeinen liebte er die Juden nicht. Doch die Juden haßten ihn noch viel mehr; sie fanden ihn hart, geringschätzend, jähzornig, sie bezichtigten ihn der unmöglichsten Verbrechen. Mittelpunkt einer großen Volksgährung, war Jerusalem eine sehr rebellische Stadt und für Fremde ein unerträglicher Aufenthaltsort. Die Exaltierten behaupteten, der neue Landpfleger hätte die Absicht, die jüdischen Gesetze zu vernichten. Ihr beschränkter Fanatismus, ihr religiöser Haß empörte sich gegen das hohe Gefühl für Gerechtigkeit und bürgerliche Verwaltung, das selbst der mittelmäßigste Römer stets bekundete. Alle uns bekannt gewordenen Handlungen des Pilatus zeigen jedoch, daß er ein guter Administrator gewesen ist. In der ersten Zeit seiner Amtsthätigkeit hatte er mit seinen Unterthanen Schwierigkeiten, denen er in recht brutaler Art ein Ende gemacht hat, wobei er jedoch sachlich im Recht gewesen zu sein scheint. Die Juden mußten ihm als in der Zeit zurückgeblieben vorkommen; er beurteilte sie wahrscheinlich wie ein liberaler Präfekt früher die Bewohner der Niederbretagne beurteilte, als sie einer neuen Straße oder neuen Schule wegen revoltierten. Bei seinen besten Projekten für das Wohl des Landes, besonders was die öffentlichen Arbeiten betraf, trat ihm das Gesetz als ein unüberwindliches Hindernis entgegen. Selbst die nützlichsten römischen Bauten waren den jüdischen Zeloten Gegenstand großer Antipathie. Zwei mit Inschriften versehene Votivtafeln, die er an seinem, die heilige Mauer begrenzenden, Palast anbringen ließ, verursachten einen noch heftigeren Sturm. Anfangs beachtete Pilatus diese Empfindlichkeiten sehr wenig; er unterdrückte sie in blutiger Weise, was später auch seine Absetzung herbeiführen sollte. Aber die Erfahrung, die er sich aus so vielen Konflikten gesammelt hatte, machten ihn vorsichtig in seinem Gebahren gegen ein störriges Volk, das sich an seinen Herren rächte, indem es sie zur Anwendung der ärgsten Strenge nötigte. Mit besonderem Unwillen sah sich der Prokurator veranlaßt, eines ihm verhaßten Gesetzes wegen in dieser neuen Angelegenheit eine grausame Rolle zu spielen. (Joh. XVIII, 35.) Er wußte, daß der religiöse Fanatismus, wenn er von der Civilverwaltung irgend welche Gewaltthaten erlangt hat, dann der erste ist, der ihr die Verantwortlichkeit dafür aufbürdet, oder beinahe gar sie deswegen anklagt. Welches Unrecht! In solchen Fällen ist der eigentliche Schuldige der Anstifter. Pilatus wünschte daher Jesus zu retten. Vielleicht machte die Würdigkeit und Ruhe des Angeklagten Eindruck auf ihn. Nach der Tradition (Matth. XXVII) soll Jesus an des Prokurators Frau eine Stütze gefunden haben. Diese konnte den sanften Galiläer von einem der Fenster des Palastes, das gegen die Tempelhallen wies, sehen. Vielleicht auch, daß sie ihn in ihren Träumen sah, und das Blut des schönen jungen Mannes, das vergossen werden sollte, beängstigte sie. Immerhin ist sicher, daß Jesus den Pilatus zu seinen Gunsten gestimmt fand. Der Gouverneur verhörte ihn wohlwollend und mit der Absicht, alle Mittel zu versuchen, um ihn freigeben zu können.

