Hermann Fürst von Pückler-Muskau
Briefe eines Verstorbenen
Hermann Fürst von Pückler-Muskau

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Den 1sten August

Die Hitze bleibt noch immer drückend, der Boden wird ganz zu Asche, und wenn nicht in den macadamisierten Straßen überall fortwährend, mit großen, sich immer abwechselnden, Maschinen gegossen würde, so wäre es gewiß vor Staub in der Stadt nicht auszuhalten. So aber bleibt Fahren und Reiten immer angenehm, und obgleich die elegante Zeit vorbei ist, auch shopping noch sehr unterhaltend. Es ist eine der größten Versuchungen hierbei, mehr zu kaufen als man braucht, und da ich grade jetzt wenig Geld habe, so helfe ich mir bei Dingen, die ich sonst wohl für Dich und mich zu acquirieren wünschte, mit der Phantasie, wie jener vortreffliche persische Geizhals, von dem uns Malcolm folgendes erzählt:

Ein Harpagon in Ispahan, der lange Zeit mit seinem jungen Sohne nur von trockenem Brot und Wasser gelebt hatte, wurde eines Tages doch durch die zu einladende Beschreibung eines Freundes verlockt, ein schmales Stück von einem besonders vortrefflichen und wohlfeilen Käse zu kaufen. Doch ehe er noch damit zu Haus kam, überfielen ihn schon Gewissensbisse und Reue. Er verwünschte seine törichte Extravaganz, und statt den Käse, wie er früher beabsichtigte, zu essen, verschloß er ihn in eine Flasche, und begnügte sich in Gesellschaft des Knaben bei jedem Mahle ihre Brotrinden im Angesicht des Käses zu genießen; dieselbe aber vor jedem Bissen gegen die bouteille zu reiben, und so den Käse einstweilen nur mit der Einbildungskraft zu schmecken. Einmal, berichtet die Geschichte weiter, verspätete Harpagon sich auswärts, und fand, als er eine Stunde nach der Essenszeit zu Haus kam, seinen Sohn bereits mit der täglichen Brotrinde beschäftigt, und diese emsig gegen die Schranktüre reibend. »Was treibt der Bengel?« rief er verwundert aus. – »O Vater! es ist Essenszeit, Ihr habt den Schlüssel zum Schranke mitgenommen, und da habe ich denn mein Brot ein bißchen gegen die Türe gerieben, weil ich nicht zur Flasche kommen konnte.« – »Infame Range«, schrie der Vater im höchsten Zorne, »kannst Du nicht einen einzigen Tag ohne Käse leben? Geh mir aus den Augen, verschwenderische Brut, Du wirst nimmer ein reicher Mann werden.«

So reibe auch ich zuweilen meine Brotrinde gegen die Schranktüre, denn das Reichwerden habe ich ebenfalls längst aufgegeben.

Ich schilderte Dir einmal einen gewissen Sir L... M... als ein besonderes Original.

Bei diesem war ich heute zu einem luxuriösen Mahle eingeladen, welches seit so lange vorbereitet wurde, daß sogar einer der diplomatischen Gäste, vor vier Wochen schon, durch einen Courier von Baden über das Meer herüber dazu zitiert worden war, auch pünktlich am selben Morgen eintraf, und ausländischen mit inländischem Appetit vereinigt, mitgebracht zu haben schien. Er hatte nicht vergessen, sich mit verschiedenen kontinentalen Delikatessen zu befrachten, denen man, nebst einer Anzahl der ausgesuchtesten Weine, die größte Gerechtigkeit widerfahren ließ. Es gehört ein starker Kopf dazu, um solchen Gelagen hier zu widerstehen, aber die Luft macht wirklich viel Essen und starke Getränke nötiger als bei uns, und wer im Anfang kaum einigen englischen (d. h. mit Branntwein versetzten) Claret trinkt, findet später eine ganze Flasche Portwein recht verträglich mit seiner Gesundheit und den englischen Nebeln.

