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Die alte Universität

 

Der Wechsel herrscht auf Erden,
Die Formen läßt er werden
Und schwinden, wie ein Traum.
Das Gute nur und wahre
Was ihm auch widerfahre;
Hoch steht es über Zeit und Raum.

(Festgedicht von C. A. G. Geitel.)

 

I.

Glänzend stieg am wolkenlosen Himmel der Vollmond hinter dem Tannenwalde in die Höhe, ohne sich im Geringsten darüber zu verwundern, daß er das kleine Harzdorf Sachsenborn noch auf derselben Stelle in seinem engen Bergthal eingeschachtelt fand, wie gestern, wie vor hundert Jahren, wie vor achthundert Jahren. Die Alten des vergessenen Waldortes hielten, von der Tagesarbeit ermüdet, Rast vor ihren Hausthüren, die jungen Burschen und Mädel durchschritten singend die Dorfgasse, die Kinder jagten einander im Spiel um die kleine Kirche und den Kirchhof, der Brunnen vor dem Gemeindehause plätscherte fort und fort. Das war immer so gewesen an solchen warmen, stillen Abenden, und es war nicht abzusehen, daß und weshalb das jemals anders sein könne und werde. Auch die Einwohner von Sachsenborn, bis auf Wenige, hatten keinen Grund, über das Erscheinen des schönen Nachtgestirns sich zu verwundern, darüber zu erstaunen und Glossen zu machen.

Es lebten wenig Leute in Sachsenborn, denen daran gelegen war, daß es hinter den Bergen auch noch Menschen gab – sie hatten ja wenig oder nichts mit ihnen zu thun und genügten so ziemlich sich selbst. Zwischen harter Arbeit und dumpfer Ruhe verdämmerte das Dorf seine Tage und Jahre, und war allmälig ein uralter Ort geworden, dessen Entstehen hinaufreichte in die graueste Dämmerung germanischer Zeitrechnung. Das Dörflein hätte viel erzählen können von Jagden und Zügen und Kämpfen der Kaiser, vom großen Otto und von der schönen griechischen Theophania, vom Städteerbauer Heinrich und dem unglücklichen Heinrich, den sie als den Vierten zählen; aber das Dörflein hatte kein Gedächtniß über die »Schwedenzeit« hinaus, es hatte überhaupt keinen historischen Sinn, und es befand sich wohl dabei. –

Es war ein wunderschöner Maiabend, und daß sich bei solch klaren Mondaufgang Mancherlei denken und träumen ließ, und daß es hinter den Bergen auch noch Menschen gab, wußten wenigstens zwei Menschenkinder in Sachsenborn!

Das eine derselben lehnte halb im Schatten halb im Licht am Gitter des Pfarrgärtchens und richtete seufzend zwei glänzende braune Augen auf den stillen nächtlichen Freund am Himmelsgewölbe; das andere wandelte nachdenklich, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, im Pfarrhause selbst, auf der glänzenden Bahn auf und ab, welche der Mond quer durch das Zimmer legte. Das eine war Jungfrau Ehrhardine Cellarius, des Herrn Pastors zu Sachsenborn einziges Kind, das andere war der Pastor Adam Cellarius selbst! ...

Weshalb mußte auch der Pfarrer sein Töchterlein hinausschicken in die weite Welt und in das Haus der alten mürrischen, kränklichen Tante auf der Jüdenstraße zu Göttingen? Weshalb mußte der junge Mann, der so weit hergekommen aus Amerika, der alten Tante in der Jüdenstraße gerade gegenüber wohnen? Weshalb mußte die alte grämliche Tante das Zeitliche segnen in dem Augenblicke, als zum zweiten Male eines jener zarten, ebenso schüchternen wie kühnen Briefchen von der andern Seite der Gasse herübergekommen war? Weshalb mußte der Papa das in der gelehrten Stadt unter den vielen Professoren und Studenten überflüssig gewordene Kind zurückrufen in das Heimathsdorf? ...

»Ach du lieber, lieber, guter Mond, was meinst Du dazu? Sprich, wo weilt er jetzt? Was treibt er? Denkt er wohl noch an mich? Hat er eine Andere, eine Schönere, Klügere gefunden? Lieber lieber Mond, wie ist's mir doch um's Herz!« ...

Weilte das Herzchen der Tochter an diesem Maimondscheinabend des Jahres Eintausend achthundertzweiundzwanzig fern, fern von dem Pfarrdorf Sachsenborn im Harz, in der berühmten Universitätsstadt Göttingen, so befand sich der Pfarrer selbst in Gedanken in einer andern Stadt, welche einst auch eine berühmte Universität war, und wo er vor langen Jahren mit dem lange todten Bruder ein fröhliches, sonniges Burschenleben gelebt hatte. Diese Stadt war seit Jahren nicht mehr eine Universität; die alten Lehrer weilten meistens nicht mehr unter den Lebenden, die alten Burschen waren zerstreut über das ganze weite deutsche Vaterland, und waren meistens auch schon grau und runzlich und Männer in Amt und Würden und Hausväter, – Väter und Großväter geworden; und heute hatte die lahme Botenfrau über die Berge ein Zeitungsblatt in Sachsenborn und das Pfarrhaus hineingetragen, ein Zeitungsblatt, in welchem eine Gedächtnisfeier der todten Universität ausgeschrieben wurde, und welches die einstigen Commilitonen, so viel ihrer kommen konnten und wollten, aufforderte, am neunundzwanzigsten Mai in dem ehemaligen Musensitz einzuziehen, um »einer reizenden Vergangenheit, die das Leben nur von der Lichtseite zeigte, auf einige Stunden wieder einen Schein von Gegenwart zu geben.«

Hatte nicht der alte einstige Bursch von Helmstedt das Recht, aus dem Fenster seines Studirstübleins in den Mondnebel zu blicken und im Traum die schöne Jugendzeit und die untergegangene Julia Carolina wieder aufzubauen? Mancherlei Bilder und Gestalten zogen an diesem Abend dem Pfarrer Adam Cellarius in der Seele vorüber, helle und trübe, bis den Beschluß eine gar finstere, traurig-unheimliche Erinnerung bildete –

»Armer Ernst! Arme Antonia!«

Das Töchterlein draußen am Hag unter den überrankenden Zweigen hatte unterdessen angefangen ein Lied vom Scheiden und Meiden leise hinzusummen; allmälig aber war ihre Stimme, ihr selbst vielleicht unbemerkt, lauter und heller geworden und klang jetzt mit dem fernen Gesang der jungen Dorfleute wehmüthig in die Mondscheingedankengespinnste des Pfarrers hinein.