Der Titel »König der Juden«, den Jesus sich nie beigelegt hatte, den aber seine Feinde als den Inbegriff seines ganzen Thun und Wollens darstellten, war natürlich am ehesten geeignet, das Mißtrauen der römischen Behörde zu erwecken. Von dieser Seite wurde er nun angeklagt als Aufrührer und Staatsverbrecher. Nichts war ungerechter! Denn Jesus hatte stets die römische Herrschaft als bestehende Macht anerkannt. Aber die religiös-konservativen Parteien pflegen vor einer Verleumdung nicht zurückzuschrecken. Man zog trotz seiner alle möglichen Konsequenzen aus seiner Lehre; man verwandelte ihn zum Jünger Judas des Goloniters; man behauptete, er verbiete dem Cäsar Tribut zu zahlen. (Luk. XXIII, 2, 5.) Pilatus fragte ihn, ob er wirklich der König der Juden sei. (Matth. XXVII, 11; Mark. XV, 2; Luk. XXIII, 3; Joh. XVIII, 33.) Jesus verhehlte nichts von seinen Gedanken. Aber die große Zweideutigkeit, die seine Kraft gebildet hatte, und die nach seinem Tode ein Reich errichten sollte, war diesmal sein Verderben. Idealist, das heißt Geist und Materie nicht sondernd, den Mund – nach dem Bild der Apokalypse – mit einem zweischneidigen Schwert bewaffnet, beruhigte Jesus die Mächte der Erde niemals ganz. Wenn Johannes zu glauben ist, so hätte Jesus sein Reich bekannt, aber gleichzeitig auch folgende tiefsinnige Worte ausgesprochen: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« Dann hätte er das Wesen seines Reiches erklärt, das sich einzig nur auf den Besitz der Wahrheit und deren Verkündigung beschränke. Pilatus begriff nicht diesen höheren Idealismus. (Joh. XVIII, 38.) Jesus machte sicherlich auf ihn den Eindruck eines harmlosen Träumers. Der totale Mangel eines Proselytentums bei den Römern jener Zeit ließ ihnen das Streben nach Wahrheit als Chimäre erscheinen. Diese Erörterungen langweilten sie und schienen ihnen ganz sinnlos zu sein. Sie erkannten nicht, welche für das Reich gefährlicher Gährungsstoff in den neuen Spekulationen sich verbarg, sie hatten daher auch keinen Grund, gewaltsam gegen diese vorzugehen. Ihr ganzer Unwille fiel auf jene, die von ihnen die Bestrafung dieser eiteln Tüfteleien forderten. Zwanzig Jahre später noch wandte Gallion gegen die Juden dasselbe Verfahren an. (Apostelg. XVIII, 14, 15.) Bis zur Zerstörung Jerusalems galt bei den Römern als Verwaltungsregel, den Streitigkeiten der Sektierer gegenüber völlig gleichgültig zu bleiben.

Dem Gouverneur fiel ein Ausweg ein, um sein eigenes Gefühl mit den Forderungen des fanatischen Volkes auszugleichen. Es war Brauch, gelegentlich des Osterfestes einen Gefangenen dem Volke freizugeben. Pilatus der wußte, daß Jesus nur wegen Eifersucht der Priester verhaftet wurde (Mark. XV, 10), wollte ihm diesen Brauch zu gute kommen lassen. Wieder trat er auf das Bima hinaus und schlug der Menge vor, den »König der Juden« freizulassen. Dieser Vorschlag hatte neben dem Charakter der Großmut auch den einer gewissen Ironie. Die Priester sahen die Gefahr. Sie handelten schnell (Matth. XXVII, 20; Mark. XV, 11) und um Pilatus Vorschlag zu bekämpfen, flüsterten sie der Menge den Namen eines Gefangenen ein, der in Jerusalem sehr populär war. Durch einen seltenen Zufall hieß auch er Jesus und führte den Beinamen Barabba oder Barrabas, (Matth. XXVII, 16.) Er war eine bekannte Persönlichkeit und wurde wegen einer mit Mord verbundenen Emeute verhaftet. (Mark. XV, 7; Luk. XXIII, 18.) Ein lautes Geschrei wurde hörbar: »Nicht diesen, sondern Jesus Barrabas.« Pilatus war verpflichtet, Barrabas freizugeben.