Wenn aber auch dem sinnlichen Genuß hier hauptsächlich geopfert ward, so blieb die Unterhaltung doch auch nicht ohne Salz. Ein Offizier unter andern, der den Krieg gegen die Birmanen mitgemacht, erzählte uns sehr interessante Details aus jenen Gegenden, z. B. daß die dortigen Kinder, nach unsrer Theorie Kälber fett zu machen, oft drei Jahre lang gesäugt werden. Da nun auch das Tabakrauchen in frühester Jugend anfängt, so daß der Kapitän öfters Jungen, die, indem sie die Brust der Mutter verließen, zum Nachtische die brennende Zigarre in den Mund steckten. Am ergötzlichsten erschien mir aber folgende Geschichte eines irländischen bull. Es ist gewiß der stärkste, der je stattgefunden hat, indem es sich um nichts weniger handelt, als um einen Bauer, der sich aus Distraktion selbst den Kopf abschneidet. Dabei ist dennoch das Factum authentisch, und folgendermaßen trug sich die unerhörte Begebenheit zu.

Die Bauern in Ulster haben die Gewohnheit, wenn sie vom Wiesenmähen zu Hause gehen, ihre kolossalen Sensen, welche eine Spitze am Griff haben, um sie in die Erde zu stecken, gleich einem Gewehre in die Höhe stehend, auf der Schulter zu tragen, so daß die Schärfe der Sense ganz über ihrem Halse schwebt. Zwei Kameraden schlenderten auf diese Weise den Fluß entlang nach Hause, als sie einen großen Lachs gewahrten, der, mit dem Kopf unter einem Baumstamm verborgen, den Schwanz im Wasser emporstreckte.

›Sieh Paddy‹, ruft der eine, ›den dummen Lachs, der glaubt, daß wir ihn nicht sehen, weil er uns selbst nicht sieht. Hätt' ich doch meinen Speer, dem wollte ich einen guten Stoß geben.‹ – ›O‹, sagt der andere, an den Lachs heranschleichend, ‹das muß auch mit dem Sensenstiel gehen. Gib acht!‹ und zu stößt er, und trifft den Lachs richtig, leider aber auch zugleich seinen Kopf mit der Sense, der vor den Augen des erstaunten Kameraden schallend in's Wasser plumpst. Lange konnte dieser nicht begreifen, wie Paddys Kopf so schnell herunterkam, und noch heute gibt er nicht zu, daß die Sache mit rechten Dingen zugegangen sei. Ein böser Kobold, meint er, habe sicher die Sense geführt.

Mit der englischen Oper beschloß ich den Tag, wo am Ende des ersten Akts ein Bergwerk einstürzt, und die Haupthelden des Stücks begräbt. In der letzten Szene des zweiten Aktes erscheinen sie aber im Bauche der Erde wieder, in der Tat schon dreiviertel verhungert, wie sie selbst erzählen, da sie nun bereits 3 Tage hier verschmachtet lägen und jetzt ihre letzten Kräfte dahinschwänden. Das verhindert die prima donna jedoch keineswegs, eine lange Arie mit Polonaisenmusik zu singen, worauf der Chor mit Trompeten einfällt: »Ha wir sind verloren, alle Hoffnung ist dahin« – doch, o Wunder, die Felsen fallen von neuem ein und eröffnen eine weite Pforte dem hereinbrechenden Tageslichte. Aller Jammer und mit ihm aller jammervolle Unsinn des Stücks haben ein Ende.


Den 2ten

Die gestrige Schwelgerei hat mich auf ein Organ aufmerksam gemacht, das Herr Deville noch unter seiner Liste nicht aufgenommen hat. Es ist der gourmandise, und befindet sich unmittelbar neben dem ehemaligen Mordsinn, denn es findet, gleich ihm, im Zerstören sein höchstes Vergnügen. Ich besitze es in bedeutendem Maße und wünschte, alle übrigen Buckel und Beulen meines Schädels gäben so unschuldige und angenehme Resultate. Es verleiht dieses Organ nicht bloß die gemeine Lust am Essen und Trinken, sondern befähigt seine Inhaber auch, die wahre Qualität der Weine und ihr bouquet zu würdigen, so wie jeden Fehler und jede Genialität des Kochs augenblicklich gewahr zu werden. Dieses genußreiche Organ wird nur dann der menschlichen Zufriedenheit nachteilig, wenn es mit einem sentimentalen Magen verbunden ist, was glücklicher Weise bei mir nicht der Fall zu sein scheint.

Ich besah heute die Ausstellung einer mit der Nadel genähten und von einer Person allein angefertigten ganzen Gemäldegalerie, deren Vortrefflichkeit wirklich in Erstaunen setzt. Miss Linwood heißt die Künstlerin, diese geduldigste aller Frauen. In geringer Entfernung scheinen die Kopien den Originalen gleich, und wie sehr sie Anerkennung finden, kann man aus den ungeheuren Preisen beurteilen. Eine solche Tapete nach Carlo Dolci war eben für 3000 Guineen verkauft worden.