»Das muß ein wunderbar, wundersam Fest werden!« murmelte er. »Wenn sie nun zusammentreten wieder einmal im Leben, all die alten Freunde, und sich beschauen und sich nicht mehr erkennen – ah, und die bekannten Straßen wieder durchschreiten, wenn auch nicht mehr so festen Schrittes und sporenklirrend wie einst, und zu den Fenstern hinaufwinken, aus denen nicht mehr die bekannten Gesichter hervorschauen! Ruhig, ruhig Adam! Erinnere Dich! Erinnere Dich! Weißt Du noch? Jenes Gaudeamus auf dem Collegienplatz – dem todten Bruder gesungen, nachdem die Schläger über seinem Grabe gekreuzt worden waren? ... Arme Antonia! Armer Ernst!«

Der Pastor von Sachsenborn hatte das Käppchen abgenommen und sprach mit bebenden Lippen ein: »Vergieb uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern« – ehe ein dritter Name über seine Zunge glitt. Eine Wolke zog vor den Mond in diesem Augenblicke; das Lied Ehrhardinen's brach ab, tiefe Dunkelheit legte sich über das Bergthal, das Dorf Sachsenborn und das Pfarrhaus; nur der ferne Gipfel des Brockens behielt sein bläulich schimmerndes Licht.

»Ich reise! ich reise!« sagte der Pfarrer, nach der fernen Kuppe hinüberschauend. »Nach meiner alten Universität – zu den lebenden Freunden – zu dem Grabe des Bruders!«

Die Tochter trug das Haupt zur Brust gesenkt und hatte die Hand fest auf das Herz gelegt, als sie langsam aus ihrer Laube hervortrat und auf das Vaterhaus, den schmalen Gartenweg entlang, zuschritt. – –

 

II.

Im Hafen von Hamburg lag das wackere Schiff » The Witch of the waves,« welches eben von London angekommen war, und die Passagiere warteten ungeduldig auf die Boote, welche sie an's Land setzen sollten. Es gab auf dem ganzen Schiff nur einen Menschen, der ruhig und gelassen inmitten der Hast und des Getümmels blieb. Etwas abseits dem Haufen der Reisegefährten stand er unbeweglich und blickte nach der nahen Stadt und der langverlassenen Vaterlandserde hinüber. Sein Gesicht war von fremder Sonne gebräunt, sein Haar gebleicht vom Alter, das Auge matt und müde. Er lehnte etwas gebückt an einem Stock, und war der Letzte, der langsam hinabstieg in den Kahn, welcher ihn an's Land tragen sollte. Erst als er den Fuß auf den deutschen Boden setzte, kam ein seltsames Leben in seine Züge, ein leises Zittern überlief seinen hagern Körper; er athmete aus tiefer Brust auf, lüftete dann ein wenig, wie grüßend, den Hut. Dann verlor er sich im Wogen des Volkes und taucht in dieser Geschichte erst wieder auf am Morgen des achtundzwanzigsten Mai zu der Zeit, wo ein ureinfach Gefährt, gezogen von einem abgelebten weißen, einäugigen Rößlein, auf der vom letzten Regentag aufgeweichten Landstraße mühsam aus den äußersten Vorbergen des Harzes sich hervorarbeitet.

Die Sonne spiegelte sich in tausend und aber tausend funkelnden Tröpflein, die an den Gräserspitzen, an den frischen Laubblättern, an den starren Tannennadeln hingen; die Lerchen sangen hoch in der blauen Luft; tausendfarbig, frühlingsfrisch leuchtete und blitzte die weite grüne, fruchtbare Ebene bis zum Elmwald hin. Aus Sachsenborn ist das kleine Fuhrwerk ausgefahren; wir müssen es aber seinen Weg weiter fortsetzen lassen und uns im Geist in die wackere Stadt Königslutter versetzen, wo der deutsche König Lothar und sein Ehgemahl Richenza in der stillen feierlichen Stiftskirche begraben liegen. Lebendigstes Leben herrschte hier an diesem Morgen. Die Gassen waren voll Volks, und manch' anmuthig Mädchengesichtchen beugte sich aus dem Fenster und schaute hinab auf die Wagen voll alter Herren, die in das Thor von Braunschweig her rollten und auf dem Markte von den zwölf Hornbläsern der schwarzen Jäger mit der Melodie des Gaudeamus igitur begrüßt wurden. Und gezogen von zwei muthigen Rappen kam auch der Fremde, den wir in Hamburg haben landen sehen und ließ vor dem Rathskeller halten, wo schon mancherlei freudiges Getöse laut wurde, und manch' Wiedersehen mit Mund und Handschlag gefeiert wurde. Finster, das Haupt zur Brust gesenkt, stieg der Fremde die Treppe hinan, welche eben ein hochgewachsener stattlicher Herr, der ein farbiges Bändchen im Knopfloch trug und ein gewichtiger Mann im Staate war, ihm entgegen hinabschritt. Die beiden einander Begegnenden grüßten höflich im Vorbeischreiten, blickten sich einen Augenblick aufmerksamer an – dann setzten sie ihren Weg fort. Der Fremde befand sich oben auf der Treppe, der Mann mit dem Orden unten; jeder schaute, wie zweifelnd, noch einmal zurück; dann rief der Eine:

»Eisenhard! Sind Sie – bist Du es denn wirklich?«

Der Andere rief:

»Hartriegel!« ohne etwas hinzuzusetzen; eilte aber schnell die Treppe wieder hinauf, und. drei Minuten lang versperrten die beiden Jugendfreunde, welche sich da eben wiedergefunden hatten, den von allen Seiten andrängenden ehemaligen juvenes von Helmstedt den Weg. Sie hatten Beide viel erlebt und viel Fragen an einander zu thun, und die drei Minuten auf dem Treppenabsatz reichten bei weitem nicht aus zu allen diesen Fragen und Antworten.

»Später! Später, Ludwig!« sagte der als Siegfried Hartriegel Angeredete. »Später! ich komme einen weiten Weg her, und unaufhaltsam hat mich dieses Fest in seinen Wirbel gerissen – wider Willen! Wider Willen, Ludwig! Hundertmal hab' ich umkehren wollen, und ich habe es nicht gekonnt! Ich habe auch einen Sohn hier in dem alten Deutschland!«

Der Mann mit dem Orden drückte dem Finstern stumm die Hand und schüttelte den Kopf; aber wirklich allzu lustig lauteten rings umher die Gläser und klangen die Trinksprüche und die Begrüßungsworte der verwaiseten Helmstedter Burschen, als daß hier der Ort gewesen wäre, in diesem Augenblick das auszusprechen, was er dem fremden bedrückten Mann hätte sagen müssen. Der Regierungsrath Eisenhard gab sich so selten als möglich eine Bloße: er schwieg deshalb auch jetzt. –

 

III.