Seine Verlegenheit vergrößerte sich. Er befürchtete, sich bloßzustellen durch zu viel Nachsicht für einen Angeklagten, dem man den Titel »König der Juden« gegeben hatte. Auch nötigt der Fanatismus jede Gewalt, mit ihm zu unterhandeln. Pilatus meinte irgend welche Konzession machen zu müssen; doch da er zögerte Blut zu vergießen, um Leute zu befriedigen, die er verachtete, wollte er die Sache ins Lächerliche ziehen. Eine Verspottung des pompösen Titels, den man Jesus gab, zu bekunden, ließ er ihn geißeln. (Matth. XXVII, 26; Mark. XV, 15; Joh. XIX, 1.) Die Geißelung war die gewöhnliche Vorbereitung zur Kreuzigung. Vielleicht wollte Pilatus glauben machen, dieses Urteil sei schon gefällt und dabei in der Hoffnung, daß die Vorbereitung schon genügen werde. Dann fand, wie alle Berichte melden, eine empörende Scene statt. Soldaten legten ihm einen roten Mantel um, setzten ihm eine Dornenkrone aufs Haupt und gaben ihm einen Rohrhalm in die Hand. So aufgeputzt wurde er vor das Volk auf die Tribüne geführt. Die vorübergehenden Soldaten versetzten ihm Backenstreiche und riefen niederkniend aus: »Heil dem König der Juden!« (Matth. XXVII, 27; Mark. XV, 16; Luk. XXIII, 11; Joh. XIX, 2.) Andere, heißt es, spieen ihn an und schlugen ihn mit Stäben auf das Haupt. Nur schwer läßt sich begreifen, wie die römische Gravität zu solchen Schändlichkeiten sich hergeben mochte. Pilatus hatte als Prokurator zwar nur Hilfstruppen unter seinem Befehl. Römische Bürger, wie es die Legionäre waren, hätten sich zu solcher Würdelosigkeit nicht herabgelassen.

Glaubte Pilatus mit dieser Schaustellung seine Verantwortlichkeit zu decken? Hoffte er den Schlag, der Jesum bedrohte, abzulenken, indem er dem Haß der Juden etwas bewilligte, um, den tragischen Abschluß in ein komisches Ende verwandelnd, die Meinung zu bilden, die Sache verdiene keinen andern Ausgang? (Luk. XXIII. 16, 22.) War das sein Streben, so blieb es erfolglos. Der Tumult vergrößerte sich und wuchs zu einem förmlichen Aufstand aus. Von allen Seiten ertönte der Ruf: »Kreuzigt ihn! Kreuzigt ihn!« Die Priester nahmen immer mehr einen dringenderen Ton an und erklärten, das Gesetz sei gefährdet, wenn der Verführer nicht mit dem Tode bestraft würde. (Joh. XIX, 7.) Pilatus erkannte, daß er, um Jesum zu retten, einen blutigen Aufstand niederschlagen müßte. Indes versuchte er noch Zeit zu gewinnen. Er kehrte in das Prätorium zurück, erkundigte sich, woher Jesu sei, um einen Vorwand zu haben, die Kompetenz ablehnen zu können. (Joh. XIX, 9. Vgl. Luk. XXIII, 6.) Der Überlieferung gemäß hätte er sogar Jesum zu Antipas geschickt, der damals, wie es heißt, in Jerusalem sich befand. Jesus kümmerte sich wenig um diese wohlwollenden Bemühungen. Wie bei Kaiphas verhüllte er sich auch hier in ein würdig-ernstes Stillschweigen, was Pilatus staunen machte. Draußen wurde das Geschrei immer drohender. Man sprach laut von der Saumseligkeit des Beamten, der einen Feind des Cäsars beschütze. Die größten Gegner der römischen Macht waren plötzlich zu loyalen Unterthanen des Tiberius verwandelt worden, um das Recht zu haben, einen nachsichtigen Landpfleger der Majestätsbeleidigung zu bezichtigen. »Es giebt hier,« sagten sie, »keinen andern König als den Cäsar; wer sich zum König macht, ist gegen den Cäsar. Wenn der Landpfleger diesen Menschen freigiebt, so ist er nicht des Cäsars Freund.« (Joh. XIX, 12,15. Vgl. Luk. XXIII, 2.) Der schwache Pilatus konnte dem nicht widerstehen. Er las schon im voraus den Bericht, den seine Feinde nach Rom schicken würden, wo er beschuldigt wäre, einen Rivalen des Tiberius unterstützt zu haben. Schon gelegentlich der Votivtafeln hattet die Juden dem Cäsar geschrieben und recht behalten. Er fürchtete für sein Amt. Er wich zurück, mit einer Nachgiebigkeit, die seinen Namen der Geißelung der Geschichte freigeben sollte; er soll dabei – wie erzählt wird – die Juden für alles, was geschehen würde, verantwortlich gemacht haben. Nach Aussage der Christen wären diese damit vollkommen einverstanden gewesen und hätten ausgerufen: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!« (Matth. XXVII, 24, 25.)