Ein Porträt Napoleons als Konsul soll, so sehr es von seiner spätern Persönlichkeit abweicht, dennoch eine seltene Ähnlichkeit aus jener Zeit darbieten, und wurde von den anwesenden Franzosen mit großer Ehrfurcht betrachtet.

Einige Häuser weiter waren Mikroskope von millionenfacher Vergrößerungskraft aufgestellt. Was sie zeigen, könnte einen Menschen von lebhafter Einbildungskraft verrückt machen. Es kann gar nichts Schauerlicheres geben, keine furchtbareren Teufelsfratzen können je erfunden worden sein, als jene gräßlich scheußlichen Wasserinsekten, die wir täglich (mit bloßen Augen und selbst geringem Vergrößerungsgläsern unbemerkbar) hinunterschlucken – wie sie gleich Verdammten in dem sumpfig erscheinenden Kloak mit der Schnelle des Blitzes umherschießen, und deren wahrscheinliche Begattung wie Kampf und Schmerz auf Tod und Leben aussieht.

Da ich einmal im Sehen begriffen war, und den entsetzlichen Eindruck dieser Unterwelt durch lieblichere Bilder tilgen wollte, so wurden noch drei verschiedene Panoramen mit Muse genossen: Rio Janeiro, Madrid, Genf.

Das erste ist eine, aus unsern Naturformen ganz heraustretende, originelle und zugleich paradiesisch üppige Natur. Das zweite sieht in der baumlosen, sandigen Ebene wie Stillstand und Inquisition aus. Glühende Hitze brütet über dem Ganzen, wie ein auto da fé. Das dritte dagegen erschien mir wie ein lieber alter Bekannter, und herzerhoben blickte ich lange auf den unerschütterlichen, sich allein stets gleichbleibenden vaterländischen Freund hin, den majestätischen Montblanc.


Den 8ten

Canning ist tot! Ein Mann in der Fülle der geistigen Kraft, seit wenigen Wochen erst am Ziel seines tätigen Lebens angelangt, endlich der Regierer Englands und dadurch ohne Zweifel der einflußreichste Mann in Europa, mit einem Feuergeiste begabt, der diese Zügel mit mächtiger Hand zu führen wußte, und einer Seele, die das Wohl der Menschheit von einem noch höhern Standpunkte zu umfassen fähig war. – Ein Schlag hat dieses stolze Gebäude vieler Jahre zertrümmert, und enden mußte der kühne Mann, wie ein Verbrecher – plötzlich, tragisch, unter den fürchterlichsten Leiden, das Opfer einer unbarmherzigen Natur, die mit eisernem Fuße fort und fort niedertritt, was in ihren Weg kommt, unbekümmert, ob sie die junge Saat, die schwellende Blüte, den königlichen Baum, oder die schon hinsterbende Pflanze zerknickt.

Was werden die Folgen dieses Todes sein? In Jahren werden sie erst klar werden und vielleicht eine Auflösung beschleunigen, die uns in vielen Dingen droht, und der nur ein großartiger, aufgeklärter Staatsmann, wie Canning es war, Einheit und günstige Richtung zu geben imstande sein möchte. Vielleicht wird grade die Partei, die jetzt so unanständig und gefühllos über seinen frühen Tod triumphiert, durch diesen Tod die erste ernstlich gefährdete werden, denn nicht mit Unrecht hat Lord Chesterfield vor langer Zeit mit prophetischem Sinne gesagt: »Je prévois que dans cent ans d'ici les métiers de gentilhomme et de moine ne seront plus de la moitié aussi lucratifs qu'ils sont aujourdhui.«

Doch was kümmert mich die Politik! Könnte ich nur immer in mir selbst das gehörige Gleichgewicht erhalten, wäre ich zufrieden. Das von Europa wird sich schon von selbst herstellen. Klugheit und Dummheit führen am Ende alle zu demselben Ziel – der Notwendigkeit.