Auf der äußersten Spitze des Corneliusberges gegen Süpplingenburg hin liegen viele gewaltige Felsensteine, welche die Hand der Natur nicht so aufgethürmt hat, wie sie gelegen sind. Altgermanische Vorfahren haben sie so zusammengewälzt, sei es als Gedächtnißmäler gefallener Helden, sei es als Altäre der bildlosen großen Gottheit, die sie im dumpfen Ahnen besser und klarer erkannten, als römische und hellenische Weisheit in all' ihrer Pracht und Herrlichkeit sie faßte. Zwei Männer standen auf einem dieser Steine im rothen Scheine der untergehenden Sonne und schauten tief bewegt hinab auf die unten im Thal liegende einstige Universitätsstadt Helmstedt. Einen der Männer kennen wir schon; es war der greise Pfarrer von Sachsenborn, Adam Cellarius. Der Andere, mit der kurzen Pfeife im Munde und dem Knotenstock, untersetzter Statur, ziemlich bejahrt, aber ebenfalls aller Körper- und Geisteskräfte im vollsten Maße noch mächtig, war Herold, ein Arzt in einer kleinen Landstadt, welchen der Pfarrer auf seinem Wege zur alten Universität mitgeführt hatte auf seinem Korbwägelchen. Auch zwei Jugendfreunde, traurigen Herzens inmitten des fröhlichen Volks, welches hier auf dem Corneliusberg den Zug der ehemaligen Studiosen von Königslutter her erwartete.

»Hier, hier war es! Hier lag er und sein rothes Blut färbte die dürre Haide und das Gras!« murmelte der Pastor – »Ernst! Ernst! ... Drunten liegt er in seinem kühlen Grabe –«

»Ruhig! Ruhig, Mann!« sagte der Arzt. »Es war ein wackerer Junge und er führte seine Klinge gut; aber den Stoß –«

»Die arme Antonie ruht nun auch lange neben ihm – ach Heinrich, ich wollte, ich wäre nicht gekommen!«

»Wer weiß, was ihm durch seinen frühen Tod Alles erspart ist im Leben,« sagte der Arzt. »Er ist in Jugendlust und Jugendkraft davongegangen, und der Tod ist ihm leichter geworden, als er uns vielleicht bald genug werden wird; es war ein ehrlicher Kampf!«

Der alte Pfarrer strich über die Stirn und wischte eine Thräne aus jedem Auge. »Horch, da kommen sie!« sagte er dann.

»Wahrhaftig!« rief der Arzt. » Salvete! Salvete! Vivat, vivat Julia Carolina! Ruhig – ruhig, immer ruhig Blut, Mann! Horch, Adam – sie blasen das Gaudeamus – sie kommen! sie kommen!«

Ferne Hornmusik klang in der That leise herüber, und jetzt bewegte sich der lange Zug der Wagen die Landstraße daher. Das Volk von Helmstedt eilte den Kommenden entgegen, und die beiden alten Freunde blieben unter den Felsenmälern allein zurück. Drunten in der Stadt läutete die Glocke der Collegienkirche zum Gruß der einstigen akademischen Bürger. Der Pfarrer von Sachsenborn nahm den Hut ab, und der Arzt folgte seinem Beispiel, indem er die mit einem Blumenstrauß geschmückte graue Mütze hoch in die Luft schleuderte und geschickt sie wieder fing.

Jetzt hielt der Zug auf dem Gipfel des Corneliusberges; jetzt stiegen die Burschen aus den Wagen und ordneten sich, um Arm in Arm, umwogt von der grüßenden Philisterschaar von Helmstedt, zu den Steinen hinzuziehen. Ihnen vorauf schritten, einen herzerfrischenden Marsch blasend, die Hornisten. Immer näher, immer näher stieg die fröhliche Jugendzeit in den alten Studiengenossen, den beiden Freunden auf dem Felsblocke. Der letzte Schimmer der Sonne verglühte am westlichen Himmel, als unter einem jubelnden Vivat und weitschallenden Tusch der Trompeten und Hörner die letzten Studenten von Helmstedt ihre Universität begrüßten. – » Accinite, commilitones! –– effervescite laetissima acclamationes! Vivat, floreat Helmstadium! Vivat et floreat apud pios omnium animos, Julia Carolina, vivat et floreat in aeternum!« rief eine Stimme von dem höchsten Steine in die herabsinkende Nacht hinein. – –

»Willkommen, Helmstedts Musensöhne!« stand über der Ehrenpforte am Kirchthore, durch welches die einstigen Burschen jetzt einzogen in ihre Musenstadt. Das waren die alten Straßen – das waren die alten Häuser! Tücher wehten aus den Fenstern – manch' hübsch Sträußlein fiel nieder und wurde dankend aufgehoben und im Knopfloch befestigt – Hoch! Hoch, die Julia Carolina! Manch ein Bürger drängte sich in den Zug, einen wohlbekannten alten Hausgenossen erkennend und ihm freudig dringend die einstige »Kneipe« wieder zur Verfügung stellend. Wie im Traum schritten Manche der Commilitonen einher! – Die alte Zeit war wiedergekommen – grauköpfige Herren warfen Kußhände zu den Fenstern empor wie vor zwanzig, dreißig Jahren; trübe Augen wurden klar und hell, neue Kraft und Festigkeit gewannen die Füße auf dem wohlbekannten Straßenpflaster – lebendiger pochte und klopfte jedes Herz in der Brust. Floreat vigeatque Helmstadium!

Auf dem Rathhause nahm die Bürgerschaft die lieben Gäste in Empfang, und ein jeder Philister führte die ihm zugetheilten jubelnd und frohlockend in sein Haus. Wie ehedem regte es sich in den Gassen, wie ehedem trieb es sich über die Plätze, wie ehedem bildeten sich Gruppen an den Straßenecken; wie ehedem lagen ja die akademischen silbernen Scepter und die Albums der Universität auf ihren rothsammetnen Kissen im großen Saale des Collegienhauses. Die alte Universität war auferstanden von den Todten für eine Nacht und einen Tag.

 

IV.

In einem dunkeln engen Gäßchen der ehemaligen Musenstadt, in einem dunkeln Hause, in einem dunkeln engen Stübchen, an welches ein noch engeres dunkleres Kämmerlein stieß, hatten der Pastor Adam Cellarius sammt dem Doctor Herold ein Unterkommen gefunden. Beide kannten Gasse, Stube und Kammer gar wohl – sie kannten auch den kleinen blinden Spiegel und die Pfauenfeder dahinter, sie kannten den wackligen rothgemalten Tisch und den zerrissenen Lehnstuhl hinter dem Ofen. Dreißig Jahre waren bereits vorübergegangen, seit sie dieser ihrer einstigen Studentenwohnung den Rücken gekehrt hatten – die Menschen hatten sich wohl verändert, Stübchen und Gasse aber nicht. Der Pastor saß, die Stirn in der Hand, in dem alten Lehnstuhl, der Doctor saß in der Fensterbank und schaute hinunter in die dämmerige Straße.

»Dachte ich doch eben, der Professor Beireis trabe da um die Ecke!« sagte der Arzt, seinen Platz am Fenster verlassend und auf den Freund zutretend. »Brausepulver muß ich heute Abend noch nehmen, um das Blut und die Nerven zu beruhigen. Wach' auf, Adam, – der Mensch kann wahrhaftig nichts für seine Natur: Du warst ein Träumer, bist ein Träumer geblieben und wirst ein Träumer bleiben.«

Der Angeredete blickte lächelnd in die Höhe. »Heute mußt Du mir das verzeihen, Heinrich; ich habe das Recht dazu und glaube, auch Du bist bereits in denselben Fehler gefallen, den Du mir vorwirfst.«

Der Arzt nahm die Pfeife aus dem Munde. »Du magst Recht haben, Adam. Das ist ein seltsames Fest!« brummte er.