Wurden diese Worte wirklich ausgerufen? Man kann es bezweifeln. Aber sie sind der Ausdruck einer tiefen, historischen Wahrheit. Nach der Stellung, die die Römer in Judäa eingenommen hatten, konnte Pilatus nichts anderes thun, als er gethan hatte. Wie viel von religiöser Intoleranz diktierte Todesurteile haben schon der Civilgewalt Gewalt angethan! Der König von Spanien, der einer fanatischen Geistlichkeit zu Gefallen viele Hunderte seiner Unterthanen auf den Scheiterhaufen stellen ließ, war tadelnswerter als Pilatus, denn er repräsentierte eine viel größere Macht als die der Römer zu Jerusalem. Wenn einmal die Civilgewalt auf Geheiß der Geistlichkeit zur Verfolgerin und Quälerin wird, beweist sie damit ihre Schwäche. Möge jene Regierung, die sich hier sündenrein weiß, auf Pilatus den ersten Stein werfen. Der »weltliche Arm«, hinter den sich die klerikale Grausamkeit verbirgt, ist nicht der Schuldige. Niemand kann sagen, er habe Abscheu vor Blutvergießen, wenn er es durch seinen Knecht geschehen läßt.

Es war also weder Tiberius noch Pilatus, die Jesum verurteilten. Es war die alte jüdische Partei; es war das mosaische Gesetz. Unsere modernen Ideen kennen keine Übertragung moralischer Vergehen von Vater auf Sohn. Jeder ist der menschlichen und der göttlichen Gerechtigkeit nur für sein eigenes Thun Rechenschaft schuldig. Jeder Jude, der noch heute wegen der Tötung Jesu zu leiden hat, kann sich daher über Unrecht beklagen; denn vielleicht wäre er ein Simon von Kyrene gewesen, vielleicht hätte er wenigstens nicht zu denen gehört, die da riefen: »Kreuzigt ihn!« Aber Völker haben ihre Verantwortlichkeit wie Einzelwesen. Und wenn jemals ein Verbrechen das Verbrechen einer Nation war, so war es der Tod Jesu. Dieser Tod war »gesetzlich« insofern, als seine erste Ursache ein Gesetz war, das die Seele des Volkes bildete. Das mosaische Gesetz in seiner zwar neueren, aber doch gültigen Form sprach die Todesstrafe aus gegen jeden Versuch, den bestehenden Kultus zu verändern. Jesus hat nun zweifellos diesen Kultus angegriffen und ihn zu vernichten erstrebt. Die Juden sagten es Pilatus offen und wahr: »Wir haben ein Gesetz und nach diesem Gesetze muß er sterben, denn er hat sich zum Sohne Gottes gemacht.« (Joh. XIX, 7.) Das Gesetz war verächtlich; aber es war das Gesetz des rohen Altertums und der Heros, der es beseitigen wollte, mußte sich ihm vor allem unterziehen.

Ach! mehr als achtzehn Jahrhunderte sollte es noch brauchen, ehe das Blut, das er nun opfern soll, seine Früchte trägt. Durch Jahrhunderte wird man in seinem Namen Denkern, die ebenso edel wie er sind, Qual und Tod bereiten. Noch heute werden in Ländern, die sich christlich nennen, Strafen über religiöse Vergehen ausgesprochen. Jesus ist für diese Verirrung nicht verantwortlich. Er konnte nicht vorhersehen, daß dieses oder jenes Volk in seinem Wahne ihn eines Tages als Moloch auffassen würde, der nach brennendem Fleisch verlangt. Das Christentum ist intolerant gewesen, aber die Intoleranz ist kein wesentlicher Zug des Christentums. Sie ist ein jüdischer Zug insofern, als das Judentum zuerst in der Religion die Theorie des Absoluten aufstellte, den Grundsatz, daß jeder Neuerer, selbst wenn er seine Lehre mit Wundern unterstützt, ohne Urteil von jedermann gesteinigt werden darf. (5. Mos. XIII, 1.) Gewiß, das Heidentum hatte auch seine religiösen Gewaltthaten. Aber wäre dies ihr Gesetz gewesen, wie hätte es je christlich werden können? Der Pentateuch wurde derart in der Welt zum ersten Gesetze religiösen Terrorismus. Das Judentum hat das Beispiel eines unantastbaren, schwerbewaffneten Dogmas gegeben. Wenn das Christentum, anstatt die Juden in blindem Hasse zu verfolgen, den Geist beseitigt hätte, der seinen Stifter getötet hat, wie viel konsequenter wäre das gewesen; wie viel mehr hätte es sich um die Menschheit verdient gemacht!


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