Indessen ist Cannings Tod natürlich jetzt das Stadtgespräch, und die Details seiner Leiden empörend. Die Frömmler, denen er wegen seiner freisinnigen Meinungen sehr zuwider war, suchen auszubreiten, er habe sich während dieser Schmerzen bekehrt – was sie nämlich Bekehrung nennen – einer seiner Freunde dagegen, der lange an seinem Todes-Bette zugebracht, konnte nicht genug den stoischen Mut und die Sanftmut rühmen, mit der er sein herbes Geschick getragen, bis zum letzten Augenblicke der Besinnung nur von seinen Plänen zum Wohle Englands und der Menschheit erfüllt, und ängstlich sorgend: sie dem Könige noch einmal an's Herz zu legen.

Wie sich nun Frivoles und Ernstes hienieden stets die Hand reicht, so erregt nebst diesem tragischen Tode zugleich ein höchst seltsamer Roman: ›Vivian Grey‹, durch seine oft barocken, oft aber auch sehr witzigen und wahren Schilderungen der Sitten des Kontinents hier viele Aufmerksamkeit. Die Beschreibung des Anfangs eines Balles in Ems möge hier Platz finden, als eine Probe, wie Engländer das Eigentümliche unserer Gebräuche beobachten:

»Des Prinzen fête war äußerst ausgesucht, d. h. sie bestand aus allen, die eine Invitations-Karte entweder durch Protektion hatten erhalten können, oder dieselbe von des Fürsten Haushofmeister Crakofsky mit schwerem Gelde erkauft hatten. Alles war höchst königlich, keine Kosten und Mühe waren gespart, das gemietete Haus in eine fürstliche Residenz umzuschaffen, und seit einer Woche war das ganze kleine Herzogtum Nassau dafür in Kontribution gesetzt worden. Am Eingange der Salons, gefüllt mit gemieteten Spiegeln und provisorischen Draperien, stand der Prinz voller Orden, empfing all mit der ausgezeichnetsten Herablassung und versäumte nicht, jeden der angesehenen Gäste mit der schmeichelhaftesten Anrede zu beehren. Seine suite, hinter ihm aufgestellt, bückte sich jedesmal gleichzeitig, sobald die schmeichelhafte Anrede beendigt war.

Nacheinander hörte ich, seitwärts stehend, folgende Unterhaltung. ›Frau von Fürstenberg‹, sagte der Prinz, sich verbeugend, ›ich fühle das größte Vergnügen, Sie zu sehen. Mein größtes Vergnügen ist, von meinen Freunden umgeben zu sein. Frau von Fürstenberg, ich hoffe, daß Ihre liebenswürdige Familie sich wohl befindet.‹ (Die Familie passiert vorbei.) ›Cravaticheff!‹ fuhr seine Hoheit fort, den Kopf halb zu einem seiner Adjutanten gewandt, ›Cravaticheff, eine charmante Frau, Frau von Fürstenberg, es gibt wenig Frauen, die ich mehr bewundere, als Frau von Fürstenberg.‹ – ‹Prinz Salvinsky, ich fühle das größte Vergnügen, Sie zu sehen. Mein größtes Vergnügen ist, von meinen Freunden umgeben zu sein. Niemand macht Polen mehr Ehre, als Prinz Salvinsky.‹ – ›Cravaticheff! ein merkwürdig langweiliger Kerl der Prinz Salvinsky. Es gibt wenig Menschen, die ich mehr en horreur habe, als Prinz Salvinsky.‹ – ›Baron von Königstein, ich fühle das größte Vergnügen, Sie zu sehen. Mein größtes Vergnügen ist, von meinen Freunden umgeben zu sein. Baron von Königstein, ich habe die exzellente Geschichte von der schönen Venetianerin noch nicht vergessen.‹ – ›Cravaticheff! ein höchst amüsanter Kerl, der Königstein. Es gibt wenig Menschen, deren Gesellschaft mich mehr amüsiert, als die des Baron Königsteins.‹ – ›General Altenburg, ich fühle das größte Vergnügen, Sie zu sehen. Mein größtes Vergnügen ist, von meinen Freunden umgeben zu sein. Vergessen Sie nicht, mir nachher Ihre Meinung über das österreichische Manœuvre zu geben.‹ – ›Cravaticheff! ein exzellenter Billardspieler ist General Altenburg. Es gibt wenig Menschen, mit denen ich lieber Billard spiele, als mit Graf Altenburg.‹ – ›O Lady Madeline Trevor, ich fühle das größte Vergnügen, Sie zu sehen. Mein größtes Vergnügen ist, von meinen Freunden umgeben zu sein, Miss Jane, Ihr Sklave.‹ – ›Cravaticheff! eine magnifique Frau, Lady Trevor. Es gibt wenig Frauen, die ich mehr bewundere, als Lady Trevor, und, Cravaticheff! Miss Jane ein herrliches Mädchen! es gibt wenig Mädchen, die ich lieber...‹

Hier raubte mir das Geräusch der einfallenden Polonaisenmusik den Rest der Phrase, und ich ging zu einer andern Szene über«.