Jetzt schritt der Pfarrer von Sachsenborn zu dem Fenster und blickte hinaus; aber nicht hinab in die Gasse, sondern hinüber zu einem Fenster, aus welchem bereits der Schein einer Lampe in die Dämmerung und den Mondschein hinausfiel. Der Arzt trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter; ohne ein Wort zu sprechen standen die beiden alten Studenten eine geraume Zeit neben einander. Dann seufzte Adam Cellarius tief und sagte:

»Da wohnte sie!«

Zwei andere Männer traten in demselben Augenblick in die Gasse und hielten unter dem Hause an. Der Eine stützte sich schwer auf den Andern und seufzte ebenfalls gar tief und beklommen, und eine noch schwerere Last schien auf seiner Seele, als auf der des Pfarrers zu liegen.

»Da! Da!« flüsterte er, auf das erleuchtete Fenster deutend.

»Komm, komm, Siegfried!« sagte der Andere. »Du hast es gewollt – komm fort!«

»Ja, ich habe es gewollt!« murmelte der Erste, und Beide durchschritten langsam und schweigend die Gasse. Der Pfarrer von Sachsenborn blickte ihnen nach – er hatte durchaus keine Ahnung davon, wer da eben seinen Lebensweg wieder gekreuzt hatte; aber ein unabweisbares Gefühl der Unruhe kam plötzlich über ihn und zog ihn wieder hinunter in die Gassen von Helmstedt. Hier herrschte das fröhlichste Leben, die meisten Häuser waren festlich erleuchtet, und Musik erschallte aus allen von den Burschen occupirten Gasthäusern. Der Mond zog still und friedlich am Himmel dahin, und die frische Luft der Mainacht that dem erregten alten Pastor Adam Cellarius gar wohl. Auf manchen Jugendbekannten stieß er bei seinem Gange durch die Straßen, und den Doctor verlor er bereits an der zweiten Ecke, wo derselbe in einer sehr lebendigen, lustigen Schaar von Collegen und einstigen Commilitonen verschwand. Auf dem festlich glänzenden Ducksteinkeller aber fragte mit dem schönen Liede Houwald's eine kräftige Stimme:

»Bringt Ihr zur Lust, die aus dem Becher winket,
Wie sonst, noch einen frohen, freien Geist?
Begreift Ihr jetzt, warum man: » Schmollis« trinket?
Und was das tiefe Wort: » Fiducit« heißt?«

Und jauchzend, daß es weit in die Nacht hinein klang, antwortete ein voller Chor:

»Ja! Schmollis dem ganzen Menschengeschlecht,
Und dann: Fiducit auf Gott und auf Recht!«

Lauschend stand der Pfarrer von Sachsenborn da und summte die Melodie nach, bis der Vers kam:

»Es lebe Alles, was wir einst besessen,
Was uns erfüllt, begeistert und geweckt!
Es lebe, was das Herz wird nie vergessen,
Obgleich es längst ein dunkler Schleier deckt.« –

Da verließ er, die Hand auf die Brust drückend, seinen Standpunkt und schlich an den Häusern hin, den Hut tief in die Stirn gezogen, um nicht noch einige Male angehalten zu werden, einsam und scheu dem Gottesacker der Sanct Stephanskirche zu, wo unter den vielen gelehrten und berühmten Männern so manches junge, früh verglühete Burschenherz und auch der todte Bruder und die arme Antonie ihren letzten Schlaf schliefen. Er hatte nicht lange zu suchen, um die grünen eingesunkenen Hügel zu finden, und lehnte bald an dem schwarzen Kreuz, welches das Grab des Bruders bezeichnete. Er gab seinen Gedanken keine Worte, und fast hatte er auch keine bestimmten festen Gedanken: er fühlte die wonnige Mainacht und blickte in den flimmernden Mondschein und athmete den Duft der blühenden Gesträuche und Blumen rings umher; aber er war gleich einem Traumwandler. Er vermochte nicht mehr, sich auf den Beinen zu halten, schwindelnd mußte er sich auf einem der nächsten Grabsteine niedersetzen, und die Ellenbogen auf die Knie gestützt, das Haupt in die Hände gelegt, saß er lange Zeit unbeweglich da. Allmälig legten sich die Wogen seiner Seele, die Bilder, die seinen Geist durchzogen, wurden klarer und bestimmter, er konnte sie auseinanderhalten und sie dann in gewisser Reihenfolge ordnen.

Da zogen zuerst zwei junge Gesellen, lebensmuthig, rothwangig ein in das Thor der alten Musenstadt. Das war lange, lange Jahre her! Grüne Laubzweiglein trugen sie an den Hüten, und Alles vor ihnen und um sie her war Frühling und Sonnenschein. Zwillingsbrüder waren es – Adam und Ernst Cellarius; fast gleich an Gestalt, Gesicht und Haar, aber gar verschiedenartig an Geist und Gemüth. Der Erste still und sanft, der Zweite wild und leidenschaftlich, doch treu und brav wie der mildere Bruder. In der engen, dunkeln Gasse, in dem Stübchen, welches dem Pfarrer Adam heute noch so bekannt war, warfen sie die leichten Ränzel ab, entledigten sie die kleinen Lederkoffer, die der Fuhrmann ihnen nachführte, des Inhalts, welchen die mütterliche Vorsorge und die väterliche Gelehrsamkeit ihnen hineingestopft hatte. Bald prangten an der Wand die beiden Matrikeln, durch welche die alma mater sie in die Zahl ihrer Kinder aufnahm; bald prangten die beiden Schläger über einem Paar gewaltiger Fechthandschuh. O selige Zeit! Zeit, wo jeder Nerv, jeder Muskel dem Geist gehorchte und der Geist selten etwas wollte, was nicht jeden Nerv, jeden Muskel anspannte –

»Vom hoh'n Olymp herab ward uns die Freude,
Ward uns der Jugendtraum bescheert.«

Es war dem Pfarrer von Sachsenborn, als ob ein leises, wehmüthiges Raunen und Klingen durch die Luft ziehe, als ob es sich ringsum in den Gräbern rege – unwillkürlich schauete er auf – aber die alten und die jungen Schläfer drunten schliefen fest genug; nur eine ferne Nachtigall sang ihr Klagelied, und der weiße, leuchtende Mondnebel hob und senkte sich über den Gräbern.