Nicht wahr, Julie, beißend genug! Es gibt wenig Schilderungen, die mich mehr amüsiert hätten, und meine Übersetzung, nicht wahr? sehr gelungen. Es gibt wenig Übersetzungen, die mir besser gefielen, als meine eignen.

Auch im Ernsten ist der Verfasser nicht übel. »Wie furchtbar«, sagt er, »ist das Leben, welches doch unser höchstes Gut ist! Unser Wesen atmet unter Wolken und ist in Wolken gehüllt, ein unbegreifliches Wunder für uns selbst. Es gibt nicht einen einzigen Gedanken, der seine bestimmte Grenze hätte. Sie sind wie die Zirkel, die das Wasser bildet, wenn man einen Stein hineinwirft, immer weiter sich ausdehnend und immer schwächer sich zeichnend, bis sie sich zuletzt ganz verlieren in dem unermeßlichen Raume, den der Gesichtskreis nicht mehr fassen kann. Wir sind gleich Kindern im Dunkeln, wir zittern in einer düster beschatteten und schrecklichen Leere, die nur durch die Bilder unserer Phantasie bevölkert ist. Leben ist unsere wahre Nacht, und vielleicht der erste Strahl der Morgenröte der Tod.« –

Praktischer noch schrieb der berühmte Smollet an einen Freund: »Ich bin alt genug geworden, um gesehen und mich überzeugt zu haben, daß wir alle ein Spielzeug des Schicksals sind, und daß es auf eine Kleinigkeit, so unbedeutend, als das in die Höhewerfen eines Pfennigs, ankommt, ob ein Mensch zu Ehren und Reichtum sich emporschwingen, oder bis zu seinem Tode in Elend und Not vergehen soll.«


Den 15ten

Täglich besehe ich mir die Arbeiten in den sogenannten Parks von St. James und Greenpark, die früher bloße Viehweiden waren, und nun nach den Plänen des Herrn Nash in reizende Gärten und Wasserpartien umgeschaffen werden. Ich lerne hier viel Technisches, und bewundere die zweckmäßige Verteilung und Folge der Arbeit, die ingenieusen Transportmittel, die beweglichen Eisenbahnen u.s.w.

Charakteristisch ist es, daß, während die Gesetze, welche das Eigentum schützen, so streng sind, ein Mensch, der über die Mauer steigt, um in einen Privatgarten zu gelangen, riskiert gehangen zu werden, und jedenfalls grausam bestraft wird, auch der Besitzer, wenn es des Nachts geschieht, ihn ohne Umstände totschießen darf – man auf der andern Seite mit dem Publikum, wo es nur einen Schein von Anspruch hat, so subtil umgehen muß, wie mit einem rohen Ei. In den beiden genannten Parks, die königliches Eigentum sind, aber seit ewigen Zeiten dem Publikum sonntags offen gegeben wurden, wagt man jetzt, ohngeachtet der Umwälzungen und Arbeiten, die der König (freilich wohl auf Kosten der Nation) machen läßt, nicht dem Plebs den Eingang temporär zu verbieten, sondern hat nur Tafeln anschlagen lassen, auf denen wörtlich folgendes steht:

›Das Publikum wird respektueusest ersucht, während der Arbeiten, die nur die Vergrößerung seines eigenen Vergnügens bezwecken, die Karren und Utensilien der Arbeiter nicht zu beschädigen, und überhaupt den Distrikt, worin die Arbeiten stattfinden, möglichst zu schonen.‹

Demungeachtet wird sehr wenig Rücksicht auf diese respektueuse Bitte genommen, und die Karren, die nach der Arbeit aufgeschichtet liegen, werden häufig gebraucht, um Jungen darin herumzufahren, und allerhand andern Unfug damit zu treiben. Auf den langen Brettern schaukeln sich die Mädchen, und viele unnütze Brut wirft Steine gerade da in's Wasser, wo Damen davor stehen, die natürlich so davon bespritzt werden, daß sie, unwillkürlich gebadet, zu Hause eilen müssen. Diese Rohheit des englischen Publikums ist in der Tat sehr eigentümlich, und die einzige Entschuldigung für die Inhumanität aller Wohlhabenden, mit der sie ihre reizenden Besitzungen so neidisch verschließen. Es ist aber auch möglich, daß diese Inhumanität der Reichen die Rohheit und Bosheit der Armen erst hervorgerufen hat.