Des Pfarrers Geist war wieder in dem kleinen Stübchen in der engen Gasse. Manch' bekannter Tritt erschallte auf der Treppe, manch' bekanntes Gesicht blickte in die Thür. Singende, jubelnde Schaaren der Genossen zogen unter den Fenstern vorüber und hielten und winkten und riefen:

»Weg Corpus juris, weg Pandecten,
Weg mit dem theolog'schen Secten!
Weg mit der Medicinerei!
Vor solchen Musen hab' ich Scheu!

Hinaus! Hinaus! Zu Roß, zu Fuß, zu Wagen – hinaus! Hinaus in die freie Luft, in den grünen Wald! Wer kann hier athmen zwischen den Mauern und dumpfen Wänden? »Die Bücher vom Tisch, Adam! Da kommt der Siegfried schon!«

»Siegfried Hartriegel!« sagte der Pfarrer von Sachsenborn, und er senkte sein greises Haupt tiefer – tiefer – tiefer. »Siegfried Hartriegel, Mörder meines Bruders und sein Freund – mein Freund!« Leise, als wolle er den Namen des Schuldigen dem richtenden Gott nicht verrathen, hatte der Alte diese Worte hingehaucht: daß sie das Ohr Desjenigen getroffen hatten, dem sie am vernichtendsten waren, wußte er nicht. Dicht neben ihm im dunkelsten Schatten des Gebüsches stand der unglückliche Jugendfreund, bewegungslos, wortlos, im tiefsten Innern vernichtet, ein alter, alter, bedauernswerther Mann! »Arme Antonie!« sagte Adam Cellarius. » Du warest nicht schuld daran, Deine klaren blauen Augen konnten Nichts dafür, daß sie die Beiden verzaubert hatten! Friede Deiner Asche, Antonie!« In herzzerreißender Bestimmtheit und Klarheit löste sich ein anderes Bild aus der Mondnacht los.

Unter den Hünensteinen auf dem Corneliusberge standen Bruder und Freund einander gegenüber, während in dem kühlen, stillen Collegiensaale Adam, Nichts wissend, Nichts ahnend, den Worten des Lehrers lauschte. Dem Bruder zur Seite stand Herold, der Mediciner; Secundant Siegfried's war Ludwig Eisenhard, der Jurist. Die Klingen blitzten im Strahl der Abendsonne; zu kurz war der Kampf, um den Sinnverwirrten Zeit zur Besinnung zu lassen: mit durchbohrtem Herzen sank Ernst Cellarius lautlos zusammen, und der herbeieilende Bruder fand nur noch die starre, stumme Leiche, der man mit Mühe die im wilden Grimme festgepackte Waffe aus der Hand winden konnte. Lange lag Adam in einem hitzigen Fieber, das ihm die Besinnung ganz und gar nahm. Als er wieder erwachte, wußte Niemand ihm Nachricht zu geben, wo der unglückliche Siegfried geblieben sei. Er war verschwunden, und Keiner wußte, wohin er gegangen.

»Arme Antonie!« seufzte der Pfarrer von Sachsenborn. Der Fliederbusch über dem Grabe des todten Mädchens hub an im Nachtwind leis zu rauschen, es neigten und beugten sich alle Blumen und schwanken Grashalmen – zusammenschauernd erhob sich der alte Student von Helmstedt. Mitternacht schlug die Glocke auf der Kirche des heiligen Stephan. – »Gute Nacht, Ernst! Gute Nacht, Antonie!« Langsam, müde und gebrochen verließ der Pfarrer den Friedhof: ein Anderer trat hervor, sich über die beiden Hügel zu neigen! –

 

V.

Die kleine Stadt war fast ganz wieder in ihre gewöhnliche Stille zurückgesunken; die meisten Lichter und Lampen in den gastfreundlichen Häusern waren erloschen; nur selten ließ sich noch ein Schritt in den Gassen vernehmen. Aber in dem dem Pfarrer von Sachsenborn einst so wohlbekannten Ducksteinkeller saß noch ein Kreis stichhaltender Zecher vor den mit Rheinweinflaschen besetzten beiden langen, einen rechten Winkel bildenden Tischen, und unter dem Läuten der Römer klang es wehmüthig in die stille Nacht hinaus:

»Fato cessit Julia,
Silent professores
Vacant auditoria.
Sola nos memoria
Vocat auditores.«

Ohne Anfechtung von Außen erreichte der Pastor seine Behausung, in welche der Doctor Herold noch nicht zurückgekehrt war. Wie hätte er sich aber zur Ruhe niederlegen, Ruhe finden können? Nachdem er lange noch auf- und abgeschritten war, zog er den wackelnden Lehnstuhl hinter dem Ofen vor in die Nähe des Fensters, öffnete einen Flügel desselben, setzte sich und blickte hinaus in die stille Nacht. Der Mond hatte seine Bahn am Himmel vollendet, nur einzelne Sterne funkelten milde hie und da. Auch das Licht drüben in dem Stübchen, wo einst die arme Antonie gewohnt hatte, war lange erloschen; klar aber leuchtete das Bild der Jungfrau in der Seele des Träumenden.

»Was für eine süße, sanfte Stimme sie hatte, wenn sie drüben über ihrer Arbeit sang – und wie sie roth wurde und acht Tage ihre Gardine nicht aufgezogen wurde, als ihr Ernst die Rosenknospe hinüber in's Fenster geworfen hatte! – Alles dahin! dahin!«

Jetzt aber erhob die Phantasie ihren Zauberstab und zeigte dem Pfarrer von Sachsenborn andere Bilder: – sein eigenes kleines Glück, welches er in einem vergessenen Bergthal in den Tannenwäldern des Harzes gegründet hatte. Sie zeigte ihm die früh heimgegangene Gattin und ihr Grabkreuz auf dem kleinen Dorfkirchhof: dann stieg das Bild der guten, schönen Ehrhardine auf, und eine Schaar freundlicher, muthwilliger Geisterchen und Genien versammelte sich um den Alten, stimmte die Hörner, probirte die Pauken, und erbaulich klang dem Pastor ein Vers jenes vorhin vernommenen Festliedes auf:

»Wohlan! so lebe denn im Saft der Reben,
Wer die Dogmatik sich im Herzen fand!
Wer Exegese aus Natur und Leben
Und Homiletik lernt im Ehestand!«

Und die ganze Gemeinde von Sachsenborn sang in weiter, weiter Ferne den Chor:

»Ja, wer die Menschen zu Menschen erzog,
Wer lehret und tröstet, der lebe hoch!«

Manche wohlthätige Thräne entrollte dem Auge des Greises, als ihn plötzlich eine Hand, die sich ihm auf die Schulter legte, erschreckt auffahren machte. Er hatte weder den schwerfälligen Tritt des Doctors Herold, noch das Oeffnen der Thür gehört.

»Du bist noch nicht zu Bett, Adam, und sitzest so im Dunkeln?« fragte der Arzt. Seine Miene war sehr bewegt.

»Mir ist wohl so!« lächelte der Pfarrer. »Hast du das Wiederaufleben unserer Julia Carolina fröhlich gefeiert, Heinrich?«

»Nach Gebühr,« sagte der Arzt und zog einen Stuhl an die Seite des Freundes. »Adam,« sprach er ernst, »Adam, er ist auch hier.«

Der Pfarrer erhob sich zitternd. »Wer? wer?« fragte er hastig und mechanisch, denn die Frage war unnöthig.

»Siegfried Hartriegel!«

»Ah!« Der Greis sank stumm in den Lehnstuhl zurück.

»Er ist sehr zu beklagen – er ist sehr elend!« sprach der Arzt.

»Heinrich, Heinrich – ah, weshalb mußte ich hierher kommen? Ich will fort – jetzt – gleich fort!«

»Beruhige Dich, Adam! Auch sein Wille ist's nicht gewesen, diesen Ort wieder zu betreten. Es liegt schwer auf seiner Seele.«

Der Bruder Ernst's hatte die Hände gefaltet und stöhnte leise.

»Wo hast Du ihn erblickt, Heinrich?«

»Er kam vom Kirchhof von Sanct Stephan! Ich habe ihn angeredet, da er mich erkannte. Ich konnte nicht anders.«

Der Pfarrer griff nach der Hand des Freundes, sprach aber kein Wort, und lang noch saßen die beiden alten Studenten stumm neben einander.

»Wir wollen zu Bett gehen, Heinrich!« sagte dann Adam Cellarius; seine Stimme war ruhig; ruhig und heiter war sein Auge, als der Arzt die kleine Lampe angezündet hatte. – –

 

VI.

Sonnenschein am Himmel und auf der Erde, Sonnenschein in Aller Herzen! Unter dem Geläut der Glocken zogen vom Stadthaus aus die einstigen Studenten von Helmstedt – dreihundertsiebenunddreißig an der Zahl – nach dem Juleum. Ihnen voran wurden die akademischen Scepter und die Namensverzeichnisse der Universität, seit der Stiftung im Jahre 1576 bis zur Aufhebung 1809, feierlich getragen. Mit Blumen und grünen Eichenlaub hatte man ihnen den Weg bestreut und

non omnis morietur Julia

stand über dem bekränzten Eingang des Juleums.

Der Pfarrer von Sachsenborn ging gebückt am Arm des Jugendfreundes einher – er hatte es schier vermieden, das Auge vom Boden zu erheben.

Auch Siegfried Hartriegel befand sich im Zuge, und der Regierungsrath Eisenhard schritt an seiner Seite ein in den großen Hörsaal, wo die berühmten Katheder manches Jahr schon leer standen, und die berühmten alten Professoren, wie es den Meisten schien, mit einem Ausdruck der Trauer und Wehmuth aus ihren Rahmen an den Wänden auf das neuerweckte Leben herabschauten. Feierliche Stunden gingen den Festgenossen unbemerkt in dem gothischen, so wohl bekannten Raume vorüber: es wurden Reden gehalten, ernste und heitere, deutsche und lateinische, und wurde manch' begeistertes Lied gesungen. Den Schluß der Parentalien bildete ein Choral, mit dessen Ausklingen die erregten Musensöhne wieder hinausströmten in's Freie; in der Sonne, der frischen Luft ihren zusammengepreßten Gefühlen Raum zu geben. Der Arzt wurde wieder von der Seite Adam Cellarius' fortgerissen; der Greis hatte wenige Bekannte getroffen, er fand sich wieder einmal allein inmitten des lebendigsten Gewühls. Er lächelte, auf seinem Stab gestützt, in das frohe Treiben hinein, ihm war so wohl, er wußte es kaum zu sagen, noch weniger es zu erklären. Vor seinen klaren Augen lebten, gingen und kamen die Gestalten der Vorzeit; der Herzog Julius zog ein mit seinem Kanzler Joachim Mynsinger von Frundeck, mit Rittern und Rossen, Grafen, Landständen und Gesandten, nach kaiserlichem Privilegium die Universität zu gründen. Im hellen, glänzenden Sonnenschein schwebte die lange, lange Reihe geistesstarker Männer vorüber, die hier gewirkt hatten: Martin Chemnitius kam und Heshusius, Georg Calixtus trat einher und Mosheim und Henke, die Theologen. Es kamen die Philosophen Johannes Caselius und Hermann Conring; – es kamen die Juristen Lenser, Eisenhart und Häberlin, Vater und Sohn gleich berühmt; – Heister und Beireis, die Aerzte, schritten hervor. Erst als der alte Pastor aus den Harzbergen an die traurige Zeit der Fremdherrschaft und an Johannes von Müller, der die Universität auflöste, dachte, ward seine Stirn wieder finsterer, sein Auge wieder trüber. Trug nicht noch das Bild des herzoglichen Stifters im Juleum die Spuren der Vandalenzerstörung, der französischen Bayonette? Der Alte faßte den Stock fester; aber vor solch wonnigem Maienblau und Grün und Glanz hielt das finsterste Grämen nicht Stand; ein Gedanke an die todesmuthige, rächende Jugend, die aus den verödeten, verwüsteten Hörsälen in die Befreiungsschlachten sich stürzte, verscheuchte ihn. Auch der Pfarrer von Sachsenborn ließ sich von dem Strome der Menge mit hinaustragen in den allgemeinen Festjubel: die dunkeln Bilder der Vergangenheit erbleichten; mehr und mehr gewann die blühende Gegenwart ihr Recht. Der scheidende Frühling und der kommende Sommer schienen wirklich an diesem Tage im Verein ihre schönsten Schätze auf die einstige Musenstadt ausschütten zu wollen. Rund um die Stadt unter den schattigen Baumgängen wogte es. Commilitonen und Philister schritten Arm in Arm einher und sprachen von der vergangenen Zeit, und die schönen Frauen und holden Jungfrauen hatten sich auch nicht in ihre Kämmerlein verschlossen, sie vermehrten gern und willig das bunte Getümmel. Still lächelnd wandelte Adam Cellarius einher, und manch' einen herzlichen Gruß von Unbekannten hatte er herzlich zu erwiedern. Nach aller Aufregung durch Altes und Neues war es still und friedlich in seiner Seele geworden; – er fürchtete sich fast nicht mehr vor jener dunkeln Gestalt, die in jedem Augenblick aus der fröhlichen Menschenmenge auftauchen konnte, um einen blutigen Schleier über alle Heiterkeit dieses seltsamen Lebenstages zu werfen. Das Töchterlein seines Wirthes hatte ihm mit dem Kaffee und ihrem Glückwunsch einen feinen Blumenstrauß gebracht, den trug er in der Hand den ganzen Morgen – dem Pfarrer von Sachsenborn war gar wohl und selig zu Muthe! – –

 

VII.