Die Spaziergänge und Ritte in der Umgegend werden jetzt ebenfalls wieder sehr einladend, da der Herbst schon früh beginnt. Das verbrannte Gras prangt von neuem in hellem Grün, und die Bäume erhalten ihr Laub fester und frischer als bei uns, obgleich sie sich auch zeitiger zu färben anfangen. Der Winter aber kommt sehr spät, oft gar nicht, um sein weißes Totengewand über sie zu breiten. Dabei hört das Mähen des Rasens und das Reinhalten der Plätze und Gärten nie auf; ja auf dem Lande, wo der Herbst und Winter die season ist, wird in dieser Zeit grade die meiste Sorgfalt darauf verwendet.

London wird aber dann von den Fashionablen geflohen, und das mit solcher Affektation, daß viele sich, bei etwanigem nötigen Aufenthalt daselbst, förmlich zu verstecken suchen. Die Straßen sind im West End of the town so leer wie in einer verlassenen Stadt; nur die gemeinen Mädchen verfolgen abends auf die unanständigste Weise und mit den handgreiflichsten gewaltsamsten Liebkosungen jeden Vorüberziehenden. Nicht nur Engländerinnen, sondern auch Fremde, nehmen schnell diese abscheuliche Sitte an. So desesperierte mich neulich eine alte Französin mit bleichen Lippen und geschminkten Wangen, die mir angemerkt, daß ich ein Fremder sei, mit solcher Beharrlichkeit, daß selbst die Gabe des geforderten Schillings mich noch nicht von ihr befreite. »Encore un moment«, rief sie immer, »je ne demande rien, c'est seulement pour parler français, pour avoir une conversation raisonnable, dont les Anglais ne sont pas capables.« Diese Geschöpfe werden hier zu einer wahren Landplage.

Bei der jetzigen Einsamkeit hat man nun wenigstens so viel Zeit für sich als man will, kann arbeiten und die Legion der Zeitungen mit Muße lesen. Die Albernheiten, welche täglich in diesen über fremde Angelegenheiten stehen, sind unglaublich. Heute fand ich folgenden Artikel:

»Des seligen Kaiser Alexanders Bewunderung Napoleons war eine Zeitlang ohne Grenzen. Man weiß, daß in Erfurt, als Talma auf dem Theater die Worte sprach: ›L'amitié d'un grand homme est un bienfait des dieux‹, Alexander sich gegen Napoleon verbeugte und ausrief: › Ces paroles ont été ecrites pour moi.‹ – Weniger bekannt ist vielleicht folgende Anekdote, deren Wahrheit wir verbürgen können. Eines Tages äußerte Alexander gegen Duroc den lebhaften Wunsch, ein ›Paar Hosen‹ seines großen Verbündeten, des Kaisers Napoleon zu besitzen. Duroc sondierte seinen Herren über die allerdings ungewöhnliche Angelegenheit. Napoleon lachte herzlich: ›O, auf jeden Fall‹, rief er, ›donnez-lui tout ce qu'il veut, pourvu qu'il me reste une paire pour changer.‹ Dies ist authentisch, man versicherte uns indessen noch, daß Alexander, der sehr abergläubig war, in den Campagnen 1812 und 13 im Felde nie andere als ›Napoleons-Hosen‹ trug!!!«

Solchen Unsinn glaubt jedoch ein Engländer unbedenklich.

Der Tag endete sehr angenehm für mich mit der Ankunft meines Freundes L..., für den ich Dich jetzt auch verlasse, und den entsetzlich langen, leider nichts weniger als im Verhältnis inhaltsreichen Brief, mit der eben so alten, aber für Dich, wie ich weiß, doch stets den Reiz der Neuheit behaltenden Versicherung schließe, daß Du, fern oder nah, meinem Herzen immer die Nächste bist und bleibst.

Dein treuer L...


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