Seitsab dem Wege und den Fußwandelnden im Schatten eines dunkeln Gebüsches auf einer verfallenden Rasenbank saß einsam und allein ein Mann, dem der Sonnenschein nicht in's Herz gedrungen war, dem jeder Ton und Laut der Lust und des Behagens ein Mißklang erschien, der kein Lächeln, keine Thräne für das Fest hatte – das war Siegfried Hartriegel, der Gegner von Ernst Cellarius. Mechanisch war er dem Regierungsrath zur Feier in das Juleum gefolgt; er hatte ihn aus den Augen verloren, und nun saß er hier, finster vor sich hinstarrend. Auch er fürchtete das Erscheinen Eines Gesichtes, und jeder Gedanke daran zog ihm das Herz wie im Krampf zusammen.

Aus dem Dunkel, in welchem er kauerte, hatte er die Aussicht in einen Laubgang, in welchen die Sonne ihre warmen Strahlen schräg hineinschoß. Unendliches Leben tanzte und flatterte in diesen glänzenden Bahnen auf dem schwarzgrünen Grunde; flimmernde Schatten hüpften auf dem Boden, wie der erfrischende Morgenwind mit den zarten Zweigen und Blättern, die den Bogengang bildeten, spielte und tändelte. Durch diesen Bogengang sah der Einsame das fröhliche Leben auf dem Hauptwege bunt in der Ferne vorbeigleiten: aber noch Niemand der Lustwandelnden hatte diesen Seitenpfad selbst eingeschlagen. Siegfried Hartriegel hatte Zeit und Gelegenheit, seinen finstern Gedanken nachzugehen!

Er versuchte es, an seinen wackern Sohn, den zu besuchen er aus Amerika nach Deutschland gekommen war, zu denken; er versuchte es, hellere Bilder seines vielbewegten Lebens im Geiste zurückzurufen: er vermochte es nicht! Zu schwer lastete an diesem Orte die böse Erinnerung seiner eigenen Jugend auf ihm. Er hatte gestern Abend auf dem Stephanskirchhofe wohl geahnet, wer der nächtliche Beter an dem Grabe der armen Antonie und des erstochenen Ernst sei. –

»Fort! fort! fort!« rief er aufspringend. »Er wird erscheinen, wenn ich nicht gehe! er wird mich anschauen – sein Blick wird mich vernichten! O was hat mich hierher getrieben?«

Er unterbrach seine wilden Ausrufe, sein Auge wurde starr, seine ganze Gestalt, vorgebeugt, nahm den Ausdruck des fieberhaftesten Lauschens an – langsam wandelte eine Männergestalt den Laubgang hinunter. Der Näherkommende trug den Hut in der Hand, die ehrwürdigen Silberlocken glänzten in der Sonne. –

»Adam! – Adam Cellarius!« flüsterte der Einsame, unfähig, ein Glied seines Körpers zu bewegen. Der alte Pfarrer von Sachsenborn hob lächelnd das sinnende Auge vom Boden, erblickte den Fremden, ohne ihn zu erkennen und schritt auf ihn zu mit freundlichem Gruße. Jetzt erregte der starre, unbewegliche Blick des Mannes seine Aufmerksamkeit, er trat noch einen Schritt näher; dann aber im plötzlichen Erschrecken drei zurück. –

»Siegfried Hartriegel!« rief er, mit abwehrendem Entsetzen die Hände ausstreckend.

Der Wiedererkannte regte sich nicht; als aber der Bruder des todten Ernst scheu zurückblickend sich weiter von ihm entfernte, sank er nach und nach in sich zusammen, bis er zuletzt bewußtlos zur Erde stützte.

Tausend widerstreitende Gefühle regten sich in der Brust des Pfarrers; – er stand still! – Sollte er den Mörder des Bruders seinem Schicksale überlassen? Er konnte ja ihn im nächsten Augenblicke mit einer Menge theilnehmender, hülfebringender Leute, durch einen einzigen Ruf, umgeben! ... Der Pfarrer von Sachsenborn rief nicht die Fremden zu Hülfe! Schon kniete er neben dem Bewußtlosen und hob mit zitternden Händen das Gesicht desselben von der feuchten Erde. Er blickte in die einst so wohl bekannten Züge des Jugendgenossen!

Er sah, daß Gott der Herr schon lange Gericht gehalten hatte, daß es nicht mehr ihm zukam, an die ungesühnte Schuld zu denken in diesem Augenblick. Er that Nichts und konnte Nichts thun, was das Wiedererwachen des unglücklichen Siegfried gefördert hätte; er hielt das Haupt desselben an seine Brust und betete leise; so fand ihn der Arzt Heinrich Herold, welcher schon lange ihn unter der Menge gesucht hatte! – – –

 

VIII.

Die sinkende Sonne des folgenden Tages röthete bereits die Wipfel der Bäume längs der Landstraße, als der kleine Korbwagen, den wir bereits kennen, wiederum langsam, langsam in die Wälder und Berge des Harzes einkroch. In der eben verlassenen Landstadt hatte der Pastor Cellarius den Doctor Herold abgesetzt an der Thür seines Hauses und ihn wohlbehalten der harrenden, winkenden Gattin überliefert; er befand sich nun mit dem getreuen Knecht Hans allein auf dem Gefährt. Es war dem Pfarrer schon Recht, daß die weiße Liese sich Zeit nahm, und daß der brummende wackere Hans die Peitschenschnur verloren hatte: er hatte an Mancherlei zu denken und Viel, Viel in sich zurecht zu legen. Noch hallte das letzte herrliche Gaudeamus, welches in passender Umdichtung die ehemalige Helmstedter Burschenschaft in vergangener Nacht beim Leuchten der erlöschenden Fackeln auf dem Collegienplatze den Manen der Universität dargebracht hatten, – nach in seiner Seele; noch zitterte in leisen Schwingungen sein Herz über dem Gedanken an Jenen, der in seinen Armen gestern die Augen wieder aufgeschlagen hatte, und Milde und Barmherzigkeit erfüllte fein ganzes Sein.

O glücklicher, seliger alter Adam Cellarius! –

Der Pfarrer von Sachsenborn hatte den Unglücklichen mit sich führen wollen in sein stilles Walddorf; aber es konnte nicht geschehen, und es war besser, daß Siegfried Hartriegel seinen eigenen Weg weiter zog, befriedeter, leichter denn zuvor! – Jetzt fuhr das Wäglein ein in den Wald, dessen Vogelschaaren sich bereits zur Ruhe begaben.

Kein Lüftchen regte sich; der heimathliche Tannenduft ließ sich so wohlig einathmen; mehr und mehr verschleierte sich das eben Durchlebte in der Erinnerung, und die Gegenwart in all' ihrer Süße und Heimlichkeit trat wieder in ihr Recht.

Nun wartete wohl schon die gute, schöne Ehrhardine oben am Berge, wo man den Weg so weit überblicken kann, des alten Vaters. Der Pfarrer glaubte die Abendglocke seines Dorfes, welche seine Pfarrkinder von der harten, schweren Tagesarbeit zurückrief in die stillen Hütten, in weiter Ferne zu vernehmen. Alle Freuden, in die er sich die langen Jahre seines Lebens hindurch fast unbemerkt eingelebt hatte, standen leuchtend im stillen Glanz vor ihm da: das Herz drohete dem Alten zu springen! – Und länger und länger wurden die Schatten, und tiefer und tiefer sank die Sonne. Die Heimchen zirpten in den Gräben am Wege, und Dunkelheit erfüllte den Wald. Wieder stieg hinter den Bergen der Mond auf und schauete aus nach dem Herrn Pastor; blickte aber auch zugleich in das stille Studirstübchen im Pfarrhause zu Sachsenborn und sah nach, ob Alles recht sei.

Horch, was war das?

Gesang einer klangvollen Männerstimme, fern im Walde, traf das Ohr des Pfarrers, er horchte und erkannte ein vielgesungenes Reiselied, welches die wandernden Studenten in mancher schönen Sommernacht, vor seinem Fenster vorüberziehend, hatten erschallen lassen.

Näher und näher kam der Gesang, und jetzt schritt einen engen finstern Bergpfad in den Mondschein auf der Landstraße ein junger Gesell herab, und nach fröhlichem Gruß dicht neben dem Fuhrwerk des Pfarrers her.

»Wohin des Weges, nächtlicher Wanderer?« rief der Alte lustig. »Steigt auf, ich nehme Euch mit.«

»Danke, fahrender Mann!« lachte der Angeredete. »Hab' gute Beine, will nebenher laufen.«

»Ich bin der Pfarrer von Sachsenborn; wollt Ihr Nachtquartier bei mir nehmen, junger Freund – ziehe auch her von der Universität, Commilitone.«

»Angenommen!« rief der Andere, dem Alten die Hand ausreichend. »Eine Vertraulichkeit ist der andern werth; – heiße Hartriegel – George Hartriegel aus Tuscaloosa – united states of North-America! Doctor der Medicin, gegenwärtig Student im alten deutschen Vaterland!«

»Hartriegel?! Georg Hartriegel?!« rief der Pfarrer. »Sein Sohn! sein Sohn – von dem er sprach!« hauchte er kaum vernehmbar. »Ist das Deine Hand, Du da oben?« murmelte er zum Himmel blickend. »O wir müssen besser bekannt werden, wir müssen besser bekannt werden!« rief er dann laut – »ich heiße Adam Cellarius!«

Der junge Mann stand einen Augenblick zweifelnd, mit offenem Munde da; dann griff er hastig dem Knecht Hans in die Zügel: »Halt, halt, Freund! Lassen Sie mich einsteigen – o, lassen Sie mich sogleich einsteigen, Reverend!«

»Gern!« sagte der Pfarrer, und der Deutschamerikaner schwang sich eifrig auf den Wagen und nahm Platz neben dem Alten.

»Hurrah! hurrah! gefunden! gefunden!« rief er, jubelnd den Hut schwingend.

Was aber der Gesell gefunden hatte, das sollte dem Pfarrer von Sachsenborn nicht lange mehr verborgen bleiben.

 

IX.

Der Brunnen vor dem Gemeindehause murmelte und plätscherte wie immer; die jungen Burschen und Mädchen sangen unter der großen Linde, die Alten ruhten vor den Häusern, die Kinder spielten; in der Hollunderlaube am Gitter des Pfarrgartens saß die einsame Ehrhardine Cellarius –

»Ach lieber, lieber Mond, wenn ich doch nur wüßt', was mir geschehen ist! ... ach Mond, Mond!«

Die gute Ehrhardine hatte vergeblich auf dem Berge den Vater erwartet, und ihren Waldblumenstrauß zerpflückt, ohne daß der Trab des Rößleins, das Rollen der Räder sich hatte hören lassen.

Es war doch recht einsam und öde in dem armen kleinen Walddorf.

Die Frösche quakten munter in die warme schöne Nacht hinein, rund um das Dorf in den Gräben und auf den Wiesen – horch, was war aber das? das war wirklich Rädergerassel und der Tritt eines Pferdes!

Nein, es war Täuschung!

Doch, doch! es war nicht Täuschung: lauter und deutlicher trafen die Töne das Ohr der Jungfrau.

»Sollte das der Papa sein, der mit dem Hans und der weißen Liese heimkehrt von seiner alten Universität?«

In der Gartenthür stand die Jungfrau, als der Wagen in das Dorf einfuhr.

»O der Papa! der gute Papa! er ist's! er ist's!« jubelte sie und eilte dem Fuhrwerk entgegen.

»Willkommen, willkommen, Töchterlein!« rief der Pfarrer, und der Wagen hielt vor dem Pastorenhause zu Sachsenborn.

»Papa! prächtiger alter Papa!« rief die Tochter, dem Vater die Arme entgegen streckend. »O wie freu' ich mich, daß ich« – das Wort erstarrte ihr auf den Lippen, sie hatte den jungen Fremden erblickt, welcher auf seinem Sitze die seltsamsten Bewegungen machte, jetzt aber aufsprang –

»O Böse! Böse! wie konntest Du mich so quälen – wie konntest Du mir so verschwinden, und Dich boshaft hier verstecken zwischen den wilden Bergen?«

Der alte Pastor stand ziemlich versteinert zwischen den beiden jungen Leuten – »Aber was ist? ...«

»Sie sollen Alles, Alles wissen, Reverend! O das ist mehr als Zufall, das ist Prädestination, daß Sie mich aufgreifen und aufpacken mußten auf der offenen Landstraß' mitten in der Nacht!«

Man sah im Mondschein nicht recht, wie roth, wie purpurroth die Wangen der Jungfrau glühten. Sie zog den Alten in ihre Arme und barg das Köpfchen an seiner treuen Brust –

»Lieber, lieber Papa! ...«

George Hartriegel bemächtigte sich der rechten Hand des Pfarrers und rief ihm in's Ohr: »Das ist ja die Ehrhardine, die ich gefunden hab' in der berühmten Stadt Göttingen, – die Ehrhardine, die mein ist und mein bleiben soll in alle Ewigkeit, wenn sie mir auch verloren gegangen war, und ich nach ihr hab' suchen müssen bis heute, bis in diesen Mondscheinabend!«

»Aber – aber so kommt doch wenigstens in's Haus, Ihr seltsamen Menschenkinder! Das ganze Dorf versammelt sich ja.«

Wahrlich, das ganze Dorf versammelte sich, um den heimgekehrten geistlichen Herrn zu begrüßen. Alt und Jung – Männer, Weiber und Kinder drängten sich um ihn her, um ihm ein freundliches Wort zu sagen und ein freundliches Wort von ihm in Empfang zu nehmen.

»Und das ist meine liebe schöne Braut Ehrhardine!« rief der Amerikaner, die Hand der weinenden Jungfrau fassend und sie in die Mitte des bructerischen Volkes führend. Adam Cellarius, der Pfarrer von Sachsenborn, aber that nicht Einsprache, sondern nahm nur den Hut von dem ehrwürdigen greisen Haupte und hob die feuchten Augen zum Himmel –

»Du hast es gut gemacht, Du lieber, treuer Gott da oben! Dein Wille geschehe!« – –


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